KAPITEL 17
Es war ein denkwürdiges Bild: ein Kind aus der Verbrecherkartei. Und nicht einfach irgendein Kind. Neil Tanner alias Martin Price musste auf dem Farbfoto zwölf Jahre alt gewesen sein. Seinen Kopf hatte er leicht nach vorn geneigt und den Blick nach unten gerichtet, als hätte er da gerade ein besonders spannendes Spielzeug entdeckt. Er lächelte fast, aber nicht richtig. Seine Verhaftung schien ihn eher zu belustigen, als zu verängstigen. Mir lief es kalt über den Rücken bei diesem Foto.
«Also war er doch kein unauffälliges Kind.» Ich nahm mir meine Tasse von Alans Schreibtisch und trank einen Schluck vom heißen Kaffee, den er uns gleich bei unserer Ankunft im Hauptquartier vorgesetzt hatte. Alan hatte sich eine Pause gegönnt, das Chaos im Konferenzraum der SOKO kurzzeitig verlassen und sich an seinen Arbeitsplatz im Detective-Büro zurückgezogen. Die anderen hatte er über die neue Spur bereits informiert, damit sie in die weiteren Ermittlungen einsteigen konnten. Man konnte fühlen, dass die Stimmung sich verbessert hatte. Jetzt gab es Spuren, die die Polizei vielleicht wirklich zu Susanna führen konnten.
«Warum überrascht mich das nicht?», sagte Mac.
Ich beugte mich vor. Starrte das Gesicht auf dem Bild an. Sogar auf einer Aufnahme aus der Verbrecherkartei wirkte er erschreckend unschuldig. Aber er war nicht unschuldig; das war mir klar. Das hier war JPP. Und ich betrachtete gerade ein Polizeifoto von ihm, das ihm eine Verhaftung in Kindertagen eingetragen hatte.
«Vor siebzehn Jahren», sagte Alan, «als er zwölf Jahre alt war, hat er seine Eltern abgeschlachtet.»
Ich starrte Alan an: seine stoppeligen unrasierten Wangen, das kurze dunkle Haar, die schwarzen Ringe unter seinen Augen. «Was meinst du mit abgeschlachtet?»
«Er hat die beiden mit insgesamt achtundvierzig Messerstichen getötet. Papa hat fünfunddreißig abbekommen, Mama nur dreizehn, aber dafür auch mitten ins Herz.»
«Nur.» Ich stellte mir diese Frau vor, die ich nicht kannte, konnte sie mir nicht richtig ausmalen, bekam aber dennoch sofort eine Verbindung zu ihr. Wir waren beide Mütter und wussten, wie es war, ein Kind bedingungslos zu lieben. Wahrscheinlich hatte sie ihrem Sohn seine Grausamkeit sogar in dem Moment verziehen, als er sie umbrachte.
«Dann hat er das Haus angesteckt und ist geflohen», sagte Alan.
«Und die Familie hat wo genau gewohnt?», fragte Mac.
«Glen Ridge. Aus den Akten der Sozialbehörde geht hervor, dass Neil zu Hause geschlagen wurde. Und von wem? Seinem lieben Herrn Papa. Dennoch wurde er nie aus der Familie rausgeholt. Eines Tages muss er dann wohl durchgedreht sein, vermute ich mal.»
«Also schlachtet er seine Familie ab und steckt das Haus an», sagte Mac. «Und hat er sich danach von Schuldgefühlen geplagt selbst gestellt?»
Natürlich wussten wir alle drei, dass es so nicht gewesen war. JPP besaß kein Gewissen, und er stellte sich auch nicht wegen seiner Verbrechen.
«Man hat ihn in Hackettstown geschnappt. Da hat er in einer zufällig offenen Garage geschlafen. Um überhaupt so weit zu kommen, ist er meilenweit zu Fuß marschiert. In seiner Akte stand, dass er darauf mächtig stolz war.»
«Ja, so kennen wir ihn», sagte Mac.
