KAPITEL 20

Ich ließ die Kellertür hinter mir offen stehen.

Ging die erste Stufe hinunter. Die zweite. Die dritte. Blieb stehen; lauschte: Unten bewegte sich etwas.

«Mac!» Meine Stimme klang dumpf, als ob der Keller den Ton verschlucken würde. Ich holte Luft. Schluckte. Versuchte es noch einmal: «Mac, bist du da unten?»

Wieder keine Antwort.

Auf halbem Weg nach unten fielen mir ein paar rote Gummibälle der Art auf, wie man sie beim Kickball benutzte – der Reihe nach neben der Treppe an die Wand genagelt. Fünf Bälle, in abnehmender Größe. Wie eine Familie, vom Größten bis zum Kleinsten wie die Orgelpfeifen. Trotz der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass auf jeden der Bälle ein Gesicht gezeichnet war. Nur das zweitkleinste unterschied sich von den anderen: Es waren Haare und Ohrringe aufgemalt, und es lächelte. Ich erinnerte mich daran, dass Christa das mittlere Kind der Familie gewesen war – der Familie, die im Feuer umgekommen war. Und als ich nun diese Bälle sah, dieses bizarre Familienporträt, in dem mit Ausnahme von Christas eigenem alle Gesichter ausdruckslos gezeichnet waren, da wusste ich, dass sie die anderen umgebracht hatte.

Ich trat von der letzten Treppenstufe auf einen weichen Teppich, der nach Schimmel roch. Hier unten herrschte fast undurchdringliche schwärzeste Dunkelheit. Nur das fahle Mondlicht, das an den Rändern durch die geschlossenen Läden eines hohen Kellerfensters hereinschien, sorgte für etwas Helligkeit. Ich blieb stehen, holte tief Luft, um die Eiseskälte der Angst zu überwinden, und hoffte, dass meine Augen sich schnell an die Lichtverhältnisse gewöhnen würden.

Ein Geräusch: eine leichte Bewegung auf einer harten Oberfläche, irgendwo in der Mitte des Raumes.

«Hallo?», sagte ich. Ich wusste nicht, wen ich da vor mir hatte. Dachte, es wäre vielleicht Mac.

Und dann ging das Licht an, und ich fand mich Christa Maxtor gegenüber, die am anderen Ende des Kellers vor der Wand stand, die Hand am Lichtschalter. Die Halogenlampe an der Decke erhellte den Keller zwar nur schwach, aber es war alles genau zu erkennen.

Der Boden, die Wände, die Decke – alles mit einem Patchwork aus Teppichresten beklebt. An drei Wänden standen Regale, die vollgestopft waren mit Spielzeug und Spielen: Da gab es alles, was man sich nur vorstellen konnte, die Sachen waren säuberlich eingeräumt und aufeinandergestapelt, die Regalbretter beschriftet. In einem standen Lastwagen, Autos, Züge und verschiedene andere Fortbewegungsmittel. In einem anderen Puppen. Ein weiteres enthielt eine kunstvolle Konstruktion aus Bauklötzen. Im nächsten befanden sich kleine Actionfiguren, die miteinander in Kämpfe verwickelt waren. Auf einem kleinen Tisch voller Farbkleckse stand ein Laptop. Der Bildschirmschoner war eine dreidimensionale Doppelhelix. An der freien Wand hing ein Flachbildfernseher; lange schmale Regalbretter waren mit Videospielen gefüllt. Zwei alte Ohrensessel standen in einem perfekt harmonischen Winkel zueinander vor dem Fernseher. Man hätte denken können, dass ein Feng-Shui-Experte sie so hingestellt hatte. Es war ein wahres Kinderparadies hier unten. Aber feucht. Eklig. Unheimlich.

Dann fiel mir noch etwas anderes auf: ein selbstgemachtes Poster für eine Theateraufführung im Staatsgefängnis von New Jersey, auf der eine lächelnde Christa in der Mitte von lauter Schauspielern aus der Anstalt zu sehen war, einer von ihnen war unser Martin, oder besser gesagt Neil. Wie es aussah, war sie die Chefin der Truppe gewesen – Lehrerin, Regisseurin –, die den Insassen das Theater in die Anstalt gebracht hatte, als ob deren Leben nicht schon dramatisch genug verlaufen wäre. Hatte sie es so geschafft, Neil bei seinen Fluchten zu helfen? Indem sie wie ihre Mutter wichtige Kontakte knüpfte, alles unter dem Deckmäntelchen guter Taten?

