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Mary Cantrell hatte Recht gehabt. Das Bordell, das sich als Pub in der Harington Street tarnte, war wirklich kein Ort, an dem sich eine Dame aufhalten sollte. Ricarda konnte nicht verstehen, dass der Bürgermeister so ein Etablissement in Tauranga duldete. Wusste er etwa nicht, was hier vor sich ging? Das wagte sie zu bezweifeln.
Nick Bordens »Lokal« offenbarte seinen Zweck, sobald man es betreten hatte. In der Mitte des schummerigen Raums stand ein zerschlissenes rotes Sofa, auf dem drei Mädchen saßen und an den Spitzen ihrer schäbigen, tief dekolletierten Kleider zupften. Ihre Frisuren wirkten zottelig.
Wahrscheinlich haben sie nicht genügend Zeit, sich nach einem Kunden wieder herzurichten, dachte Ricarda, während ihr Blick in die Runde schweifte. Der Boden war schmutzig, die Tische glänzten schmierig. Wie mochte es erst in den Zimmern der Mädchen aussehen? Die Hygiene ließ zu wünschen übrig, das war nur zu deutlich, und auch der penetrante Parfümgeruch, der Ricarda in der Nase brannte, konnte gewisse Körpergerüche nicht überdecken.
Alle Männer im Raum taxierten sie sofort von oben bis unten. Schon steckten die Freudenmädchen die Köpfe zusammen und begannen zu tuscheln.
Ricarda beachtete sie nicht; sie nahm all ihren Mut zusammen und schritt entschlossen zum Tresen. Ihr Bild erschien in einem großen Spiegel, der an der Wand dahinter angebracht war, sodass der Wirt den Raum auch dann im Auge behalten konnte, wenn er mit dem Rücken zur Theke stand. Ob er einschreitet, wenn einer der Kunden eines der Mädchen ruppig behandelt?, fragte Ricarda sich und nahm sich vor, künftig stets ein Messer bei sich zu tragen.
Als hätte er die Kernseife auf ihrer Haut gerochen, richtete sich der Mann hinter der Bar auf; offenbar hatte er etwas unter der Theke gesucht. Er war ziemlich beleibt und trug einen dicken Schnurrbart. Das schüttere Haupthaar hatte er zu einer Sardelle frisiert, die seine Halbglatze nur noch mehr betonte. Er musterte den neuen Gast von Kopf bis Fuß, bevor er grinsend fragte: »Haben Sie sich verlaufen, Lady?«
»Ich denke nicht.« Ricarda entschied, dass ein Lächeln in dieser Situation nicht angebracht wäre.
»Dann suchst du einen Job?«, fragte der Barmann, bevor sie ihr Anliegen schildern konnte. »Hübsch bist du ja, und wenn -«
»Ich habe mich weder verlaufen, noch suche ich einen Job«, fiel Ricarda ihm ins Wort, bevor er ins Detail gehen konnte. »Ich möchte eine junge Frau besuchen. Sie ist gestern von einem Pferd überrannt worden, und im Hospital sagte man mir, dass sie hierhergebracht wurde. Ihr Name ist Cooper.«
Der Barmann musterte sie erneut unverschämt. Schließlich erklärte er: »Geh die Treppe hoch, dritte Tür links, da liegt sie. Aber mach keinen Unsinn, hörst du!«
Während sie die Stufen erklomm, glaubte sie förmlich zu spüren, wie er die ganze Zeit über auf ihr Hinterteil starrte. Mühsam unterdrückte Ricarda die Panik, die plötzlich in ihr aufstieg. Was war ihr bloß eingefallen? Sie hätte niemals herkommen dürfen. Niemand würde diesen Kerl davon abhalten, sie in eines der Separees zu zerren und zu vergewaltigen. Sie kannte zwar die empfindlichen Stellen eines Männerkörpers, aber ob ihr das helfen würde, um diesem Bären von Kerl Widerstand zu leisten? Ricardas Herz klopfte bis zum Hals, als sie die besagte Tür erreichte. Sie klopfte zaghaft.
Eine schwache Frauenstimme bat sie herein.
Als Ricarda das Zimmer betrat, kamen ihr beinahe die Tränen. Es war so klein, dass neben dem Bett kaum noch Raum für einen schiefen Schrank und eine Schminkkommode blieb.
Miss Cooper lag auf einer durchgelegenen Matratze, die ihrem Rippenbruch alles andere als zuträglich war. Wenn die gebrochenen Rippen falsch zusammenwuchsen, würde künftig jeder Atemzug schmerzen. Und wenn die Quetschung des Lungenflügels nicht ausheilte, konnte das zu Verwachsungen oder gar Krebs führen.
Um nichts in der Welt hätte Ricarda diese Patientin aus dem Hospital entlassen. Sie fragte sich, was der Bürgermeister wohl zu der riskanten Entscheidung von Dr. Doherty sagen würde. Aber dann kam ihr in den Sinn, dass das Verhalten des Arztes ihm vermutlich vollkommen gleichgültig wäre, weil das Mädchen in seinen Augen wahrscheinlich »nur eine Hure« war.
»Guten Tag, Miss Cooper«, sagte sie und setzte ein freundliches Lächeln auf. Auch wenn sie verängstigt und angesichts der Zustände wütend war, ihre Patientin wollte sie das nicht spüren lassen.
