KAPITEL 4
Jackson kam zu mir und spielte mir ein Lied auf der Gitarre vor. Die Melodie hob und senkte sich in meiner vernebelten Wahrnehmung, ich fühlte mich leer, verwirrt und begriff nicht, was eigentlich genau geschah.
Und dann stieg mir ein scharfer antiseptischer Geruch in die Nase, verdrängte Jackson und sein wunderschönes Lied.
Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Mutter, als stiege sie aus einer lang verblassten Erinnerung auf: «Sie hat einen blitzgescheiten Kopf auf den Schultern, und außerdem ist sie groß, schlank und schön. Sie wird mit allem Erfolg haben im Leben, egal, wofür sie sich entscheidet.» Sie sprach mit jemandem am Telefon. Mit wem? Ich war zehn, und die Mutter eines Freundes hatte mich gerade vom Sport nach Hause gefahren. Ich betrat die Küche und bekam mit, wie meine Mutter über mich sprach. An ihrem betont hoffnungsfrohen Ton erkannte ich, dass sie mal wieder über die Zukunft ihrer Kinder redete. Sie saß da am Küchentisch, lachte jetzt auf, den Hörer ans Ohr gepresst. Die meterlange Spiralschnur verband sie mit dem roten Telefon an der Wand. Ich fühlte mich verraten. Aber auch geschmeichelt. Wusste nicht genau, was ich von der Meinung meiner Mutter halten sollte oder weshalb sie derart sicher war, mich so gut zu kennen, wenn ich mich doch selbst kaum kannte. Ich war gerade dreimal hintereinander vom Schwebebalken gefallen, weil meine Beine ganz plötzlich lang und schlaksig geworden waren, und an jenem Tag wurde mir klar, dass mir das gewisse Etwas fehlte. Jedenfalls das Etwas, das ich gebraucht hätte, um es in die Turnmannschaft zu schaffen. Das hatte ich mir gewünscht, und nun musste ich feststellen, dass daraus nichts werden würde.
«Karin.»
Redete sie mit mir? Sie schaute die Wand an und drehte die Telefonschnur zwischen den Fingern hin und her. Ihre Nägel waren pink lackiert; sie war gerade erst zur Maniküre gewesen. Ihr war nicht einmal bewusst, dass ich zu Hause war oder in der Tür stand und lauschte.
«Kannst du mich hören?»
Der chemische Geruch drang mir durch die Nase in den Kopf. Mein Gehirn nahm ihn auf wie ein Schwamm.
Und dann öffneten sich meine Lider, der Traum entschwand.
«Karin?»
Wieso hatte meine Mutter Macs Gesicht? Macs Stimme?
Ich blinzelte.
Er lächelte. Lächelte nur und schaute mich an. Die weiche Haut seines perfekt rasierten Gesichts hob sich an den Mundwinkeln, als er lächelte. Seine dunkelblauen Augen lächelten mit. Sein Haar war nicht ganz so dunkel, außerdem grauer und kürzer als bei unserer letzten Begegnung. Wann war das gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern. Wochen oder Monate. Es verging mittlerweile immer mehr Zeit zwischen unseren Treffen. Wir hatten uns täglich gesehen, bis zu jener Nacht, in der ich die Tabletten geschluckt hatte, mein letzter Tag bei der Polizei, der letzte Tag, an dem ich seine Partnerin gewesen war.
Jetzt lag ich in einem Bett im Krankenhaus. Kratzige weiße Bettwäsche. Zu helles Neonlicht von oben. Dieser Geruch.
«Mac?»
«Karin?»
Er legte seine rechte Hand über meine auf der Decke. Mit der Linken fummelte er an irgendetwas auf seinem Schoß herum: ein rechteckiger rosafarbener Umschlag. Macs großer goldener Ehering schien lockerer auf dem Finger zu sitzen als sonst … Er hatte abgenommen … und damit unsere alte Überzeugung widerlegt, dass man mindestens fünfzehn Pfund zu viel haben musste, bevor man ernsthaft mit einer Diät anfing, und so viel war es bei ihm nie gewesen. Ich hatte ihm immer wieder gesagt, dass er lediglich unsicher sei und nur abnehmen wolle, um seiner Frau zu gefallen. Er glaubte, das wäre ihr wichtig, und tat wie immer alles, um es ihr recht zu machen, ohne jeden Erfolg.
«Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht abnehmen.» Meine Stimme klang dünn, rau. Das Sprechen strengte mich an, und die Folge war ein pulsierender Schmerz tief in meinem Bauch.
«Und ich habe dir gesagt, du sollst nicht sterben.» Sein Lächeln wurde weicher, und Tränen traten ihm in die Augen. Er blinzelte und war dann wieder ganz beherrscht.
«Na ja, ich bin ja auch nicht tot, oder?»
«Offensichtlich nicht.»
Dennoch, was er sagte, stimmte absolut: Meine Familie und er hatten mir streng verordnet weiterzuleben, und ich hatte nicht auf sie gehört. Doch damit konnte ich mich im Moment nicht auseinandersetzen, war einfach nicht dazu in der Lage. Musste das Thema wechseln. Das Gespräch in unverfängliche Bahnen lenken.
«Wie läuft’s denn so in Maplewood?» Das war die Stadt in New Jersey, in der wir beide gelebt und gearbeitet hatten, bis das Schicksal mich auf andere Wege geführt und ich aufgehört hatte, überhaupt irgendwo zu leben oder zu arbeiten.
«Alles beim Alten.»
«Wie geht es Val?»
Er wandte die Augen kurz von meinem Gesicht ab, dann schaute er mich wieder an. Kopfschütteln. «Willst du das wirklich wissen?»
«Ich habe ja gefragt.»
«Sie lässt sich von mir scheiden.»
«Warum denn das?»
«Sie sagt, ich würde sie nicht lieben.»
«Nicht genug?»
«Nein, gar nicht.»
Ich war zwar nicht so lange verheiratet gewesen wie Mac und Val, dennoch war mir bewusst, was für ein harter Vorwurf das von einer Ehefrau an ihren Mann war.
«Sie behauptet, ich würde eine andere lieben.»
«Und tust du das denn?»
Er schwieg kurz. «Du kennst ja Val …», sagte er.
Tatsächlich jedoch kannte ich Val nicht sonderlich gut. Ich war ihr nur wenige Male begegnet. Sie war mir nervös vorgekommen, aber noch in einem erträglichen Ausmaß. Attraktiv. Eine großartige Köchin. Alles in allem mochte ich sie. Weil ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte, schloss ich die Augen. Der Schmerz in meinem Bauch schien meinen gesamten Körper zu durchbohren. Und dann fiel mir wieder ein, weshalb ich hier war, und ich wurde mit einem Mal hellwach.
«Haben sie ihn erwischt?»
Mac schüttelte den Kopf. «Er konnte abhauen.»
Mir fiel der Lärm ein, den die Polizisten gemacht hatten, als sie in meine Wohnung einbrachen, während JPP mich gerade die Treppe hinaufjagte. Das Klappern des Messers gegen das Metall der Leiter. Welch schreckliche Panik ich gehabt hatte.
«Wie denn das?»
«Keine Ahnung. Nachdem sie dich angeschossen haben, herrschte großes Chaos. Alle kümmerten sich nur um dich.»
«Ich habe zwei Schüsse gehört. An welcher Stelle bin ich noch getroffen?» Abgesehen von meinem Bauch, tat mir nichts weh.
«Du bist bloß einmal getroffen worden.»
«Bloß?»
«Das sind Scharfschützen, Karin. Du musst doch gewusst haben, dass die da oben warten.»
«Habe ich auch.»
«Und die haben sicher nicht mit deinem Auftritt gerechnet.» Seine Miene verriet Enttäuschung, als fühlte er sich persönlich gekränkt, dass ich mein Leben riskiert hatte.