«Und hört euch das an: In der siebten Klasse war er vorübergehend suspendiert worden, weil er einen Lehrer beschimpft hatte, der ihn zwang, einen miserablen Aufsatz nochmal neu zu schreiben.»
«Ja und?», fragte Mac.
«Das war Mr. Alderman. Also Gary Alderman. Opfer Nummer eins.»
Ich sah die Bilder vor mir, die letzten Momente der Aldermans. Dass kindliches Schmollen in einen solchen Hass umgeschlagen sein konnte … Aber Psychopathen waren dafür bekannt, auch noch so kleine Kränkungen als Rechtfertigung für ihre Verbrechen zu benutzen. Die Domino-Morde hatten eigentlich nichts mit dem Aufsatz eines Siebtklässlers zu tun.
Alan scrollte nach unten, bis auf dem Bildschirm eine eingescannte, undeutliche Fotokopie zu sehen war. «Neil fing an sich als Martin Price auszugeben, nachdem er aus der Jugendhaft entlassen worden war, im Alter von achtzehn Jahren. Das stimmt mit Mahers Geschichte überein. Seht ihr?» Seine Fingerspitze zeigte auf die obere Bildschirmhälfte, die Unterschrift auf den Gefängnispapieren. «Da hat er noch mit Neil Tanner unterschrieben. Und …» Er klickte die Fotokopie weg und öffnete ein anderes Fenster, noch ein Scan eines alten Dokuments. «… hier haben wir einen Beleg dafür, dass ein Martin Price mit achtzehn Jahren seine Entlassungsbescheinigung aus dem Waisenhaus unterschrieben hat. Der Junge ist nie bei Pflegeeltern gewesen; hat Jahre in einem der letzten Waisenhäuser hier in der Gegend verbracht, bevor sie alle geschlossen wurden. Es gibt eben kaum jemanden, der ältere Kinder adoptiert.»
Ich musste an Paul Maher denken, dem man ein Dach über dem Kopf, zu essen und einen neuen Namen gegeben hatte – nur keine Liebe. Wenn er die bekommen hätte, ob nun von seinen Eltern oder jemandem im Waisenhaus, hätte er sich der Menschheit vielleicht verbunden gefühlt und Verantwortung für seinen Nächsten übernommen … der Polizei vielleicht eher gesagt, was er wusste. Vielleicht. Wenn nur, ja, wenn … Ich spürte, wie Mac mich ansah, und schaute zu ihm hinüber. Er schüttelte nahezu unmerklich den Kopf, und ich verstand, was er meinte: nicht darüber nachdenken. Immer wieder riss er mich aus diesen Gedanken heraus. Einerseits war ich böse, weil er so viel Disziplin von mir verlangte, was meine Gefühle anging, andererseits auch dankbar.
«Okay», sagte Mac, «also verschwand Neil Tanner im Alter von achtzehn Jahren von der Bildfläche, während Martin Price sich gleichzeitig von einem Junkie in einen Serienkiller verwandelte. Und Paul Maher wurde in einem neuen Körper wiedergeboren.»
«Ganz genau. Danach existiert von behördlicher Seite nichts mehr über Neil Tanner, bis auf eine Ausnahme.» Alan öffnete ein neues Fenster, scrollte fünf, sechs Seiten hinunter und landete dann mit dem Cursor auf einer Unterschrift. «Seht ihr das? Nancy Maxtor.»
Ich beugte mich vor und kniff die Augen zusammen, um die verschwommene Unterschrift besser erkennen zu können. Nancy hatte ein Datum danebengeschrieben und ihre Adresse in Montclair angegeben. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich las, dass sie in der Harvard Street wohnte. «Das ist ganz in der Nähe meiner Eltern.»
«Das haben wir auch bemerkt», sagte Alan. «Zwei von unseren Jungs waren gerade bei ihr, aber da ist niemand. Die Nachbarn haben nichts Verdächtiges bemerkt. Offenbar hat die Tochter in letzter Zeit da gewohnt. Wir fahren jedenfalls wieder hin.»
«Was für ein Dokument ist das?» Mac deutete mit dem Kinn in Richtung Computer.
