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Am nächsten Morgen trieb es Jack schon in aller Frühe aus dem Bett.

Die Gedanken an seine Schafherde und den Vorfall mit dem Maorijungen hatten ihn die ganze Nacht nicht losgelassen. Wieder und wieder war er die Sache durchgegangen bis hin zu dem Gespräch mit Moana. Neue Erkenntnisse hatte er dabei allerdings nicht gewonnen.

Er hoffte nun, dass ein starker Kaffee seinen Verstand ein wenig klären würde.

Nachdem er sich gewaschen, rasiert und angezogen hatte, ging er in die Küche. Dort stellte er den Kaffeetopf auf den Herd und erlaubte sich einen Blick durchs Fenster auf die Landschaft.

Nebel senkte sich auf die Bäume. Die Wolken wirkten wie riesige Vögel, die sich in den Kronen niedergelassen hatten. Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen. Er erblickte Ricarda, die der Pumpe zustrebte und nun die darunter befindliche Zinkwanne mit Wasser füllte. Dann zog sie sich das Nachthemd über den Kopf und stieg splitterfasernackt in die Wanne. Offenbar wähnte sie sich unbeobachtet.

Eigentlich hätte es der Anstand geboten, sich zurückzuziehen oder zumindest umzudrehen, aber Jacks Körper gehorchte ihm nicht. Er konnte die Augen nicht abwenden von ihrer schlanken Taille und den Kurven ihres Hinterteils, das ihn an eine der Früchte erinnerte, die hier in der Gegend wild wuchsen. Sein Mund wurde trocken vor Begehren, und sein Herz raste. Unwillkürlich stützte Jack sich auf den Herd. Er sehnte sich danach, Ricardas Haut zu spüren, sie zu streicheln und zu erkunden, er wollte sie lieben, bis sie sich glücklich und wohlig wand.

Ricarda schöpfte nun einen Eimer Wasser und übergoss sich damit. Die Tropfen glitzerten in ihrem langen offenen Haar, perlten über ihre festen Brüste. Dann zog sie ihr Nachthemd wieder über. Da sie kein Handtuch mitgenommen hatte, um sich abzutrocknen, schmiegte der Stoff sich an ihren nassen Körper und zeichnete seine anmutigen Konturen nach.

Jack seufzte, noch immer fasziniert in ihre Betrachtung versunken. Sein Verlangen, diese Frau zu besitzen, sie in die Arme zu schließen und glücklich zu machen, war übermächtig. Als der Kaffee zu blubbern begann und ein kräftiges Aroma verströmte, erwachte er aus seiner Verzückung, wandte schuldbewusst den Blick ab und trat einen Schritt beiseite.

Wenig später ging die Haustür, und nur wenige Minuten später erschien Ricarda voll angekleidet in der Küche. Ihr Haar hatte sie geflochten und zu einem Knoten zusammengesteckt.

»Guten Morgen, Jack«, begrüßte sie ihn fröhlich.

Jack erwiderte ihren Gruß mit einem Lächeln. »Guten Morgen, Ricarda. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht.«

»Ich kann nicht klagen. Immerhin habe ich dank Ihnen inzwischen eine Sorge weniger!«

Jack goss den Kaffee in zwei Becher und schnitt das Brot auf.

Ricarda beobachtete ihn fasziniert. »Es ist ungewöhnlich, einen Mann in der Küche arbeiten zu sehen.«

»Was soll ein Junggeselle sonst machen?«

»Vielleicht eine Köchin anstellen?«

»Ich habe eine Haushälterin, das reicht. Ich brauche keine große Dienerschaft.«

»Dann sind Sie eine große Ausnahme unter den Männern.«

»Das will ich hoffen!«

Jack stellte den Brotkorb auf die Mitte des Tisches und trug Butter, Früchte und Gelee auf. Außerdem schnitt er von einer Salami, die neben dem Ofen hing, ein paar dicke Scheiben ab.

Als Ricarda das erste Mal bemerkt hatte, dass seine Frühstückgewohnheiten eher den ihren ähnelten als denen der Engländer und Neuseeländer, war sie hoch erfreut gewesen. Jack hatte ihr erklärt, dass sich sein italienischer Vater nie mit den englischen Essgewohnheiten habe anfreunden können. In seinem Elternhaus habe es deshalb nie Porridge gegeben.

»Brauchen Sie Hilfe in der Praxis?«, fragte Jack, als sie sich am Tisch gegenübersaßen.

Die Ärztin blies den Dampf über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg und schüttelte den Kopf. »Während meiner gesamten Jugend standen Dienstmädchen zu meiner Verfügung. Ich war es so gewohnt, aber während meiner Studienzeit habe ich dann gemerkt, wie befreiend es ist, nicht ständig Personal um sich zu haben.«

»Ich dachte eher an eine Krankenschwester«, erklärte Manzoni lächelnd.