»Hallo.« Die Kranke lächelte freundlich.
»Erinnern Sie sich an mich? Ich bin Ricarda Bensdorf, die Ärztin, die Sie ins Krankenhaus gebracht hat. Ich wollte nachsehen, wie es Ihnen geht.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, gab das Mädchen mit belegter Stimme zurück.
Ricarda untersuchte die Platzwunde an der Stirn. Sie heilte gut, in wenigen Tagen konnten die Fäden gezogen werden. Wie es den Rippen ging, konnte sie nur ahnen. Sie bezweifelte, dass der stützende Brustverband erneuert worden war. Eigentlich hätte sie es tun müssen, aber die Mullbinden, die sie auf der Kommode entdeckte, waren nicht fest genug. Zu dumm! Ich hätte meinen Arztkoffer mitnehmen sollen, schalt Ricarda sich.
»Warum haben Sie denn das Hospital verlassen?«, fragte sie.
»Mr Borden hat mich abgeholt.«
»Ist das der Inhaber dieses Etablissements?«
Emma Cooper nickte.
Ricarda würde sich diesen Namen merken. »Warum hat er das getan?«
»Er wollte dem Hospital kein Geld für mich zahlen.«
»Doktor Doherty hat Sie also einfach entlassen.«
Wieder nickte Emma.
Ricarda schnaufte erbost. Das war unverantwortlich! Offenbar glaubte er, auf dem gegenüberliegenden Ende der Welt würde der hippokratische Eid nicht gelten.
»Wer hat Sie eigentlich über den Haufen geritten?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
Verwundert bemerkte Ricarda, dass die Augen ihrer Patientin einen ängstlichen Ausdruck angenommen hatten. Offenbar wusste sie es ganz genau, wagte es aber nicht zu sagen.
»Weil Ihnen Schadensersatz zusteht. Der Reiter hätte doch ausweichen können. Bei vorsätzlicher Körperverletzung steht dem Opfer eine Entschädigung zu.«
Miss Cooper zögerte. Zwischen ihren Augenbrauen erschien eine tiefe Falte, die so gar nicht ihrem Alter entsprach. Doch auch wenn die Aussicht auf Schadensersatz etwas Verlockendes besaß, war die Angst vor Repressalien offensichtlich größer.
»Sie können es mir ruhig sagen!«, fuhr Ricarda fort. »Ich werde dafür sorgen, dass Sie keinen Ärger bekommen. Vielleicht können wir den Schuldigen ja dazu bewegen, Ihnen den Aufenthalt im Hospital zu bezahlen. Das wäre das Mindeste, was er für Sie tun könnte.«
Die junge Frau schaute sie noch immer aus großen Augen an.
Himmel, was muss ich noch tun, damit sie mir glaubt?, fragte sich Ricarda.
Plötzlich flog die Tür hinter ihnen auf. Hart krachte der Türflügel gegen die Wand. Er traf ein Gemälde, eine schwülstige erotische Szene in einer bukolischen Landschaft; ein Nagel fiel zu Boden, sodass das Bild plötzlich schräg hing.
»Was geht hier vor?«, wetterte eine Stimme. Ricarda sah sich um und blickte direkt in das Gesicht eines Mannes mit rotblondem Haar, der eine Narbe unter dem rechten Auge hatte. Sie kannte solche Narben von Studenten, die schlagenden Verbindungen angehörten und Ehrenhändel ausgefochten hatten. Nach dem Auftreten dieses Mannes zu schließen, rührte seine Verletzung aber keinesfalls von einem ehrenvollen Kampf her.
»Mein Name ist Ricarda Bensdorf«, stellte sie sich vor. »Ich bin Ärztin und habe diese Frau gestern ins Hospital gebracht, weil sie von einem Pferd überrannt wurde. Nun wollte ich sehen, wie es ihr geht, denn man sagte mir, dass sie inzwischen hier ist.«
Der Mann musterte sie von Kopf bis Fuß. Dann kniff er die Augen zusammen. »Sie wollen Ärztin sein?« Er lachte auf.
»Das will ich nicht nur sein, das bin ich auch«, entgegnete Ricarda energisch, die Überheblichkeit ihres Gegenübers ignorierend.
»Nun, Miss, dann sollten Sie sich um Ihre eigenen Kranken kümmern«, gab Borden abschätzig zurück. »Dieses Mädchen behandelt Doktor Doherty und niemand sonst.«
»Er scheint keinen besonders guten Blick für Kranke zu haben, da er Ihnen erlaubt hat, Miss Cooper mitzunehmen.« Ricarda ballte unwillkürlich die Fäuste. »Diese Frau wird irreparable Schäden davontragen, wenn Sie sie in diesem Bett sich selbst überlassen! Um es in Ihrer Sprache auszudrücken: Wenn sie nicht besser gepflegt wird, kann sie Ihnen nie wieder etwas einbringen, weil ihr während der Arbeit die Luft ausgehen wird!«
Ricarda zitterte am ganzen Körper - ob vor Angst oder Empörung, hätte sie selbst nicht zu sagen gewusst. Ihr Mund war trocken, und sie hoffte nur, dass ihr in dieser stickigen Kammer nicht die Sinne schwänden.
