KAPITEL 13

«Susanna ist noch immer verschwunden», teilte ich Alan Tavarese mit, als er in seinem weißen Prius vorgefahren kam, als Letzter einer ganzen Polizeikolonne, die als Verstärkung bei der Suche helfen sollte. «Wir haben überall nachgesehen.» Überall traf es nicht ganz, weil es so viele Möglichkeiten gab, wo Susanna hätte sein können.

Das Haus lag an einem Waldstück, das die Walton Avenue vom Waterlands Park trennte. Die Lage war Jon und Andrea damals als großes Plus erschienen, als sie nach einem Haus gesucht hatten, jetzt allerdings erwies sie sich als verhängnisvoller Nachteil, und die Bahngleise hinterm Park machten es noch schlimmer. Ein kleines Mädchen konnte sich hier leicht verlaufen oder versteckt haben, und ebenso leicht konnte man es ungesehen verschleppen. Ich selbst hatte oben auf dem Dachboden jeden Winkel abgesucht, es war der letzte Ort im Haus gewesen, an dem Susanna noch hätte sein können. Allerdings war ich nicht davon ausgegangen, dass ich sie dort entdecken würde, und behielt recht damit. Jon, Andrea und ein paar Freunde hatten jedes Zimmer, jeden Schrank und jede Ecke genau inspiziert. Mac, der mit einigen Nachbarn zuvor die Gärten der Gegend abgesucht hatte, kam gerade wieder um das Haus herum, als er Alan sah.

«Gib Alarm», sagte Mac.

«Habe ich schon», antwortete Alan. «Für den gesamten Staat New Jersey, EF, VVV –»

Mein Magen verkrampfte sich, als ich die polizeilichen Abkürzungen für Entführung durch Fremde und Verschwunden, Verletzt oder Vermisst jetzt im Zusammenhang mit Susanna hörte. Mir wurde plötzlich heiß, dann bemerkte ich, dass es nicht nur mir so ging: Wir schwitzten alle. Alan war gerade aus seinem klimatisierten Auto gestiegen, und jetzt standen ihm Schweißperlen auf der Stirn. Auch von Macs Schläfen lief der Schweiß. Dieser ohnehin heiße Tag wurde immer heißer; wir erlebten eine echte Hitzewelle.

«– und die SOKO wird augenblicklich wieder eingesetzt und zusammengetrommelt, das lief schon, als ich losgefahren bin. Besser spät als nie …» Alan verstummte, weil ihm auffiel, dass das nicht stimmte. Eher wäre besser gewesen als spät, und spät war in diesem Fall wohl kaum besser als nie. «Wir haben bereits angefangen, die Zahlenkombination mit den Daten deiner Familie zu vergleichen, Karin, sofern die uns vorliegen. Bisher ist noch nichts dabei herausgekommen. Aber hör dir das an: In Trenton hat ein Beamter versucht mit Martin Price zu reden, herauszufinden, ob er irgendetwas darüber weiß, was hier los ist. Der hat aber nicht viel gesagt, außer dass wir es nicht mit einem Trittbrettfahrer zu tun hätten. Offenbar wollte er andeuten, dass er einen Komplizen hat. Mehr war allerdings nicht aus ihm herauszubekommen.»

«Glaubst du ihm das mit dem Komplizen?», fragte Mac.

«Ehrlich gesagt schon», sagte Alan. «Je weniger der Kerl von sich gibt, desto eher glaube ich ihm. Verstehst du, was ich meine?»

Hinter uns im Haus hörten wir Andrea weinen und wie Jon laut auf sie einredete: «Das weißt du doch gar nicht!»

Ich beugte mich zu Mac und Alan. «Wir sollten nichts, was er uns erzählt, für bare Münze nehmen.»

«Das denke ich auch», sagte Mac.

«Wir werden in beide Richtungen ermitteln», sagte Alan. «Dann sehen wir ja, wie weit wir damit kommen.»

«Susanna ist zur selben Zeit verschwunden wie der falsche Clown», sagte Mac. «Hat die Polizei sich mit der Sache an die Öffentlichkeit gewandt?»

«Ja, ich habe schon eine SMS bekommen, läuft also alles.»

