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Nick Hoopers Zustand war ein paar Tage lang kritisch. Trotz Desinfektion und sauberer Verbände bekam er Fieber. Als kühle Wickel und Sitzbäder nichts mehr ausrichten konnten, ritt Manzoni noch spät nachts in die Stadt und holte Mr Spencer aus den Federn. Dank des Fieberpulvers, das er ihm nach Ricardas Anweisung mischte, sank die Temperatur schließlich, und die Wunde heilte.
Als klar wurde, dass Hooper genesen würde, unternahm Ricarda kleine Ausflüge in die nähere Umgebung. Ihr Ziel war es, Pflanzen zu entdecken, die sie als Arznei gegen Fieber und Infektionen verwenden konnte. Immerhin hatte die Heilerin pflanzliche Medikamente gegen ihre Beschwerden eingesetzt.
Die Fülle und Farbenpracht der hiesigen Pflanzenwelt war überwältigend. Ricarda sammelte zahlreiche Exemplare, wobei sie einige Kräuter frisch untersuchte, andere für ein Herbarium presste.
An einem Vormittag, als Ricarda gerade die trocknenden Pflanzen überprüfte, steckte Jack den Kopf zur Tür herein.
»Störe ich?«, fragte er, da er wieder einmal feststellte, dass sie vollkommen in ihre Arbeit versunken war.
Ricarda sah überrascht auf und lächelte erfreut. »Nein, keineswegs, kommen Sie rein!«
Manzoni beobachtete, wie vorsichtig sie die Finger über eines der Präparate gleiten ließ. Offenbar war es noch nicht trocken genug, denn sie deckte es gleich wieder mit Papier ab.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Ricarda, während sie das Papier mit einem dicken Stein beschwerte.
»Bisher nicht«, entgegnete Jack. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Nach Ihrem heldenhaften Einsatz in den vergangenen Tagen haben Sie ein wenig Erholung verdient.«
Ricarda blickte ihn überrumpelt an. Habe ich denn so erledigt ausgesehen?, fragte sie sich.
»Vielen Dank für Ihre Fürsorge, aber ich fühle mich keineswegs am Ende meiner Kräfte.«
Er führt irgendwas im Schilde, dachte sie, und ihr Herz begann schneller zu schlagen.
»Dennoch sollten Sie auch mal etwas Erfreuliches erleben.«
»Und was haben Sie da im Sinn?«
»Wussten Sie, dass die Maori um diese Zeit Neujahr feiern?«
Ricarda schüttelte den Kopf.
»Um diese Zeit werden am Sternenhimmel die Matariki sichtbar«, erklärte Jack. »Bei den Europäern heißen sie Plejaden.« Er verstummte. Es schien, als müsse er sich die Worte für sein Anliegen mühsam zusammenklauben. »Lassen Sie uns heute Nachmittag zum Neujahrsfest gehen!«, schlug er Ricarda schließlich vor.
»Ins Maoridorf?«, fragte Ricarda überrascht.
»Ja, genau«, antwortete Jack, von einer plötzlichen Nervosität übermannt.
Wird sie mir anmerken, dass dieser Besuch kein reiner Freundschaftsbesuch ist, sondern eher meinen Nachforschungen dienen soll?
Entgegen Ricardas Ratschlag hatte er die Polizei nicht eingeschaltet, sondern Kerrigan angewiesen, ein paar vertrauenswürdige Männer in der näheren Umgebung patrouillieren zu lassen.
Bisher war alles ruhig geblieben.
»Wird ihnen das denn recht sein nach den Spannungen der letzten Wochen?« Damit riss Ricarda ihn aus den Gedanken.
»Moana hat mich eingeladen«, antwortete Jack. »Sie möchte, dass wir wieder Vertrauen zueinander fassen. Allerdings müssen Sie vorher das powhiri durchstehen.«
»Was ist das?«
»Ein Begrüßungsritual, bei dem man versucht, die wahre Gesinnung eines Gastes herauszufinden. Früher hat man Besucher, die es nicht durchgestanden haben, sofort angegriffen und oftmals getötet.«
Ricarda schnappte erschrocken nach Luft. »Das klingt nicht gerade einladend.«
»Mittlerweile ist dieses Ritual harmlos«, winkte Jack ab. »Damals war das powhiri lebenswichtig für den Stamm, aber heutzutage wird niemand mehr getötet. Es ist für die Maori ein Brauch wie bei uns das Händeschütteln oder der Handkuss zur Begrüßung.«
Faszinierend, ging es Ricarda durch den Kopf.
