KAPITEL 16

«Und jetzt das Neuste über Susanna Castle, das kleine Mädchen, das vor zwei Tagen an seinem Geburtstag verschwunden ist», kündigte der Moderator der Morgennachrichten an.

Das Phantombild einer Frau erschien auf der Mattscheibe – und verdrängte alles andere um mich herum aus meinem Bewusstsein: wie die Eier in der Pfanne brutzelten und dass sie fast fertig waren, dass es angenehm nach Kaffee roch oder dass meine Mutter drei Schüsselchen mit gewürfelter Cantaloupe-Melone darin zum Tisch balancierte. Ich starrte zum Fernseher und wusste, dass ich da gerade der Frau ins Gesicht blickte, der gesuchten Unbekannten. Glattes graubraunes Haar in Schulterlänge, große Augen, ausgeprägte Wangenknochen, schmaler Kiefer, dünne Lippen, ernster Gesichtsausdruck. Ich erkannte die Handschrift von Narcisco Jones, dem Phantombildzeichner der Polizei in Maplewood. Bei Personen mittleren Alters tuschte er immer diese leichten Schatten um die Augen. Mein Magen zog sich zusammen. Die Lungen versagten ihren Dienst. Die Zeit schien stillzustehen im Haus meiner Eltern, die letzten zwei Jahre wie ungeschehen, und ich sah mich auf einmal der Frau gegenüber, die möglicherweise JPPs Komplizin war.

Meine Mutter drehte sich abrupt zum Fernseher um, und eine der Schüsseln rutschte ihr aus der Hand. Melonenstücke und Porzellanscherben lagen gleich darauf auf dem Fußboden verstreut.

«Die Polizei von New Jersey sucht nach dieser Frau, um sie zu befragen», erklärte der Moderator. «Sie ist keine Verdächtige, wie man von offizieller Seite betont, könnte im Fall aber weiterhelfen. Man will lediglich mit ihr sprechen.»

«Also, liebe Zuschauer an den Geräten», schaltete sich seine Kollegin ein, «schauen Sie sich das Bild genau an, und falls Sie die Frau erkennen und der Polizei dabei helfen können, sie zu finden, rufen Sie bei der unten eingeblendeten Nummer an. Oder bei uns im Sender, wir leiten Sie dann weiter. Wir werden das Bild den ganzen Tag über immer wieder zeigen, genau wie alle anderen großen Sender des Landes, vermute ich.»

Das Bild der Frau verschwand, und dafür wurden zwei Telefonnummern eingeblendet – von der Polizei in Maplewood und vom Fernsehstudio. Sie blieben eine halbe Ewigkeit dort zu sehen, während der Moderator im Hintergrund weiterredete.

«Es ist schon unglaublich, wie viele Menschen dieser Familie helfen wollen.»

Jons Vorgarten erschien auf dem Bildschirm: Auf dem Rasen standen zahlreiche Leute um ein weißes Zelt herum, unter dem sich ein Tisch mit fotokopierten Flugblättern befand. Zwei Frauen mit Klemmbrettern in der Hand standen daneben und verteilten Aufgaben. Eine dritte, die einen pinkfarbenen Mützenschirm trug, gab Wasserflaschen aus. Dann wurde zum Willowbrook-Einkaufscenter in Wayne geschaltet, wo es ähnlich zuging.

«Es existieren zwei Anlaufstellen, an denen sich die verschiedensten Menschen einfinden, um freiwillig bei der Suche nach der kleinen Susanna zu helfen.»

Ein Porträt von Susanna wurde gezeigt, auf dem sie Rattenschwänzchen trug und lächelte, gefolgt von einem Foto von Cece … mein Herz überschlug sich.

«Alle wollen verhindern, dass die Familie noch einmal dieselbe Tragödie erleben muss.»

«Was wohl mehr als verständlich ist.»

Die beiden Moderatoren wurden aus einer anderen Kameraperspektive gezeigt, und die Stimmung im Studio änderte sich sofort, als einer der beiden lächelte und eine andere Meldung brachte.