«Ich habe nicht nachgedacht.»
«Das war doch purer Selbstmord.»
«Er war hinter mir her.» Jedes Wort tat weh. Ich schwieg und biss vor Schmerzen die Zähne zusammen. Aber ich war noch nicht fertig. «Zu dem Zeitpunkt habe ich nur noch versucht, vor ihm zu fliehen.»
«Aber du hast auf ihn gewartet, Karin. Erzähl mir nicht, es wäre anders.»
Ich würde Mac nicht anlügen; dafür respektierte ich ihn viel zu sehr. Ansehen konnte ich ihn allerdings auch nicht. Ich drehte das Gesicht zur Wand. An der stand in der Ecke noch ein Stuhl für Besucher. Über seiner Lehne hing ein blaugrün karierter Pullover, den ich als den meiner Mutter wiedererkannte. Auf dem langen Fensterbrett befand sich ein Taschenbuch mit einem Lesezeichen in der Mitte. Zwei Blumensträuße standen in Glasvasen, um den Hals der einen war eine gelbe Schleife gebunden. Sie standen auf einem Schreibtisch, über dem ein Fernseher angebracht war. Offenbar befand ich mich in einem Einzelzimmer, ein Luxus, den ich mir nicht leisten konnte, da war ich mir ziemlich sicher. Jemand musste die Extrakosten übernommen habe. Meine Eltern vermutlich. Gegen meinen Willen fing ich an zu weinen.
«Es tut mir leid. Aber du kannst unmöglich verstehen, was ich durchmache, Mac. Das kann niemand. Ich dachte nur …»
Er drückte meine Hand. «Schhh. Ich versteh’s ja.»
Ich drehte den Kopf wieder, um ihn anzusehen. «Nein, tust du nicht.» Kein Mensch konnte nachempfinden, was ich fühlte oder in den letzten Monaten ertragen hatte – zu ertragen versucht hatte und daran gescheitert war.
Macs Stirn straffte sich, seine Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an. Ich kannte den Blick: Begreifen, Frustration, Resignation. Wir wussten beide, dass es absolut nichts gab, was er sagen konnte, um mir zu helfen.
«Wie hat er es geschafft zu fliehen?», fragte ich.
«Wahrscheinlich genauso, wie er reingekommen ist. Durch den Keller.»
«Sie haben ihn mit dem zweiten Schuss nicht erwischt?»
«Vielleicht schon. Die Schützen haben ihn einmal kurz aus der Luke springen sehen, aber es war dunkel, und dann war er weg. Tatsächlich waren sie der Meinung, er wäre getroffen, aber es gab nirgendwo Blutspuren. Nicht von ihm jedenfalls.»
Also war meine Wohnung wirklich zum Tatort geworden, wenn auch nicht zum Tatort eines Mordes, sondern eines Mordversuchs. Eines Selbstmordversuchs. Es war nur knapp danebengegangen, eine verpasste Chance, in jeder Hinsicht. Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf. Das Seil, das aus der großen Tasche auf den Boden fiel. Der Tisch, die Karten, die Dominosteine.
«Allerdings», sagte Mac und tippte mit dem pinkfarbenen Umschlag gegen sein Knie, «konnte niemand die zweite Kugel finden, deshalb sind wir nicht sicher. Dass er entkommen ist, wissen wir. Die große Frage bleibt: in welchem Zustand?»
«Willst du damit sagen, er könnte nicht mehr leben?»
«Tot, verletzt, bei bester Gesundheit. Such dir was aus.»
Das war genauso, wie vor drei geschlossenen Türen zu stehen, von denen man nicht wusste, hinter welcher sich der Preis verbarg und hinter welcher der Abgrund. Und dann sollte man blind wählen.
«Welchen Tag haben wir heute?»
«Mittwoch. Du warst volle zwei Tage bewusstlos.»
«Habt ihr die Dominos enträtselt?»
Macs Augen verengten sich. «Dominos?»
«Die lagen zusammen mit den Karten auf dem Tisch. Vier Dominosteine.»