Der Bordellbesitzer wirkte zunächst sprachlos. »Verschwinden Sie von hier!«, zischte er schließlich gefährlich leise und hob drohend die Faust. »Und solange Sie nicht vorhaben, für mich zu arbeiten, setzen Sie nie wieder einen Fuß in mein Lokal! Haben Sie mich verstanden?«
Ricarda wollte sich um keinen Preis eingeschüchtert zeigen; deshalb blickte sie dem Wirt unverwandt in die Augen. Dabei fiel ihr auf, dass sein Augenweiß gelblich verfärbt war. Ein Ikterus, diagnostizierte sie unwillkürlich; ja, zweifellos stand es um seine Leber nicht zum Besten. Diese Erkenntnis lenkte sie ab und bewahrte sie davor, erschrocken zurückzuweichen, obwohl ihr sehr mulmig zumute war. Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken. Es wäre vermutlich zwecklos, ihm angesichts seiner Gelbsucht vom Alkoholgenuss abzuraten ...
Während Ricarda noch mit sich rang, knurrte er plötzlich: »Raus hier! Machen Sie endlich, dass Sie wegkommen, sonst werfe ich Sie zum Fenster raus! Dann können Sie sich selbst verarzten, Fräulein Doktor!«
Das hämische Gelächter, das seinen Worten folgte, löste Ricarda aus ihrer Erstarrung. Sie zweifelte nicht daran, dass Borden seine Drohung wahrmachen würde. Sie warf ihm einen letzten, zornigen Blick zu, winkte ihrer Patientin zum Abschied und rannte die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße.
Jack fiel der Ritt ins Maoridorf diesmal alles andere als leicht. Sein Gefühl sagte ihm, dass die Menschen dort keine Schuld an dem Zwischenfall trugen. Dennoch fürchtete er sich vor dem, was er erfahren würde.
Wenn sich nun doch ein paar Krieger entschieden hatten, gegen die Weißen vorzugehen? Der sorgsam gehegte Friede wäre dahin, und obwohl Jack nicht vorhatte, den Maori zu schaden, könnte er nicht verhindern, dass andere zu den Waffen greifen und den Kampf eröffnen würden.
Vielleicht stimmt meine Vermutung ja, versuchte er sich zu beruhigen, als er das Pferd auf das Dorf zulenkte.
Die Wachposten nickten ihm zu und fragten ihn diesmal nicht nach seinem Ziel. Jack stieg vom Pferd und ging zu Moanas Hütte.
Die Heilerin stand davor und reichte einer Frau gerade ein Bündel Kräuter.
»Kiritopa, gut du sein hier!«, rief sie, als sie ihn bemerkte, und trat zu ihm, um ihn zu begrüßen. »Was deine Grasfresser machen? Bluttrinker fort?«
»Ja, das sind sie, dank deiner Kräuter.« Jack deutete eine anerkennende Verbeugung an. »Ich komme heute wegen etwas anderem.«
»Dann sagen und ich sehen, ob helfen.«
Moana bedeutete ihm, dass er ihr in seine Hütte folgen solle.
Neben der Feuerstelle nahmen sie Platz.
»Waren in letzter Zeit pakehas bei euch und wollten handeln?«
Moana überlegte. »Was meinen mit letzter Zeit.«
»Ob sie vor einer Woche hier waren. Oder vor einigen Monaten.«
Die Heilerin schüttelte den Kopf. »Nein, keine pakehas hier, nur du.«
»Und gibt es in letzter Zeit Krieger, die gegen uns kämpfen wollen?«
Moana zog fragend die Augenbrauen hoch. »Warum du fragen, kiritopa?«
Jack rang mit sich, ob er ihr alles erzählen sollte. Es muss sein, beschloss er nach einer Weile und begann zu berichten.
Nachdem er geendet hatte, wurde Moana nachdenklich. Fast fürchtete Jack schon, sie verärgert zu haben, da antwortete sie:
»Ariki seine Krieger sagen, dass nicht kämpfen, wenn nicht drohen Gefahr.«
»Aber vielleicht hören einige Krieger nicht auf ihn.«
»Mana von ariki sehr groß. Kein Krieger wagen, anderes zu tun, als er wollen.«
Jack seufzte. Er glaubte Moana, wenn sie sagte, dass die Autorität des Häuptlings unangetastet war. Aber in die Herzen aller Stammesmitglieder konnte sie nicht schauen.
Und wenn Bessett doch dahintersteckte? Vielleicht hatte er den Speer ja von einem seiner Bediensteten erhalten. Diese kamen ab und an in ihr Dorf. Gewiss fand niemand etwas dabei, wenn ein Maori einen Speer mitnahm.
Einen Beweis für Bessetts Schuld würde er also nicht finden.
»Ich sehen, dein Herz wieder voll Sorge.«
»Ja, diese Sache macht mir wirklich Kopfzerbrechen.«
»Wenn zerbrechen Kopf, nicht gut. Ich hören und sehen für dich. Wenn ich weiß Neues, ich zu dir kommen.«
Mehr konnte Jack nicht verlangen. Er dankte ihr und fragte dann: »Gibt es etwas, was ich für dich tun kann?«
»Ich zufrieden bin, aber wenn du wieder finden papanga, ich freuen.«
»Du sollst deinen Stoff bekommen«, entgegnete der Farmer und erhob sich.