»Man kann die Maori und ihre Kultur nur verstehen, wenn man ihre Bräuche erlebt«, fuhr Jack fort. »Ich bin sicher, dass Sie von einem Besuch profitieren werden.«
Ricarda lächelte ihn an. »Sie haben mich überzeugt. Ich werde mitkommen.«
»Dann werden wir heute gegen drei Uhr aufbrechen. Zu Fuß braucht man eine Weile ins Dorf.«
»Ich werde bereit sein«, entgegnete Ricarda. »Ich wäre allerdings sehr dankbar, wenn Sie mir erklären könnten, was ich dort zu tun habe, Jack.«
»Keine Sorge, das mach ich gern.«
Bevor Jack noch etwas hinzufügen konnte, klopfte es. Als Ricarda sich umwandte, erblickte sie Maggie Simmons in der Tür.
»Entschuldigen Sie, Doktor Bensdorf, ich habe gehört, dass Sie Ihre Praxis jetzt hier haben.«
Offenbar hatte Marys Reklame für diesen Ort bereits gefruchtet.
»Ja, Mrs Simmons, kommen Sie rein. Ich kümmere mich sofort um Sie.«
Jack Manzoni zog sich diskret zurück.
Beflügelt von der leichten Besserung, die sie bei Maggie Simmons festgestellt hatte, und der fortschreitenden Heilung Hoopers, erlaubte sich Ricarda, ihrer Vorfreude auf das Maorifest nachzugeben.
Eine seltsame Aufregung befiel sie - beinahe wie damals in Berlin, als sie auf einem Debütantinnenball ihren ersten Walzer getanzt hatte. Beim powhiri erwartete zwar niemand einen vollendeten Auftritt in einer Robe mit Reifrock und eng geschnürtem Mieder, dennoch gab es gewiss einiges, was sie beachten musste, um sich nicht zu blamieren.
Zur geplanten Zeit führte Jack Ricarda auf den Weg zum Dorf. Obwohl sie inzwischen etwas von der Flora und Fauna der Nordinsel gesehen hatte, fand Ricarda den Pfad, den sie beschritten, beinahe mystisch. Es wisperte, knackte und säuselte ringsum, als hielten sich im wuchernden Grün Elfen versteckt, die sich in ihrer Sprache etwas zuraunten. Jack zeigte Ricarda scheue Vögel, Kiwis, die sich unter Farnbüschen duckten. Über ihnen stimmten Keas lautes Geschrei an und flatterten auf.
»Zu Nachtzeiten ist es hier noch aufregender«, erklärte Jack, während er ein paar Lianen beiseitestrich, die von einem Baum herabhingen. »Dann kann man seltene Fledermäuse beobachten und noch manch andere Tiere, die einem Europäer wahrscheinlich einen Riesenschrecken einjagen würden.«
Ricarda genoss es, mit Jack durch diese üppige Natur zu wandern und seinen Erklärungen zu lauschen. Nach einer Stunde erreichten sie das Dorf. Das mit Schnitzereien verzierte Versammlungshaus brachte Ricarda zum Staunen.
»Die Maori sind wahre Künstler.«
»Das sind sie. Die Schnitzkunst ist bei ihnen heilig. Sehen Sie die Figuren dort?«
Jack deutete auf riesige Holzgebilde, die Gesichter darstellten, die dem Betrachter die Zunge rausstreckten. Die Figuren erinnerten Ricarda an Tikis, die sie in einer wissenschaftlichen Zeitschrift gesehen hatte.
»Was haben sie zu bedeuten?«
»Sie sollen böse Geister abschrecken. Und Feinde natürlich. Gewissermaßen sind sie schon ein kleiner Vorgeschmack auf das powhiri. Dabei werden Ihnen die Männer auch die Zunge zeigen, also erschrecken Sie nicht.«
»Was muss ich denn tun?«, fragte sie, während das Gefühl sie beschlich, dass sie beobachtet wurden.