»Die kann ich mir leider noch nicht leisten.« Ricarda griff nach einem Stück Brot und einer Scheibe Salami. »Aber eines Tages werde ich mir sicher eine fähige Kraft suchen.«

Jack sah sie daraufhin lange an und vergaß darüber beinahe, dass er ebenfalls einen Kaffeebecher in der Hand hielt.

»Was halten Sie von einer kleinen Klavierstunde?«, fragte er plötzlich.

Ricarda war sichtlich überrascht. »Jetzt gleich?«

Natürlich erinnerte sie sich noch an ihr Versprechen. Aber ist Klavierunterricht nicht eher etwas für den Nachmittag?

»Nach dem Frühstück. Es ist noch früh am Tag. Meine Männer reiten erst in einer halben Stunde auf die Weide. Wir könnten es doch versuchen.«

Ricarda lächelte. »Wenn Sie mein Geklimper am frühen Morgen ertragen ...«

Jack nahm lächelnd einen großen Schluck Kaffee. »Keine Sorge, ich habe gute Nerven.«

 

Nach dem Frühstück führte Jack Ricarda in den Salon.

Auf dem Hof erwachte allmählich das Leben. Die Wachablösung für die Mannschaft, die über Nacht bei der Herde geblieben war, machte sich bereit. Im Salon war nicht viel davon zu spüren.

Das Morgenlicht spiegelte sich in der lackierten Oberfläche des Klaviers. Ein gepflegteres Instrument war Ricarda noch nie untergekommen. Nicht einmal der Flügel ihres Vaters war so gut poliert gewesen.

»Zunächst müsste ich mich ein wenig einspielen«, sagte sie, als sie sich auf den Schemel niederließ.

Es ist Jahre her, dass ich gespielt habe, dachte sie. Die Leidenschaft für die Medizin hat meine Liebe zur Musik verdrängt. Aber nun habe ich wieder Gelegenheit, meine Fingerfertigkeit zu schulen.

So manches Mal, wenn sie in Zürich wütend war, hatte sie große Lust verspürt, Beethoven oder Brahms zu spielen. Doch da hatte sie mangels Instrument nicht die Gelegenheit dazu gehabt.

Trotz der langen Pause verspürte sie ein erwartungsvolles Kribbeln in den Fingerspitzen. Vielleicht wäre Mozart angebracht, überlegte sie, während sie die Finger lockerte und den Deckel aufklappte.

Sie begann mit ein paar einfachen Akkorden, doch das Klangergebnis war grässlich. Das Instrument war verstimmt.

»Gibt es in Tauranga einen Klavierstimmer?«, fragte Ricarda lachend und tippte auf das G, das besonders schräg klang. »Dieses Klavier ist wunderschön, aber es muss dringend gestimmt werden. Es wurde sicher schon lange nicht mehr gespielt, habe ich Recht?«

Ein wehmütiger Schatten huschte über Jacks Gesicht. »Seit vielen Jahren nicht. Ich habe mich so danach gesehnt, seine Klänge endlich wieder zu hören.«

»Das werden Sie.« Ricarda lächelte ihn sanft an. Hat seine Verlobte wohl für ihn gespielt?, fragte sie sich. Eine Welle der Zuneigung erfasste sie, und ihre Stimme wurde weich. »Aber zunächst muss ein Klavierstimmer her. Andernfalls müssen wir befürchten, dass sich Mozart oder Beethoven im Grab umdrehen.«

Jack lachte schallend. »Ich mag Ihren Humor! Ich werde den Klavierstimmer noch heute herbitten.«

 

Kurz nachdem Jack an diesem Vormittag davongeritten war, rollte eine Kutsche auf den Hof. Ricarda säuberte in ihrer zukünftigen Praxis gerade ihre Gerätschaften, die Jack aus dem verkohlten Gebäude geholt hatte. Der Kutscher sprang vom Bock, öffnete den Kutschenschlag und half Mary Cantrell hinaus.

Froh darüber, ihre Gönnerin und Freundin wiederzusehen, trocknete sich Ricarda rasch die Hände ab, strich sich die Kleider glatt und verließ den Pavillon.

Als sie die Schritte vernahm, wirbelte Mary herum. »Ricarda!«, rief sie erfreut und kam ihr mit ausgestreckten Händen entgegen. »Wie schön, Sie so wohlbehalten zu sehen!«

»Willkommen auf Mr Manzonis Farm«, entgegnete Ricarda, während sich beide Frauen in die Arme schlossen.