«Tanners Entlassungsurkunde. Vor elf Jahren erhielt Nancy Maxtor die Erlaubnis der Bewährungs- und Wiedereingliederungs-Behörde für jugendliche Straftäter, Tanner bei sich aufzunehmen. Er sollte bei ihr wohnen, nachdem er in Bordentown entlassen wurde.»
Das Jugendstrafgefängnis in Bordentown war auf männliche Jugendliche spezialisiert, und nur die schwersten Fälle kamen dorthin; die meisten der Insassen waren um die achtzehn. Mit zwölf musste Neil Tanner zwischen all den harten Jungs wie ein kleines Kind gewirkt haben. Wie man hörte, war Bordentown die beste Schule für eine dauerhaft kriminelle Karriere.
Alan erzählte weiter: «Während der gesamten sechs Jahre, die Neil in Bordentown saß, nahm Nancy jede Woche eine einstündige Autofahrt dorthin in Kauf, um den Jungen der Strafanstalt Mathe-Unterricht zu geben. Offenbar hat sie da ein paar Freundschaften mit den Beamten geschlossen, denn normalerweise kann man nicht so ohne weiteres einen der ehemaligen Gefangenen zu sich nach Hause nehmen.»
«Aber warum?» Ich begriff einfach nicht, wie jemand sich mit einem Menschen im Haus sicher fühlen konnte, der offensichtlich ein Psychopath war.
Alan zuckte die Schultern. «Sie hat ihn schon vor den Morden unterrichtet. Sie kannte ihn. Glaubte bestimmt, dass er einen guten Kern hat, bla bla bla. Vielleicht dachte sie auch, er wäre gar nicht der Mörder seiner Eltern. Das passiert andauernd: selbsternannte Heilige, die sich berufen fühlen, die Unschuld der angeblich zu Unrecht Verurteilten zu beweisen. Sie weiß natürlich, wie schwierig es für ihn wird, sich mit so einem berüchtigten Namen ein neues Leben aufzubauen. Also besorgt sie ihm einen anderen – damit er eine weiße Weste hat.»
«Und was ist mit dem echten Paul Maher?», fragte Mac. «Dem falschen zufolge war der zum Zeitpunkt des Namenstausches schon tot. Ist doch irgendwie komisch, dass niemand sich da nochmal erkundigt hat.»
«Das habe ich überprüft. Er ist 1990 ohne Angehörige oder Freunde in Iowa verstorben und zwar mit neunundneunzig Jahren in einem Altersheim. War ungelernter Landarbeiter, völlig verarmt, hat sogar nicht ein Mal im Leben eine Kreditkarte besessen. Ein unbeschriebenes Blatt. Perfekt für eine gefälschte Identität.»
«Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass Nancy außer seiner noch andere Identitäten gestohlen hat?»
«Bisher nicht, aber das untersuche ich noch. Ganz offensichtlich wusste sie, wie man das macht. Da fragt man sich, ob sie vielleicht ein Profi ist … die Sache sozusagen von der Pike auf gelernt hat.»
«Das passt in meinen Augen nicht», sagte Mac. «Ihr Profil gibt das nicht her. Klar, sie ist der Typ, der auch noch den schlimmsten Abschaum bei sich aufnehmen würde. Aber Identitätsdiebstahl? Mord? Kindesentführung? Nein, das kann ich mir bei ihr nicht vorstellen.»
«Hör mal, falls sie wirklich die Komplizin von JPP ist, ist sie genauso krank wie er. Da musst du mit allem rechnen, Mac.»
Alan klickte das Fenster auf dem Bildschirm weg und öffnete ein neues. «Hier haben wir sie noch einmal vor neun Jahren. Eine Lobeshymne auf sie, weil sie bei einem Wasserprojekt der UNICEF mitgearbeitet hat. Eine echte Samariterin, genau wie ihre Tochter gesagt hat. Aber sieh sie dir an, also ich meine, sieh wirklich mal richtig hin. Größe, Figur, Alter … sie könnte als Lizzie Stoppard durchgehen.»