Über SMS, Internet, Ansagen in großen Geschäften und Supermärkten, zusätzlich zum Großalarm über Polizeifunk, hatten bereits Zehntausende Menschen von Susannas Verschwinden erfahren, wahrscheinlich bevor sie selbst richtig begriff, wie ihr geschah (falls … ich wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken … falls sie noch …). Es war ihr Geburtstag, auf der Feier war ein Clown gewesen, und der hatte sie mitgenommen auf ein Abenteuer … Ich überlegte, was wohl gerade in Susannas Kopf vorging.

Eins, zwei, vier, zwei, vier, eins … mein Kopf setzte die Nummern immer wieder neu zusammen … aber abgesehen von meiner ursprünglichen Idee konnte ich keinerlei verborgene Bedeutung in den Zahlen entdecken. Martin Price hatte mit seinen Dominorätseln immer einen Hinweis auf sein nächstes Opfer gegeben, würde sein Komplize oder Nachahmer es da nicht genauso machen?

Macs Hand auf meinem Rücken holte mich zurück in die Gegenwart, außerdem spürte ich unter seiner Berührung, dass ich wohl stärker schwitzte als gedacht. Uniformierte Polizisten schwärmten aus, um die Nachbarschaft noch einmal genauer abzusuchen, während ein paar andere, die schon länger hier waren, sich hinter uns auf dem Rasen versammelten und auf weitere Anweisungen warteten – als ob irgendjemand eine Ahnung gehabt hätte, was jetzt zu tun war.

Wieder war Jons Stimme zu hören: «Bitte, hören Sie nicht auf zu suchen!»

Ich drehte mich um und sah, dass mein Bruder vor seinem Haus stand. Der Schweiß lief ihm herunter, und die Sehnen an seinem Hals traten vor Anspannung hervor, während er Freunde und Nachbarn anflehte, nicht aufzugeben. Einer nach dem anderen begann, sich wieder in Bewegung zu setzen, um noch einmal jeden Winkel abzusuchen. Auch ihnen war klar, dass wir nicht aufgeben durften. Selbst mein Vater lief ruhelos durch den Vorgarten, immer an der Seite meiner Mutter, die auf den Knien am Rand der Veranda entlangkroch und mit einer Taschenlampe darunterleuchtete.

«Karin, Alan und ich sollten jetzt besser zur SOKO aufs Revier fahren, und du beteiligst dich weiter an der Suche hier», sagte Mac.

Ich war überrascht, dass er mich allein ließ – ungefähr so, als ob man mir mein Sicherheitsnetz weggerissen hätte –, aber ich rief mir in Erinnerung, dass er anders als ich ja arbeiten musste und mein Platz bei meiner Familie war.

Ich nickte, und ohne ein weiteres Wort fuhren Mac und Alan davon.

Kelly, noch eine ehemalige Kollegin aus meiner alten Einheit, hatte die Leitung der Suchaktion übernommen. Sie war eine stämmige Afroamerikanerin um die vierzig, mit einer kräftigen Stimme, die den Gebrauch ihres Megaphons eigentlich überflüssig machte. Sie war gerade dabei, die Leute in kleine Gruppen einzuteilen und sie so zu koordinieren, dass nicht alles doppelt abgesucht wurde. Als ich zu ihr ging, um mir meine Anweisungen abzuholen, ließ sie das Megaphon sinken, legte mir den Arm um die Schultern und zog mich nah an sich. Sie war beeindruckend stark und trug ein süßliches Parfüm.

«Sieh mal drinnen nach deiner Familie. Ich glaube, der geht es nicht besonders gut.»

Ich schaute hinüber zum Haus: zu weißem Putz und Ziegelsteinen, dem gewundenen Weg, der von der Auffahrt zur Tür führte. Am Türknauf hing ein einzelner, mit Helium gefüllter Ballon an einem langen Band, reckte sich zum Himmel hinauf und wiegte sich ganz leicht im Wind.

«Wenn du irgendwelche Neuigkeiten erfährst –»

«Keine Sorge», unterbrach sie mich. «Ich gebe dir sofort Bescheid.»