»Es ist paradiesisch hier«, sagte Mary nach einem kurzen Rundblick. »Ich habe mich schon immer gefragt, wie der begehrteste Junggeselle von Tauranga wohl lebt. Leider hatten wir bislang nie die Gelegenheit, ihm einen Besuch abzustatten.«

»Nun können Sie Ihrem Gatten berichten, dass es sich lohnt, das nachzuholen.«

»Der Aufenthalt hier scheint Ihnen gut zu bekommen.« Mary musterte Ricarda prüfend.

Ricarda nickte. »Sehr sogar. Es war sehr freundlich von Mr Manzoni, mich hier aufzunehmen. Aber kommen Sie doch, setzen wir uns auf die Veranda.«

Nachdem Mary Platz genommen hatte, eilte Ricarda in die Küche und wärmte den Kaffee für Mary wieder auf, der vom Frühstück übrig geblieben war.

»Und wie sehen Ihre Pläne bezüglich Ihrer Praxis aus?«, fragte Mary, während sie die Tasse an die Lippen hob.

»Mr Manzoni hat mir freundlicherweise den Pavillon hinter seinem Haus überlassen.«

Mary zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Wirklich? Jack Manzoni scheint ein Engel in Menschengestalt zu sein. Ihr persönlicher Schutzengel, möchte man meinen.«

Ricarda spürte, dass sie errötete. Mary hat Recht, dachte sie. Jacks Fürsorge für mich scheint grenzenlos zu sein ...

»Das ist er wirklich. Und ich bin sicher, dass meine Praxis hier einen guten Platz hat. Zumindest vorübergehend.« Ricarda griff nach ihrer Kaffeetasse und nahm einen Schluck, um ihre Verlegenheit zu überspielen.

Mary bemerkte das und wechselte das Thema. »Wenn es Ihnen recht ist, würde auch ich Ihnen gern ein zweites Mal meine Hilfe anbieten.«

»Ein zweites Mal?« Ricarda schmunzelte. »Sie haben mir schon etliche Male mehr geholfen.«

»Wirklich?« Mary legte eine dramatische Pause ein, bevor sie fortfuhr. »Mag sein. Ich kann es nicht ertragen, wenn man meine Anstrengungen zunichte macht. Schon deshalb möchte ich Sie weiterhin unterstützen. Es wäre doch gelacht, wenn diese Leute mit ihren unlauteren Mitteln ihr Ziel erreichen würden! Sagen Sie mir einfach, was Sie brauchen!«

Ricarda war es beinahe peinlich. Ich werde es ihr nie vergelten können, fuhr ihr durch den Kopf. Aber Mary wollte das offenbar nicht einmal. Und sie würde auch keinen Widerspruch hinnehmen.

»Möchten Sie sich meine neuen Räumlichkeiten nicht erst mal ansehen?«

»Mit dem größten Vergnügen! Doch selbst wenn Sie künftig in einem Schuppen praktizieren wollen, werde ich mich von meiner Absicht nicht abbringen lassen.«

Wenig später führte Ricarda sie zum Pavillon.

»Jacks Mutter hätte sich darüber gefreut, dass dieses Gebäude der Medizin dienen soll«, bemerkte Mary nachdenklich. »Ich habe sie leider nicht mehr kennengelernt, aber in der Stadt hört man nur Gutes über diese Frau.«

»Dann wird dieses Unternehmen hoffentlich unter einem besseren Stern stehen als meine erste Praxis.«

»Ganz bestimmt. Jetzt, wo Doherty wieder allein in der Stadt praktiziert, wird er sich eher um seine Patienten kümmern, als Ränke gegen Sie zu schmieden.«

»Sie meinen, dass er mir die Schläger auf den Hals gehetzt hat?«

Ricarda war schockiert. Trotz der Differenzen mit ihrem Kollegen glaubte sie nicht, dass Doherty zu solchen Mitteln greifen würde. Die brutale Vorgehensweise passte eigentlich eher zu Leuten, die Borden engagieren würde.

Mary wägte ihre Worte gut ab. »Ich glaube nicht, dass er den Schneid dazu hätte. Aber neuerdings hat er öfter mit Borden zu tun. Er untersucht dessen Freudenmädchen auf venerische Leiden.«

Und mir hat er deswegen noch gedroht, wunderte Ricarda sich. Ob ihn irgendwer dazu gezwungen hat?

»Jetzt also doch?«

Mary nickte. »Einige der Mädchen arbeiten seitdem nicht mehr. Wäre man kühn, könnte man behaupten, dass da eine Hand die andere gewaschen hat. Der Verdacht drängt sich jedenfalls auf.«

»Aber Beweise dafür gibt es nicht«, entgegnete Ricarda nachdenklich.