Als sie aus der Hütte traten, bemerkte Jack eine junge Frau und einen Mann, die heftig gestikulierend miteinander sprachen.
Auf den ersten Blick wirkten sie wie ein zänkisches Ehepaar.
Moana erriet, dass Jack wissen wollte, wer sie waren.
»Das Taiko und Bruder Ruaumoko. Mädchen gerade gekommen aus Stadt mit Kind in Bauch. Bruder sehr wütend auf Mann, gemacht hat Kind. Er geschworen, Ehre von Taiko zu verteidigen.«
»Und wer ist der Vater des Kindes?«, erkundigte sich Jack, und eine leise Ahnung beschlich ihn.
»Reicher Mann, bei dem Taiko arbeiten. Haben gemacht Kind und geschickt fort. Name sein Bessett.«
Bessett!, dachte Jack. Die Gerüchteküche in der Stadt funktioniert wirklich prächtig. Doch er freute sich nicht, dass seine Behauptung kein Gerücht mehr war. Das Mädchen tat ihm leid. Auch wenn die Maori keine Frau, die unehelich Mutter wurde, verstießen, so sank ihr gesellschaftlicher Rang doch beträchtlich.
»Ruaumoko werden versuchen, Vater zu Kampf herauszufordern«, setzte Moana hinzu.
»Davon solltest du ihn abbringen, Moana«, entgegnete Jack, der seine Gedanken beiseiteschob. »Es könnte schlimme Konsequenzen haben, wenn er Bessett tötet, nicht nur für ihn, sondern auch für euren gesamten Stamm.«
Die Heilerin seufzte. »Du können einfangen Wind?«
»Das kann wohl niemand.«
»Und so sein Krieger, wenn will Ehre von Schwester reinwaschen. Ich ihm kann raten, bleiben ruhig, doch ob er meine Stimme hören?«
»Er muss auf dich hören, Moana, sonst wird es noch viel mehr Unheil geben!« Jack hoffte, dass Moana den Nachdruck in seiner Stimme wahrnahm. »Manchmal gehorcht dir ja auch der Wind.«
Die Augen der Heilerin funkelten schelmisch. »Manchmal.«
Als hätte er mitbekommen, dass sie über ihn sprachen, wandte sich der Krieger plötzlich um.
Jack erkannte in seinem Blick Stolz und auch Zorn ihm gegenüber, obwohl er die Ehre seiner Schwester nicht befleckt hatte. Wenn Bessett ihm im Kampf gegenüberstehen musste, würde er nichts zu lachen haben. Dennoch hoffte Jack, dass kein Blut fließen würde.
Schwungvoll rührte Ricarda ihre Wäsche im Bottich um, bevor sie das erste Stück herauszog, um es auf dem Waschbrett zu bearbeiten. Die harte körperliche Arbeit kam ihr sehr gelegen. Während sie ein Unterkleid kräftig auswrang, musste sie an den Bordellbesitzer denken, mit dessen Hals sie gern genauso verfahren wäre. Wie konnte der Kerl sich bloß so aufführen? Und was war nur mit dem Bürgermeister los? Und warum musste es selbst hier, wo die Menschen doch eine Chance zum Neuanfang hatten, Bordelle geben? Mussten die Europäer denn überall, wo sie auftauchten, das Land in ein Abbild ihrer zurückgelassenen Heimat verwandeln?
Während Ricarda schrubbte, rubbelte und wrang, verrauchte ihre Wut allmählich und ihre Gedanken hörten zu kreisen auf.
»Miss Bensdorf?«
Ricarda schaute auf, und sofort war die mühsam gewonnene Gelassenheit wieder dahin. Dr. Doherty stand vor dem Pavillon. Das konnte nichts Gutes bedeuten. »Was kann ich für Sie tun, Herr Kollege?«, fragte sie und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
Doherty musterte sie abschätzig. »Ich habe gehört, dass Sie in meinem Hospital waren.«
»Ganz recht, ich wollte mich nach meiner Patientin erkundigen. Wie ich gehört habe, haben Sie Miss Cooper entlassen. Ich frage mich, ob Sie die Folgeschäden verantworten wollen. Ich habe mir das Mädchen angesehen, und ich würde jemanden mit Rippenbrüchen und Verdacht auf Lungenquetschung nicht auf einer durchgelegenen Matratze sich selbst überlassen. Mal abgesehen davon, dass ich Mr Borden für fähig halte, Miss Cooper auch noch Freier aufs Zimmer zu schicken.«
Ricarda war sich dessen bewusst, dass ihre direkte Art den Kollegen schockierte. Eine ehrbare Frau würde das Wort »Freier« niemals in den Mund nehmen, ja, sie würde nicht einmal wissen, was diese Männer mit den Mädchen in den Bordellen anstellten. Aber als Ärztin hatte sie so einiges gesehen und gehört, und kein menschliches Bedürfnis war ihr fremd.