Im Vergleich zur Hitze draußen war es im Haus kühl. Ich hörte gedämpfte Stimmen aus der Küche und Schritte auf der Treppe nach oben. Aber die erste Person, der ich begegnete, war Andrea, die im Wohnzimmer David wie ein schlafendes Engelchen im Arm wiegte. Glücklicherweise bekam wenigstens er nichts von all dem mit, was hier vorging. Andrea blickte mich an und spitzte die Lippen zu einem tonlosen Pssst. Man konnte ihr ansehen, dass sie bereits still trauerte, als wüsste sie ohnehin, wie die Sache ausgehen würde, als ob sie bereits akzeptiert hätte, dass Susannas Verschwinden ein Abschied für immer war. So leise wie möglich schlich ich durchs Zimmer und beugte mich herunter, um Andrea auf die Wange zu küssen. Ich wollte sie beruhigen, weil wir doch noch gar nichts Genaues wussten, doch sie drehte den Kopf weg, bevor ich sie auch nur berührt hatte.

«Andrea …», flüsterte ich.

David schlug die Augen auf, er verzog das Gesicht und begann zu weinen.

«Siehst du, was du jetzt angerichtet hast?»

«Es tut mir so leid. Dass ich ihn aufgeweckt habe. Und dass ich –»

«Lass mich bitte allein!» Tränen liefen ihr über die Wangen. «Ich kann dich im Moment nicht sehen.»

«Wir finden sie», sagte ich, dabei wussten wir beide, dass ich ihr nichts dergleichen versprechen konnte.

Andrea starrte nur die Wand an, während sie gemeinsam mit David weinte, bis ich aufgab und das Zimmer verließ.

Jon war in der Küche, und als ich hereinkam, redete er mit einem Detective, den ich nicht kannte. Der Mann machte sich Notizen über Susanna: wie sie aussah, was sie an diesem Tag angehabt hatte, welche Spielsachen sie am liebsten mochte, wie sie sich in schwierigen Situationen verhielt. Während einer kurzen Gesprächspause stellte ich mich vor und erfuhr, dass er neu bei der SOKO war. Als er meinen Namen hörte, starrte er mich kurz an, bevor er schnell wieder wegschaute. Er war klug genug, nicht auch noch laut auszusprechen, dass er ganz offensichtlich über mich Bescheid wusste. Stattdessen stellte er sich nun seinerseits als Detective Gerry Mober vor, dann redete er weiter mit Jon.

Ich ließ die beiden allein und kam mir dumm und nutzlos vor. Hier brauchte mich niemand; ich war nur im Weg und erinnerte alle genau daran, woran keiner denken wollte – nämlich auf welch schreckliche Art diese Entführung enden konnte. Ich ging wieder nach draußen – war dankbar für die gnadenlose Hitze –, überquerte den Rasen und lief an Kelly vorbei, wobei ich spürte, wie sie mich die ganze Zeit beobachtete. Ich hielt den Blick gesenkt. Im Augenblick wollte ich mit niemandem reden, konnte nicht ertragen, dass alle mich ansahen, weil hier jeder meine Geschichte kannte. Alle wussten, dass ich durch meinen ehemaligen Beruf und meine eigene Tragödie dieses Unglück über die Familie meines Bruders gebracht hatte. Seine unschuldige Familie. Ich hatte das Monster angefüttert, sodass es wieder Hunger bekam, und jetzt war es nicht einmal mehr allein. Machte es da einen Unterschied, dass ich Jon und seine Familie mehr liebte als mein eigenes Leben? Wohl kaum. Susanna war verschwunden, und das war meine Schuld. Alles andere spielte keine Rolle. Ich hätte leichten Herzens mein Leben für das von Susanna gegeben, wenn das nur möglich gewesen wäre. Ich hätte wirklich alles dafür getan, um sie zu uns zurückzubringen. Die Frage war nur, wie. Nie zuvor hatte ich mich so hilflos und schuldig gefühlt. Ich glaubte zu spüren, wie alles mich vorwurfsvoll anstarrte … ich hob den Kopf und sah mich um, obwohl ich Angst hatte, zur Salzsäule zu erstarren, nur weil ich es wagte, überhaupt noch am Leben zu sein. Tatsächlich aber beachtete mich niemand. Erleichtert stellte ich fest, dass ich mit meinen Gedanken und Gefühlen ganz allein war. Ich verdrängte mein schlechtes Gewissen, konzentrierte mich, bekam den Kopf frei und ging los, um in der Nachbarschaft nach Susanna zu suchen.