Ich kniete mich hin und begann, die weißen Scherben der kaputten Schüssel und die staubigen Cantaloupe-Stückchen aufzuheben und in meiner Hand zu sammeln.

«Die Eier», sagte meine Mutter.

Erst da bemerkte ich den Geruch von Angebranntem. Ich schaute hinüber zum Herd. Aus der Pfanne stieg dunkler Rauch auf, während meine Mutter hinlief und das Gas abstellte. Ich sprang hoch und wedelte mit meiner freien Hand den Rauch hinüber zum offenen Fenster über der Spüle. Dann warf ich die Scherben und die Melone in den Mülleimer darunter.

«Karin», sagte meine Mutter. «Du blutest

Ich war barfuß, und rote Schlieren markierten jeden meiner Schritte vom Ofen zur Spüle, weil ich einen Schnitt in der rechten Fußsohle hatte, wie ich nun feststellte. Ich setzte mich neben meinen Vater an den Tisch – der immer wieder zwischen meiner Mutter und mir hin- und hersah, um zu begreifen, was los war – und griff nach einer Papierserviette, um die Blutung zu stoppen.

Nachdem der Rauch sich fast komplett verzogen und meine Mutter den Fußboden gefegt hatte, holte sie den Erste-Hilfe-Kasten zum Tisch und kümmerte sich um meinen Fuß. Sie zog eine anderthalb Zentimeter lange Porzellanscherbe aus der Sohle und säuberte die Wunde. Wir waren uns einig, dass der Schnitt nicht so tief war, dass er hätte genäht werden müssen, also desinfizierte sie ihn und verband den Fuß. Dann sah sie mich an. «Was für ein Bild war das eben im Fernsehen? Wusstest du davon?», fragte sie.

«Nein, das Phantombild der Polizei kannte ich nicht.» Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit gefunden, meiner Mutter zu erzählen, was am Tag zuvor geschehen war.

«Die hätten uns warnen können.» Meine Mutter saß am Tisch und wirkte ganz durcheinander.

«Ich habe Hunger», sagte mein Vater.

«Solche Sachen sollte man nicht aus dem Fernsehen erfahren.»

«Wo bleiben die Eier?»

«Ich brate ein paar neue.» Mom stand auf und begann, uns noch einmal Frühstück zu machen, nachdem das erste nun ruiniert war.

Ich blieb neben meinem Vater sitzen. Sie hatte recht damit. Man hätte uns vorher warnen sollen. Mac vor allen anderen. Ich ging zum Telefon in der Küche und rief auf seinem Handy an. Die Mailbox ging ran, und ich hinterließ eine Nachricht. Beim Frühstück und unter der Dusche war ich die ganze Zeit schlecht gelaunt und wurde immer wütender. Was zum Teufel ging eigentlich vor? Hatte die Polizei jetzt eine echte Spur, oder war das lediglich ein Schuss ins Blaue? Offenbar hatte Paul Mahers Besuch im Revier noch nicht dazu geführt, dass man herausgefunden hatte, wer die Frau genau war … aber hatten sich dabei vielleicht andere neue Erkenntnisse ergeben? Macs Entschluss, mir eine ‹kleine Pause› zu gönnen, fühlte sich gerade eher wie eine Strafe an. Ich versuchte es wieder bei ihm, hinterließ eine weitere Nachricht … und dann fiel mir ein, dass ich mein eigenes Handy am Abend zuvor ausgeschaltet hatte, um es aufzuladen. Ich stellte es an und sah gleich darauf, dass ich ganz früh am Morgen eine Nachricht von ihm bekommen hatte.

«Ich will deine Eltern nicht wecken. Deshalb rufe ich dich auf dem Handy an. Hier geht es drunter und drüber … du weißt ja, wie das ist, Karin. Maher hat niemanden wiedererkannt, also werden wir heute Morgen ein Phantombild an die Medien rausgeben. Nur ein Porträt. Okay, wir sprechen uns dann später. Halt die Ohren steif.»

