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»Hallo, Miss, alles in Ordnung mit Ihnen?«

Der Klang der Männerstimme zog sie aus der Dunkelheit fort. Ricarda schlug die Augen auf.

Zunächst sah sie nur einen diffusen hellen Fleck über sich, doch der verdichtete sich nun zum Gesicht des Schiffsarztes. Wie die meisten Mitglieder der Besatzung war er Engländer, ein freundlicher Mann mit blauen Augen, schütterem blondem Haar und einem Schnurrbart, um den ihn selbst Kaiser Wilhelm beneidet hätte.

Obwohl der Mann sie auf Englisch angesprochen hatte, antwortete Ricarda auf Deutsch.

»Ja, alles in Ordnung.«

Der Arzt sah sie verwundert an, dann lächelte er.

»You're the German nurse!«

Ricarda nickte und antwortete diesmal auf Englisch. »Ja, die bin ich. Was ist passiert?«

»Sie haben sich ein wenig den Kopf angeschlagen, aber es ist nichts weiter passiert. Eine der Passagierinnen hatte mich gerufen.«

Ricarda wollte sich aufrichten, wurde aber von einem stechenden Schmerz im Hinterkopf zurück auf ihr Lager gezwungen. Als sie zur Decke schaute, bemerkte sie, dass dies nicht das Krankenzimmer des Schiffes sein konnte. Der Raum wirkte eher wie eine der Kabinen. Es war ihre Kabine!

Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Sie hatte ein Weinen vernommen ... Plötzlich hatte sie wieder das Bild der Frau vor sich, die sich über den bewusstlosen Mann beugte. »Was ist mit dem Mann in Kabine neun?«

Die Miene des Arztes wurde augenblicklich ernst. »Sie wollten ihm helfen, nicht wahr?«

Ricarda nickte. »Ja, ich hörte seine Frau weinen und wollte nachsehen, was los ist.«

»Das ist ehrenhaft von Ihnen. Leider hat der Mann einen Herzinfarkt erlitten und ihn nicht überlebt. Selbst ich hätte nichts mehr für ihn tun können.«

Aber ich hätte ihn vielleicht retten können, dachte Ricarda. Wenn ich nur die Gelegenheit gehabt hätte ...

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Miss! Manchmal ist die Natur eben unerbittlich. Auch als Arzt kann man nicht jeden retten. Eine bittere Erkenntnis, zugegeben; aber sie holt einen zwangsläufig ein, auch wenn man noch so viel Können besitzt.«

Ricarda wusste nicht, ob sie ihm Recht geben sollte. Sie wusste nur, dass sie sich nicht so schnell geschlagen geben wollte, auch wenn die Natur sie außer Gefecht gesetzt hatte. »Das Schiff«, platzte es aus ihr heraus. »Es bewegt sich nicht mehr so heftig.«

»In der Tat.« Der Doktor lächelte. »Der Sturm hat sich vor einigen Stunden gelegt. Gott sei's gedankt, ich dachte schon, wir würden uns auf dem Meeresboden wiederfinden.«

Die Worte des Arztes waren wie ein Sonnenstrahl, der eine finstere Wolkendecke durchbrach. Der Sturm hatte aufgehört! Das Schiff war nicht geborsten. Die Reise konnte weitergehen.

»Nach ein paar Seemeilen werden wir Land sehen. Dies ist nicht meine erste Reise auf diesem Schiff, müssen Sie wissen. Die bisher turbulenteste vielleicht, aber nicht die erste. Ich würde mein Stethoskop darauf verwetten, dass wir bald da sind.«

Jetzt zog ein Lächeln über Ricardas Gesicht. Neuseeland. Sie würde es schaffen und dort ein neues Leben beginnen.

»Ach, wo wir gerade vom Stethoskop reden.« Der Arzt griff in seine Jackentasche und holte das Instrument, das Ricarda bei ihrem Sturz verloren hatte, hervor. »Das gehört wohl Ihnen.«

Ricarda nickte und streckte die Hand danach aus. »Danke.«

»Ich muss schon sagen, dass es verwunderlich ist, solch ein gutes Stethoskop an einer Krankenschwester zu sehen.«

»Es war ein Geschenk«, erklärte Ricarda, was keine Lüge war. »Von einem Arzt, den ich einst sehr geschätzt habe.«

Bei dem Gedanken an ihren Vater krampfte sich ihr Magen zusammen. Wie mochte er auf ihre Abreise reagiert haben? War er verärgert? Oder hatte er eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hatte? Vielleicht würde sie es nie erfahren.

Der Schiffsarzt deutete ihr Schweigen offenbar als den Wunsch, sich auszuruhen.

»Ich werde Sie jetzt erst mal allein lassen. Es haben sich so etliche Leute den Kopf gestoßen, als sich unser Pferdchen aufgebäumt hat.«

Ricarda nickte und verzog das Gesicht, denn das Stechen meldete sich zurück.