»Wenn Ihnen der Krieger einen Zweig vor die Füße wirft, werden Sie ihn aufheben und ihm in die Augen sehen«, erklärte Jack. »Nachdem Sie diese Prüfung bestanden haben, werden Sie gefragt, woher Sie kommen. Nennen Sie ein Meer, das an Ihr Land grenzt, und einen Berg Ihrer Heimat. Da Sie eine pakeha sind, wird man von Ihnen nicht erwarten, dass Sie die Gesänge beherrschen. Geben Sie sich interessiert, und schweigen Sie taktvoll. Den Versuch mitzusingen würde man nur als Beleidigung betrachten. Wenn die Zeremonie vorüber ist, beginnen die Feierlichkeiten.«
Ricarda war beeindruckt. Welchen Berg und welches Meer meines Heimatlandes soll ich nennen?, fragte sie sich. In Berlin gibt es kein Gebirge. Die Alpen vielleicht? Und was ist mit dem Meer? Treffender, als die Ost- oder Nordsee zu nennen, wäre es vielleicht, die Spree und die Havel zu erwähnen, aber das waren Flüsse.
Nachdem sie eine Weile an der Dorfgrenze gewartet hatten, erschien Moana. Offenbar hatte sie mit Ricardas Besuch gerechnet.
»Haere mai«, grüßte sie und beugte sich vor.
Ricarda blickte unsicher zu Jack, der ihr bedeutete, es ihr gleichzutun. Nachdem sich Stirn und Nasen der beiden Frauen kurz berührt hatten, richtete sich Moana wieder auf.
»Ariki mit dir sprechen. Du machen powhiri.«
Ariki? War das ein Gott oder ein Dorfbewohner? Doch Ricarda hatte keine Zeit, der Frage nachzugehen. Auf dem kainga wurden sie nun von den Dorfbewohnern umringt. Die Männer trugen allesamt Baströcke und Federschmuck. Ihre Gesichter waren zur Hälfte oder sogar ganz tätowiert, und in den Händen hielten sie federgeschmückte Speere, als zögen sie in den Kampf. Die Frauen hielten sich ein wenig im Hintergrund. Auch sie trugen Baströcke und waren mit Blumen geschmückt. Ricarda entdeckte unter ihnen Schönheiten, die Maler auf der ganzen Welt sicher liebend gern auf die Leinwand gebannt hätten.
Besonders die Frauen und Mädchen musterten sie eindringlich. Auch die Männer sahen sie an, aber ihre Mienen wirkten gleichgültig.
Schließlich erschien ein Mann in einem Mantel, der auf den ersten Blick aus einem weichen Fell zu bestehen schien. Bei näherem Hinsehen erkannte Ricarda, dass er aus Federn gefertigt war. Sein Träger war gewiss der Häuptling.
Er musterte Ricarda und Jack, dann griff er nach seinem Speer. Damit führte er eine Drohgebärde aus und streckte die Zunge so weit heraus, dass er den Figuren am Versammlungshaus verblüffend ähnlich sah. Anschließend schleuderte er einen Zweig in Ricardas Richtung.
Mit klopfendem Herzen hob sie ihn auf und blickte dem Häuptling direkt in die Augen. Die bernsteinfarbenen Iris verliehen ihm etwas Unheimliches.
Nachdem Ricarda die Probe der Furchtlosigkeit bestanden hatte, fragte der ariki sie etwas, was sie nicht verstand. Jack bat sie, dem Häuptling ihr Meer und ihren Berg zu nennen.
Deutschland ist nicht mehr meine Heimat, dachte Ricarda und antwortete deshalb: »Pazifik und Mount Maunganui.«
Die Maori lachten.
Habe ich etwas Falsches gesagt?, fragte sich Ricarda erschrocken, doch der Häuptling nickte freundlich und zog sich zurück.
»Diesen Teil hätten Sie geschafft«, flüsterte Jack von der Seite. »Jetzt bleiben Sie einfach stehen, und lauschen Sie den Gesängen.«
Ricarda war überwältigt von der Tonvielfalt, die bei diesen Liedern zum Tragen kam. Der Gedanke, dass diese Weisen schon seit vielen Jahrhunderten gesungen und von Generation zu Generation tradiert wurden, verursachte ihr eine Gänsehaut. Schon nach wenigen Augenblicken fühlte sie sich wie in Trance. Sie konnte sich gut vorstellen, warum die ersten Entdecker geglaubt hatten, das hier sei das Paradies.