Häuser. Vorgärten. Straßen. Autos, die vorüberfuhren. Und überall Menschen, die nach Susanna riefen. Die in jede Ecke und jeden Winkel schauten. Während aus Minuten Stunden wurden und die Stunden den Tag zur Nacht machten, gaben wir noch immer nicht auf: Hunderte Menschen waren in der ganzen Gegend an der Suche beteiligt. Da man auch aus großer Entfernung Kellys Megaphon hören konnte, musste niemand erst zum Haus zurückgehen, um mitzubekommen, dass alle Anstrengungen nichts ergeben hatten.

Als ich wieder zum Haus zurückkam, war es dunkel. Auf der Straße hatte eine ganze Kompanie von Journalisten Stellung bezogen: fünf Ü-Wagen mit Satellitenschüsseln, Reporter, die jedem Gesprächsbereiten ein Mikrophon unter die Nase hielten, Scheinwerfer, die die Vorderseite des Hauses in grelles grünliches Licht tauchten. Aufgrund der Berichterstattung hatten sich neue Freiwillige eingefunden, die noch frisch und voller Tatkraft waren. Als ich mich beim letzten Mal einem ähnlichen Szenario gegenübergesehen hatte, war ich im Haus gewesen – in meinem Haus – und hatte um meinen Mann und mein Kind getrauert. Ich holte tief Luft, ging über den Rasen und wiederholte immer wieder: «Kein Kommentar», während ich mit Kameras und Mikrophonen verfolgt wurde. Endlich hatte ich die Eingangstür erreicht und wartete darauf, dass mir drinnen jemand öffnete.

Schließlich kam durch einen Spalt das Gesicht meiner Mutter zum Vorschein. Sie zog mich zu sich hinein. Detective Mober hatte den Esszimmertisch zum Schreibtisch umfunktioniert, saß über einen Block gebeugt da und machte sich Notizen, während er telefonierte. Neben dem Block ein leerer Becher und eine Serviette mit Krümeln darauf. Mein Vater saß ihm gegenüber, mit seinem eigenen leeren Becher in der Hand. Als er mich sah, wich die Verwirrung in seinem Blick der Erleichterung, aber er sagte nichts.

Meine Mutter nahm mich mit in die Küche, wo ein halb leeres Tablett mit den Resten des Buffets auf der Anrichte stand. Es hatte wohl niemand für nötig befunden, Teller oder Besteck zu benutzen. Sie reichte mir eine Serviette. «Iss etwas.»

Ich hatte keinen Hunger, aber weil mir die Energie fehlte, um lange mit ihr zu diskutieren, nahm ich mir ein halbes Sandwich. Dann gab sie mir ein Glas eisgekühltes Wasser, und erst als ich es trank, bemerkte ich, dass ich schrecklichen Durst hatte. Bevor ich auch nur ein Wort sagte, trank ich noch ein ganzes Glas.

«Nichts?», fragte ich, obwohl ich wusste, dass ich andernfalls inzwischen davon erfahren hätte.

«Diese ganzen Kameras», sagte sie und schüttelte den Kopf.

«Wie geht es Jon und Andrea?»

Sie seufzte und schaute mich fest, aber mit einem warmen liebevollen Blick an. «Sie haben Angst. Sie rechnen mit dem Schlimmsten … aber daran glaube ich nicht. Ich kann sie noch immer fühlen. Ich spüre einfach nicht, dass sie nicht mehr da ist.»

Der Optimismus meiner Mutter war ansteckend, und für einen Moment schöpfte ich Hoffnung. Doch Jons aschfahles Gesicht machte sämtlichen Optimismus sofort wieder zunichte, als er hereinkam. Seine offensichtliche Aufgewühltheit brachte uns zum Schweigen. Wir standen da und beobachteten, wie er auf und ab ging und so schwer atmete, dass es klang, als würde er ersticken. Als er plötzlich stehen blieb und mich ansah, überspülten mich wieder Schuldgefühle.

«Wie konnte das nur geschehen?», fragte er. «Wie viel Zeit hattet ihr doch gleich für den Fall? Zwei Jahre? Und dabei ist euch nie aufgefallen, dass er vielleicht kein Einzeltäter ist?»

Mein Kopf schien zu vibrieren, ich wollte mich dagegen wehren, dass wir nicht alles in unserer Macht Stehende unternommen hätten. Was jetzt geschehen war, hatte einfach niemand bei der Polizei voraussehen können. Martin Price war verhaftet. Saß hinter Gittern. Eigentlich hätte damit alles erledigt sein müssen.