All mein Zorn verflog. Ja, ich wusste genau, wie das war. Aber Mac hatte sein Handy immer dabei und bisher noch nie einen Anruf von mir ignoriert. Mich beunruhigte das; ich durfte ihn nicht verlieren, schon gar nicht jetzt.

Ich wählte seine Nummer, sprach noch einmal auf die Mailbox und ließ mein Handy in die Hosentasche gleiten, auf Vibration eingestellt, damit ich fühlte, wenn es klingelte. Dann setzte ich meine Eltern ins Auto und fuhr mit ihnen zu Jon. Ich wollte wieder suchen helfen. Glaubte ich wirklich, dass wir Susanna irgendwo in der Nähe finden würden, obwohl der Van in Wayne geparkt gewesen war? Nur falls sie noch lebte. Es schien logisch, dass sie andernfalls in der Nähe des Einkaufscenters gefunden werden würde … deshalb wollte ich da auch auf keinen Fall hin.

Eine halbe Meile entfernt sahen wir die ersten Leute mit einer Kopie von Susannas Foto in der Hand eindringlich nach ihr rufen. Sie waren gut vorbereitet hergekommen, trugen Hüte mit breiten Rändern, ihre Haut glänzte von Sonnencreme und viele hatten Wasserflaschen dabei, weil sie wohl damit rechneten, lange unterwegs zu sein. Als wir vor dem Haus hielten, sahen wir überall auf dem Rasen verteilt Kühlboxen stehen, wie Salzlecksteine in den Primärfarben. An ihrem dritten Tag hatte die Suche etwas von ihrer anfänglichen Verzweiflung verloren. Die Atmosphäre erinnerte eher an die Routine eines gewöhnlichen Arbeitstag, zu dem die Leute sich hier einfanden.

Meine Mutter brachte meinen Vater ins Haus zu Andrea und kam dann zu mir ins Zelt. Sie begrüßte die Frau mit dem pinkfarbenen Mützenschirm und ging dann zu den anderen beiden hinter den Tisch. Sofort begann sie, großmütterlich von Susanna zu erzählen, und versorgte die Suchenden mit Informationen, damit sie unser kleines Mädchen erkennen konnten. Die liebevollen Geschichten über die Enkelin halfen ihr wohl, sich der Kleinen nahe zu fühlen und die Hoffnung nicht aufzugeben. So versuchte sie mit der Ungewissheit über Susannas Schicksal fertigzuwerden. Die Frauen im Zelt schienen nicht genau zu wissen, wie sie angesichts meiner tragischen Geschichte mit mir umgehen sollten, und behandelten mich deshalb entweder wie einen Star oder mieden mich wie die Pest. Ich musste da weg. Und so nahm ich mir trotz meiner Schnittwunde im Fuß eine fotokopierte Karte der Umgebung, auf der eine Suchroute blau markiert war, und machte mich allein auf den Weg.

Er führte mich ins Waldstück hinter Jons Haus, danach zu einem Tennisplatz und schließlich zu einem Fußballfeld. Von dort aus folgte ich der Bahnstrecke eine Viertelmeile weit bis zum schmalen Ende des Waterlands Parks. Zwischendurch blieb ich oft stehen und inspizierte meine Umgebung genau. Viele andere der freiwilligen Helfer hatten sich ebenfalls für die blaumarkierte Route entschieden, und so schaute ich mich hier nicht allein um. Dennoch quälte mich das vage Gefühl, wir würden allesamt ein wichtiges Detail übersehen. Die Stimmen der Fremden, die den Namen meiner Nichte riefen, gingen ineinander über wie Vogelgesang. Überall entlang des Weges hingen Steckbriefe von Susanna an den Bäumen.

Am Rand des Parks fand gerade ein Spiel der Baseball-Jugendmannschaft statt, ein Augenblick der Normalität, der mir Kraft gab. Ich ging zurück in den Wald und rief immer und immer wieder: «Susie Q!»

«Karin!»

Ich drehte mich um und stand vor Jon: ohne Karte und Wasser, dafür blass wie ein Gespenst und mit Augenringen so schwarz wie ein ausgebrannter Vulkan.