«Dann muss er sie auf seinem Weg hinaus mitgenommen haben.»
Ich begriff das nicht. Wieso sollte JPP seine Dominos wieder an sich nehmen, seinen kostbaren Hinweis zurückziehen? Vielleicht war er wirklich tot. Vielleicht war er schlimm verwundet. Vielleicht war er sich nicht sicher, ob er seinen kranken Plan zu Ende bringen konnte. Also hatte er die Spielsteine wieder eingesammelt, um Zeit zu gewinnen und sich in Ruhe seinen nächsten Schritt zu überlegen. Vielleicht auch nicht. Inzwischen … waren zwei Tage vergangen. Zwei Tage! Mein Herz begann zu rasen, wenn ich daran dachte, dass er möglicherweise in der Nähe meiner Familie lauerte. Oder gar nicht nur lauerte …
«Drei, sechs, vier, eins, fünf, zwei, drei.»
«Ganz sicher, Karin?»
«Ja.» Ich konnte die vier Dominos noch immer vor meinem inneren Auge sehen. Sie hatten sich in mein Gedächtnis eingebrannt, als mein Adrenalinspiegel den Höchststand erreicht hatte, und ich begriff, welche Bedrohung sich hinter ihnen verbarg. In dem Augenblick hatte ich beschlossen zu leben. «Mac, wenn jemandem aus meiner Familie etwas passiert wäre, würdest du es mir doch sagen, oder?»
Er sah mich an und nickte, aber es wirkte nicht sonderlich überzeugend. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, wusste nicht, ob er mir etwas verheimlichte, von dem ich seiner Meinung nach nichts erfahren sollte.
«Mac?»
«Ich weiß nicht, was ich in so einem Fall tun würde, Karin. Aber deine Mutter ist die ganze Zeit hier gewesen, und mir ist während der letzten beiden Tage sonst nichts zu Ohren gekommen.»
Jetzt war ich beruhigt. Mac hätte mir nicht offen ins Gesicht gelogen.
Er stand auf, holte das Handy aus der Hosentasche seiner Jeans und klappte es auf. «Sag mir das nochmal mit den Dominos.»
«Drei, sechs, vier, eins, fünf, zwei, drei.»
Er tippte die Nummern in sein Handy und speicherte sie. Dann wollte er jemanden anrufen.
«Ihr Handy funktioniert hier drinnen nicht», rief eine Schwester im Vorbeigehen durch die Tür.
«Telefonier vom Festnetz», sagte ich.
Er nahm den Hörer vom Telefon auf meinem Nachttisch und wählte eine Nummer. Ich überlegte, wen bei der Polizei er wohl zuerst benachrichtigen würde. Weil JPP mich in New York angegriffen hatte, würde der Fall jetzt wohl Detective Billy Staples übertragen. Die zuständige Abteilung aus New Jersey saß in Maplewood, Macs Arbeitsplatz und mein altes Revier. Das FBI war auch an der Sache dran, schon ein ganzes Jahr lang bevor wir JPP geschnappt hatten. Höchstwahrscheinlich würden sie alle zusammenarbeiten.
«Staples, MacLeary hier.» Seamus MacLeary war seinen Freunden früher zu umständlich gewesen, und so hieß er schon seit dem Kindergarten nur Mac. «Sie ist wach. Price hat ein paar Dominos herausgeholt, als er bei ihr war, muss die Dinger dann aber irgendwann wieder eingesteckt haben.» Er spulte die Zahlen ab. Ich war erstaunt, dass er sie gleich behalten hatte, andererseits arbeitete das Gehirn in Augenblicken der Verzweiflung auf Hochtouren. Für einen kurzen Moment überzeugte seine Entschlossenheit mich davon, dass er es schaffen würde, JPP aufzuhalten. Dass Mac der Einzige war, der dieses Ungeheuer daran hindern konnte, noch einen Unschuldigen zu ermorden. Doch sofort fiel mir wieder ein, wie oft wir alle das schon geglaubt hatten, von uns selbst und von einander: Heute ist er dran. Oder: Du erwischst ihn, das spüre ich. Oder auch: Heute ist mein Glückstag. Und wie oft hatten wir uns geirrt.