»Natürlich nicht«, seufzte Mary. »Was ich sehr bedauere. Käme heraus, dass Borden und Doherty hinter dem Anschlag stecken, hätte man endlich eine Handhabe, diesen Schandfleck von Bordell zu schließen. Und Doherty würde endlich Ärger kriegen, weil er Ihnen Schaden zugefügt hat.«

Eine kurze Pause entstand, in der nur das Rauschen der Bäume zu hören war.

Dann sagte Mary: »Aber eigentlich wollten wir ja darüber reden, was Sie für den Wiederaufbau benötigen.«

Ricarda bewunderte, wie schnell ihre Freundin ein Thema beiseiteschieben konnte. Sie selbst war noch immer beklommen wegen des ungeheuerlichen Verdachts. »Ich könnte vor allem ein wenig Mundpropaganda gebrauchen«, erklärte sie schließlich. »Meine Patientinnen sollten erfahren, dass meine Praxis hier neu eröffnet wird.«

»Das werden sie, verlassen Sie sich drauf.«

»Danke, Mary, das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Aber ich dachte bei der Hilfe auch an materielle Dinge.«

Ricarda schüttelte den Kopf. »Die brauche ich vorerst nicht. Meine Instrumente sind größtenteils erhalten geblieben, und um die Untersuchungsliege möchte sich Jack kümmern.«

Mary wirkte ein wenig enttäuscht. »Sie lassen es mich aber wissen, wenn es Ihnen an etwas fehlen sollte.«

»Versprochen.«

Damit zog Ricarda die Pavillontür weit auf.

Mary ging ein paar Schritte in den Raum und blickte sich um.

»Wirklich schön. Ich bin davon überzeugt, dass es den Frauen nicht leidtun wird herzukommen. Wenn ich Sie wäre, würde ich an diesem Ort bleiben.«

»Wenn Mr Manzoni es mir gestattet, gern.«

Mary lächelte still in sich hinein.

 

Nachdem Jack auf der Weide alles ruhig vorgefunden hatte, ritt er zum Dorf der Maori, um sich nach dem geprügelten Jungen zu erkundigen.

Er traf Moana, umringt von einigen Frauen, auf dem kainga. Das muntere Gespräch zwischen ihnen erstarb sogleich, als sie Jack bemerkten. Die Frauen starrten ihn feindselig an. Nur Moana kam auf ihn zu.

»Haere mai, Moana, ich wollte mich erkundigen, wie es Ripaka geht.«

»Er krank sein von Verletzungen. Wunden entzündet, ich aber machen rongoa.«

Das klingt nicht gut, dachte Jack. Wenn der Junge den Wundbrand bekommt, wird auch Moana ihn nicht retten können.

»Du gehen mit mir, wir reden?«, fragte sie, worauf er nickte.

»Ariki sehr erzürnt über schlagen Ripaka«, eröffnete sie ihm, nachdem sie sich ein Stück von den anderen entfernt hatten. »Wollen Strafe für Mann. Ich sagen: Kiritopa sorgen für Strafe.«

Jack musste sich sehr beherrschen, um nicht seufzend die Augen zu schließen. Diese Hohlköpfe!, ging es ihm durch den Sinn. Durch ihren Angriff steht alles auf dem Spiel. Letztlich hängt der Frieden in unserer Gegend vom Wohlwollen des Häuptlings ab.

»Und was sagen die Krieger dazu?«

»Sie noch friedlich, wenn auch sagen, dass strafen weiße Männer.«

Wenn noch so ein Vorfall passiert oder vielleicht sogar ein unschuldiger Maori stirbt, werden einige das Friedensabkommen vergessen.

»Moana, bitte teile dem ariki noch einmal mit, dass mir der Vorfall sehr leidtut und dass ich den Schuldigen bestrafen werde«, bat er Moana eindringlich. »So etwas wird nicht wieder vorkommen.«

Moana legte ihm die Hand auf die Brust.

»Ich weiß, dass du guter Mann. Ariki das auch wissen. Er nicht wird führen Krieg gegen dich. Aber du achten auf deine Männer. Nicht alle gutes Herz wie du.«

Das wusste Jack. Doch mittlerweile fragte er sich, wem er überhaupt noch vertrauen konnte.

Beunruhigt ritt er schließlich aus dem Dorf und hoffte, dass die Krieger vernünftig genug waren, nichts gegen seine Männer zu unternehmen.

 

Es war nicht einfach gewesen, Manzonis Farm zu verlassen, ohne Verdacht zu erregen. Gegenüber Kerrigan hatte Hooper behauptet, dass heute eine seiner Verwandten in Tauranga eintreffen werde, die er in Empfang nehmen wolle. Der Vorarbeiter war zunächst nicht besonders erfreut darüber gewesen, dass einer der Männer so kurzfristig freihaben wollte, doch als Nick versprach, dafür die Nachtschicht zu übernehmen, hatte er ihm den Wunsch bewilligt.