«Du siehst furchtbar aus», platzte es aus mir heraus.

Jon sank in meine Arme und schien sich mit seinem gesamten Gewicht an mich zu klammern. Ich taumelte rückwärts, fand die Balance wieder und hielt ihn fest.

«Ich vermisse sie», flüsterte er. «Ich halte das nicht mehr aus

Schweigend massierte ich ihm den Rücken und hörte zu.

«Keine Ahnung zu haben, wo sie ist … das kann ich einfach nicht ertragen. Andererseits wäre Bescheid zu wissen … falls das Schlimmste wahr wird … also, das wäre noch bitterer, oder?» Er rückte etwas ab und sah mir in die Augen, in seinem Blick loderte Angst, und es lag ein neues unausgesprochenes Verständnis für mich darin. Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich versuchte, sie wegzuwischen, aber es war umsonst.

«Das wirst du nie herausfinden», sagte ich, «weil alle Welt nach ihr sucht und wir sie finden werden und zwar gesund und wohlauf.»

Er holte tief Luft und nickte wie ein Kind, das bereit war, auch das unwahrscheinlichste Märchen zu glauben.

«Mom hat uns erzählt, was du gemacht hast, Karin … dass du ins Gefängnis gegangen bist und mit ihm gesprochen hast. Das muss so hart für dich gewesen sein.»

«Ob es hart für mich war, spielt keine Rolle. Wenn ich nicht Polizistin geworden wäre … nichts von alledem wäre passiert, und du würdest jetzt nicht –»

«Nein. Du bist zur Polizei gegangen, um etwas Sinnvolles zu tun, damit du anderen Menschen helfen kannst – das ist mehr, als man über mich sagen kann –, und der Preis, den du dafür zahlen musstest …»

Die Tränen erstickten jedes weitere Wort, und ich nahm ihn wieder in den Arm.

«Es tut mir so leid, was ich neulich zu dir gesagt habe», schluchzte er. «Und Andrea auch. Wir wissen ja, dass das alles nicht deine Schuld ist.»

«Danke. Aber das ist es doch.»

Nach ein paar Minuten, die wir uns weiter im Arm gehalten hatten, gingen wir zurück ins Haus.

Abends gab es noch immer keinerlei Spur von Susanna – nirgendwo.

Als es dunkel wurde, packten die Freiwilligen ihre Sachen zusammen und gingen mit dem Versprechen nach Hause, morgen wiederzukommen.

Jon blieb zu Hause und hielt mit Andrea und David Nachtwache.

Meine Eltern fuhren mit mir zurück nach Montclair, wo wir alle in der Küche noch eine Kleinigkeit aßen und dann auf unsere Zimmer gingen.

Ich fiel aufs Bett, war ganz gelähmt vor Erschöpfung und versuchte noch einmal, Mac zu erreichen. Während des gesamten langen Tages und trotz der drei dringenden Nachrichten, die ich ihm hinterlassen hatte, kein Anruf von ihm. Es war äußerst frustrierend, abgesehen von dem, was ich aus den Medien erfuhr, keine Ahnung zu haben, wie die Ermittlungen vorangingen. Aus Erfahrung wusste ich, dass die öffentlich bekannten Informationen nur die Spitze des Eisbergs waren. Macs Handy klingelte fünfmal, dann wurde ich auf die Mailbox umgeleitet. Diesmal sprach ich nicht drauf. Die Veröffentlichung eines Phantombildes führte immer zu Reaktionen aus der Öffentlichkeit, manchmal sogar zur Identifizierung der betreffenden Person. Mir war klar, dass Mac beschäftigt war. Gerade gingen wie üblich Hunderte von Anrufen von allen möglichen Menschen ein, die der Meinung waren, dass sie die Gesuchte kannten, oder einfach nur Aufmerksamkeit wollten. Doch inzwischen war ich davon überzeugt, dass Macs Schweigen nichts mit dem Fall zu tun hatte; bei unserer abschließenden Unterhaltung gestern im Auto war es unausgesprochen um so viel mehr gegangen. Und obwohl ich heute unablässig unterwegs gewesen war, ständig hin- und hergerissen zwischen sinnlos erscheinender Hoffnung und loderndem Zorn, hatte ich immer wieder an Mac gedacht – voller Sehnsucht einerseits, aber auch wie versteinert andererseits.