Einen Moment lang schaute Doherty sie an, als hätte sie den Waschzuber über seinem Kopf ausgeleert. Aber er erholte sich recht schnell von seinem Schrecken. »Ich bin nicht hier, um über Maßnahmen zu diskutieren, die meine Patienten betreffen«, schnaubte er. »Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass ich Ihnen ab sofort Hausverbot in meinem Hospital erteile.«
Ricarda stemmte die Hände in die Seiten und legte den Kopf schief. »Sie tun was?«
»Ich erteile Ihnen Hausverbot«, entgegnete Doherty ungerührt. »Sie hatten kein Recht, in den Räumen meines Hospitals zu praktizieren. Damit haben Sie gewissermaßen Hausfriedensbruch begangen, und ich als Eigentümer des Grundstücks habe das Recht, Sie von dort zu verweisen.«
Ricarda hätte ihn zu gern gefragt, ob er den Verstand verloren hatte. Das Behandeln eines Patienten sollte Hausfriedensbruch sein? Wahrscheinlich hatte er sich heute bereits zu lange in der Sonne aufgehalten. Ihr lag bereits eine entsprechende Bemerkung auf der Zunge, doch die würde die Sache nur noch schlimmer machen. Immerhin hatte der Bürgermeister ihr die Zustimmung zur Niederlassung noch nicht erteilt. Wenn sich Doherty über sie beschwerte, würde sie wohl oder übel aus Tauranga abreisen müssen, denn hier könnte sie sich dann nicht mehr niederlassen.
»Ich habe lediglich die Patientin behandelt, wie es meine Pflicht war«, erklärte sie so ruhig wie möglich.
»Auf der Straße, ja, da war es Ihre Pflicht. Doch in dem Augenblick, in dem Sie das Hospital betreten haben, waren Sie nicht mehr zuständig. Dass Sie diese Person behandelt haben, ohne meine Rückkehr oder meine Erlaubnis abzuwarten, werte ich als Eingriff in mein Geschäft, und Sie können froh sein, dass ich keinen Schadensersatz von Ihnen fordere.«
Das wurde ja immer besser! Ricarda konnte ein Schnaufen nicht unterdrücken. Am liebsten hätte sie diesem Kerl die Arroganz und Selbstgefälligkeit aus dem Gesicht geschrubbt, doch sie zwang sich zur Besonnenheit. »Doktor Doherty«, sagte sie und funkelte den Arzt zornig an, »Schadensersatz kann man nur für einen Schaden fordern, den man tatsächlich erlitten hat. Soweit ich weiß, hat Mr Borden, in dessen Lokal die junge Dame arbeitet, Ihnen die Rechnung beglichen. Ich hingegen habe kein Honorar erhalten, obwohl die Patientin einen größeren Schaden davongetragen hätte, wenn ich sie auf der Straße liegengelassen hätte. Also kommen Sie mir nicht auf diese Weise, Sir!«
Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass sie sich nicht einschüchtern ließ. Er atmete erst einmal tief durch, bevor er knurrte: »Sie werden sich von meinem Hospital fernhalten! Sollten Sie einen Patienten dort einweisen wollen, können Sie das tun, und ich werde auch Sie behandeln, sollten Sie jemals eingeliefert werden. Aber solange Ihre Füße Sie tragen, werden Sie sich dort nicht mehr blicken lassen, haben Sie mich verstanden?«
Ricarda schaute ihren Widersacher nur trotzig an. Am liebsten hätte sie ihm entgegengeschleudert, wie armselig sein Verhalten doch sei, aber sie schwieg. Wenn sie zu Studienzeiten auf Männer seines Schlages getroffen war, hatte sie es genauso gehalten. Es gab schließlich andere Wege, bornierten Mannsbildern einen Denkzettel zu verpassen. Das würde ihr bei Doherty schon noch gelingen. Spätestens wenn sie ihre eigene Praxis hatte.
»Gut, ich denke, dann wäre alles gesagt«, fügte Doherty hinzu. »Wenn Sie mir nicht mehr in die Quere kommen, werden wir uns bestens vertragen. Guten Tag, Miss Bensdorf.«
Er verneigte sich spöttisch, wandte sich ab und verschwand.
Ricarda verpasste dem Waschbottich einen Tritt, und zwar so kräftig, wie sie Doherty am liebsten getreten hätte. Das Waschbrett rutschte ab und landete platschend im Wasser. Ein Schwall Lauge ergoss sich auf Ricardas Schürze und durchnässte auch ihr Kleid. Doch das war ihr gleichgültig. In ihren Augen standen Tränen, und ein Kloß formte sich in ihrem Hals. Sie hatte sich an den Grenzen gestoßen, die ihre Eltern ihr setzen wollten, aber das war ja gar nichts gewesen im Vergleich zu dem, was sie sich heute bieten lassen musste. Allmählich wurde ihr angst und bange. Vielleicht hatte sie sich doch etwas Unmögliches vorgenommen.
Am liebsten hätte sie sich in ihr Zimmer verkrochen, um sich unter der Bettdecke einzuigeln und zu weinen. Oder etwas von dem Wein zu trinken, den Molly in ihrem Keller lagerte. Aber nein! Das wäre der falsche Weg! Entschlossen strich sie sich das Haar aus der Stirn und wischte sich über die brennenden Augen. Die Wäsche würde nicht weglaufen.