«Herzlich willkommen», sagte Christa ganz ohne Ironie. Sie wirkte wie eine Gastgeberin, deren Fest sich ganz nach Plan entwickelte. Allerdings lächelte sie nicht.

Mir drehte sich alles. Ich holte Luft. Atmete tief ein.

«Bitte.» Sie zeigte auf einen Kartentisch in der Mitte des Zimmers. Zwei Stühle standen sich daran gegenüber, auf dem Tisch befand sich Macs noch immer klingelndes Handy, ein fein säuberlich aufgeschichtetes Dominospiel, Alans Dienstpistole auf einem Teller, eine nicht brennende Kerze, ein Streichholzbriefchen und eine Spritze, die zur Hälfte mit einer bläulichen Flüssigkeit gefüllt war.

Blausäure.

Das erklärte den nussigen Mandelgeruch, den ich in der Küche wahrgenommen hatte; und es erklärte auch Lizzie Stoppards – und Alans – scheinbar gewaltlosen Tod. Tatsächlich war ein Tod durch Blausäure ausgesprochen grausam; das Gift begann schnell zu wirken und verursachte eine Lähmung des Herzmuskels. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte man nur eine halbe Stunde, um ein Gegenmittel zu spritzen, andernfalls war die Blausäure tödlich.

Als ich mir ansah, wie Christa die Dinge auf dem Tisch arrangiert hatte, war ich mir endgültig sicher. Die fünfköpfige Familie. Umgekommen bei einem Brand. Ein verwaistes Mädchen. Und ihre Lehrerin. Bei diesem Spiel gab es keine Zufälle. Hatte Nancy Maxtor die Kinder zum Töten abgerichtet? Ein Zittern durchlief meinen Körper, als mir noch etwas klar wurde: Sie war ebenfalls hier. Vielleicht oben im Schlafzimmer, wo ich nicht nachgesehen hatte. Ein Mensch, der solche Morde plante, ließ sich das große Finale nicht entgehen.

«Wo ist Susanna?», fragte ich und hoffte wider besseres Wissen, dass Christa wahnsinnig genug wäre, es mir zu verraten.

«Ah, Susanna, was für ein kleiner Schatz.» Mehr sagte sie dazu nicht.

Sie durchquerte den Raum bis zum Tisch, setzte sich und wartete darauf, dass ich es auch tat. Unter dem Licht der Lampe wirkte ihre Haut grau, und Schatten fielen ihr über die Augen. Ihre völlige Ruhe und Bewegungslosigkeit machten mir Angst, weil ich fürchtete, dass sie plötzlich und unvorhergesehen nach der Waffe oder der Spritze greifen würde. Diese Frau hatte einen genauen Plan. Und der nächste Schritt stand schon fest.

Jede Bewegung, die ich auf sie zumachte, kostete mich unendlich viel Überwindung, weil mein Körper anders wollte als mein Kopf. Schnapp dir die Waffe, schienen meine Arme zu befehlen. Schnapp sie dir. Ziel. Schieß. Jetzt. Aber mein Verstand unterdrückte den Impuls und versuchte, sich in Christa hineinzudenken. Alles, was dort auf dem Tisch lag, barg eine verschlüsselte Botschaft. Und zwar ging es dabei um den Mord an Alan. Und jetzt sollte ich mit ihr spielen. Bei zwei Dingen war ich mir unsicher: ob es irgendeinen Unterschied machte, wenn ich mitspielte; und ob rechtzeitig Hilfe eintreffen würde, bevor ich das herausfand.

Ich befand mich jetzt neben dem Tisch. Bemühte mich, nicht unkontrolliert zu zittern, setzte mich ihr gegenüber hin. Macs Telefon hörte auf zu klingeln, und ich sah ein wenig zu hastig hin, als ob es mir noch etwas Wichtiges verraten könnte. Doch allein schon, dass er es nicht bei sich hatte, sagte mir eigentlich alles.

«Liebst du ihn?», fragte sie.