Um seine Absicht zu verschleiern, ritt Hooper tatsächlich erst einmal nach Tauranga. Von dort aus machte er sich zum Anwesen von Ingram Bessett auf. Eigentlich sollte er sich dort nicht zeigen, schon gar nicht am helllichten Tag. Aber Nick wusste sich keinen anderen Rat.

Er zügelte sein Pferd und erklomm wenig später die Veranda. Auf sein Läuten hin erschien ein Mann im Frack an der Tür. Sieht aus wie ein Pinguin, spottete Hooper im Stillen.

»Was wünschen Sie?«, fragte der Diener, nachdem er sein Gegenüber abschätzig gemustert hatte.

»Ich will Mr Bessett sprechen.«

Es war unverkennbar, dass der Butler sich naserümpfend fragte, wie er bloß dazu käme, aber er antwortete höflich: »Einen Moment, ich werde nachsehen, ob Mr Bessett abkömmlich ist. Wen darf ich melden?«

»Mein Name ist ... Miller«, log Hooper eingedenk der Abmachung, die er mit Bessett getroffen hatte.

»Warten Sie bitte hier!«

Der Butler schloss die Tür vor der Nase des Besuchers.

Hooper blickte sich um. Bessetts Garten war wirklich eine Pracht. Aus dem Pferdestall erklang leises Gewieher.

Vielleicht kann ich mir auch irgendwann ein Haus mit Garten und schöne Pferde leisten, dachte Hooper. Und dann werd ich mir eine Frau nehmen und es mir gutgehen lassen.

Wenig später wurde die Tür aufgerissen.

Bessetts Miene verfinsterte sich, als er den Besucher erkannte.

»Was wollen Sie?«, fragte er, während er dem Butler mit einem Wink bedeutete, sich zu entfernen.

»Ich dachte, ich frag mal nach Arbeit«, scherzte Nick, doch die Miene des Adligen verdeutlichte ihm sofort, dass der keinen Sinn für Scherze hatte.

»Kommen Sie auf den Punkt!«, forderte Bessett im Flüsterton, nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte.

»Wir haben uns einen Maori gegriffen und ihm 'ne kräftige Abreibung verpasst. Mittlerweile glauben viele von Manzonis Leuten, dass sie die Schuldigen sind.«

»Das sind doch mal gute Nachrichten!« Bessetts Miene hellte sich ein wenig auf.

»Allerdings ist Manzoni nicht überzeugt. Er hat dem Maoribengel geglaubt und uns Strafen angedroht.«

»Das sieht ihm ähnlich. Sie sollten Ihre Bemühungen verstärken.«

»Und wie soll ich das machen? Wir dürfen diese Bastarde nicht mehr anfassen. Wenn man's genau nimmt, sind sie auch nicht ...«

»Hüten Sie Ihre Zunge!«, fuhr Bessett ihn an und blickte sich misstrauisch um. Wer weiß, wer jetzt wieder lange Ohren macht, fuhr ihm durch den Kopf. »Es ist nicht meine Angelegenheit, sich etwas auszudenken, sondern Ihre. Lassen Sie sich gefälligst was einfallen!« Damit verschwand Bessett wieder im Haus.

 

Der Klavierstimmer Gregory Nolan war ein älterer Herr mit dichtem schneeweißem Haar und dem Gehör eines Luchses.

Kurz nachdem Mary Cantrell die Farm verlassen hatte, war sein Einspänner vorgefahren. Mit altmodischer Höflichkeit hatte er sich Ricarda vorgestellt, und sie hatte ihn ins Haus geleitet.

Fasziniert beobachtete sie nun, wie er die Stimmung ohne ein nennenswertes Hilfsmittel vornahm. Die Stimmgabel hatte er nur ein einziges Mal benutzt, um den ersten Ton festzulegen.

»Mit Klavieren ist es wie mit Frauen«, sinnierte er halblaut bei seiner Arbeit. »Schenkt man ihnen keine Beachtung, reagieren sie verstimmt. Sie sollten das Klavier spielen, so oft Sie können, Miss.«

Sie stimmte ihm zu und beobachtete, wie er die Augen schloss und seine Hände auf die Tasten legte. Zu ihrer großen Überraschung ertönte eine Melodie von Schumann.

Sogleich fühlte sich Ricarda in ihre Kinderzeiten zurückversetzt. Damals hatte sich ihre Mutter ebenfalls von Zeit zu Zeit an den Flügel gesetzt. Ihre Lieblingsmelodien waren die von Schumann gewesen.