Ich legte mein Handy auf den Nachttisch und streckte mich aus. Meine Gedanken schwirrten mir wild im Kopf herum, und ich glaubte, ich würde nie einschlafen.

 

Zunächst war es ein Gefühl, eine tiefsitzende Erinnerung: die zarten, trockenen, festen Hügel und Täler aus Haut und Muskeln. Und dann die ganze Landschaft seines Körpers, die abstrakten Formen, die sich zu einem Ganzen, zu einem Menschen zusammensetzten, der mir vertraut schien, den ich jedoch gleichzeitig nicht wiedererkannte. Das Gefühl von Jacksons Haut unter meinen Händen, die langen Muskeln an seinem Rücken, dass ich ihn berühren und durch ihn hindurchfassen konnte, als ob wir miteinander verschmolzen wären. Nur im Traum war so etwas möglich: einen Toten so völlig und ohne jeden Zweifel zurückzubringen.

Ich lag im Halbschlaf in meinem Jugendbett, und mein Mann drehte sich zu mir, an mich heran, in mich hinein, und ich strich über seinen ganzen Körper. Spürte ihn. Sog ihn in mich auf. Liebte ihn. Hatte ihn wieder.

«Schhh», flüsterte ich, während meine Lippen den zarten Rand seiner Ohrmuschel berührten, spürten, schmeckten und küssten. «Weck Cece nicht auf.»

Hatte auch sie wieder.

Jackson antwortete nicht. Vielleicht konnten Geister nicht sprechen. Aber er war so wirklich wie eh und je. Und wie wir uns liebten, das war so wahr und vertraut. Wellen von Lust und grenzenloser Zuneigung durchliefen meinen Körper. Und dann wurde es noch intensiver, impulsiver, und ich konnte spüren, wie unser zweites Kind entstand, die Erfüllung eines Versprechens, das wir uns vorher gegeben hatten. Vorher, vorher, vorher …

Nun stand ich allein in einem Weizenfeld, mir war heiß, ich schwitzte, die Sonne brannte. Und da war Jackson, in Jeans und T-Shirt, derselben Kleidung, die er beim letzten Mal getragen hatte … beim letzten Mal … da stand er auf einem Hügel in der Ferne und schlug einen Gong, immer und immer wieder. Hallende Schallwellen. Ein ohrenbetäubendes Geräusch. Es verwirrte meine Sinne.

Klingeln. Das Telefon. Jackson rief mich an. Das war es.

Ich öffnete die Augen. Das Licht eines vorbeifahrenden Autos streifte über die Zimmerdecke, ließ die Schatten im Schlafzimmer tanzen und verschwand. Es war wieder dunkel. Und still. Und ich war so desorientiert, weil ich von Jackson geträumt hatte, obwohl er offensichtlich noch gar nicht zu Hause war.

Etwas blinkte auf meinem Nachttisch: Das Display meines Handys kündigte einen Anruf an. Ich rollte mich hinüber, griff nach dem Telefon, klappte es auf und hielt es ans Ohr.

«Wo bist du?»

«Tut mir leid, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. Habe ich dich geweckt?»

«Ich habe gerade von dir geträumt. Komm nach Hause, okay?»

«Karin?»

Und da bemerkte ich, wo ich wirklich war und wer ich war. Auf den Anfall von Trauer folgte schnell eine Welle der Scham. Übelkeit. Dann – Leere, Resignation.

«Mac? Hast du sie gefunden?»

«Nein.» Schweigen. «Hör zu, Karin …»

Bevor er weitersprechen konnte, begann ich zu weinen, schluchzte hilflos, während der geduldigste Mann der Welt am anderen Ende zuhörte. Ich wollte schon auflegen, um ihm das zu ersparen, aber dann fiel mir ein, dass es noch sehr lange dauern konnte, bevor ich ihn telefonisch wieder erreichte.