Ihre Augen waren marineblau. Das war mir gestern gar nicht aufgefallen. Fast marineblau, aber einen Ton mehr ins Grüne. Sie hielt meinen Blick gefangen, während ich über meine Antwort nachdachte.

«Ja.» Und die Wahrheit wird euch frei machen. Wenn ich allerdings in ihre Augen sah, war ich mir nicht sicher, ob das Bibelwort in diesem Fall recht hatte. Also riskierte ich etwas: «Und du?»

Ihre Mundwinkel hoben sich, und dann lächelte sie wieder auf ihre strahlende Art. «Du meinst ja sicher nicht ihn.» Sie schaute auf Macs Handy.

Ich schüttelte den Kopf. «Neil.»

«Er hat für mich geschwärmt, als wir noch Kinder waren. Mir war er gar nicht aufgefallen, bis … Na ja, sagen wir einfach, er wollte beweisen, dass er genauso wie ich sein konnte. Du weißt ja, wie sie sind, wollen dann einen guten Eindruck machen.» Sie zuckte die Schultern und ließ die Erinnerung an ihren hingebungsvollen jungen Verehrer vorüberziehen.

«Und hat er das?»

«Was glaubst du wohl?» Sie lächelte, als wäre der Grund für Neils brutale Verbrechen doch nur allzu offensichtlich. Mir wurde schwindelig. Wollte sie mir damit sagen, dass er sie nur nachgeahmt hatte? Indem er seine Eltern umbrachte, so wie sie es mit ihren getan hatte? Indem er dann weiter tötete?

Es zuckte um ihren Mund, dann fragte sie: «Wer nannte die Liebe doch gleich die unbekannte See

Ich schüttelte den Kopf, weil ich keine Ahnung hatte, wovon sie redete.

«Der Plan war, die Partie für ihn zu Ende zu spielen, weil er es ja nicht mehr kann.» Ihr Gesichtsausdruck wurde hart, offensichtlich war sie wütend, weil Tanner einsaß und nicht bei ihr war. «Aber ich habe schnell festgestellt, dass ich nicht gern allein spiele. Einsamkeit ist … nun ja, meine Mutter hat mich geliebt, daran habe ich nie gezweifelt.»

Ich versuchte, ihr zu folgen, und überlegte, welche Mutter sie wohl meinte. «Tut sie das nicht immer noch?»

«Nancy? Ich meinte meine leibliche Mutter.»

Die nächste Frage drängte sich auf, und es fiel mir schwer, sie Christa nicht einfach entgegenzuschleudern: Warum hast du sie und den Rest deiner Familie dann angezündet, du Irre? Aber ich versuchte gerade, hier noch heil herauszukommen, also biss ich mir auf die Zunge.

«Ist deine zweite Mutter hier? Nancy?», fragte ich. «Ist Susanna hier? Und Mac?»

«Wenn du Antworten willst, musst du sie gewinnen. Du kannst doch Domino spielen, oder? Ist ein wirklich simples Spiel.»

«Ich bin lernfähig.»

Ihre Hand griff plötzlich nach den Dominos und verteilte die Spielsteine mit lautem Geklapper auf dem Tisch. Mit beiden Händen mischte sie den Stapel durch.

«Sieben ziehen», sagte sie.

Ich tat es.

Dann zog sie auch selbst sieben Dominos. «Der Rest bleibt im Boneyard.»

Mein Blick streifte sie, als sie das sagte. Boneyard – Knochenfeld.

«Du spielst das zum ersten Mal», stellte sie fest.

«Zumindest auf diese Weise.»

Sie starrte mich einen Moment an, wusste genau, was ich damit meinte, sparte sich aber einen Kommentar.

«Gut, fangen wir an.»

Ich machte es ihr nach und fügte Steine mit jeweils gleicher Zahl in einer Schlange auf dem Tisch aneinander. Horchte dabei auf irgendein Geräusch von oben. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen sein mochte, seit Gerry Mober versprochen hatte, die Polizei herzuschicken. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Eine halbe Stunde. Eine Stunde. Vor lauter Panik zog sich mein Magen zusammen, es wurde immer brenzliger. Doch ich versuchte wieder kühlen Kopf zu bekommen. Mich zu konzentrieren. Aufs Spiel.