Nachdem das powhiri beendet war, folgten Jack und Ricarda den anderen ins Versammlungshaus. Das Innere des marae war mit Blüten geschmückt, die Ricarda auf ihren Wanderungen gesehen hatte. Entgegen ihrer Vermutung wurde hier das Festmahl allerdings nicht eingenommen. Es lagen zwar Kissen bereit, aber in dieser Runde sollte nur gesungen und den Göttern gedankt werden.
Diesmal beeindruckten die Gesänge Ricarda noch stärker. Der Raum verschwamm vor ihren Augen, und eine seltsame Leichtigkeit überkam sie, die erst von ihr abfiel, als die Sänger verstummten.
Zum Essen begaben sich alle Anwesenden in ein anderes Gebäude.
»Dieses Haus dient als Speisesaal«, erklärte Jack ihr leise. »Im Versammlungshaus zu essen würde den Ort entweihen.«
Auch dieser Raum war mit frischen Blüten geschmückt. Die Speisen, die in dessen Mitte auf großen Blättern angerichtet waren, verströmten einen herrlichen Duft und erschienen Ricarda ebenso farbenfroh wie exotisch. Teller und Besteck suchte man hier vergebens. Das Essen wurde mit der Hand eingenommen. Das hua whenua kannte Ricarda bereits, ebenso die Süßkartoffel, die hier kumara genannt wurde. Bei den anderen Gerichten konnte sie nur raten, worum es sich handelte.
»Was sind das für Vögel?«, fragte Ricarda und deutete auf das Geflügel, das Tauben ähnelte.
»Muttonbirds«, antwortete Jack. »Die Maori sammeln und braten sie. Sie sind überaus köstlich.«
»Sie sammeln sie?«
»Ja, sie nehmen die Jungen aus den Nestern, bevor sie flugfähig sind.«
»Aber dann sind sie ja völlig wehrlos!«, empörte Ricarda sich.
»Das sind die Lämmer, Kälber und Hühner, die wir essen, doch auch«, gab Jack zu bedenken. »Wenn die Maori die Vögel nicht einsammeln, werden sie die Beute von wilden Tieren. Probieren Sie mal, sie sind gut.«
Jack nahm einen der auf ein Holzstäbchen aufgespießten Vögel und reichte ihn an Ricarda weiter. Als sie noch immer zögerte, fügte er hinzu: »Sie wollen unsere Gastgeber doch nicht beleidigen, oder?«
Ricarda griff nach dem Muttonbird und bereute es nicht. Das Fleisch war zart und schmeckte gut.
»Übrigens dürfen nur ausgewählte Maori die Muttonbirds sammeln. Familien niederen Ranges erhalten keine Erlaubnis dazu. Dadurch wird sichergestellt, dass die Art nicht ausgerottet wird.«
Ricarda ließ den Blick über die Versammlung gleiten. An der Kleidung war keine Rangordnung erkennbar. Ein Indiz war vielleicht die Sitzordnung. Außerdem fiel Ricarda auf, dass sich die Tätowierungen unterschieden. Der Häuptling hatte die prachtvollste, alle anderen hatten entweder weniger Muster oder weniger Gesichtstätowierungen.
Keine der Frauen hatte ein vollständig tätowiertes Gesicht. Jene, die eine Verzierung trugen, trugen sie am Kinn wie Moana, wobei es auch dort Unterschiede gab. Moanas Tätowierung bestand aus zarten Blätterranken, andere ähnelten Lilienblüten oder den Spitzen von Enterhaken.
Den Rest des Abends verbrachten sie mit Essen und Gesprächen, wobei die Maoriworte wie exotische Schmetterlinge um sie herumflatterten. Jack versuchte, hier und da zu übersetzen, und Ricarda wurde klar, dass auf diesem Ende der Welt über die gleichen Themen wie in Europa gesprochen wurde: Die Frauen unterhielten sich über Hochzeiten, über die Kinder und die häuslichen Pflichten, während bei den Männern über die Jagd, das öffentliche Ansehen und das Zusammenleben mit den Nachbarn debattiert wurde. Die kriegerischen Zeiten waren vorbei. Ab und an gab es kleinere Konflikte unter den Stämmen, aber da hier die Rechtsprechung des Commonwealth galt, konnte sich ein Krieger nicht mehr das Leben eines Feindes holen, ohne damit selbst den Kopf in die Schlinge zu stecken. Die Ehre und das Recht auf Rache waren für die Maori dennoch weiterhin wichtige Werte. Ricarda fiel der Angriff auf Hooper wieder ein.
