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Bordens Drohung hing wie eine Gewitterwolke über Ricarda. Bisher hatte sich nichts gerührt. Ob das etwas Gutes oder Schlechtes zu bedeuten hatte? Bestimmt plante der Bordellbesitzer, seine Kunden gegen sie aufzuhetzen. Vielleicht wollte er ihr sogar auflauern und ihr eine Tracht Prügel verpassen. Die meisten Männer besaßen zwar genug Ehrgefühl, um nicht die Hand gegen eine Frau zu erheben, aber dass Borden zu ihnen gehörte, erschien ihr zweifelhaft. Wer Frauen versklavte, und nichts anderes tat er in Ricardas Augen in seinem Etablissement, besaß gewiss auch keine Skrupel, sie zu schlagen. Sie vermied es fortan, auf ihren Spaziergängen an seinem Haus vorbeizugehen.

Vermutlich war es ja lächerlich, dass sie Angst hatte. Vielleicht hätte sie sich auch der Polizei anvertrauen sollen. Die Constables von Tauranga waren hilfsbereit und freundlich. Doch was sollten die unternehmen, solange Borden es bei Drohungen beließ?

Ich könnte mich an Jack Manzoni wenden und ihn um Hilfe bitten, überlegte Ricarda. Er kennt nahezu jeden in der Stadt und weiß bestimmt einzuschätzen, ob ich Bordens Drohungen ernst nehmen muss. Aber er hatte sich nun schon seit geraumer Zeit auf seiner Farm vergraben, und obgleich sie durch Herumfragen längst herausgefunden hatte, wo die lag, verbot der Stolz ihr, das zu tun. Nein, sie würde die Sache allein durchstehen! Ist es nicht das, was du immer wolltest?, ermahnte sie sich. Schwierige Situationen allein meistern, vor allem ohne die Hilfe eines Mannes? Hätte sie es anders gewollt, hätte sie auch gleich in Berlin bleiben können.

Außerdem musste sich auch Borden an das Gesetz halten. Sicherheitshalber trug Ricarda allerdings seit dem Vorfall mit Borden ein Skalpell im Korsett versteckt. Sollte der Kerl sie anrühren, das schwor sie sich, würde sie ihm schneller die Hand amputieren, als der Chirurg Robert Liston es je fertigbrächte, der für seine Schnelligkeit berühmt war.

Ricarda seufzte. Zu allem Übel hatte das monatliche Unwohlsein bei ihr eingesetzt. Verdrossen bemerkte sie einen Blutfleck auf dem Bettlaken und zog es ab. Zu den Schmerzen im Unterleib gesellten sich auch regelmäßig Kopfschmerzen, die ihr heute Morgen besonders zusetzten. Dennoch war das kein Grund, der Arbeit fernzubleiben.

 

Kurz vor Mittag erschien Mary Cantrell in der Praxis.

»Meine Gratulation«, sagte sie und neigte anerkennend den Kopf. »Wie ich gehört habe, haben Sie bereits viele Patienten.«

Ricarda bedankte sich artig und fragte sich insgeheim, was wohl der eigentliche Grund für Marys Besuch sei. Sie musste nicht lange rätseln.

»Man hört aber auch, dass es Probleme geben soll.«

Mrs Brisby, dachte Ricarda. Wahrscheinlich gehört sie auch zum Frauenverein.

»Borden hat es nicht gepasst, dass ich ihm ans Herz gelegt habe, seine Mädchen untersuchen zu lassen.«

»Sie waren bei ihm?« Mary setzte sich auf den Rand der Untersuchungsliege.

Ricarda schüttelte den Kopf. »Nein, nach dem ersten Zusammentreffen hätte ich gewiss nicht das Bedürfnis gehabt, noch einmal dort aufzutauchen. Ich hatte eine Patientin mit Gonorrhoe. Sie wissen, was das ist?«

»Ja, leider.« Mary lächelte breit, was Ricarda zum Lachen brachte.

»Nun, wie dem auch sei, ich vermutete, dass der Ehemann dieser Patientin ins Freudenhaus geht.«

»Durchaus möglich. Beinahe jeder Mann in dieser Stadt war schon dort.«

»Besagter Mann hat Borden offenbar wegen des Mädchens zur Rede gestellt, mit dem er zusammen war«, fuhr Ricarda fort. »Wie ich Borden kenne, hat der ihm die Tür gewiesen; worauf der Brüskierte überall herumerzählt hat, dass die Freudenmädchen den Tripper hätten. Jedenfalls sind die Kunden schlagartig weggeblieben.«

»Und bei seinem Gespräch mit Borden hat er sich auf Sie bezogen, nehme ich an.« Mary atmete tief durch, und Ricarda meinte, einen Anflug von Besorgnis auf ihrem Gesicht zu erkennen.