Mac legte auf und rief dann Detective Alan Tavarese an, meinen Nachfolger bei der Polizei in Maplewood, und erzählte noch einmal dieselbe Geschichte. Anschließend sah er auf die Uhr.
«Ich muss los.»
Er lächelte etwas traurig und beugte sich vor, um mich auf die Wange zu küssen. Ich holte tief Luft, hoffte auf einen Hauch seiner nach Pinien duftenden Seife. Ich wollte, dass er etwas sagte, aber ich wusste nicht, was. Ich wollte, dass er blieb. Und ich konnte es kaum erwarten, dass er ging, zurück zur Sonderkommission, und dafür sorgte, dass dort alles richtig lief. Er schielte noch einmal zu dem pinkfarbenen Umschlag, den er auf meinem Nachttisch abgelegt hatte, auf ein Buch, das mir fremd war, und wandte sich dann zur Tür.
«Mac?»
«Ja?»
Er drehte sich um, sah mich an, sah mich wirklich richtig an. Etwas rührte mein Herz, ein Gefühl, das ich aus der Zeit kannte, als wir Partner gewesen waren: Dieser Mann war ein echter Freund.
«Ruf mich an, sobald sie alle Sozialversicherungsnummern meiner Familie überprüft haben.»
«Mache ich.»
«Und danke, dass du nicht gesagt hast, ich solle mir keine Sorgen machen.»
«Hat ja doch keinen Zweck.» Als er lächelte, kamen kleine Grübchen neben seinen Mundwinkeln zum Vorschein. «Bleib einfach nur am Leben. Mehr verlange ich nicht.»
Ich nickte.
Und dann war er weg.
Als ich mich nach dem Umschlag streckte, fuhr ich zusammen. Der Schmerz war einfach zu heftig. Wie ein glühendes gnadenloses Messer. Jetzt wusste ich, wie es war, angeschossen zu werden, und ich wünschte das niemandem. Nun ja, bis auf einem vielleicht. Ich konnte noch immer JPPs Gesicht vor mir sehen, nur Millimeter von meinem entfernt. Ich schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung zu verscheuchen, aber sie wurde nur intensiver. In meiner Phantasie setzte sich das Bild neu zusammen, mit dem Lauf einer Pistole an seiner Stirn, meinem gekrümmten Finger am Abzug, einer Explosion, die JPP auslöschte. Die Rechnung beglichen. Frieden.
Eine Träne rollte mir über die Wange; mir war gar nicht aufgefallen, dass ich weinte. Ich kam mir wie ein schrecklicher Idiot vor. Hin- und hergerissen zwischen Bedauern, dass ich die Chance verpasst hatte, mich von ihm umbringen zu lassen, und Scham, weil ich überhaupt so ein Feigling gewesen war. Aber dann fiel mir wieder ein, weswegen ich nicht mehr hatte sterben wollen. Ich hätte mir schon vorher denken können, dass das Dominospiel weiterging; gut, besser spät als nie. Irgendwie musste ich es schaffen, meine Probleme zu verdrängen und mich auf das Einzige zu konzentrieren, was jetzt noch wichtig war: dass ich meine Familie beschützte … was davon noch übrig war.
Was sie mir gegen die Schmerzen gaben, wusste ich nicht, aber ich wollte mehr davon. Eine über Schnur mit der Wand verbundene Klingel lag auf dem Nachttisch. Ich holte Luft und griff danach. Drückte den Knopf. Hörte ein entferntes Ding irgendwo draußen auf dem Flur. Da ich mit der Hand nun schon mal da war, schnappte ich den Umschlag und das Buch, wahrscheinlich ein Geschenk mit dazugehöriger Karte.