«Wer am Ende die wenigsten Augen übrig hat, gewinnt.» Sie legte ein Steinchen waagerecht an einen meiner Dominos an, sodass ihre doppelte Vier sich an meine Vier anschloss. «Das hier ist wirklich die Version für Kleinkinder, nur eine Runde zum Aufwärmen. Als Nächstes spielen wir Blind Hughie, nochmal was Leichtes. Danach wollen wir sehen, ob du schon bereit bist für Sniff – unsere Lieblingsvariante.»

Ich zögerte, aber sie schien mir bewusst ein Stichwort gegeben zu haben. «Wessen Lieblingsvariante?»

«Von Neil und mir, wenn du es unbedingt wissen willst. Aber da er ja nun nicht hier ist …» Ihr Lächeln wirkte so rachsüchtig, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Es war der Inbegriff der Bösartigkeit. Als ob diese Frau nicht aus demselben Stoff gemacht wäre wie der Rest der Menschheit.

Sie hatte noch zwei Spielsteine. Ich hatte sechs, weil ich viel aus dem Boneyard dazugezogen hatte. Nun sah es so aus, als würde Christa die Partie gewinnen, falls sie nicht auch noch neue Dominos ziehen musste.

Oben: anhaltende Stille.

Und Macs Handy konnte auch nicht mehr helfen.

Ich durfte sie nicht gewinnen lassen. Das war im Moment das Einzige, was ich ganz genau wusste. Instinktiv handelte ich.

Ich griff nach der Pistole.

Wusste nicht, ob sie geladen oder so manipuliert war, dass sie in meiner Hand explodieren würde. Wusste gar nichts. Griff einfach nur nach ihr. Dabei stieß ich die Spritze vom Tisch. Sah, wie sie hinunterfiel und blauer Rauch austrat, als sie auf dem Boden aufprallte.

Ich hob Alans Pistole hoch, obwohl sie schwer war wie ein Stein.

Kippte meinen Stuhl um, als ich aufsprang, die Arme vor mir ausgestreckt, die linke Hand stützte meine rechte, einen Fuß zur Seite gestellt. Die Augen auf mein Ziel gerichtet.

«Ich bringe dich um», sagte ich. «Ich bringe dich um.» Ich war so fest entschlossen dazu, dass ich es immer wiederholte. «Eine kleine Bewegung, und ich bringe dich um.»

«Ich bleibe ganz ruhig.» Das tat sie wirklich. Starrte mich dabei an. Weder die Waffe noch die Aussicht auf den Tod schien ihr Angst zu machen.

«Erklär’s mir», sagte ich, und man hörte meiner Stimme all den Schmerz an, der mich während des ganzen Jahrs gequält hatte. «Erklär mir, warum

«Das mache ich.» Ihre Stimme, laut und klar. «Ich erklär’s dir.»

Und dann knallte der Tisch gegen meinen Arm, schlug mir die Waffe aus der Hand. Ich hörte, wie sie irgendwo hart aufprallte.

Ich trat den Tisch weg und sah, dass Christa nach der Waffe tastete. Sprang auf. Suchte ebenfalls danach. Sprang ihr auf den Rücken, als sie die Hand zur einen Seite des hohen Regals ausstreckte, in der die kämpfenden Actionfiguren standen. Es wackelte, fiel aber nicht um, als wir beide dagegenprallten. Die Pistole war aufrecht an der Wand gelandet, direkt neben dem Regal.

Ich sah, wie ihre Hand den Griff der Waffe umschloss. Die Finger legten sich darum wie Spinnenbeine. Packten fest zu. Mir kam es vor, als passierte das alles in Zeitlupe … als ob die letzten Augenblicke meines Lebens mir stückchenweise zugeteilt würden, damit ich alles genau miterleben könnte, bis zum Ende. Ich sah meine Hand über ihrer schweben, sah, wie sie sich senkte und nach der anderen griff. Fühlte, wie meine Hand ihre Finger gegen das Metall pressten. Fühlte, wie sich der Abzug bewegte. Bereitete mich auf den lauten Knall vor, als schon die Teppichfetzen von der Decke auf uns herunterfielen.