Als sie zu Jack hinüberblickte, bemerkte sie, dass er den Blick wachsam über die Gesichter der Männer schweifen ließ. Suchte er nach dem Mann, der Hooper verletzt hatte?
Bevor sie ihn fragen konnte, machte ihr Begleiter sie auf eine schwangere junge Frau aufmerksam, die in der hinteren Reihe saß. Ihr Gesicht war nicht tätowiert, und ihre langen schwarzen Haare flossen seidig über ihre Schultern. Ihre Schwangerschaft, so schätzte Ricarda, war bereits über den siebten Monat hinaus.
»Erinnern Sie sich an den Streit, den ich mit Bessett auf Mary Cantrells Party hatte?«, fragte er.
Ricarda nickte.
»Dieses Mädchen war seine Angestellte. Nur wenige Monate später war es schwanger. Bessett hat es fortgeschickt, als er das erfuhr.«
Ricarda war entsetzt. Offenbar nahmen sich gewisse Männer immer noch unerhörte Rechte heraus.
»Und was wird nun aus ihr? In Deutschland haben es Frauen, denen so etwas widerfährt, sehr schwer.«
»Leicht wird es für Taiko auch nicht werden, aber die Dorfgemeinschaft hat sie wieder aufgenommen. Natürlich hat sie an Ansehen verloren, aber das kann sie zurückgewinnen.«
Während Jack redete, beugte sich ein junger Mann zu Taiko hinunter und reichte ihr eine Schale mit Essen.
»Und wer ist er?«
»Ihr Bruder. Er hat geschworen, Bessett das Fell über die Ohren zu ziehen. Hoffen wir, dass er sich zurückhält. Eigentlich müsste sich Bessett einem haka stellen, aber das wird er gewiss nicht tun.«
»Soll das heißen, er braucht sich auch nicht für das Kind zu verantworten?«
»Nach unseren Maßstäben schon, aber er ist ein Spross der englischen Aristokratie. Er wird gewiss Ausflüchte aus dieser Situation finden.«
»Und Bessetts Frau?«
Jack zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, sie weiß, was ihr Mann so treibt. Aber sie ist eine englische Lady und sieht vermutlich geflissentlich über die Kapriolen ihres Gatten hinweg. Es würde ihr schon wegen des Skandals bestimmt nie einfallen, sich öffentlich zu beschweren.«
Ricarda fragte sich, ob sie so leben wollte. Andererseits musste sie zugeben, dass die meisten Frauen auf ihre Männer angewiesen waren, weil sie nie einen Beruf erlernt hatten, um ihren Unterhalt selbst zu bestreiten. Ricarda erinnerte sich an ihre Mutter, die sich häufig in Migräneanfälle flüchtete. Gewiss hatte Ricardas Vater sie nie betrogen, aber sie hatte sicher auch eheliche Sorgen, die sie bedrückten.
»Vermutlich ist es für Taiko sogar von Vorteil, wenn Bessett das Kind nicht anerkennt. Schlimmstenfalls könnte er Ansprüche darauf erheben, und ich halte es in jedem Fall für besser, wenn es hier aufwächst.« Damit hob Jack sein Schälchen und nahm einen Schluck von dem Getränk.
Ricarda blickte ihn nachdenklich an. Die Neuseeländerinnen besaßen zwar das Wahlrecht, aber auch hier gab es noch viel zu tun, was ihre Rechte betraf.
Spät in der Nacht führte man Jack und Ricarda ins Ruhehaus und wies ihnen dort inmitten anderer Gäste Plätze zu.
»Machen Sie nie den Fehler, sich auf die Stelle zu setzen, die für den Kopf gedacht ist!«, riet Jack ihr. »Für die Maori ist der Kopf der heiligste Teil des Körpers. Sich mit dem Hintern auf den Platz zu setzen, der für den Kopf vorgesehen ist, wäre ein schwerer Frevel.«
Ricarda musste schmunzeln. Wie oft hatte sie sich in ihrer Studentenbude das Kopfkissen unter den Hintern geschoben, weil sie auf dem harten Stuhl nicht mehr sitzen konnte?