«Ich …» Mir fehlten die Worte. «Ich …»

«Du kannst doch Karin nicht die Schuld geben», sagte meine Mutter sanft und strich Jon über den Arm, den er sofort wütend wegzog. «Ausgerechnet ihr.»

Jon betrachtete sie böse aus geröteten blauen Augen, in denen gleichzeitig so viel Wut und Traurigkeit lagen. Und dann sah er mich an. «Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Das hätte nie passieren dürfen. Es hätte nicht passieren müssen. Sie war gerade einmal drei Jahre alt.»

«Sag doch nicht war.» Ich begann zu weinen und er ebenfalls. «Sag das nicht, so weit ist es noch nicht.»

Meine Mutter stellte sich zwischen uns und streichelte mit der rechten Hand mir den Rücken und mit der linken Jon. «Also ich glaube –», setzte sie gerade an, da lief Jon aus der Küche. «Na ja.» Sie klang resigniert. «Was ich glaube oder nicht, ist wohl wirklich gerade egal.»

Da hatte sie recht. Es machte keinen Unterschied, was irgendjemand von uns dachte oder vermutete. Im Augenblick zählten nur Fakten, und die lagen wie folgt: Eine Frau war ermordet worden, Susanna verschwunden, und zwei neue Dominosteine waren aufgetaucht – deren Bedeutung eine weitere Unbekannte darstellte.

 

Es war schon Mitternacht, und ich hatte nichts mehr von Mac gehört, seit er mit Alan am Nachmittag losgefahren war. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, ihn in Ruhe zu lassen, weil es bei der SOKO jetzt natürlich drunter und drüber ging. Aber das hielt ich trotz meiner guten Vorsätze nicht durch. Schließlich rief ich Mac doch an, und es gab zu meiner Überraschung tatsächlich Neuigkeiten.

«Man hat den Van des Clowns entdeckt. Ich bin gerade dorthin unterwegs.»

«Und Susanna?»

«Nein, nur den Van. Wie hält sich deine Familie?»

«Jedes Mal, wenn Andrea mich sieht, bricht sie in Tränen aus. Ich erinnere sie daran, wie böse die Sache ausgehen kann. Meine Anwesenheit hier ist nicht unbedingt förderlich.»

Kurzes Schweigen, Hupen und Verkehrsgeräusche, offenbar befand Mac sich noch nicht auf der Autobahn. «Ich könnte vorbeikommen und dich abholen.»

Sieben Minuten später hielt er vor Jons Haus, und ich lief durch eine hungrige Meute von Reportern zu seinem Wagen. Mac fuhr schon fast an, bevor ich noch die Beifahrertür geschlossen hatte.

«Wo steckt Alan?»

«Bei der SOKO. Sie versuchen, die Zahlen zu entschlüsseln, aber bisher haben sie den Jackpot noch nicht geknackt.»

«Domino ist wohl auch das falsche Spiel dafür.»

Er lächelte halbherzig. «Entweder bist du übertrieben optimistisch oder pessimistisch, wenn du unter den Umständen noch Witze reißen kannst.»

«Eher wie erstarrt.»

Er fädelte sich auf den Garden State Parkway ein, und ich schaute den kleiner werdenden roten Rücklichtern eines an uns vorüberfahrenden Autos hinterher. Betrachtete Mac: das Geflecht der Sorgenfalten auf seiner Stirn.

«Wir sollten nicht vorschnell irgendwelche endgültigen Schlüsse aus Susannas Verschwinden ziehen», sagte er. «Ob es nun ein Komplize oder Trittbrettfahrer war, ist egal, auf jeden Fall haben wir es mit einem neuen Täter zu tun, da ist alles möglich.»

«Aber die Dominosteine haben bisher immer einen Hinweis auf das nächste Opfer gegeben, und die SOKO kennt alle wichtigen Daten meiner Familie. Trotzdem bleiben die Zahlen ein Rätsel.»

«Okay, stimmt, allerdings sind die Hinweise mit der Zeit auch immer weniger eindeutig geworden. Der letzte seiner Fingerzeige hat eher Datum und Ort der Tat angegeben, als wirklich das Opfer zu identifizieren. Diesmal haben wir einfach noch nicht herausgefunden, was uns die Dominos sagen sollen – ob es nun um das Wen, Was, Wo, Wie oder Warum geht.»

«Das Warum? Wen kümmert das Warum? Die sind einfach irre.»