Beinahe drohte die Erinnerung und auch das aufkeimende Heimweh Ricarda zu überwältigen. Tränen stiegen in ihre Augen, und ein Kloß schnürte ihr den Hals zu.

Doch dann setzte der Klavierstimmer abrupt ab. »Wenn Sie es von nun an regelmäßig spielen, werden Sie meine Dienste nicht so schnell wieder benötigen.« Damit klappte er den Deckel zu und verabschiedete sich, ohne ein Honorar zu fordern.

 

Am Abend setzte sich Ricarda noch einen Moment lang vor den Pavillon. Die Luft war warm und erfüllt von einem vielstimmigen Wispern. Ricarda richtete den Blick auf die Sterne. Sie sahen in diesen Breiten vollkommen anders aus, auch das Band der Milchstraße erschien ihr verändert.

Hufschlag riss sie aus ihrer Betrachtung. Wenig später erschien Jack.

»Ein schöner Abend, nicht wahr?«

Ricarda nickte. »Es ist das erste Mal seit langem, dass ich mir die Sterne bewusst anschaue.«

»Ist Ihnen aufgefallen, dass sie hier auf dem Kopf stehen?«

»Ich habe mir so etwas gedacht.«

»Die Maori haben ganz eigene Namen für die Sternbilder. So nennen sie den Schützen Marere-o-tonga und die Gürtelsterne des Orion Tautoru.«

»Ich fürchte, ich würde weder das eine noch das andere erkennen«, gab Ricarda ein wenig verlegen zu.

»Wenn Sie möchten, zeige ich sie Ihnen bei Gelegenheit.«

»Das würde mich freuen.«

»Ich habe Ihnen etwas aus der Stadt mitgebracht«, sagte er nach einer kurzen Pause.

Ricarda hob überrascht die Augenbrauen. »Der Klavierstimmer war doch bereits hier!«»Den meinte ich nicht. Wenn Sie mit reinkommen, gebe ich es Ihnen.«

Im Salon, auf dem blank polierten Holztisch neben dem Klavier, stand eine nagelneue Arzttasche aus braunem Leder.

»Sie wurde frisch aus Wellington geliefert. Ich dachte, ich kaufe sie für Sie, bevor Ihr Kollege sie Ihnen vor der Nase wegschnappt.«

Ricarda ließ die Finger vorsichtig über den Verschluss gleiten.

»Sie ist wunderschön!«

»Öffnen Sie sie!«, forderte Jack sie auf.

Nun erlebte Ricarda noch eine Überraschung. In der Tasche befanden sich ein paar nagelneue Instrumente.

»Aber das wäre doch nicht nötig gewesen!«

»Ich glaube schon, dass das nötig war«, beharrte Jack lächelnd. »Eine Arzttasche ist doch keine Arzttasche, wenn kein Instrumentarium drin ist!«

Ricarda schüttelte überwältigt den Kopf und fiel Jack unvermittelt um den Hals.

»Es lohnt sich offenbar wirklich, gute Taten zu vollbringen«, bemerkte er scherzhaft, während er ihre Umarmung beinahe schüchtern erwiderte.

»Sie haben die Tasche doch nicht gekauft, damit ich Sie umarme, oder?«

»Aus welchem Grund denn sonst?«

»Aus einem anständigen natürlich.«

Jack antwortete nichts, er sah Ricarda nur innig an.

Sie spürte, dass ihr Herz nun schneller klopfte und eine unendliche Freude in ihr aufstieg. Ich hätte jetzt wirklich nichts dagegen, wenn er mich küssen würde, gestand sie sich ein.

Ein lauter Ruf zerstörte diesen magischen Moment.

»Mr Manzoni!«

Es war Tom Kerrigans Stimme, untermalt von Pferdewiehern.

Alarmiert stürmte Jack aus dem Salon. Ricarda folgte ihm.

Der Vormann war nicht allein gekommen. Zusammengesunken saß Nick Hooper auf einem Pferd, dessen Zügel Kerrigan an seinem Sattel festgemacht hatte.

»Um Himmels willen«, presste Ricarda hervor. Im Licht, das aus dem Haus fiel, konnte sie nicht genau erkennen, welcher Art seine Verletzung war. Aber sie sah deutlich, dass eines seiner Hosenbeine blutgetränkt war.

»Hooper hat es beim Kontrollritt erwischt«, berichtete Kerrigan. »Als er zu uns kam, konnte er sich nur noch knapp im Sattel halten. Ich habe ihm einen notdürftigen Verband angelegt, aber es ist wohl besser, das Fräulein Doktor schaut mal drauf.«

Ricarda lief zu dem Verletzten. In dessen Hose, die nur so vor Blut glänzte, entdeckte sie einen langen Schnitt. Die Wunde darunter musste bedrohlich groß sein.