Sobald er uns darauf aufmerksam gemacht hatte, erkannte ich es auch: Nancy war mittelgroß, kräftig – genau wie der Clown. Hatte ihre Tochter gelogen? War Nancy wirklich außer Landes gewesen an Susannas Geburtstag? Das würde auch Christa zur Komplizin machen. Doch das waren alles nur Vermutungen.
«Okay», sagte Mac. «Du hast recht. Vergessen wir einmal, wozu sie möglicherweise fähig sein mag oder nicht. Auch wenn es reine Spekulation ist, nehmen wir mal an, sie ist kein Profi – wie soll sie denn an die zehntausend Dollar gekommen sein, um Neil damit eine neue Identität zu beschaffen? Zehntausend sind eine Menge Geld.»
«Ganz genau. Das habe ich mich auch gefragt, als du im Bett lagst.»
Alan schaute uns nicht an, während er das sagte, und ich überlegte, ob er vielleicht etwas ahnte, was Mac und mich anging. Wäre das ein Problem? Mac wies mich ja immer wieder gern darauf hin, dass ich keine Polizistin mehr war, und als Normalbürgerin und Single konnte ich lieben, wen ich wollte. Ein neuer, seltsamer Gedanke.
«Seht euch das an.» Alan öffnete eine PDF-Datei mit einem vierzehn Jahre alten Steuerbescheid für Nancy Maxtor, aber er scrollte zu schnell nach unten, als dass wir Einzelheiten hätten erkennen können. «Das Ding habe ich so oft gelesen, bis mir schon schwindelig wurde. Gut, das Wichtigste kurz zusammengefasst: Nancys Großmutter stirbt und vermacht ihr alles. Oma ist nicht nur einfache Kirchgängerin, sondern eine Evangelikale. Und bei Nancy ist sie sicher, dass die ihr Geld nicht einfach verpulvern wird wie der Rest der gottlosen Bagage. Den anderen Familienmitgliedern hat sie jeweils zwanzigtausend hinterlassen. Und Nancy? Die hat fast zwei Millionen bekommen. Nächste Frage: Woher hatte Oma denn so viel Geld? Antwort: Während sie brav die Kirchenbank drückte, hat Opa Autos verkauft und dabei ein sehr erfolgreiches Unternehmen aufgebaut. Ist als reicher Mann gestorben, und seine Witwe hat alles geerbt. Und als die gestorben ist, hat sie ihre eigenen Kinder mehr oder weniger übergangen und stattdessen fast alles an ihr Lieblingsenkelkind weitergereicht. Nämlich an Nancy, die als Einzige aus der ganzen Bande Omas Ansichten teilte.»
«Den Familienkrieg kann ich mir lebhaft ausmalen.» Mac hob seinen Becher an die Lippen und atmete den Kaffeedampf ein, bevor er trank.
«Darauf kannst du wetten. Inklusive Rechtsstreit und so weiter. Nancy hat vor Gericht gewonnen. Das Testament war wasserdicht.»
«Also hatte sie richtig Geld», sagte Mac.
«Und das hat sie beisammengehalten. Keine schicken Klamotten, kein teures Haus. Hat es für mildtätige Werke ausgegeben.»
«Euch ist doch wohl klar, dass die Erbschaft die Theorie vom professionellen Identitätsklau zunichtemacht, oder?», fragte ich. «Sie musste kein Geld verdienen.»
Alan zog ironisch eine Augenbraue hoch und erinnerte mich damit an eine alte Polizisten-Weisheit: Den meisten Kriminellen gibt schon das Verbrechen an sich einen Kick, alle anderen sind die Ausnahme von der Regel.
«Mir ist egal, wie Nancy Maxtor an ihr Geld gekommen ist», sagte er. «Aber wie sie es dann ausgegeben hat, ist ja noch dämlicher als bei irgendwelchen alten Damen, die alles ihrem Hund vermachen. Einem Killer eine neue Identität zu verschaffen? Was zum Teufel hat sie sich dabei gedacht, wenn sie an den Verbrechen nicht in irgendeiner Form beteiligt war?» Er lehnte sich zurück und gähnte.