»Ja, ich denke schon. Immerhin behandele ich ihn und seine Frau seit kurzem.« Ricarda zögerte und sah Mary eindringlich an. »Glauben Sie, dass er mich wirklich angreifen wird?«

»Nein, so dumm wird Borden nicht sein. Aber machen Sie sich darauf gefasst, dass er es Ihnen nie vergessen wird! Und wenn sich eine Gelegenheit ergibt, wird er es Ihnen heimzahlen. Auch wenn er sich die Sache eigentlich selbst zuzuschreiben hat.«

Ricarda spürte einen dicken Klumpen in der Magengrube. Sie teilte Marys Ansicht, dass Borden sie nicht angreifen würde, nicht. Die Erinnerung an seinen bedrohlichen Auftritt in Emma Coopers Zimmer stand ihr noch zu deutlich vor Augen.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Ricarda! Tauranga mag vielleicht ein kleiner Bezirk sein, aber auch hier gibt es Gesetz und Ordnung. Wenn Borden Ihnen etwas antun will, muss er mit der Polizei rechnen. Unsere Constables sind sehr gewissenhaft.«

Ricarda lächelte schief. Das würde ihr wohl kaum helfen, wenn sie erst einmal tot in einer Gasse lag.

»Aber jetzt will ich Sie nicht mehr länger von der Arbeit abhalten. Wenn Sie heute fertig sind, kommen Sie doch zu uns zum Abendessen. Mein Koch hat hervorragendes Hammelfleisch eingekauft, und er versteht es auf eine Weise zuzubereiten, die Sie überraschen wird.«

Ricarda bedankte sich für die Einladung und sagte zu. Sicher würde der Abend angenehmer verlaufen. Heute hatte Mary bestimmt niemanden eingeladen, der im Laufe des Abends einen Herzinfarkt erlitte.

»Wir freuen uns auf Sie, meine Liebe. Und bringen Sie ja viele Anekdoten von der Arbeit und von Molly mit, so etwas ist immer erfrischend.«

Damit verabschiedete Mary sich. Ricarda hatte gerade noch Zeit, um einen kleinen Lunch einzunehmen, bevor die nächsten Patientinnen eintrafen. Glücklicherweise, denn wenn sie arbeitete, vergaß sie Borden.

 

Nach getaner Arbeit stand Ricarda am Fenster ihrer Praxis und schaute hinauf zu den Wolken. Sie hatte noch nie ein so schönes Abendrot gesehen. Das sanfte Licht glitt über die Dächer und Palmwipfel und verlieh ihnen ein beinahe überirdisches Leuchten - ein Anblick, den Ricarda zu gern festgehalten hätte. Sie nahm sich vor, eine Staffelei, Leinwand und Farben zu kaufen, sobald sie Geld dafür erübrigen könnte. Noch gingen ihre Einkünfte für die Miete und ihren Lebensunterhalt drauf.

Sie beschloss, sich für das Dinner bei den Cantrells umzuziehen. Sie selbst nahm den Geruch nach Karbol nicht mehr wahr, aber sie wusste, dass er nicht nur in ihren Kleidern hing, sondern sogar ihrer Haut anhaftete, und damit wollte sie den Cantrells den Geschmack des Hammelgerichts nicht verderben.

Sie hatte gerade den weißen Kittel an den Haken gehängt, als die Tür aufgerissen wurde. Ricarda sprang erschrocken zurück.

Zwei Männer in schäbigen Anzügen bauten sich vor ihr auf.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie möglichst ruhig, obwohl ihr Magen vor Angst krampfte.

»Haben gehört, dass du Ärger machst, Missy«, sagte einer und zog unter seiner Jacke einen Knüppel hervor.

Ricarda nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Verschwinden Sie von hier!«, zischte sie. Ihre Gedanken rasten. Was sollte sie bloß tun? Sie versuchte an dem Kerl vorbeizuhuschen, doch der andere vertrat ihr den Weg, packte ihre Hand und riss sie mit sich.

Ricarda wehrte sich, schrie und versuchte den Mann zu treten. Schließlich versetzte sie ihm mit der freien Hand eine Ohrfeige; doch das schien ihn gar nicht zu beeindrucken. Ungerührt zerrte er sie mit sich; es knallte und schepperte, als er eine Schüssel mit Instrumenten herunterriss, die neben der Untersuchungsliege stand. Brutal drückte er Ricarda auf das gestärkte weiße Laken. Dann beugte er sich über sie. Ein Gestank nach Schweiß und Whisky stach Ricarda in die Nase. Sie war wie gelähmt.

»Was ist, Burt, wollen wir der Kleinen mal zeigen, wozu Frauen eigentlich gemacht sind?« Damit riss der Angreifer Ricardas Bluse entzwei.

»Klar doch!« Der Angesprochene öffnete bereits seine Gürtelschnalle.

Panik wallte in Ricarda auf. Was sollte sie tun?

Da fiel ihr das Skalpell wieder ein. Bevor Burt, der inzwischen seine Hose heruntergelassen hatte, bei ihr war, griff sie blitzschnell an ihr Korsett.

Burts Kumpan lachte hämisch. »Genierst dich wohl, Mädchen? Nun lass mal sehen, was du zu bieten hast, schließlich woll'n wir auch auf unsere Kosten -« Er jaulte auf vor Schmerz und wich zurück.