»Zu welchem Ergebnis sind Sie eigentlich gekommen?«, fragte Ricarda, nachdem sie sich auf der zugewiesenen Matte ausgestreckt hatte.
»Wie meinen Sie das?« Jack wirkte ertappt.
»Ich habe beobachtet, wie Sie die Krieger angesehen haben. Haben Sie eine Ahnung, wer Hooper angegriffen haben könnte?«
»Ehrlich gesagt, nein. Die Wunden des Jungen sind gut verheilt, aber er hat gar nicht die Kraft, einen Angriff von solcher Wucht zu verüben.«
»Und seine Brüder? Wenn Taikos Bruder Bessett zur Verantwortung ziehen möchte, dann ist das bei dem Jungen vielleicht auch der Fall.«
»Ripaka hat Brüder, aber die sind angesehene Stammesmitglieder und mit dem ariki verwandt. Der mag zwar beim Begrüßungsritual Furcht erregend erscheinen, aber er ist ein vernünftiger Mann, der nichts tun würde, was seinem Dorf schaden könnte. Aus diesem Grund hat sich auch Taikos Bruder bisher zurückgehalten.«
»Und die anderen Männer?«
»Haben eigentlich keinen Grund, mir gegenüber feindselig aufzutreten. Ich habe auch nicht bemerkt, dass mich einer von ihnen anders anschaut als bisher.«
»Dennoch glauben Sie, dass etwas im Busch ist.«
Jack senkte verlegen den Kopf. »Ehrlich gesagt, ja. Und angesichts der Gastfreundschaft, die uns heute zuteil wurde, schäme ich mich dafür.«
»Nun, Ihr Verdacht richtet sich ja nicht gegen das gesamte Dorf. Gewiss würde auch in dieser Gemeinschaft nicht jeder den Angriff billigen.«
»Da haben Sie wohl Recht.«
Jack wollte offensichtlich noch etwas hinzusetzen, aber er legte sich nun ebenfalls hin und wünschte Ricarda nur gute Nacht.
»Danke, Jack!«, flüsterte Ricarda. »Danke für alles!«
Sie fühlte sich plötzlich vollkommen matt. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr all die neuen Eindrücke sie angestrengt hatten. Wie gut, dass Jack ihr beigestanden hatte! Sie kam gar nicht mehr dazu, sich darüber zu wundern, dass sie tatsächlich dicht neben ihm lag und sie nur die Hand ausstrecken müsste, um sein vertrautes Gesicht zu streicheln, denn sie schlief auf der Stelle ein. Deshalb merkte sie auch nicht, dass ihre Hand im Schlaf suchend nach seiner Hand tastete.
Ein tiefes Brummen riss Ricarda aus ihrem tiefen Schlummer. Erschrocken fuhr sie hoch. Wo war sie?
»Keine Angst, das ist nur ein Muschelhorn. Das gehört zum Zeremoniell.«
Jack? Was machte Jack in ihrem Schlafzimmer? Doch schon erkannte Ricarda, wo sie sich befand. Sie hatte tief und fest geschlafen.
Jack war bereits aufgesprungen und reichte Ricarda die Hand. »Kommen Sie, Ricarda. Wir gehen zu den nahen Klippen, an den heiligen Ort des Dorfes. Von dort aus haben wir einen sehr guten Blick auf den Horizont, wo das Siebengestirn jetzt funkeln soll.«
Vor dem Ruhehaus hatten sich die Dorfbewohner bereits versammelt. Der ariki ging in seinem Federmantel so dicht an Ricarda vorbei, dass sie nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um das Kleidungsstück zu berühren. Aber das war gewiss tapu, wie bei den Maori ein Verbot genannt wurde.
Ricarda hielt Ausschau nach Moana, allerdings vergebens. Als ranghöchste Frau des Stammes hatte sie Verpflichtungen auf diesem Fest.
Mit lauten Gesängen setzte sich der Zug nun in Bewegung. Ricarda, noch immer ein wenig schlaftrunken, bemerkte, dass Jack nicht von ihrer Seite wich, und auf einmal überkam sie das Verlangen, sich bei ihm einzuhaken. Aber ob ihm das gefallen würde? Sie unterdrückte den Impuls.