»Bringen Sie ihn in die Praxis! Das muss ich vermutlich nähen.«

Kerrigan schwang sich aus dem Sattel. Er und Manzoni halfen Hooper vom Pferd.

»Hooper, können Sie mich hören?«, fragte der Farmer, doch der Verletzte stöhnte nur. Wahrscheinlich stand er kurz vor einer Ohnmacht.

»Schnell, kommen Sie!« Ricarda hatte inzwischen eine Petroleumlampe geholt, mit der sie den Männern den Weg wies.

Da ihre Untersuchungsliege noch nicht repariert war, betteten sie Hooper auf den Boden. Ricarda hatte schnell ein Laken ausgebreitet und entzündete nun weitere Lampen. Jetzt sah sie, dass der Verletzte leichenblass war.

»Er hat viel Blut verloren. Holen Sie mir bitte alles Verbandszeug, das Sie im Haus haben, Jack! Und Sie, Mr Kerrigan, halten bitte diese Lampe, damit ich mir die Wunde ansehen kann.« Mit diesen Worten griff Ricarda nach einer Schere und legte Hoopers Wunde vorsichtig frei.

Entsetzt stellte sie fest, dass sie noch größer war, als sie vermutet hatte. Hoffentlich hat er noch nicht zu viel Blut verloren!, ging ihr durch den Kopf. Doch dann wurde sie ganz ruhig.

»Das war einer von denen«, stöhnte Hooper. »Einer von den Schwarzen.«

Jack, der bereits wieder da war, versagte sich, ihn darauf hinzuweisen, dass dieser Ausdruck falsch war. »Wie ist es passiert?«, fragte er nur.

»Er kam plötzlich aus dem Busch und hat mir einen Hieb versetzt. Ich dachte, er macht mich kalt.«

»Und was haben Sie getan?«

»Natürlich den Revolver gezogen. Ich wollte den Kerl abknallen, aber er war bereits wieder verschwunden.«

Das hörte sich nicht nach einem Maorikrieger an. Die betrachteten einen Rückzug nämlich in der Regel als Schande. Erst recht, wenn sie sich für ein Stammesmitglied oder einen Freund rächen wollten.

»Ich fürchte, Sie müssen die Befragung verschieben«, schaltete sich Ricarda ein und bedeutete Jack, dass er zurücktreten solle.

»Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen etwas Äther«, wandte sie sich an ihren Patienten.

Hooper verneinte. »Ich halt das schon aus, Doc!«

»Wie Sie meinen«, entgegnete Ricarda. »Mr Kerrigan, leuchten Sie mir bitte!«

Als der Vormann die Lampe in Position gebracht hatte, desinfizierte Ricarda die Wunde mit Karbollösung, drückte die Wundränder zusammen, klammerte ein paar Gefäße und setzte mit geschickten Händen eine gerade Naht.

Nachdem Ricarda die Operation beendet hatte, wurde Hooper von den Männern ins Mannschaftsquartier getragen. Ihr Patient hatte die Prozedur tapfer durchgestanden, ohne auch nur einmal Whisky oder Äther zu verlangen, und war vor Erschöpfung eingeschlafen. Bis er den Blutverlust verwunden hatte, würde es eine Weile dauern. Ricarda übertrug einem seiner Kameraden die Fürsorge für den Kranken und schärfte ihm ein, sie sofort zu rufen, sollte er etwas Ungewöhnliches bemerken. Dann kehrte sie mit Jack zum Pavillon zurück.

Jack setzte sich auf einen Stein vor dem Gebäude und blickte in die Sterne.

»Bewundernswert, wie ruhig Sie ihn versorgt haben, Ricarda«, sagte er, als sie neben ihn trat und ihre Glieder reckte, die vom Knien neben dem Patienten ganz lahm geworden waren.

»Ach, das war doch nichts Besonderes. Nick ist ein zäher Bursche. Ich bin sicher, dass er es überstehen wird.«

Jack nickte. »Ich muss etwas unternehmen. Ich kenne Moana schon sehr lange und vertraue ihr. Aber es wäre möglich, dass einige Krieger insgeheim Groll gegen mich hegen.«

»Ich glaube nicht, dass dieser Anschlag Ihnen gegolten hat«, hielt Ricarda dagegen. »Eher haben die Männer, die den jungen Maori verprügelt haben, Hass auf sich gezogen. Hooper war nicht zufällig einer von ihnen?«

Jack nahm einen Schluck aus einer flachen Flasche, die Ricarda erst jetzt bemerkte. »Doch, er war dabei.«