Blutspritzer regneten auf Ricarda herab, während sie ihm die Klinge durch das Gesicht zog. Es gelang ihr, von der Liege zu springen. Doch weit kam sie nicht. Der Verletzte stürzte ihr nach und schleuderte sie gegen den Schreibtisch. Inmitten von Büchern und Karteikarten ging Ricarda zu Boden. Das Skalpell fiel ihr aus der Hand. Der Angreifer, dessen Gesicht vor Wut und von Blut rot gefärbt war, starrte sie hasserfüllt an, und bevor sie sich wegducken konnte, zerrte er sie an den Haaren in die Höhe und versetzte ihr eine brutale Ohrfeige. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie sank zusammen.

»Hast du sie totgeschlagen, Mann?«, fragte Burt hinter ihm.

Der Angesprochene reagierte nicht. Er stierte reglos auf sein Opfer und wischte sich über das Gesicht. »Fackeln wir die verdammte Hütte ab!«, murmelte er schließlich.

»Aber der Boss hat doch gesagt ...«

»Halt die Klappe, Burt!« Schon griff er nach der Petroleumlampe, die auf einem Tischchen stand, zog ein Streichholz aus der Tasche und riss es an der Wand an.

Bevor er die brennende Lampe jedoch auf die Frau schleudern konnte, fiel sein Kumpan ihm in den Arm und riss sie ihm aus der Hand. Offenbar hatte er Mitleid mit der Ärztin, denn er schleuderte die Lampe in eine Ecke, wo der Glaszylinder zerschellte und das Petroleum sogleich in Flammen aufging.

»Nichts wie weg hier!«, fuhr er seinen Begleiter an.

Mit einem letzten Blick auf die leblose Ricarda rannten sie hinaus.

 

Lange hatte Jack mit sich gerungen, ob er die Einladung persönlich beantworten oder einen Brief schicken solle. Heute hatte er sich endlich entschieden, Ricarda aufzusuchen.

Er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel und war zufrieden mit dem, was er sah. Sein bester Gehrock und das weiße Hemd, dessen Kragen von einem weinroten Tuch zusammengehalten wurde, waren elegant genug, um bei Ricarda Eindruck zu machen, aber hoffentlich dennoch so dezent, dass sie ihn nicht für einen verliebten Gockel hielte.

Während er auf den Kutschbock seines Wagens kletterte, streifte sein Blick das Mannschaftsquartier. Die Stimmung unter seinen Männern war seit dem Abschlachten der Mutterschafe gespannt. Sie alle schienen regelrecht auf einen neuen Zwischenfall zu warten. Das lenkte sie natürlich von der Arbeit ab, sodass Kerrigan sie des Öfteren ermahnen musste.

Wird Zeit, dass ich mal auf andere Gedanken komme, sinnierte Jack und lenkte den Wagen voller Vorfreude auf die Straße in Richtung Tauranga.

Die Stadt wirkte im sanften Abendlicht wie verändert. Ein rötlicher Schein lag auf Gebäuden und Menschen und ließ sie wie die Kulisse und die Figuren eines überdimensionalen Gemäldes aussehen.

Vom Hafen her ertönte das laute Tuten eines ablegenden Dampfschiffes, das alle Geräusche in der Nähe verschluckte. Fuhrwerke kamen ihm entgegen. Auf der Ladefläche eines von ihnen entdeckte Jack ein Blumengebinde, das offenbar für ein Hochzeitsbankett bestimmt war.

Vielleicht sollte ich Ricarda einen Blumenstrauß überreichen, ging es ihm durch den Kopf, und er ärgerte sich ein wenig, weil ihm das nicht früher eingefallen war. Was ist nur aus dir geworden, Jack, dass du deine guten Manieren vergisst? Du hättest ein paar von den wunderschönen lila Lupinen pflücken sollen, die überall auf dem Anwesen blühen.

Da er nicht kehrtmachen wollte, lenkte er den Wagen zum einzigen Blumenladen in Tauranga. Von außen wirkte er unscheinbar, aber das täuschte.

Jack brachte den Wagen zum Stehen und stieg ab. Das Läuten der Türglocke begleitete ihn in ein Reich voller Düfte und Farben. Mr Turner besaß außerhalb der Stadt einen großen Garten, in dem er die Blumen zog, die seine Gattin im Shop verkaufte.

Auch heute stand die ältliche Frau hinter dem Tresen. Sie wusste, welche Bedeutung Blumen hatten und mit welchen man eine Dame am besten erfreuen konnte.

»Mr Manzoni, was verschafft mir das Vergnügen?«, fragte sie, während sie Jack erstaunt ansah.

»Ich hätte gern ein paar Rosen«, antwortete Jack. Er traf diese Entscheidung spontan, denn in seinen Augen war das die passende Blume für Ricarda. Sie war schön, hatte aber dennoch Dornen.

Er wählte rosefarbene, denn dieser Ton erschien ihm am unverfänglichsten.

»Soll der Strauß für eine Dame sein?« Mrs Turner beäugte ihn prüfend.

Jack spürte, dass sie vor Neugierde beinahe platzte.