An einer Klippe hielt der Zug schließlich an. Als sie aufs Meer hinausblickte, begriff Ricarda, warum dieser Ort den Maori heilig war.
Ein Meer von Sternen funkelte in dem tiefen, von Morgenrot gesäumten Blau des Firmaments, das sich in der Oberfläche des Ozeans spiegelte. Die Wellen brandeten gegen die Felsen, und der Wind brach sich an den steilen Klippen, wobei sein Brausen mit den Klängen der Muschelhörner konkurrierte, die nun erneut geblasen wurden.
Als der Mond sich zeigte, stimmten die Maori wieder ihre kairaka an.
»Sie feiern den Aufgang des ersten Neumondes nach Erscheinen des Siebengestirns«, erklärte Jack im Flüsterton. »Bei den Maori ist das fast so etwas wie Neujahr.«
»Welch ein faszinierender Anblick!«, raunte Ricarda. Sie wusste, dass sie dieses Fest und diese überirdische Schönheit niemals vergessen würde.
Plötzlich wurde es still. Wie gebannt schauten die Dorfbewohner in Richtung Horizont, bis einer der Männer plötzlich rief: »Anā Matariki!«
»Das heißt, dass da drüben das Siebengestirn zu sehen ist«, erläuterte Jack.
Ricarda war noch immer zu bewegt, um zu antworten. Sie hielt Ausschau nach dem Gestirn. Und tatsächlich, recht nah an der Horizontlinie war ein Funkeln zu sehen.
Nachdem alle eine Weile andächtig geschwiegen hatten, stimmte Moana einen feierlichen Gesang an. Damit endete das Fest, und die Dorfbewohner kehrten nun zu den Hütten zurück.
»Wünscht man sich hier auch ein gutes neues Jahr?«, fragte Ricarda, als sie sich dem Zug wieder anschlossen.
Jack schüttelte den Kopf. »Die einzigen Worte, die das neue Jahr betreffen, richtet man bei den Maori an die Götter, denn sie bestimmen darüber, wie ertragreich ein Jahr ist. Mit dem neuen Jahr beginnen die Maori wieder in ihren Gärten zu säen, nachdem sie in den vergangenen Wochen geerntet haben.«
»Also ist dies eher ein Erntedankfest.«
»Nicht ganz. Man dankt für die Ernte, aber man gedenkt auch der Toten. Es ist ein Fest des Lebens und des Todes. Es lässt sich mit nichts in Europa vergleichen.«
Bevor Ricarda und Jack den Heimweg antraten, gesellte Moana sich zu ihnen.
»Deine Wunden gut verheilt?«, fragte sie Ricarda mit einem einnehmenden Lächeln.
Ricarda nickte. »Sehr gut. Danke, Moana. Ich habe keine Schmerzen mehr. Deine rongoa sind hervorragend.«
Moana neigte geschmeichelt den Kopf. »Ich gern wissen, welche rongoa in deinem Land. Du mir zeigen, wenn wieder hier?«
»Mit Vergnügen«, versprach Ricarda.
Die Heilerin lächelte freundlich und verabschiedete sie dann auf traditionelle Weise.
»Ich mit dir sprechen, kiritopa«, wandte sie sich an Jack.
Ricarda begriff, dass Moana allein mit Jack sprechen wollte.
Ihr Begleiter warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, der diese Vermutung bestätigte, und folgte Moana ein paar Schritte in den Busch.
»Ich spüre, dass du was haben auf Herz«, sagte sie, nachdem die Ärztin außer Hörweite war. »Ganze Zeit dein Blick unruhig wie ein kleiner Vogel.«
»Einer meiner Leute wurde vorgestern angegriffen und schwer verletzt. Er behauptet, dass es ein Maori war.«
Moanas Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie sah Jack enttäuscht an. »Männer gestern alle bei Vorbereitungen. Ich nicht gesehen einen verschwinden.«
»Dennoch hat mein Angestellter eine tiefe Wunde im Bein«, entgegnete Jack. Er atmete einmal tief durch, bevor er leise hinzusetzte: »Und er behauptet, dass es ein Krieger dieses Dorfes war.«
Moana wirkte nicht überrascht. Offenbar hatte sie ihm angemerkt, dass es darum ging. Sie setzte auch nicht zu einer Verteidigung an.