«Geh nach Hause», sagte Mac.
«Machst du Witze?»
«Du hast dir jetzt auch mal ein paar Stunden Schlaf verdient. Vertrau mir, das wirkt Wunder.» Macs Blick streifte mich nicht einmal flüchtig bei dieser Bemerkung; ich wusste, dass er keine Sekunde lang geschlafen hatte.
«Erst will ich nochmal rüber in die Harvard Street.» Alan schaute zur Wanduhr. Es war vier Uhr morgens.
«Wenn Christa zu Hause ist und bisher nicht aufgemacht hat», sagte Mac, «wird sie das jetzt auch nicht tun. Höchstwahrscheinlich schläft sie mit Ohropax und bekommt nichts mit. Die Sache muss bis morgen früh warten, und du siehst aus, als könntest du dich nicht mehr lange aufrecht halten.»
«Mir geht’s gut.» Alan hatte rote Augen, war blass und konnte keine fünf Minuten lang aufhören zu gähnen.
«Ich fahre um sieben rüber zu ihrem Haus», sagte Mac. «Grüß Sandy von mir.»
Sandy, so nahm ich an, war wohl Alans Frau; aber in Wahrheit kannte ich ihn nicht sonderlich gut, Sandy hätte auch sein Hund sein können.
Alan starrte seinen Partner eine Weile an, bevor er nachgab. «Okay, aber versprich mir, dass du mich weckst, falls Christa Maxtor doch zu Hause ist. Würde gern mal mit der Dame reden.»
«Gebongt», sagte Mac. «Bis dahin sind es allerdings noch ein paar Stunden, also ab mit dir nach Hause. Und gib Sandy einen Kuss von mir.»
«Das kannst du vergessen.»
Seine Frau.
«Kurze Frage noch, bevor du abhaust», sagte Mac. «Irgendwas Neues vom Labor? Ich hätte gern eine Bestätigung dafür, dass Susanna wirklich im Van war.»
«Null. Aber ich hab’s im Gefühl, dass sie was von ihr finden werden. Und da wir nur eine Spritze entdeckt haben und Stoppard bisher die einzige Leiche ist, braucht man keinen Hellseher, um vorauszusagen, dass sie die Injektion abbekommen hat. Gift, irgendein fieses Zeug, das schnell wirkt, so unversehrt, wie die Frau aussah, abgesehen von den leichten blauen Flecken und Kratzern.»
«Durchaus eine Möglichkeit», sagte Mac. Und dann zu mir: «Das passt, statistisch gesehen, zum Modus Operandi eines weiblichen Komplizen, das musst du zugeben.»
Ja, das konnte ich nicht abstreiten. Mörderinnen waren berühmt dafür, dass sie ihre Opfer ohne größere Gewalt umbrachten; unauffällige Methoden wie Gift oder Ersticken waren für sie typischer als blutige Massaker – was es auch schwieriger machte, sie zu fassen. Außerdem kannte ich diverse Fälle, bei denen ein Paar gemeinsam Serienmorde verübt hatte. Das kam zwar nicht oft vor, aber wenn, dann war es immer hochgefährlich.
«Stimmt genau», sagte Alan. «Kannst du dich noch an die Mutter und ihren Sohn erinnern, die die Leute wegen ihrer Häuser umgebracht haben? Und das Ehepaar, das die Kinder ermordet hat, um dann auf ihren Gräbern zu picknicken? Oder die Frau, die ihrem Freund die eigene kleine Schwester in die Hände gespielt hat, damit er sie vergewaltigen und ermorden kann – während sie dabei zusieht?»
«Lass gut sein, Alan.» Mac hatte zu mir herübergesehen; mir war wohl am Gesicht abzulesen, wie sehr mich diese Geschichten mitnahmen.
«Tut mir leid, Karin, das war gedankenlos. Ich muss wirklich ganz schön hinüber sein.» Alan gähnte, beugte sich vor, um eine tiefe Schublade zu öffnen, holte einen Rucksack heraus und hängte ihn sich über die Schulter. «Wir sehen uns dann später.»