«Das Warum könnte uns verraten, was sie mit Susanna vorhaben. Damit will ich nur sagen, dass die Zahlen diesmal alles Mögliche bedeuten können. Meinst du nicht auch?» Die rhetorische Frage blieb unbeantwortet, während er mit Vollgas ein Auto überholte, das uns unnötig aufhielt.

Wir fuhren auf den riesigen Parkplatz des Willowbrook-Einkaufscenters in Wayne. Die Leuchtreklame eines der Kaufhäuser und das Licht der Polizeischeinwerfer ließen den düsteren Platz wie das Set eines Horrorfilms aussehen – nur war hier alles echt, was die Szene besonders verstörend machte. In der Nähe des Haupteingangs parkten einige Autos, und das Licht im Center brannte. Ansonsten war der Parkplatz vollkommen leer, abgesehen von einem weißen Van, an dem zahlreiche Leute von der Spurensicherung arbeiteten. Ihre Wagen standen mit offenen Türen verstreut auf dem Parkplatz herum, und die Scheinwerfer durchschnitten die staubige Dunkelheit. In einem der Autos lief noch das Radio und spielte Bob Dylans Tambourine Man. Ein Polizeifotograf sang den Text mit, während er in regelmäßigen Abständen seine Bilder schoss, wobei jedes Mal ein greller Blitz ausgelöst wurde. Mac und ich beschirmten unsere Augen mit der Hand, während wir zum Van hinüberliefen. Auf seine Schiebetür, die hinten offen stand, war ein grinsendes Clownsgesicht gemalt, das unter den gegebenen Umständen einen grausam spöttischen Zug zu haben schien.

Ein älterer Mann in weißen Hemdsärmeln und blauen Hosen kam auf uns zu, um uns zu begrüßen. Sein schütter werdendes Haar war säuberlich gescheitelt und zu einer Seite gekämmt, und er drückte immer wieder ein abgenutztes Stressbällchen in der Handfläche zusammen. Dann steckte er es in die Tasche und hielt uns die Hand hin.

«Detective Harry Ramirez. Sie müssen Detective MacLeary aus Maplewood sein.»

«Mac.» Die beiden schüttelten einander die Hand. Mac stellte mich vor und fragte: «Wie geht es voran?»

«Bisher haben wir noch nichts. Keine Spur von der Kleinen, aber unsere Leute durchsuchen das Einkaufscenter und das Feld dahinten.» Er zeigte nach rechts. Aber es war zu dunkel, um das Feld zu erkennen.

Einer der Leute von der Spurensicherung sprang aus dem Van. «Hey Roman», sagte er zum Fotografen. «Willst du das knipsen, bevor wir alles einsammeln?»

«Klar.»

Wir hielten uns im Hintergrund und beobachteten, wie Roman – ein graumelierter Mann mit dunkler, unter einem roten Bandana hervorquellender Mähne – das Innere des Vans fotografierte. In seinem Blitzlicht konnten wir alles genau erkennen und nach und nach erfassen: einen schmutzigen braunen Teppich; einen halb leeren Wasserkasten. Als ich eine heruntergedrückte Spritze auf dem braunen Teppich sah, bekam ich Herzrasen. Beim nächsten Blitz entdeckte ich die orangefarbene Perücke auf dem weggeworfenen Kostüm, das der Clown bei der Party getragen hatte.

«Hat er sonst noch etwas hiergelassen?», fragte Mac Harry Ramirez. «Irgendwas von dem Mädchen?»

«Hab bis jetzt noch nichts gefunden. Vielleicht entdecken sie im Labor ja noch ein paar Spuren.»

Mac und ich schauten uns an. Wir wussten beide, was das bedeutete: noch mehr Warterei. Und so lange blieb es lediglich eine Vermutung, dass der Clown Susanna gekidnappt hatte. Ermittlungen, die allein auf Vermutungen basierten, erbrachten allzu oft gar nichts. Keine guten Neuigkeiten.

Um drei Uhr morgens hatte man das Einkaufscenter und seine unmittelbare Umgebung komplett abgesucht. Um vier geschah dasselbe mit der Nachbarschaft. Um vier Uhr zwanzig hatte man die Chefin des zuständigen Sicherheitsdienstes ausfindig gemacht und sie gebeten, zum Einkaufscenter zu kommen. Um Viertel vor fünf fuhr sie auf den Parkplatz und stieg in einem violetten Bademantel und Turnschuhen aus dem Auto. Ihr Firmenausweis und ein Schlüsselbund hingen um ihren Hals.