«Wie viel Uhr ist es?», fragte ich.

«Fast elf. Tut mir leid, ich dachte nicht, dass es schon zu spät ist, um noch anzurufen.»

«Schon okay. Ich wollte den ganzen Tag lang mit dir sprechen.»

Nach einem Moment sagte er: «Wenn du möchtest, komme ich vorbei.»

«Ja, bitte.»

Ich stand auf, streifte das Nachthemd ab, zog Jeans und T-Shirt an, setzte mich aufs Bett und wartete auf Mac. Wartete. Allein. In einem Haus, in dem es mucksmäuschenstill war. Meine Eltern lagen in ihrem Schlafzimmer am Ende des Flurs. Weshalb fühlte ich mich hier einsam, wenn ich es doch gar nicht war?

Doch ich wusste, weshalb. Durch die Intensität meines Traums, der wieder erwachten Sehnsucht nach Jackson, wurde mir beim Erwachen endgültig klar, dass er tot war. Für immer gegangen. Ich konnte noch den Rest meines Lebens damit verbringen, ihn und Cece zu vermissen, oder …

Fünfzehn Minuten später rief Mac noch einmal an. «Ich stehe draußen.»

Ich ging zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Da war er, auf dem Weg vor dem Haus, die Hände in den Hosentaschen, und wartete auf mich.

Ich holte meine Handtasche, schloss die Eingangstür von draußen ab und ging zu Mac. Bevor er etwas sagen konnte, bevor ich etwas sagen konnte, lehnten wir uns aneinander und umarmten uns. Stirn an Stirn standen wir da und sahen uns in die Augen.

«Ich weiß, das ist der falsche Moment», flüsterte er. «Aber ich brauche dich. Ist das okay?»

Ich nickte. Es war mehr als nur okay.

Sein Arm an meinem Rücken fühlte sich warm an, als wir zusammen zu seinem Auto gingen. Der Polizist im Überwachungswagen tat so, als würde er uns nicht bemerken. Wir schwiegen während der gesamten Fahrt zu Macs Wohnung, als ob Worte alles kaputtmachen könnten. Unsere Entscheidung, den anderen beim Warten nicht allein zu lassen. Noch immer schweigend gingen wir über den Parkplatz. Schweigend fuhren wir mit dem Fahrstuhl in Macs Stockwerk. Schweigend betraten wir seine Wohnung. Schweigend sahen wir uns an und befreiten uns Stück für Stück von der Rüstung unserer Kleidung, unseres Widerstands und unserer Zweifel.

 

«Was ist mit deinem Fuß passiert?»

Wir lagen nebeneinander, nackt, auf Macs Bett. Die Klimaanlage blies kalte Luft in den Raum, aber uns war noch immer heiß, unsere Haut von einem Schweißfilm überzogen. Ich hob meinen rechten Fuß und bemerkte erst jetzt, dass sich der Verband vom ganzen Herumlaufen während des Tages verschoben hatte. Man konnte den Schnitt darunter erkennen, die blutige Wunde. Irgendwie war Dreck in meine Socke geraten, und der ausgefranste Verband wirkte schmutzig.

«Ich bin auf eine Scherbe getreten, was denn sonst?»

Er grinste und wartete auf eine ausführlichere Antwort. Seine schläfrigen Augen wirkten sexy; ich drehte mich zu ihm, um mich an ihn zu schmiegen, und berichtete von unserem morgendlichen Frühstücksfiasko.