»Gewiss, für eine Dame.« Er lächelte unwillkürlich. »Aber machen Sie ihn bitte nicht zu mächtig! Es soll nur eine kleine Aufmerksamkeit sein.«

Hinter Mrs Turners Stirn arbeitete es sichtlich. Wahrscheinlich fragte sie sich, wer die Auserwählte sei. Bestimmt würden schon bald die wildesten Spekulationen durch die Stadt geistern. Aber sollten die Leute doch ruhig rätseln, wem er diesmal den Hof machte!

Ist es wirklich das, was ich will: Ricarda den Hof machen? Zweifel benebelten plötzlich Jacks Verstand. Hat das überhaupt Aussicht auf Erfolg? Oder setze ich mich damit nur der Lächerlichkeit aus? Vielleicht ist sie auch nur eine von diesen Suffragetten, die ihr Leben ohne Männer einrichten. Ich habe Ricarda mehrfach geholfen, und deshalb war sie stets freundlich zu mir. Ob sie jedoch die gleichen Gefühle für mich hegt wie ich für sie, das steht noch dahin.

Jack seufzte und schob die unangenehmen Gedanken beiseite. Er beobachtete, wie der Strauß unter Mrs Turners Händen wuchs, und stellte sich Ricardas lachende Augen vor.

Nachdem er das Bouquet vorsichtig auf seinem Wagen abgelegt hatte, lenkte er das Gefährt über den Strand in Richtung Spring Street. Er grüßte Bekannte und wich Kindern aus, die leichtsinnigerweise auf die Straße gerannt waren. Jack schimpfte nicht, sondern sah es den kleinen Rabauken nach. Ob solch eine muntere Schar eines Tages auch über seinen Hof toben würde? Bisher hatte er sich noch nie Gedanken über eigene Kinder gemacht, und beinahe erschrak er. Doch seit Ricarda in sein Leben getreten war, hatte sich plötzlich alles verändert.

Als er sich der Praxis näherte, bemerkte er, dass die Haustür sperrangelweit offen stand.

Wahrscheinlich lüftet Ricarda, um den Karbolgeruch zu vertreiben, dachte er. Dennoch überfiel die Nervosität Jack plötzlich wie ein Schwarm Moskitos. Es hatte ihn eigentlich noch nie verlegen gemacht, einer Dame gegenüberzutreten, aber das hier war kein Scheunenfest und Ricarda war nicht gerade ein williges Mädchen auf der Suche nach einer guten Partie. Jack bezwang das Zittern seiner Hände, während er die Zügel anzog. Seine Handflächen wurden feucht, und seine Kehle war auf einmal wie ausgetrocknet.

Du meine Güte, Jack! Du gibst ihr doch nur wegen der Einladung Bescheid und bedankst dich dafür mit einem kleinen Blumenstrauß. Nun lass mal gut sein, Mann!, redete er sich zu, während er auf Ricardas Veranda zuhielt.

Da bemerkte er Brandgeruch und in einem Fenster einen Feuerschein, der sich rasch voranzufressen schien.

Heiß und kalt überlief es Jack, während er die Treppe hinaufrannte.

 

Als die Hitze des Feuers über ihr Gesicht strich, kam Ricarda wieder zu sich. Trotz ihrer Benommenheit bemerkte sie einen starken Brandgeruch. Die Kerle hatten ihre Praxis angezündet!

Ricarda versuchte sich aufzurichten, doch ein plötzlicher Schwindel ließ sie taumeln. Ihr linker Arm geriet zu nahe an das Feuer, das sich in Windeseile ausgebreitet hatte. Sie schrie auf, als die Flammen ihren Arm versengten, aber der Schmerz riss sie aus ihrer Benommenheit. Ihr Verstand war mit einem Schlag merkwürdig klar. Sie musste sich unverzüglich ins Freie retten, um einer Rauchvergiftung zu entgehen. Aber dann schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Das Diplom! Alles konnte sie verlieren, nur nicht ihr Diplom. Ohne ihr Diplom wäre sie verloren.

Sie stürzte zu der Wand, an dem die Urkunde hing. Ihr Rocksaum fing Feuer, doch das beachtete sie nicht. Mit zitternden Händen griff sie nach dem Rahmen.

»Kommen Sie da weg!«, rief eine Stimme hinter ihr.

Ricarda reagierte nicht. Sie riss das Diplom an sich, als ein jäher, unerträglicher Schmerz durch ihre Beine fuhr und der Rahmen ihren Händen entglitt. Jemand warf sich auf sie. Ricarda schrie und wehrte den Eindringling ab.

»Ruhig, Ricarda! Ich bin es doch nur, ich bring Sie hier raus«, rief Jack Manzoni, packte sie und hob sie hoch.

Ricarda barg das Gesicht an seiner Schulter. »Die Männer ... Sie wollten ...«, schluchzte sie.

»Schon gut! Wir müssen hier raus«, flüsterte Jack. Er hatte ihre zerrissene Bluse bemerkt und konnte sich ausmalen, was passiert war.

»Das Diplom!«

Jack begriff, weshalb sie sich in Gefahr gebracht hatte, setzte Ricarda kurz ab, gab ihr den Rahmen, in dem das Glas gesplittert war, hob sie wieder auf die Arme und trug sie in Windeseile zur Tür.