Christa krümmte sich unter mir zusammen, und ich schaffte es, sie zu überwältigen. Zog ihre Hand von der Pistole weg und packte die Waffe mit meiner anderen. Meine Finger gruben sich dabei so tief in ein orangefarbenes Stück Teppich, dass es sich am Rand vom Boden löste und umklappte, darunter kamen zwei lange Rillen im Beton zum Vorschein.

Christa wand sich unter mir und schubste mich dann mit erstaunlicher Kraft von sich herunter. Gleich darauf stürzte sie sich so schnell auf mich, dass ich nicht zum Zielen kam. Ich zog mein rechtes Bein zurück, winkelte es an und trat ihr mitten ins Gesicht. Fühlte, wie der von Mac liebevoll angelegte Verband sich verschob, fühlte, wie meine Wunde aufriss.

Sie taumelte zurück und schien die Verletzung an ihrem Wangenknochen zu bemerken … was mir Gelegenheit gab, näher zu rutschen, meinen schmerzenden Fuß vor ihr Gesicht zu heben und ihr mit der Hacke gegen das Nasenbein zu treten.

Dann sprang ich auf. Stand über ihr. Zielte mit der Pistole auf ihr Herz. «Willst du noch mehr? Ich bin bereit. Ich werde es tun

«Nein!» Blut rann ihr aus den Nasenlöchern, die Nase selbst verfärbte sich grünlich, ihre Stimme zitterte. «Nein! Sie braucht mich.»

«Nancy wird es schon ohne dich schaffen.»

«Susanna.»

Sie schaute auf das Regal mit den Figuren, und ich wusste Bescheid. Die Rillen im Beton. Die so leicht abzulösenden Teppichstücke.

Susanna war hinter dem Regal.

«Ich mache sofort auf, aber erschieß mich nicht», flehte sie. «Bitte. Du brauchst die Kombination.»

«Die Kombination.» Luft holen. Ich zwang meine Gedanken zur Ruhe, um klar denken zu können. «Welche Kombination?»

«Wenn du mich tötest, wird Neil sie dir niemals verraten.»

«Dann bekomme ich sie von Nancy. Ich werde sie finden …»

«Ja, frag sie nur.» Das unheimliche selbstsichere Lächeln kroch zurück auf ihr blutverschmiertes Gesicht: pure Bösartigkeit.

«Wo steckt sie? Wo ist Nancy?»

«Blau, ein bisschen weiter, gleiche Höhe.»

Meine Augen folgten ihrem Blick zu einem rechteckigen Teppichstück neben meinem Fuß. Schwer atmend trat ich zur Seite, bückte mich und zielte dabei weiter auf Christa. Zog das blaue Teppichstück ab, darunter kam eine Falltür aus Holzlatten zum Vorschein, mit einer Lederschlaufe als Griff. Ich riss daran.

Die Holzklappe war schwer. Ich zog kräftiger, und endlich hatte ich Erfolg, die Klappe bewegte sich in ihren schwergängigen Scharnieren und öffnete sich. Mein Blick wanderte von dem Grab im Boden zu Christa und zurück, während die mich mit der bizarren Befriedigung eines Voyeurs beobachtete.

«Na, frag doch», sagte sie. «Die beißt schon nicht.»

Ich sah genau hin und erblickte: ein Knochenfeld. Nancys Goldkreuz an den miteinander verbundenen Wirbeln, die einmal ihr Hals gewesen waren. Strähnen braungrauen Haars wie zerzaustes Heu auf ihrem Schädel. Verrottende Überreste ihrer Kleidung. Die verstreuten Puzzleteile, die man von ihrem Skelett ausmachen konnte.

Übelkeit drohte mich zu überwältigen. Übelkeit und das Unvermögen, wirklich zu begreifen, was ich sah. Hier war also Nancy Maxtor, die Frau, nach der Mac, Alan und ich gesucht hatten. Anscheinend schon seit Jahren tot und begraben. Nachdem sie Neil Tanner seine neue Identität verschafft hatte, seine zweite Chance, wie lange hatten die beiden da noch gewartet, bis sie sich ihrer entledigten, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen – und an Nancys Geld zu kommen? Wie hatten die beiden ihr Verschwinden so lange verheimlichen können? Fragen rasten durch meinen Kopf, ohne dass mir plausible Antworten eingefallen wären; doch die spielten im Moment auch keine Rolle.