Ricarda rannte in ihr Zimmer, legte die Schürze ab und schnappte sich die Visitenkarte, die sie auf ihren Schreibtisch gelegt hatte. Es konnte nicht schaden, sich Beistand zu suchen - besonders, wenn sich gleich drei Männer gegen einen verschworen hatten.
Mary Cantrells Haus, das im klassizistischen Stil aus Stein errichtet war, bildete neben dem Governement Building den zweiten glanzvollen Höhepunkt der Willow Street. Ob diese stattlichen Weiden vor dem Eingang der Straße den Namen gegeben haben?, fragte Ricarda sich, während sie die Treppe hinaufstürmte.
Sie strich sich den Rock glatt, der noch nicht wieder trocken war, und schob sich ein paar lose Haarsträhnen hinter die Ohren. Dann atmete sie tief durch und betätigte die Klingel. Das Läuten echote durch die Eingangshalle und erinnerte sie an ihr Elternhaus.
Es dauerte nicht lange, bis Schritte ertönten. Ricarda hätte mit einem Dienstmädchen gerechnet, doch ein Mann mittleren Alters in der Kleidung eines englischen Butlers öffnete die Tür. Er musterte sie von oben herab und fragte dann: »Sie wünschen, Miss?«
»Ich würde gern Mrs Cantrell sprechen.«
»In welcher Angelegenheit?«
»In einer privaten«, entgegnete Ricarda, denn sie hatte nicht vor, dem Butler die gesamte Geschichte zu erzählen. Außerdem war sie viel zu wütend und aufgekratzt, um mit jemandem zu sprechen, der keine Ahnung von dem Drumherum hatte.
»Ist schon in Ordnung, Martin, ich habe die Dame eingeladen.«
Die Hausherrin war unbemerkt hinter dem Butler in der Eingangshalle aufgetaucht.
Sie trug ein aprikosenfarbenes Nachmittagskleid mit weißen Rüschen, was ihrer Erscheinung Jugendlichkeit verlieh. »Doktor Bensdorf, schön, Sie zu sehen!«
Ricarda hob die Hand zu einem unsicheren Winken.
Der Butler verbeugte sich und öffnete die Tür so weit, dass Ricarda eintreten konnte. »Herzlich willkommen, Madam.«
Zu einer anderen Gelegenheit hätte Ricarda dieses Verhalten amüsant gefunden, denn der Diener schien geradewegs einem englischen Roman entsprungen zu sein, doch jetzt schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie versuchte sich ein wenig abzulenken, indem sie den Blick durch die Halle schweifen ließ. So groß wie die ihres Elternhauses war sie nicht, aber ebenso prächtig. Neben der Treppe entdeckte Ricarda einen Diwan, der noch aus napoleonischer Zeit zu stammen schien und von exotischen Kübelpflanzen flankiert wurde. Darüber hing ein Gemälde in einem schweren Goldrahmen, das Bildnis eines Mannes, der triumphierend den Fuß auf den Kopf eines erlegten Löwen gestellt hatte. Ein kristallener Kronleuchter beleuchtete die Kulisse.
Wenn sie all das aus England mitgenommen hat, wird sie für die Überfahrt wohl ein eigenes Schiff gebraucht haben, fuhr es Ricarda durch den Kopf, und der Gedanke erhellte ihr Gemüt ein wenig.
»Kommen Sie, Doktor Bensdorf, gehen wir in meinen Salon!« Mary Cantrell lächelte gewinnend und führte Ricarda hinein.
Das Wort »Salon« hatte noch immer einen seltsamen Klang in Ricardas Ohren. Aber der Raum war eine angenehme Überraschung, denn er ähnelte dem ihrer Mutter in keiner Weise. Er erinnerte mit den zahlreichen Topfpflanzen eher an einen Wintergarten. Ricarda entdeckte Zitronen- und Orangenbäumchen, aber auch Pflanzen, die sie noch nie gesehen hatte. Einige hatten bizarr geformte Blüten, andere fleischige dunkelgrüne Blätter. Sogar eine Palme reckte sich dem kuppelförmigen Glasdach entgegen.
»Mein Mann und ich haben einen Hang zum Außergewöhnlichen, wie Sie sehen«, erklärte Mary Cantrell, als sie Ricardas Staunen bemerkte. »Vermutlich weil wir eine Zeitlang in Afrika gelebt haben. Neuseeland finde ich allerdings noch wesentlich interessanter. Sie müssen unbedingt mal in den Busch und nach Kiwis Ausschau halten, diese Vögel sind so etwas wie nationale Heiligtümer.«
Ricarda musste zugeben, dass sie die Engländerin beneidete. Sie hatte offenbar einen Ehemann, der sie weder zähmen noch brechen wollte. Ganz im Gegenteil, er reiste mit ihr und hatte auch nichts dagegen, dass sie sich in der Frauenbewegung engagierte. Wahrscheinlich hätte er auch nichts gegen ein Studium seiner Frau einzuwenden gehabt, wenn sie es denn gewollt hätte.
»Setzen Sie sich doch!« Mary deutete auf die Korbmöbel in der Mitte des Raumes, deren dicke orangerote Kissen sehr einladend wirkten. Ein kleiner Tisch, dessen Fuß ebenfalls aus Korbgeflecht bestand, trug eine wunderschöne Glasplatte, deren farbiges Dekor mit den Kissen und den Blüten der Pflanzen harmonierte. Mary griff nach einem silbernen Glöckchen und läutete.