Draußen hatten sich bereits Schaulustige eingefunden.

»Verdammt, steht nicht rum und glotzt, sondern löscht das Feuer!«, brüllte Jack wütend und setzte Ricarda in seinen Wagen, wo er fürsorglich eine Decke um ihre Schultern legte. Dann reichte er ihr seine Wasserflasche. »Hier, trinken Sie!«

Ricarda hielt die Decke krampfhaft vor der Brust zusammen und weinte. Sie reagierte nicht.

»Ricarda, bitte!« Der bettelnde, fast verzweifelte Ton brachte sie dazu, ihn anzusehen. »Trinken Sie! Sie müssen den Rauch aus sich herausspülen.«

Sie umfasste mit zitternden Händen die Flasche. »Zwei Männer sind in die Praxis eingedrungen ... Sie wollten ... wollten mich ... vergewaltigen. Ich habe einem das Gesicht mit einem Skalpell zerschnitten«, schluchzte sie, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte. Ihr Blick war starr auf den Boden gerichtet, als sähe sie dort ein Bild des Geschehens.

»Haben Sie sich gemerkt, wie die Kerle aussahen?«

Ricarda nickte. »Diese Gesichter werde ich nie vergessen.«

»Dann sollten wir einem der Constables die Beschreibung geben.«

Ricarda nickte und lehnte sich zurück. »Einer von den Kerlen hat den anderen Burt genannt«, flüsterte sie, plötzlich vollkommen erschöpft.

»Den Namen werde ich mir merken«, erklärte Jack.

»Und ich hatte eine Einladung bei Mary Cantrell. Sie müssen ihr sagen, dass ...« Ricarda verstummte, denn ihre Schläfen stachen ganz furchtbar und das Ziehen in ihrer Magengrube verdichtete sich zu Übelkeit. Tausende von Nadeln schienen sich in ihre Beine zu bohren. Und ihr linker Arm schmerzte stark.

»Als Erstes bringe ich Sie von hier weg!«, sagte er.

Inzwischen hatten sich die ersten Helfer eingefunden, um den Brand zu löschen. Der Kutschwagen der Feuerwehr nahte mit lautem Gebimmel. Jack wollte nicht abwarten, ob sie das Feuer unter Kontrolle bekommen würden. Da er annahm, dass es für das Gebäude keine Rettung gab, hatte er beschlossen, Ricarda den Anblick zu ersparen. Wie auch immer es ausging, sie würde trotzdem noch einmal von vorn anfangen müssen. Mit dem Gedanken kletterte er auf den Kutschbock und trieb sein Pferd an. Die Sache mit der Polizei konnte er auch morgen noch regeln.

 

Vor der Stadt, mitten in der Wildnis, machten sie Halt. In der Nähe floss ein kleiner Bach. Die Schmerzen machten Ricarda schwer zu schaffen. Eigentlich wollte sie um keinen Preis weinen, aber sie konnte die Tränen nicht unterdrücken. Sie hinterließen eine feuchte Spur auf ihren verrußten Wangen und lockerten den Zornesknoten in ihrer Brust ein wenig. Dennoch ging es ihr nicht besser. Ihr Zustand schien sich mit jedem Augenblick zu verschlechtern. Als Ärztin wusste sie, dass das von den Brandwunden herrührte. Obwohl keine lebensgefährlich großen Hautbereiche betroffen waren, hatte sie das Gefühl, in Flammen zu stehen.

Jack zog Jacke und Hemd aus. Letzteres riss er in Streifen und tauchte sie ins Wasser. Dann wickelte er nasse Lappen um Ricardas Beine und um den verwundeten Arm. Bei der Berührung stöhnte Ricarda auf, doch die kalten Umschläge linderten die Schmerzen.

»Und was nun?«, fragte sie.

»Ich nehme Sie erst einmal mit zu mir; auf meiner Farm können Sie sich auskurieren.«

»Was wird bloß werden, wenn die Kerle erfahren, dass ich nicht umgekommen bin?«

Jack lächelte Ricarda zuversichtlich an, obwohl ihm angesichts ihres Zustandes nicht danach zumute war. Am liebsten würde er diesen Halunken den Hals umdrehen.

»Keine Angst! Die werden es nicht wagen, auf meiner Farm aufzutauchen. Nicht mal der dümmste Einbrecher würde wagen, in mein Haus einzusteigen, denn das hätte für ihn Konsequenzen, die ihm keineswegs angenehm wären.«

Ricarda erwiderte nichts. Sie war so matt, dass selbst das Sprechen plötzlich zu viel Anstrengung bedeutete.

Manzoni musterte sie scharf. Er erneuerte die kühlenden Verbände, bevor er Ricarda zurück in die Kutsche brachte. »Wird es gehen?«, fragte er, als er sie behutsam absetzte.

Ricarda nickte. Sie wusste, dass jede Bewegung schmerzen würde, aber sie würde es schon durchstehen. Sie musste es, wenn sie es den Kerlen, die ihr das angetan hatten, heimzahlen wollte.