Ich beugte mich herunter und packte Christa am Arm. Riss sie auf die Beine. Tränen liefen ihr über das geschundene Gesicht, aber ich war sicher, dass sie nicht vor Schmerzen weinte. Wahrscheinlich waren die Tränen ein Zeichen ihrer Enttäuschung. Demütigung. Wut. Aber mit Schmerz hatten sie nichts zu tun … weil Christa nicht genug Menschlichkeit in sich hatte für ein so hilflos machendes Gefühl wie Leid. Ihr Körper funktionierte nicht normal. Ihr krankes Gehirn stammte von einem anderen Planeten.

«Keine Mätzchen mehr.» Ich richtete die Waffe auf sie.

Sie starrte mich an. Für sie war das alles nur ein Spiel, mit Gewinnern, Verlierern, Ergebnissen.

«Bitte, ich muss mich hinsetzen», sagte sie.

«Ist Susanna hinter dem Regal?»

Sie nickte.

«Lebt sie?»

Sie hob den Blick, versuchte mich zu manipulieren. «Bitte», wiederholte sie. «Mir ist schwindelig. Ich muss mich setzen.»

Ich kam näher. «Lebt sie?», verlangte ich zu erfahren.

Sie nickte.

«Aufmachen.» Ich drückte ihr die Mündung der Waffe gegen die Schläfe. «Aufmachen, aufmachen, aufmachen.»

Während sie den Rest des Teppichs vom Boden neben dem Regal abzog, hielt ich ihr die Pistole weiter an den Kopf. Die zwei meterlangen Rillen im Zement kamen nun ganz zum Vorschein. Ich zielte weiter auf ihren Kopf, als sie beide Hände gegen die innere rechte Seite des Regals presste und fest drückte. Es verschob sich entlang der Rillen und gab den Blick auf eine Tür frei. Über dem Türknauf befand sich ein Tastenfeld: fünf Reihen mit jeweils fünf Nummern. Das Sicherheitsschloss, dessen Kombination nur JPP – Christa und Neil – kannten.

«Aufmachen», sagte ich. «Sofort. Oder ich begrab dich bei lebendigem Leibe, mit ihr da drin.»

«Lass uns einen Deal machen.»

«Kein Deal. Tipp die Zahlen ein.»

«Ich wollte niemandem etwas antun, das war alles seine Idee.»

Sie sagte das ohne jedes Gefühl, als hätte sie sich gerade eben jedes Wort zurechtgelegt. Ich wusste, dass sie log. Ihr war es egal, ob jemand umgekommen war oder gelitten hatte. Ihr war es egal, dass mein Kind und mein Mann auf brutalste Art durch die Hand ihres Komplizen gestorben waren. Weil sie mit Neil irgendein Spiel gespielt hatte. Ich nahm ihr keine Sekunde lang ab, dass Tanner der Kopf hinter all dem gewesen sein sollte.

«Tipp die Kombination ein.» Ich drückte ihr den Lauf der Waffe fester gegen die Schläfe.

Als sie die Finger auf das Tastenfeld legte, fiel mir auf, wie makellos ihre Hände manikürt waren. Kurze runde Nägel, jeder mit einem perfekten weißen Halbmond über dem Nagelbett. Die Nagelhaut makellos. Solche Hände machte man sich nicht schmutzig. Allein dieser Anblick verriet mir, wer bei jedem der Morde gnadenlos hinter den Kulissen Regie geführt hatte. Angefangen mit Christas eigener Familie. Und meine Familie war das Finale gewesen.

Fünf Tasten, fünf Reihen.

Drei.

Sieben

Null.

Sechs.

Acht.

Das Sesam öffne dich!

Ein dreifaches Beep vom Tastenfeld und dann ein Plopp.

«Okay», sagte sie. «Es ist offen, können wir nun –»

Wollte sie jetzt etwa wirklich mit mir schachern?

Ich war kurz davor, vor Wut zu explodieren. Blinde Wut, die meinen Verstand ausschaltete. Die Mauer einriss, die ich in den letzten Monaten mit so viel Mühe gegen meine Rachsucht und Depression aufgebaut hatte. Der Hass in mir war so stark, dass er Joyce’ Worte in meinem Kopf heraufbeschwor. Es war der letzte Appell meines Bewusstseins, um mich vor dem Abdrücken zu bewahren.