Wenig später erschien der Butler. »Sie wünschen, Madam?«
»Bringen Sie uns bitte Tee und etwas von Marthas Gebäck.«
»Sehr wohl.« Wieder verbeugte er sich und zog von dannen.
Mary wartete noch, bis er außer Hörweite war, dann fragte sie: »Nun, was führt Sie zu mir, Doktor Bensdorf? Darf ich hoffen, dass Sie es sich mit meinem Angebot überlegt haben?«
»Doktor Doherty hat mich aufgesucht«, erklärte Ricarda, ohne auf die eigentliche Frage einzugehen. Zuerst sollte die Engländerin wissen, was der Grund für ihre Entscheidung war. »Stellen Sie sich vor, er hat mir Hausverbot für das Hospital erteilt.«
Eine dünne Falte erschien zwischen Marys Augenbrauen. Ihre Augen verengten sich. »Mit welcher Begründung hat er das getan?«
»Er sagte, dass ich mich in seine Arbeit einmische und er das nicht dulden könne«, antwortete Ricarda und schilderte die Unterhaltung mit ihrem Widersacher in allen Einzelheiten.
Mary Cantrell senkte den Blick und schob die Unterlippe nachdenklich vor. Dann fragte sie: »Was hätten Sie getan, wenn ein fremder Arzt in Ihrer Praxis erschienen wäre, um einen Patienten zu behandeln?«
Ricarda glaubte nicht richtig zu hören. Hatte Mrs Cantrell es sich jetzt anders überlegt, was die Unterstützung anging?
»Ich hätte ihn gewähren lassen«, entgegnete Ricarda, und das war keineswegs eine leere Phrase. Sie war schon immer der Meinung gewesen, dass Kollegen einander nicht wie Konkurrenten behandeln sollten. Aber offenbar stand sie mit dieser Ansicht allein da. Dennoch setzte sie hinzu: »Wenn er keine Möglichkeit hätte, seinen Patienten bei sich zu behandeln, würde ich ihm meine Praxis zur Verfügung stellen.«
Die Engländerin nickte. »Eine weise Antwort. Merken Sie sich die, falls es mal zur Konfrontation zwischen Ihnen beiden kommt. Damit meine ich kein Gespräch mit Doherty, sondern eine Gerichtsverhandlung.«
»Gerichtsverhandlung?« Ricarda schoss in die Höhe, als hätte sich eine Rute aus dem Geflecht des Stuhls gelöst und sie in den Allerwertesten gestochen.
»Bleiben Sie ruhig, und setzen Sie sich, Ricarda!«, sagte Mary beschwichtigend. »Ich darf Sie doch so nennen, oder?«
Ricarda nickte und ließ sich wieder in das Polster fallen.
»Ich kenne Doktor Doherty schon lange«, erklärte Mary. »Bislang musste ich seine medizinischen Künste zwar noch nicht in Anspruch nehmen, aber ich brauche einen Menschen nur anzusehen, um zu wissen, was in seinem Kopf vorgeht.«
»Ich wünschte, diese Gabe hätte ich gehabt, bevor ich mit der Frau ins Hospital gefahren bin.«
»Nein, dazu hätten Sie hellsehen müssen«, gab Mary zurück. »Aber das kann bekanntlich niemand. Sie waren neu in der Stadt und konnten ja nicht ahnen, dass Doherty seine Futtergründe mit gefletschten Zähnen verteidigt.«
»Aber ein Arzt ist für eine Stadt wie diese zu wenig!«, erklärte Ricarda. »Oder wäre es etwas anderes, wenn ich ein Mann wäre?«
»Nicht im Großen und Ganzen, aber im Detail.« Mary hielt inne, denn der Butler trat ein.
Während Ricarda beobachtete, wie formvollendet Martin den Tee servierte, kam ihr in den Sinn, dass ihre Mutter von solch einem Bediensteten begeistert wäre.
Nachdem er wieder gegangen war, fuhr die Engländerin fort. »Wären Sie ein Mann, hätte er es zwar missbilligt, dass Sie in seinem Hühnerstall gewildert haben, hätte aber keine weiteren Schritte unternommen; denn er hätte damit rechnen müssen, dass Sie ihm eine Waffe unter die Nase halten oder ihm eine gehörige Abreibung verpassen. Bei einer vermeintlich schwachen Frau glaubt Doherty dagegen, dass er nichts zu befürchten hat.«
Ricarda nickte. »Das habe ich gemerkt. Er war sogar so dreist, von Schadensersatz zu sprechen. Und das, obwohl Mr Borden ihn bezahlt hat und nicht mich.«
Mary schüttelte empört den Kopf. Aber dann lächelte sie, griff nach dem Milchkännchen und sagte beschwichtigend: »Probieren Sie diesen Tee, Ricarda, es ist einer der besten Earl Grey, die ich kenne. Er wird Ihren Nerven guttun.«
Ricarda war in diesem Augenblick sicher, dass nur eines ihren Nerven guttun würde: es Doherty irgendwie heimzuzahlen. Aber sie griff gehorsam nach der Teetasse.