»Oh, ich habe Ihre Blumen zerdrückt«, sagte Ricarda plötzlich, nachdem sie zur Seite geblickt hatte.

Die Rosen, natürlich, die hatte er ja vollständig vergessen! Jack spürte einen Kloß im Hals. Auf einmal war es ihm furchtbar peinlich, dass er den Strauß gekauft hatte. Sollte er Ricarda gestehen, dass er für sie bestimmt war?

Sei nicht albern, Jack!, ermahnte er sich selbst. Dann antwortete er: »Ich wollte mich damit eigentlich für Ihre Einladung bedanken.«

Ein schwaches Lächeln huschte über Ricardas Gesicht. »Das ist sehr nett von Ihnen. Auch wenn es jetzt keinen Empfang mehr geben wird.«

»Sagen Sie das nicht!« Bevor Jack wusste, was er tat, griff seine Hand auch schon nach ihrer und hielt sie so leicht wie einen verletzten Vogel. »Ich bin davon überzeugt, dass das nicht das Ende ist. Sie werden sich doch nicht unterkriegen lassen, oder?«

Da war noch etwas, was er sagen wollte, dessen war sich Ricarda sicher. Aber sie war zu schwach, um sich darüber Gedanken zu machen.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete sie und lehnte sich zurück.

Jack erkannte, dass sie Ruhe brauchte, und kletterte auf den Kutschbock.

Ruckelnd setzte das Fahrzeug sich in Bewegung. Eine Weile betrachtete Ricarda die Baumkronen über sich, durch die das Sonnenlicht fiel. Dann jedoch schloss sie die Augen. Die Geräusche des Waldes mischten sich mit denen des Pferdes und des Wagens. Die Schmerzen zerrten nun wieder stärker an ihr, aber sie wollte Jack nicht bitten anzuhalten. Sie klammerte sich an seine tröstenden Worte wie an einen rettenden Baumstamm in der Flut. Es würde ein Danach geben. Auch wenn jetzt alles verloren schien, sie würde weitermachen. Es gab kein Zurück. Sie hatte ihre alte Heimat aufgegeben, um sich hier eine neue Zukunft aufzubauen. Sie musste es schaffen!

 

Preston Doherty stand vor seinem Fenster und blickte auf die dünne Rauchwolke, die noch immer am anderen Ende der Stadt in den Abendhimmel stieg. Obwohl er äußerlich vollkommen ruhig wirkte, tobte es in seinem Inneren. Der Verdacht, dass es sich bei dem brennenden Gebäude um die Praxis von Ricarda Bensdorf handelte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Sollte Borden tatsächlich so weit gegangen sein? Wenn er die Praxis wirklich in Brand gesetzt und die Frau dadurch getötet hatte, hatte er den Bogen eindeutig überspannt. Zwar wusste man von dem Gezeter, das Borden wegen seiner tripperverseuchten Huren gemacht hatte. Aber gewiss erinnerten sich auch einige Leute an den Streit zwischen der Ärztin und ihrem eingesessenen Kollegen. Früher oder später würden die Constables hier aufkreuzen, da war er sicher. Spätestens dann, wenn der Bordellbesitzer einknicken und behaupten würde, dass Doherty ihn angestiftet habe.

Er musste Borden zur Rede stellen und sich vor allem versichern, dass er seine Hände in Unschuld waschen konnte. Immerhin hatte er deutlich gesagt, dass Ricarda Bensdorf nicht sterben solle.

Nachdem er noch eine Weile aus dem Fenster gestarrt hatte, verließ er sein Sprechzimmer.

»Gibt es etwas, Schwester?«, fragte er Clothilde, die ihm im Flur entgegeneilte.

»Nein, es ist alles in Ordnung. Keine besonderen Vorkommnisse an diesem Nachmittag. Ich wollte mich eigentlich erkundigen, ob Sie einen Kaffee möchten, Herr Doktor.«

Doherty schüttelte den Kopf. »Nein, danke, ich werde mal nachsehen, wo es brennt. Vielleicht braucht man dort meine Hilfe.«

Die Französin sah ihren Chef verwundert an. Es war noch nie vorgekommen, dass er sich an einen Unglücksort begeben hatte. Er wartete immer im Hospital auf die Patienten.

 

Draußen wehte eine frische, feuchte Brise vom Meer heran. Die Wolken hatten sich zusammengeballt und versprachen Regen. Den hatte die Stadt auch bitter nötig, denn es lag so viel Staub in der Luft, dass er zwischen den Zähnen knirschte und durch alle Ritzen in die Häuser drang. Ein Regenguss würde die Luft klären.

Mit der Arzttasche in der Hand strebte Doherty dem Stadtkern zu. Dabei hatte er das Gefühl, dass viele Leute ihn seltsam anstarrten. Oder bildete er sich das nur ein? Er erkundigte sich bei einem Passanten, den er nicht namentlich kannte, nach dem Feuer.

»Die Praxis der neuen Ärztin brennt«, antwortete der.