Der Umschlag war nur an der Spitze zugeklebt und ließ sich leicht öffnen. Eine Peanuts-Karte mit Snoopy auf der Vorderseite, mumiengleich in Bandagen gewickelt lag er auf seiner Hundehütte. Ein kleines Flugzeug hinterließ einen Gruß am blauen Himmel: Du wirst schon wieder … Ich klappte die Karte auf und las: … fit! Vom Ausrufezeichen hing an einer Pfote ein gesunder, glücklicher Snoopy und winkte mit der anderen. Auf der weißen Fläche darunter drängten sich die Unterschriften. Sah aus, als hätte jeder Detective aus Maplewood unterschrieben. Dann fiel mir Billy Staples’ Unterschrift neben ein paar anderen auf, die ich nicht wiedererkannte, wahrscheinlich Leute vom FBI. Meine alte Truppe und die Sonderkommission hatten unterschrieben. Mac hatte niemanden ausgelassen. Das war wirklich lieb von ihm.
Ich legte die Karte beiseite und nahm das Buch zur Hand. Ein Taschenbuch mit dem Titel Geheime Pfade zur Inneren Zuflucht des Verborgenen Glücks. Das konnte unmöglich von einem Polizisten kommen, den ich kannte. Ich klappte den Buchdeckel auf. Die Widmung verriet, dass es sich um ein Geschenk meiner Therapeutin Joyce handelte. In regelmäßiger geschwungener Schrift stand da: Dir ist vergeben. Du wirst geliebt. Zwischen dem Buchdeckel und der ersten Seite steckte die Karte eines anderen Psychiaters, Dr. Gordon Weinberg, und dann eine Nachricht auf einem zusammengefalteten Zettel.
Liebe Karin,
es tut mir schrecklich leid, dass ich jetzt nicht bei Dir sein kann. Wie ich Dir ja kürzlich sagte, habe ich versprochen, drei Wochen lang für Ärzte ohne Grenzen in China zu arbeiten. Nach langem Nachdenken habe ich beschlossen, diese Verpflichtung nicht abzusagen. Aber ich denke an Dich. Am 11. Mai bin ich wieder zurück und habe Dich für meinen ersten Termin vorgemerkt. Wir sehen uns also am 12. 5. um 9 Uhr in meiner Praxis. Ich rechne fest mit Dir!
Joyce
P.S.: Du kannst Dich während meiner Abwesenheit Tag und Nacht an Dr. Weinberg wenden. Er erwartet Deinen Anruf.
Traurig, weil ich ihren Besuch verpasst hatte, legte ich das Buch weg; ich fühlte mich wie ein verlassenes Kind. Dennoch begriff ich die Zwickmühle, in der sie steckte. Sie wurde von vielen Menschen in China gebraucht und wusste, dass man mich hier keine Sekunde aus den Augen lassen würde.
Eine winzige polynesische Schwester in weißer Krankenhaustracht kam herein. «Geht es Ihnen gut, Karin?»
«Die Schmerzen …»
«Ja, habe ich mir schon gedacht.» Sie stand neben meinem Bett und drückte Luftblasen aus einer Spritze, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Dann band sie mir den Arm ab, wartete, bis die Vene in meiner Armbeuge dick und blau hervortrat, und drückte die Nadel hinein.
«Was ist das?», fragte ich.
«Morphium, meine Liebe.»
«Wie heißen Sie?» Aus irgendeinem Grund wollte ich wissen, wer mich da gerade high spritzte, aber andererseits war es mir auch egal.
Sie antwortete, aber ich konnte nicht hören, was sie sagte. Ich war wieder abgetaucht. Auf dem Flur waren Schritte zu hören, Schritte in meinem Zimmer, der blumige Duft vom Parfüm meiner Mutter, eine Unterhaltung, die für mich wie Gurgeln unter Wasser klang, und dann schwamm ich durch ein leuchtendes Korallenriff, fasziniert von seiner Schönheit, und mein Bewusstsein entschlüsselte das Geheimnis der Farben in der Abwesenheit des Lichts.