»Versuchen Sie ihn mit etwas Milch, dadurch wird er noch milder«, riet Mary, während sie ihren Tee umrührte.
Ricarda goss etwas Milch in ihre Tasse und sah, wie eine kleine weiße Wolke darin aufwallte.
Viel Glück im Land der weißen Wolke! Plötzlich hatte Ricarda Manzonis Worte im Ohr, und gleich wurde ihr leichter zumute.
»Na, sehen Sie, jetzt lächeln Sie endlich«, stellte Mary fest, bevor sie es selbst bemerkte. »Da zeigt sich mal wieder, dass es nichts Heilsameres gibt als eine Tasse Tee.«
Eine Weile herrschte andächtiges Schweigen.
»Also, wie ich das sehe, brauchen Sie so schnell wie möglich einen Bescheid von der Einwanderungsbehörde oder zumindest eine Aufenthaltsgenehmigung«, sagte Mary schließlich. »Außerdem die Genehmigung des Bürgermeisters.«
Ricarda nickte niedergeschlagen. Sie glaubte nicht mehr daran, dass sie die jemals bekommen würde.
Mary jedoch lächelte siegesgewiss und griff nach ihrer Tasse. »Mit ein wenig Hilfe können Sie das schaffen, und zwar schneller, als Sie denken. Und dann zeigen Sie es diesem Doherty!«
Jack Manzoni saß an diesem Abend auf seiner Veranda und beobachtete den sich verdunkelnden Himmel. Es würde eine klare Nacht werden, eine Nacht, in der die Sterne wie Brillanten strahlen würden. Die ersten »Kinder des Lichts«, wie die Gestirne von den Maori genannt wurden, funkelten bereits. Die Sterne waren eng mit ihrem Schöpfungsmythos verbunden, der sich stark von dem der Christen unterschied.
Jack entdeckte das Kreuz des Südens, das Sternbild, das in diesen Breiten am stärksten leuchtete und bei den Eingeborenen Māhutonga hieß. Es leitete die Seefahrer und inspirierte die Träumer.
Auch ich könnte einen Wegweiser gebrauchen, dachte Jack, seufzte und nahm einen Schluck aus seiner Feldflasche. Er trank nicht gewohnheitsmäßig, aber wenn er diese unbestimmte Sehnsucht spürte, die ihn vor das Haus trieb und zum Himmel blicken ließ, war ihm der Alkohol willkommen. Der Brandy kribbelte auf der Zunge und hüllte ihn in eine wohlige Wärme.
Ob ich mich über die Leere in meinem Leben hinwegtrösten will?, sinnierte Jack selbstkritisch. Obwohl er eigentlich andere Sorgen hatte, ging ihm die Begegnung mit der Ärztin nicht aus dem Kopf. Was kann ich tun, um Ricarda Bensdorf wiederzusehen? Ihr Blumen schicken? Oder geradeheraus zu ihrer Pension reiten?
Bei den Frauen, mit denen er sich nach Emilys Tod zusammengetan hatte, war es leichter gewesen. Jack Manzoni war ein angesehener Mann in Tauranga. Wenn er auf einer Tanzveranstaltung in der Stadt auftauchte, lagen ihm die meisten Damen zu Füßen. Ein Lächeln, eine Aufforderung zum Tanz, ein paar süße Worte, in das Ohr der Auserwählten geflüstert, hatten meist gereicht, um sie in sein Bett zu lotsen. Jede von ihnen hatte sich wahrscheinlich ausgerechnet, die Gattin eines reichen Schafzüchters zu werden, der ihr ein luxuriöses Leben bieten könnte.
Nachdem die erste Verliebtheit verflogen war, hatten sie jedoch schnell erkannt, dass sein Herz noch immer einer anderen gehörte und er zudem kein Mann war, der den Luxus liebte. Obwohl er reich war, wohnte er in einem Farmhaus, das trotz seiner Größe nicht wie der Landsitz eines Schafbarons anmutete. Die Inneneinrichtung war immer noch die, die seine Eltern einst aus Europa mitgebracht hatten. Jack hasste vollgestopfte Räume, er liebte die Weite, denn er war sie seit seiner Kindheit gewöhnt. Das widersprach der gängigen Mode, die einen Haufen Tand vorschrieb. Jack jedoch brauchte nur seine Bücher, seine Schafe - und eine Frau, deren Anblick allein ihn schon vergessen ließ, dass sein Haus überhaupt Wände besaß.
Jack seufzte. Das Leben der Nacht begann. Noch immer schaute er hinauf in das Firmament, während er fühlte, wie sich das Feuer des Alkohols in seinen Adern ausbreitete. Zu gern würde er wieder eine Frau an seiner Seite wissen, die er lieben und verehren konnte; eine Frau, die seine Seele zum Klingen brächte und vielleicht auch sein Klavier ...
Nun gut, sagte er sich und schickte einen Gedanken zu Moana, seiner Ratgeberin. Ich werde die wahine kennenlernen. Nicht heute, nicht morgen, aber demnächst.
Damit nahm er noch einen Schluck Brandy und gab sich dem Gefühl hin, zu den Sternen aufzusteigen und eins mit ihnen zu werden.