»Dass so schwere Zeiten kommen, ich nicht vorausgesehen. Du Polizei von Tauranga holen?«
Jack atmete tief durch. »Ich hatte es eigentlich nicht vor, aber die Angelegenheit muss untersucht werden. Was Ripaka angetan wurde, war schlimm, rechtfertigt aber keinen Mordversuch.«
Moana blickte ihn traurig an. All die Jahre waren sie friedlich miteinander ausgekommen. Nun schien sie deutlich zu spüren, dass Jacks Vertrauen zu ihr schwand.
»Wir beweisen, dass nicht Krieger aus unserem Dorf angegriffen«, sagte sie schließlich. »Vielleicht du dann wieder mehr vertrauen.«
Damit wandte sie sich grußlos ab und kehrte ins Dorf zurück.
Jack blickte ihr nachdenklich hinterher.
Insgeheim wünschte Ricarda sich, die Rückkehr zur Farm möge kein Ende nehmen. Der Busch erschien ihr noch faszinierender als auf dem Hinweg. Nebel hing in den Baumkronen und verlieh ihnen eine magische Aura. Die Spinnweben an den Farnen glitzerten wie Diademe aus Tautropfen, und die samtigen Moose und Baumflechten glänzten feucht. Vogelstimmen und andere Geräusche, die nicht im Geringsten mit dem morgendlichen Erwachen in Berlin oder Zürich zu vergleichen waren, umgaben sie wie ein fein gewebtes Netz aus Tönen.
»Schauen Sie nur!«, flüsterte Jack und deutete auf den Boden. Eine Fledermaus huschte direkt vor ihnen auf einen Baum zu und kletterte hinauf.
»Warum fliegen sie nicht?«, fragte Ricarda, bemüht, dem kleinen Tier, das sich auch auf seinen Pfoten blitzschnell fortbewegte, mit Blicken zu folgen.
»Weil sie es nicht müssen«, antwortete Jack. »Die fetteste Beute finden sie auf der Erde.«
»Haben sie denn keine Feinde?«
»Sicher, aber nicht viele. Die Engländer haben für ihre Fuchsjagden Füchse mitgebracht, und der eine oder andere auf Abwege geratene Jagdhund streunt umher. Aber vor denen können sie auf Bäume flüchten.«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander.
Schließlich sagte Jack: »Es war wirklich ein schönes Fest. Ich bin so froh, dass Sie mich begleitet haben.«
»Es war mir ebenfalls ein großes Vergnügen, Jack. Es war ein unvergessliches Erlebnis.«
Ricarda verstummte und blieb stehen. Soll ich ihn fragen, was er mit Moana zu bereden hatte? Sicher drehte sich ihr Gespräch um den Angriff ...
»Stimmt etwas nicht, Ricarda?«, fragte Jack, der die kurze Pause nicht zu deuten wusste.
»Nein, alles in Ordnung.«
»Sie fragen sich vermutlich, was ich mit Moana zu bereden hatte.«
Ricarda schwieg ertappt.
»Moana hat gespürt, dass ich mir die Krieger genauer angesehen habe. Natürlich ist sie enttäuscht, dass ich ihr nicht mehr vertraue, aber ich bin sicher, dass sie in meiner Lage ähnlich handeln würde. Ich beschuldige sie ja nicht.«
»Aber Sie verdächtigen ihr Volk. Und Sie wissen genauso gut wie Moana, was das für Folgen haben könnte.«
Jack seufzte. »Ja, das wissen wir beide. Aber Recht muss Recht bleiben. Willkür ist auf keiner Seite angebracht.«
Ricarda nickte. »Durchaus, aber genau genommen haben Sie nichts weiter als einen Verdacht. Und der gründet sich allein auf die Aussage von Hooper.«
»Dann wäre es vielleicht gut, wenn ich ihn mit ins Dorf nähme, damit er mir den Täter zeigt.«
»Das wäre eine Möglichkeit.«
Jack versank in Grübelei. Wenn ich mit Hooper ins Dorf reite, glaubt man vielleicht, dass ich seine Tat billige, überlegt er. Eigentlich hätte ich ihn nach seiner Prügelattacke gleich entlassen sollen. Zum Teufel mit meiner Nachsicht! Aber jetzt muss ich sehen, dass ich das Beste daraus mache.