Tu es nicht, der Preis ist zu hoch.

Rache bringt deine Familie nicht wieder zurück.

Gewalt kann Trauer nicht verschwinden lassen.

Ich mahnte mich, in die Zukunft zu schauen, ohne meine Vergangenheit ganz aufzugeben, mich aber auch nicht von ihr fesseln zu lassen.

Ich hörte, wie Mac mich angefleht hatte, als ich in der Herrentoilette des Convention Centers die Chance gehabt hatte, Martin Price zu töten: «Nein, Karin

Ich konnte Price winseln hören: «Bitte. Tu’s nicht.» Weil er am Leben hing.

Wieder fühlte ich, wie ich damals den Menschen in ihm erkannt hatte. Wie mich das davon abhielt, es zu tun. Ich hatte ihn leben lassen. Nur um dann hier zu enden. Die Familie meines Bruders in Angst und Schrecken, Alan tot und Susanna … und Mac …

Ich widerstand und widerstand und widerstand meiner Rachsucht. Deshalb war ich nicht hergekommen. Und es stimmte: Christa zu töten, würde nichts ändern.

Ich zog die Tür auf. Dahinter befand sich eine schmale Kammer, dunkel, mit einer ungewöhnlich hohen Decke. Ein Feldbett stand darin, das Laken darauf zusammengeknüllt, die Matratze darunter dünn und fleckig. Außerdem eine streng riechende Toilette. Ein Regal mit einem wilden Durcheinander von Sexspielzeug, Handschellen und Ketten. Und an der Wand hingen nebeneinandergeklebt verschiedene Fotos: Aufnahmen von den Morden. Gesichter, die ich kannte … die ich liebte.

Mein Blick suchte hektisch den Raum ab. Wo war Susanna? Gab es Spuren von ihr? Selbst wenn es an diesem grässlichen Ort sein musste, der aus einem Albtraum zu stammen schien … bitte, lass sie mich finden.

In einer Ecke des Raums: ein Doppelseil, wie man es von Flaschenzügen kennt.

Hoch oben an der Decke eine große Hängematte, schwer ausgebeult von ihrer Last. Etwas glitzerte im Dunkeln.

Unter der Matratze eine Pfütze, die immer größer zu werden schien.

Ein Tropfen fiel von oben in die Pfütze. Und noch einer. Und ein weiterer.

Ich tastete nach dem Lichtschalter und fand ihn neben der Tür.

Hatte Angst vor dem Licht.

Ausgestreckt in der Hängematte – die mit zahnartigen Eisendornen gespickt war – lag Mac mit geöffneten Augen, Arme und Beine von sich gestreckt und blutete überall am Körper aus zahlreichen Wunden. Weil seine Kleidung vollkommen blutdurchtränkt war, konnte man nicht feststellen, wo seine Verletzungen genau waren.

Mir blieb keine Zeit mehr zu begreifen, was mit ihm geschehen war, weil uns beide plötzlich Dunkelheit umhüllte und die Tür sich gegen meinen Rücken drückte – um mich hier einzuschließen.

«Nein!»

Ich warf mich gegen die Tür, drückte meinen gebeugten Ellbogen in den kleinen offenen Spalt. Kämpfte. Der kleine Ausschnitt, der von ihrem Gesicht zu erkennen war, verriet, dass es vor Anstrengung verzogen war, doch ich war mindestens ebenso entschlossen wie sie. Irgendwie hatte ich es plötzlich geschafft, die Pistole in den Spalt zu zwängen. Und irgendwie …

Ich selbst hörte mein Brüllen nicht. Spürte nicht, wie ich abdrückte. Nahm den Knall der Waffe nicht wahr. Verpasste ihren Aufschrei. Sah nicht, wie sie zu Boden ging, und brachte auch das Blut, das aus ihrem Kopf strömte, nicht mit der Tatsache in Verbindung, das ich sie gerade erschossen hatte.

Das Einzige, was mir bewusst war, war Mac, der dort oben wie im Flug verharrt hing und blutete, reglos wie ein Schatten und – da war ich ganz sicher – mausetot. Und dass ich Susanna finden musste – an etwas anderes konnte ich nicht denken.

Der Domino-Killer
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