Doherty wusste nicht, was ihn mehr entsetzte. Dass seine Vermutung stimmte oder die Tatsache, dass der Mann von der Ärztin gehört hatte, ihn, den alteingesessenen Arzt der Stadt, jedoch keineswegs zu kennen schien. Er verzichtete auf weitere Fragen und lief weiter, ohne dem Passanten für die Auskunft zu danken.

Als er in der Nähe des Bordells war, fuhr der Feuerwehrwagen an ihm vorbei. Offenbar hatte Asher Asher, der Feuerwehrchef mit dem ebenso seltsamen wie bezeichnenden Namen, die Lage unter Kontrolle gebracht. Da es immer noch qualmte, war von dem Gebäude vermutlich nicht mehr viel übrig geblieben.

Doherty überlegte, ob er zum Brandherd eilen solle. Immerhin war es möglich, dass die Frau verletzt war. Doch dann entschied er sich dagegen. Wenn die Feuerwehr bereits dort gewesen war, hatte man sie entweder bereits ins Hospital oder zum Totengräber gebracht. Der Doktor beschleunigte also die Schritte und trat wenig später durch die Tür des Bordells.

Der Skandal, den Ricarda Bensdorf ausgelöst hatte, verdarb Borden offensichtlich gehörig das Geschäft, denn er hatte nur wenige Gäste.

»Welch seltene Ehre, Doktor!«, rief der Mann hinter dem Tresen, als er Doherty bemerkte. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte Mr Borden sprechen.«

»In welcher Angelegenheit?«

»In einer privaten, die Sie nichts angeht.«

Vielleicht war die Erwiderung ein wenig zu scharf, aber sie zeigte Wirkung. Der Barmann verschwand mit einem langgezogenen »Momeeeeent« hinter einer kleinen Tür neben der Theke.

Doherty war unbehaglich zumute. Von der Seite her hörte er das Gelächter und Wispern der Mädchen, die auf Kundschaft warteten. Sie waren allesamt so hübsch, dass er versucht war, über ihre schmuddeligen, zu tief dekolletierten Kleider und unordentlichen Frisuren hinwegzusehen. Aber da kam dem Arzt wieder die Gonorrhoe in den Sinn, und seine Lust war schlagartig dahin.

»Doktor!«

Über die Betrachtung der Mädchen hatte Doherty nicht mitbekommen, dass Borden angerückt war. »Sind Sie hier, um sich meine Mädchen anzusehen?«

So breit, wie der Bordellbesitzer grinste, musste Doherty schon dankbar sein, dass er nicht von ihrer Vereinbarung gesprochen hatte. Die Kunden, die auf ihr Wunschmädchen warteten, hatten sicher jedes Wort gehört.

»Ich muss mit Ihnen reden, Borden. Unter vier Augen.«

»Sagen Sie bloß, mich wollen Sie auch untersuchen.«

Dohertys Ton wurde ungeduldig. »Ich will mit Ihnen reden, nichts weiter.«

Borden grinste überlegen. »Also gut, reden wir!«

Er winkte den Doktor in einen Nebenraum, in dem sich ein großer Spieltisch befand; doch offenbar hatte in letzter Zeit niemand das Bedürfnis nach einer Kartenpartie gehabt, denn er war mit einem weißen Bettlaken verhängt.

»Was kann ich für Sie tun, Doktor?«, fragte Borden spöttisch, als er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Er war übermäßig gut gelaunt, was den Verdacht nahelegte, dass er wirklich etwas mit dem Feuer zu tun hatte.

»Die Praxis von Ricarda Bensdorf hat gebrannt«, begann der Doktor ohne Umschweife.

»Wie bedauerlich!« Der Bordellbesitzer lachte.

»Tun Sie nicht so, als ob Sie nicht wüssten, wer dahintersteckt!«

»Wer denn, Doktor? Ich habe keine Ahnung.«

Diese Äußerung nahm Doherty den Wind aus den Segeln. Den ganzen Weg über hatte er sich Worte zurechtgelegt, mit denen er Borden dazu bringen wollte, ihm zu versichern, dass der ihn im Falle des Falles nicht in die Sache mit hineinziehen würde. Immerhin hatte Borden ihn ja über seine Pläne im Unklaren gelassen.

»Und selbst wenn, glauben Sie wirklich, ich wäre so dumm, es zuzugeben?«, fuhr Borden fort. »Oder jemandem zu erzählen, dass ich nicht der Einzige bin, der diesem Weibsstück den Tod gewünscht hat?«

»Ich wollte ihren Tod nicht!«, protestierte Doherty aufgebracht. »Ich wollte, dass sie von hier verschwindet, weiter nichts.«

»Und das ist sie nun. Verschwunden. Aber keine Sorge, Sie brauchen ihr kostbares Gewissen nicht mit einem Mord zu belasten. Soweit ich gehört habe, hat die Frau einen edlen Retter gefunden. Jack Manzoni hat sie nämlich gerettet. Ist das nicht edel von ihm?«

Doherty schnappte nach Luft. Manzoni war für seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn bekannt. Er würde sicher alles tun, damit der Anschlag aufgeklärt wurde.