«Ich kümmere mich um die Wunde.» Er ging vom Schlafzimmer ins angrenzende Bad und machte dort das Licht an. Und da stand er: war real und echt. Das alles geschah wirklich, Mac lebte, und wir hatten uns geliebt, ohne dass sich etwas zwischen uns verändert hätte. Die Gefühle waren nur tiefer geworden. Mac hatte einen schönen Körper. Ich beobachtete, wie die Muskeln an seinem Rücken spielten, als er die Spiegeltür seines Hängeschränkchens öffnete, eine Schachtel Verbandszeug, ein Fläschchen Alkohol, ein kleines Glas mit Watte und antibiotische Salbe herausholte. Er war dünner, als ich es bei ihm in angezogenem Zustand je vermutet hätte, und er wusste sich zu bewegen. Ich sah ihm zu, spürte die neue Verbindung zwischen unseren Körpern und war einfach froh. Er hatte den Schmerz meines Traumes vertrieben; der Traum, der mir eine Brücke hierher gebaut hatte, die ich ohne das plötzliche Erwachen nie betreten hätte. Sein Anruf war treffsicher in mein Unterbewusstes eingedrungen.

Mac zog sich die Boxershorts hoch, setzte sich im Schneidersitz neben mich aufs Bett und streckte sich, um die Nachttischlampe anzuschalten. Das dunkle Schlafzimmer wurde von gedämpftem Licht erhellt. Dadurch bemerkte ich etwas, das mir vorher nicht aufgefallen war: das kleine violette Tattoo einer Blüte unter seinem Schlüsselbein. Ich berührte es mit dem Finger.

«Was ist das?»

«Eine Dahlie. Habe ich mir machen lassen, als ich achtzehn war – Jugendsünde. Bisher bin ich noch nicht dazu gekommen, sie entfernen zu lassen.»

«Nein, lass sie da, die ist schön.»

«Gib mir deinen Fuß.»

Ich lehnte mich halb zurück und legte meinen verletzten Fuß in seinen Schoß. «Aber vorsichtig, bitte.»

«Bei Licht betrachtet, sieht es noch schlimmer aus.»

«Ist das nicht bei allem so?»

«Nicht bei dir.»

«Bei dir auch nicht.»

Er sah mich kurz an, erwiderte mein Lächeln, dann riss er mit einem kräftigen Ruck das schmutzige Verbandszeug ab. Es ging zu schnell, um noch zu schreien oder mich auch nur zu erschrecken. Ich schloss die Augen und stöhnte leise, als er den Schnitt mit einem alkoholgetränkten Wattebausch betupfte. Jetzt brannte es schlimmer als am Morgen. Mac wartete eine Minute und wedelte mit der Hand sanft Luft gegen meine Haut, bis sie trocken genug war, damit ein frisches Pflaster hielt.

«Ist das für dich in Ordnung?», fragte er.

Ich nickte.

«Nein, ich meine das hier.» Mit uns. Dem Sex. Dem, was darüber hinausging.

Ich nickte noch einmal.

«Besonders begeistert siehst du nicht aus.»

«Mac –»

«Nur ein Scherz.» Er kam zu mir unter die Decke und kuschelte sich an mich. «Ich wollte nur die Stimmung etwas auflockern. War ein verdammt harter Tag.»

«Was war denn nun heute los?» Ich setzte mich auf und hielt die Decke über meine Brüste.

«Du bist ganz schön hartnäckig.» Er kannte mich eben.

«Komm schon, Mac. Natürlich denke ich die ganze Zeit an Susanna.»

«Das verstehe ich doch», sagte er. «Geht mir genauso.»

Er drehte sich zu mir, küsste mich, sprang aus dem Bett und kam einen Moment später mit einer dicken Akte zurück. Der Akte, abgegriffen und fleckig, wie sie war. Er streckte die Beine neben mir aus, klappte die Akte auf und nahm eine Seite heraus, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Dann gab er sie mir. Es war der Ausdruck eines auf Mikrofiche gespeicherten Zeitungsartikels, der achtzehn Jahre alt war.

«Schau dir das mal an.»

Die Überschrift lautete «Mathegenies», und es ging darin um eine Nancy Maxtor aus Montclair, eine Lehrerin, die eine AG für die in Mathematik begabtesten Schüler anbot. Bei ihr wurde Mathematik mit Hilfe von Spielen vermittelt, was die Leistungen in diesem Fach deutlich verbessert und der Schule einen Preis des Staates New Jersey eingebracht hatte. Die Eltern freuten sich, die Lehrer freuten sich, und den Kindern machte der Unterricht Spaß. Ein grobkörniges Foto zeigte eine Frau um die vierzig – weiß, mit schulterlangem braunem Haar und ovaler Brille – inmitten eines Dutzends lächelnder Kinder.