«Wer hat hier das Kommando?», rief sie. «Ich habe grad mal zwei Minuten, um Ihnen unsere Räume aufzuschließen, also legen Sie einen Zahn zu.»

Mac und ich standen mit Ramirez Kaffee trinkend neben einem der Polizeiwagen, dessen Dach wir in eine Ablage für unsere Styroporbecher verwandelt hatten.

«Immer langsam, Miss …» Ramirez kniff die Augen zusammen und versuchte, im Dunkeln den Namen auf ihrem Firmenausweis zu entziffern. «… Diana Spencer … wie die englische Prinzessin?»

«Ich bin alleinerziehende Mutter und habe meine Kinder mitten in der Nacht allein gelassen, also kein langes Palaver, ich muss sofort wieder weg!»

Sie setzte sich in ihr Auto, raste zum Haupteingang, sprang heraus und ließ den Motor laufen. Ramirez, Mac und ich folgten zu Fuß und trafen im Gebäude wieder mit ihr zusammen. Die Klimaanlage drinnen war noch immer für die Nacht ausgeschaltet, und die stehende Luft war feucht und drückend. Wir liefen an einer Reihe dunkler Schaufenster vorbei, bis wir zu einer Tür kamen, hinter der es hinunter zum Keller ging und in einen düsteren Flur, dessen Wände aus beige gestrichenen Betonblöcken bestanden, in die einige schmucklose Türen eingelassen waren. Ich wusste, dass wir Diana Spencers Büro erreicht hatten, als wir zu einer Tür kamen, an der eine glitzernde pinkfarbene Krone klebte. Sie schloss die Tür mit einem ihrer vielen Schlüssel auf, machte das Neonlicht an, ließ den Computer hochfahren, tippte das Passwort ein und führte uns dann in ein anderes Zimmer drei Türen weiter. Hier brannte das Licht bereits, und auf den acht Monitoren waren verschiedene Einstellungen aus dem Einkaufscenter und davor zu sehen.

«Hier können Sie sich das gesamte Material von gestern anschauen, mein Passwort habe ich Ihnen gegeben. Sollten Sie noch irgendetwas wissen wollen, kennen Sie ja meine Telefonnummer. Um neun Uhr bin ich wieder hier. Wenn Sie Kopien brauchen, mache ich sie dann, kein Problem.» Und damit verschwand sie.

Mac setzte sich auf einen Stuhl vor den Monitoren. «Womit fangen wir an?»

«Ich sollte wieder rausgehen.» Ramirez holte das Stressbällchen aus der Hosentasche und warf es von einer Hand in die andere. «Kommen Sie klar?»

«Ja, ja», sagte Mac.

Wir stellten schnell fest, dass es insgesamt zweiundsiebzig Kameras im Center und außerhalb gab. Das machte mal vierundzwanzig Stunden eintausendsiebenhundertachtundzwanzig Stunden Filmmaterial, das wir sichten mussten. Wenn wir das untereinander aufteilten … würden wir dazu volle sechsunddreißig Tage brauchen – ohne Schlaf gerechnet. Das war schlicht nicht zu bewältigen. Aber irgendwo mussten wir beginnen.

Mac drückte auf die Play-Taste über einem Klebeschild mit der Aufschrift Eins: Osteingang. Ich nahm mir Zwei: Nordeingang vor. Wir spulten vor bis fünfzehn Uhr dreißig am Vortag, also dem Zeitpunkt, zu dem Susanna und der Clown zum letzten Mal im Haus gesehen wurde. Aufmerksam studierten wir das aufgenommene Material.

Draußen ging die Sonne auf, was wir aber nicht bemerkten. Das Center blieb geschlossen, und wir bekamen auch nicht mit, wie ganze Ströme von Kunden unverrichteter Dinge abdrehen mussten. Sekunden, Minuten, Stunden verschwammen, während ich mir die bläulichen, leicht unscharfen Bilder anschaute. Bis ich gegen Mittag endlich an die Stelle kam, an der der Van langsam auf den Parkplatz fuhr, was in mir die Hoffnung weckte, dass nun gleich der Clown zu sehen sein würde – und vor allem Susanna.

Der Domino-Killer
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