»Und was machen Sie, wenn Manzoni ...«

Borden legte dem Arzt die Hand auf die Schulter und brachte ihn damit zum Schweigen, denn sie kam Doherty vor wie ein Stück Blei. »Machen Sie sich keine Gedanken, Doktor! Ebenso wenig, wie man mir die Sache anhängen kann, wird man sie Ihnen anhängen können. Die Männer, die sich um dieses Frauenzimmer gekümmert haben, habe ich bezahlt, und wahrscheinlich sind sie bereits auf dem Weg nach Wellington oder auf die Südinsel. Selbst wenn irgendwer Nachforschungen anstellt, wird er auf Granit beißen. Wir bleiben bei unserer Abmachung, und damit ist alles in Ordnung.«

Doherty konnte Bordens Unbekümmertheit nicht nachvollziehen. Ihm war immer noch mulmig zumute. Gut, vielleicht gab es keine Beweise, aber Ricarda Bensdorf war nicht dumm. Sie ahnte bestimmt, wer hinter diesem Anschlag steckte. Doch dann beruhigte der Arzt sich damit, dass Ricarda eine Frau war, die ihm nichts anhaben konnte; sie hatte keine Beweise gegen ihn und würde obendrein Ärger wegen des zerstörten Hauses bekommen. Vielleicht könnte man es sogar so drehen, dass sie das Feuer selbst gelegt hatte ... Dieser Gedanke beruhigte ihn ein wenig.

»Was ist nun, Doc, soll ich die Mädchen jetzt reinschicken, damit Sie sie untersuchen können?«

Doherty hatte eigentlich keine Lust, eine Horde Huren unentgeltlich zu untersuchen, aber die Abmachung, die er mit Borden getroffen hatte, hing wie eine Gewitterwolke über ihm. Damit der Blitz sich nicht entlud, musste er wohl oder übel zustimmen.

 

Am Farmhaus angekommen, bemerkte Jack mit Entsetzen, dass Ricarda ohnmächtig geworden war. Innerlich Stoßgebete zum Himmel schickend, trug er sie in das Gästezimmer, das schon lange nicht mehr genutzt worden war, und legte sie auf dem Bett ab. Wie schön sie selbst jetzt noch ist!, ging es ihm durch den Kopf. Doch sogleich schalt er sich für diesen unpassenden Gedanken, und er lief in die Küche, um Wasser und Verbandszeug zu holen. Als er zurückkehrte, war Ricarda noch immer nicht zu Bewusstsein gekommen. In diesem Augenblick bereute er, dass er seine Haushälterin nur zweimal wöchentlich beschäftigte. Er hätte ihre Hilfe jetzt gut gebrauchen können, zumal er sich davor scheute, Ricarda auszuziehen. Es wollte ihr eines der Nachthemden seiner Mutter überziehen, die er aus lauter Sentimentalität aufgehoben hatte.

»Bitte erschrecken Sie nicht, ich möchte es Ihnen nur bequem machen!«, sagte er, aber offenbar hörte Ricarda es nicht. Sie stöhnte nur leise.

Jacks Hände zitterten, als er ihr Bluse und Rock abstreifte und sie anschließend aus ihrem Korsett schälte.

Begehren war es nicht, was ihn überfiel, als sie, nur mit Unterwäsche bekleidet, vor ihm lag; er fürchtete vielmehr, dass sie aufwachen und ihn für einen Wüstling halten könnte. Aber das geschah nicht.

Jack rollte ein Kopfkissen zusammen und bettete Ricardas Beine vorsichtig darauf.

Erst jetzt bemerkte er das ganze Ausmaß ihrer Verbrennungen. Die Haut warf dicke Blasen, wovon einige aufgeplatzt waren und entzündetes dunkelrosa Fleisch sichtbar werden ließen. Ricarda musste unermessliche Schmerzen haben.

Als Kind hatte Jack sich einmal mit kochendem Wasser verbrüht. Er war durch die Küche getobt und hatte versehentlich die Köchin angerempelt, die gerade Tee aufgießen wollte. Ihr war der Kessel aus der Hand geglitten, und sein Inhalt hatte sich über sein Bein ergossen. Silbrige Narben erinnerten ihn noch heute daran.

»Vater, warum ... Ich will nicht ...«, murmelte Ricarda nun. Dann verstummte sie wieder und atmete laut stöhnend.

Jack kühlte ihre Brandwunden mit nassen Tüchern, worauf sie sich beruhigte.

Was soll ich bloß tun?, fragte er sich. Er zog sich einen Stuhl neben ihr Bett, setzte sich und betrachtete Ricarda. Mehr als kühlen konnte er wohl nicht tun. Ob sie Schmerzmittel brauchte? Zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine Falte gebildet wie bei einem kleinen Kind, das von einem schlimmen Traum heimgesucht wird. Jack legte sanft seinen Daumen darauf und glättete sie. Dasselbe hatte seine Mutter immer mit ihm gemacht, wenn ihn als Kind kurz vor dem Schlafengehen ein Problem zu sehr beschäftigt hatte.

Ricarda spürte die Berührung offenbar, denn ihre Züge glätteten sich ein wenig und sie lächelte sogar.