Der Arzt bemerkte das offensichtlich, denn er fügte hinzu: »Ich habe Ihnen Schmerzmittel auf den Nachtschrank gelegt, das hilft gegen das Pochen. Ach ja, seien Sie in der nächsten Zeit vorsichtig beim Kämmen, ich musste eine Platzwunde nähen. Es wäre nicht gut, wenn die Zinken in der Naht hängen blieben.«

»Platzwunde?«, fragte Ricarda. »Sie haben vorhin nichts von einer Platzwunde gesagt.«

»Sie haben mich ja gleich nach dem Passagier in Kabine neun gefragt«, entgegnete der Arzt lächelnd. »Die Wunde ist harmlos, aber dennoch musste ich sie nähen. Bevor Sie das Schiff verlassen, sollten Sie sich noch einmal bei mir melden, damit ich Ihnen die Fäden ziehen kann.«

Ricarda nickte. »Danke, Doktor.«

»Keine Ursache. Und lassen Sie es mich wissen, falls Sie etwas brauchen.«

Als der Arzt gegangen war, erhob sich Ricarda vorsichtig von ihrem Lager. Auf dem Nachttisch fand sie tatsächlich das Schmerzpulver. Sie löste den Inhalt eines Päckchens in dem Glas Wasser auf, für das der Arzt ebenfalls gesorgt hatte, und trank es. Der bittere Geschmack löste in ihr den Drang aus, sich zu schütteln, aber Ricarda widerstand mit Rücksicht auf ihren lädierten Kopf.

Anschließend tastete sie sich am Bett entlang zur Kommode. Da sie an der Wand festgeschraubt war, hatten sich bei dem Sturm lediglich die Schubladen geöffnet, aber das kümmerte sie nicht. Sie wollte zu dem Spiegel, der an der Wand angebracht war. Er hing ein wenig schief.

Ricarda erschrak angesichts ihres Spiegelbilds. Das Blut aus der Kopfwunde hatte rostbraune Spuren im Haar und auf der Stirn hinterlassen. Der Verband war beängstigend groß, aber wahrscheinlich sollten die Mullschichten sie nur davon abhalten, sich die Wunde anzusehen. Nachdem sie ihr Gesicht betastet und ihr Haar geordnet hatte, kehrte sie ins Bett zurück.

Was ihre Eltern wohl sagen würden, wenn sie sie so sähen?

Bei der Abfahrt aus Hamburg, als sie an Deck der Anneliese stand, um ihrer Heimat Lebewohl zu sagen, hatte Ricarda sich vorgestellt, wie es wäre, die Gestalt ihres Vaters unter den Winkenden zu erblicken. Gleichzeitig hatte sie gewusst, dass das unmöglich war. Jetzt fragte sie sich, wie es ihm ging, und als ihr bewusst wurde, dass sie es wohl nicht erfahren würde, fühlte sie einen Anflug von Schwermut. Doch ein Zurück gab es nicht mehr. Die Madeleine, auf der sie sich in Bristol eingeschifft hatte, würde bald in Neuseeland eintreffen.

 

Die Vorhersage des Arztes bewahrheitete sich. Die See blieb ruhig, und nach ein paar Tagen tauchten die ersten Sturmtaucher auf, ein sicheres Zeichen, dass das Ziel nicht mehr weit war. Tatsächlich gellte der Ruf »Land in Sicht!« nur wenige Stunden später über das Oberdeck, worauf Matrosen und Passagiere an die Reling stürmten.

Ricarda erblickte einen schmalen grauen Streifen, der sich kaum von der Linie des Horizonts unterschied. Aber als sie am nächsten Morgen die Augen öffnete, spürte sie deutlich, dass sich etwas verändert hatte: Die Luft roch anders und war wärmer geworden. Sie erschien Ricarda auch weicher - fast wie ein Schleier, der sinnlich über ihre Haut strich. Ja, kein Zweifel, es war eine andere Luft, die in ihre Lungen strömte. Der allgegenwärtige Geruch nach Kohle, Eisen und Maschinenfett war von etwas durchsetzt, was Hoffnung und Zuversicht verbreitete.

Eine seltsame Lebendigkeit überkam Ricarda, ein Kribbeln, das durch ihre Glieder zog und sie aus dem Bett trieb.

Im runden Kabinenfenster leuchtete ein blauer Himmel. Ricarda schlüpfte in den zartrosa Morgenmantel und trat vor den kleinen Ausblick. Das Meer war von einem so tiefen Blau, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Kormorane stießen in das Wasser und tauchten mit glänzendem Gefieder wieder aus den Fluten empor. Keine Frage, sie waren in Landnähe. In wenigen Stunden würde ihre Überfahrt zu Ende sein.

Zwiespältige Gefühle überwältigten Ricarda: Da waren die unbändige Vorfreude und Neugier auf eine unbekannte Welt, aber auch die Angst, dass sie sich etwas Unmögliches vorgenommen hatte. Konnte sie hier erreichen, was ihr in Deutschland versagt bleiben sollte?

Entschlossen schob Ricarda diese Gedanken beiseite. Genug der Grübelei! Jetzt wollte sie erst einmal hinaus an die frische Luft.