Seinen Computer ließ er an, in der unteren Leiste waren diverse Fenster minimiert. Während wir uns die unterschiedlichen Dokumente noch einmal anschauten, tranken wir einen zweiten Kaffee. Nach einer Weile sah Mac mich zärtlich, aber erschöpft an. «Frühstück?»
«Hast du etwa tatsächlich Hunger?»
«Ja und nein. Aber wir sollten besser etwas essen.»
«Okay.»
«Ich will nur noch einmal mit den Kollegen reden.» Er stand auf. «Bin sofort zurück.»
Er verschwand im Zimmer der SOKO. Zehn Minuten später kam er zurück, allerdings ohne irgendwelche Neuigkeiten. «Sie sind an der Sache dran.»
«Und die Dominos?»
«Noch keine Ergebnisse, aber wir haben jetzt eine Menge neuer Spuren, und das ist ja immerhin schon etwas.»
Die Frühschicht kam gerade herein, als wir um sechs Uhr das Büro verließen und in die Lobby gingen. Durch die Fenster fiel das in allen Rottönen glühende erste Sonnenlicht. Ich war so angespannt nach all den Neuigkeiten über Nancy Maxtor, dass mir fast schwindelig war – vielleicht würden wir sie aufstöbern, vielleicht war sie wirklich JPPs Komplizin oder Anstifterin, vielleicht hielt sie Susanna bei sich gefangen, vielleicht hatte ihr christliches Gewissen verhindert, dass sie meine Nichte tötete.
Wir gingen durch die Glastüren hinaus in die klare Luft des Morgens und waren sofort von einer Schar Reporter umringt, die sich hier ebenfalls eingefunden hatte, um ihren Arbeitstag zu beginnen.
«Gibt es Neuigkeiten im Fall Susanna Castle?», fragte eine junge Frau, bevor sie ein Foto von uns schoss.
Mac lächelte und versuchte, uns einen Weg durch die Menge zu bahnen, aber die Frau stellte sich ihm in den Weg.
«Wie wir inzwischen wissen, zeigt das Phantombild eine Nancy Maxtor», sagte sie, «aber bisher haben Sie sie noch nicht gefunden. Können Sie das bestätigen?»
«Die Sache wird noch untersucht. Wenn wir weitere Erkenntnisse haben, berufen wir eine Pressekonferenz ein. Im Moment sind wir vollauf damit beschäftigt, Susanna zu finden. Entschuldigen Sie bitte, aber wir müssen hier jetzt durch.»
Die Journalisten machten Platz, sodass wir uns an ihnen vorbeizwängen konnten, dann gingen wir zu Macs Wagen.
Nach einem kurzen Frühstück in einem Diner in der Nähe fuhren wir zur Harvard Street in Montclair und parkten den Wagen vor Nancy Maxtors bescheidenem zweistöckigem Haus. Ein paar Büsche verdeckten die Sicht auf die Fenster im unteren Stockwerk, der Rasen im Vorgarten sah frisch gemäht aus. Eine in eine Plastikrolle eingewickelte Zeitung lag auf dem Weg zum Haus. Es ging ein paar Stufen hinauf zu einem gewundenen Pfad, der bis zur Veranda des Hauses führte. Ich folgte Mac zur Eingangstür und wartete hinter ihm, als er klingelte. Ich sah auf die Uhr: Es war fünf Minuten nach sieben.
Wir warteten. Niemand machte auf.
«Vielleicht ist sie schon weg», sagte ich.
Mac schüttelte den Kopf. «Die Zeitung liegt da doch.»
«Dann schläft sie vielleicht. Oder sie wohnt nicht hier. Vielleicht hat sie einen Freund, bei dem sie meistens übernachtet.»
«Vielleicht, vielleicht, vielleicht.» Mac lächelte mich an und erdete mich damit wieder. Er wollte gerade noch einmal klingeln, als die Tür sich plötzlich öffnete.