»Sehen Sie!«

»So einfach ist das aber nicht«, entgegnete er. »Gut, es ist möglich, dass ein Krieger Rache für Ripaka nehmen wollte. Aber was ist mit den vorherigen Anschlägen?«

»Dann sollten Sie die Polizei einschalten«, schlug Ricarda vor. »Die Constables haben ganz andere Möglichkeiten zu ermitteln. Außerdem ziehen Sie sich dann keinen unnötigen Groll zu.«

»Die Constables werden sich bedanken!« Jack schnaubte spöttisch, als hätte er schon genügend Erfahrungen mit der örtlichen Polizei gemacht. »Wenn es um die Maori geht, halten die sich gern raus. Sie sind der Meinung, dass wir das selbst klären sollen. Außerdem, wie weit sind die Constables in Ihrem Fall bisher gekommen?«

Ricarda konnte nicht behaupten, dass sie über die stockenden Ermittlungen erfreut war. Aber da die Constables nur ihre vage Personenbeschreibung hatten, konnte sie ihnen vermutlich nicht mal einen Vorwurf machen.

»Das sagt doch alles!«, fuhr Manzoni beharrlich fort, während sein Blick zornig glühte. »Die Kerle, die Sie beinahe getötet hätten, sind bestimmt über alle Berge. Oder sie halten sich ganz frech in einer anderen Stadt auf der Nordinsel auf, wohl wissend, dass ihnen nichts geschehen wird.«

Wenn sie ehrlich war, teilte sie diese Befürchtung. Und es ärgerte sie ebenfalls, dass die Mistkerle ohne Strafe davonkamen. Aber dennoch vertraute sie immer noch auf das Gesetz.

»Möchten Sie auch?«, fragte Jack plötzlich. Der Flachmann, den er ihr entgegenhielt, verströmte einen starken Whiskygeruch.

»Nein, danke.«

Für eine Weile herrschte Schweigen. Es schien, als müsse Jack die Gedanken einfangen, die bisher wie lose Blätter umhergeflattert waren.

»Ihr Name war Emily«, sagte er unvermittelt.

Dieser plötzliche Themenwechsel erstaunte Ricarda, doch sie stellte keine Fragen. Wahrscheinlich tut der Whisky seine Wirkung, sagte sie sich.

»Ich habe sie in Wellington kennengelernt, wo sie bei Verwandten zu Besuch war. Sie war schön und zart wie eine Orchidee. Ich hätte gewarnt sein müssen. Sie war eben keine Frau für dieses raue Land.«

Bin ich denn eine Frau für dieses raue Land?, fragte sich Ricarda schweigend.

»Wir haben uns verlobt, doch noch vor der Hochzeit wurde sie krank. Der Arzt wusste nicht, was ihr fehlte. Sie wurde immer schwächer, bekam hohes Fieber ...«

»Das klingt nach Leukämie.«

»Soll es laut Aussage des Doktors nicht gewesen sein. Moana glaubt, dass Emily unter einem Fluch gestanden hat. Vielleicht der Fluch ihres Vaters, der gegen unsere Verbindung war.«

»Das war sicher nicht der Grund«, erklärte Ricarda sanft.

»Sie glauben nicht an Flüche?«

Ricarda schüttelte lachend den Kopf. »Wenn Flüche helfen würden, wäre in meiner Studienzeit einigen Leuten ein Buckel gewachsen.«

»Und was halten Sie davon, wenn ich Ihnen sage, dass der Diebstahl eines heiligen Gegenstandes der Maori einen Fluch von solcher Tragweite auf Sie lädt, dass er sogar Ihre Nachkommen beeinträchtigen kann?«

»Das ist doch nur eine Geschichte, die die Menschen davon abhalten soll, irgendetwas aus dem Tempel zu stehlen, Jack.«

»Aber es darauf anlegen würden Sie nicht?«

»Nein, denn für gewöhnlich stiehlt man nicht. Nirgendwo, weder in Heiligtümern noch woanders.«

Jacks Lächeln verging, während er auf den Flachmann in seiner Hand starrte. »Emily starb, bevor ich sie heiraten konnte. Da war sie gerade mal einundzwanzig. Ihr Vater hat mir die Schuld dafür gegeben und ihren Leichnam nach England überführt. Aus Rache verwehrte er mir den Ort, an dem ich um sie trauern konnte.«

Deshalb können Sie sie auch nicht vergessen, dachte Ricarda und empfand tiefes Mitleid mit Jack. Kein Schmerz brennt schlimmer als der Verlust eines geliebten Menschen.

Gemeinsam blickten sie schweigend in die Dunkelheit, dann erhob er sich.

»Ich denke, wir sollten für heute Schluss machen. Gute Nacht, Ricarda.«