Vor lauter Ungestüm wäre sie beinahe im Morgenmantel aus der Kabine gelaufen, doch glücklicherweise besann sie sich noch.

Rasch schlüpfte sie in das schwarz-weiß karierte Reisekleid und in ihre Stiefeletten.

Draußen an Deck waren ein paar Matrosen damit beschäftigt, Taue einzurollen. Graue Dampfwolken stiegen aus den Schornsteinen des Schiffs empor, Möwen kreischten.

Ricarda hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass die Madeleine bereits in küstennahem Gewässer fuhr. Die Landschaft war eine Überraschung für Ricarda. Insgeheim hatte sie sich nur goldene, von Palmen begrünte Strände vorgestellt, aber als Erstes erblickte sie einen grünen Berg und tiefblaue Fjorde. Hinter zerklüfteten Felsen erstreckte sich Waldland, und nach einer Weile entdeckte sie doch noch einen von Palmen gesäumten Strand.

»Können Sie mir sagen, was das für ein Berg ist?« Das Englisch kam ihr noch immer ein wenig stockend über die Lippen.

Aber der Seemann, der unweit von ihr saß und an einer Pfeife zog, verstand es.

»Das ist der Mount Maunganui, ein erloschener Vulkan. Auf der Nordinsel gibt es eine Menge von diesen Burschen. Ab und zu bricht sogar einer wieder aus. Auch wenn man diese Kolosse erloschen nennt, heißt das noch lange nicht, dass sie wirklich ruhig bleiben.«

Ricarda betrachtete den Kegel. Würde er wirklich Feuer speien? Bisher kannte sie Vulkanausbrüche nur von Bildern, und obwohl es sie doch ein wenig mit Furcht erfüllte, erwachte in ihr der Wunsch, einmal einen zu erleben.

»Und Tauranga liegt direkt am Fuße dieses Vulkans?«

»Nein, auf einer Landzunge daneben. Aber wenn er wieder ausbrechen sollte, werden die Leute dort sehen müssen, dass sie wegkommen.«

Ricarda sagte darauf erst einmal nichts. Sie betrachtete nur skeptisch den Gipfel.

»Keine Sorge, Miss«, setzte ihr Nachbar unvermittelt hinzu. »Das letzte Mal ist schon sehr lange her. Damals wohnten dort nur Maori. Ich glaube, Sie und Ihre Kinder werden vor einem Ausbruch sicher sein.«

Kinder, dachte Ricarda und spürte den leichten Anflug einer Sehnsucht, die bisher immer von ihrem Willen, Ärztin zu sein, überlagert worden war. Werde ich jemals Kinder haben? Aber warum sollte ich nicht heiraten und Kinder bekommen, wenn ich erst einmal eine Praxis habe? Eine Tochter, die in meine Fußstapfen treten kann, wäre doch wunderbar ...

»Vor einigen Tieren sollten Sie sich allerdings in Acht nehmen, die dort herumkriechen.«

»Sie meinen, es gibt Schlangen in Neuseeland?«, entgegnete Ricarda lachend. Sie war als Kind bei einem Ausflug auf das Land einmal einer Kreuzotter begegnet und wusste seitdem, dass die Reptilien harmlos waren, solange man sie in Ruhe ließ.

»Nein, Miss, Schlangen gibt es in Neuseeland nicht, aber allerhand andere Kreaturen. Riesige Insekten, zum Beispiel, und Fledermäuse, die auf dem Boden herumlaufen. Und ehe ich's vergesse: Wale. Haben Sie schon mal einen Wal gesehen?«

»In Büchern«, antwortete Ricarda, worauf der Seemann auflachte und erklärte: »Ich bin früher auf einem Walfänger gefahren, dessen Heimathafen Tauranga war. Ich habe diesen Ungeheuern ins Auge geblickt. Glauben Sie mir, sie können einen Menschen samt Boot verschlucken.«

»Davor habe ich keine Angst«, erwiderte sie, und die Forscherin in ihr nahm sich vor, die Tier- und Pflanzenwelt ihrer neuen Heimat genau zu studieren.

»Sie scheinen mutig zu sein. Ihr Gatte ist ein Glückspilz.«

Ricarda zögerte. Sollte sie ihm erzählen, dass sie nicht verheiratet war? Sie wollte ihn auf keinen Fall zu Avancen ermuntern. Doch dann schalt sie sich für ihre Voreingenommenheit. Als ob jeder Mann gleich ans Heiraten dächte!

»Ich habe keinen Ehemann«, antwortete sie, ohne den Blick von der faszinierenden Landschaft abzuwenden.

»Nun, das wird sich in Neuseeland schnell ändern. Die Männer werden sich nur so darum reißen, Ihnen den Hof zu machen.«

Ricarda bezweifelte das. Neuseeland mochte das Frauenwahlrecht eingeführt haben, doch das bedeutete noch lange nicht, dass dort auch berufstätige Frauen Heiratschancen hatten.

»Wir werden sehen«, entgegnete sie knapp und verabschiedete sich mit einem Lächeln.