«Nancy Maxtor.» Ich horchte auf den Klang des Namens. «Ist sie das?»

«Im Revier sind gestern viele Anrufe eingegangen, neun davon mit Hinweisen auf sie. Einer davon stammte sogar von ihrer erwachsenen Tochter Christa, die uns sagte, dass ihre Mutter seit Monaten in Myanmar auf Missionsreise sei.»

Ich las noch einmal im Artikel nach, was da über die Biographie von Nancy Maxtor stand. «Dem Artikel zufolge hat sie ja alle möglichen ehrenamtlichen Tätigkeiten übernommen. Nachhilfe, Suppenküche, Hilfe für Obdachlose und Spritzenverteilen an Drogensüchtige.» Ich sah von dem Artikel auf. «Das klingt nicht gerade nach jemandem, der Identitäten fälscht.»

«Nein, eigentlich nicht. Andererseits hat Maher sie genau beschrieben.»

Ja, das Phantombild passte wirklich haargenau auf sie. Ich schaute mir das Foto noch einmal an: Sie wirkte harmloser als auf dem Phantombild. Hier machte sie ganz den Eindruck der selbstlosen Aktivistin für eine bessere Welt, die man einfach nur bewundern konnte. Ihre Kleidung war schlicht, sie trug kein Make-up, nur ein kleines Goldkreuz an einer Kette um den Hals.

«Jung verwitwet», las Mac aus den handgeschriebenen Notizen vor. «Engagierte Christin, manchmal bei Missionsreisen dabei.»

«Glaubst du der Tochter – Christa?»

«Dass ihre Mutter gar nicht da ist und deshalb auch unmöglich auf Susannas Party hätte auftauchen können? Kann sein, kann auch nicht sein. Wir haben versucht, Christa zu erreichen, aber bisher hatten wir kein Glück damit.»

Er rückte näher an mich heran und fuhr mit dem Finger über das Zeitungsfoto. «Karin, schau dir das Bild noch einmal genau an.»

Nancy Maxtor war von Kindern umringt: fast alle weiß, zwei kleine Asiaten, eines war schwarz, sie mussten ungefähr zwischen neun und zwölf Jahre alt sein. Alle lächelten und schienen sich wirklich zu freuen … bis auf einen Jungen, dessen Lächeln bei genauerem Hinsehen gezwungen wirkte … und je länger ich ihn betrachtete, desto mehr erinnerte er mich an jemanden.

«Das ist er.» Mein Puls überschlug sich, als ich Martin Price erkannte … oder besser gesagt den Jungen, der er einst gewesen war.

«Jetzt lies die Bildunterschrift.»

Ich studierte die Namen der Kinder, starrte gebannt auf die winzige Schrift. Martin Price wurde da nicht genannt. Wie auch? Inzwischen hatten wir ja herausgefunden, dass dies nicht sein richtiger Name war. Ich zählte auf dem Foto vier Gesichter in der zweiten Reihe nach links und verglich das mit der Bildunterschrift.

«Neil Tanner», las ich laut vor.

«Neil Tanner», wiederholte Mac.

Neil Tanner. So lautete also der wahre Name meiner Nemesis. Dieser Junge auf dem Foto sah so unschuldig aus. Neil Tanner. Aus dem später einmal Martin Price werden sollte – JPP. Der eine Komplizin hatte, deren Namen und Gesicht wir nun auch kannten … möglicherweise hatten wir damit Susanna gefunden.

«Weißt du, ich überlege, ob –», begann Mac gerade, als das Telefon klingelte. Alan bat ihn … uns … aufs Revier zu kommen, weil er etwas hatte, das nicht bis zum folgenden Morgen warten konnte.

Der Domino-Killer
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