KAPITEL 9
«David hat das zu mir gemacht!» Susanna versuchte ein Auge zuzukneifen, schloss stattdessen aber beide.
«Er hat dir zugezwinkert?» Ich unterdrückte ein Lächeln, streckte die Hand aus und schnippte eine verirrte Makkaroninudel zurück in ihre weiße Schüssel.
Mit großen Augen nickte sie.
«Ich habe gesagt: ‹Hallo, Davie Q!›» Sie lachte ausgelassen darüber, dass sie ihrem neuen Brüderchen einen ähnlichen Kosenamen verliehen hatte wie ihren eigenen.
«Und was hat er geantwortet?»
«Er hat gesagt: ‹Gah, gah, gah, wah, wah, wah!›»
Jon, der gerade mit dem Abwasch beschäftigt war, drehte sich von der Spüle zu uns um, und wir lächelten einander an. Die verspiegelten Hängeschränke hinter ihm warfen das Bild des strahlend blauen Himmels zurück, den die Panoramafenster des Hauses fast gänzlich verschluckten. Die Familie war nach zwei Wochen im Krankenhaus in diesen stadteigenen Unterschlupf gebracht worden, sobald die Ärzte der Meinung waren, dass David die Intensivstation für Frühgeburten verlassen konnte. Es war ein Penthouse, ein geschützter Raum, der in der sicheren Entfernung des 23. Stocks über dem wimmelnden Ameisenhaufen der Stadt schwebte. Wir befanden uns zwar in Manhattan, hätten aber genauso gut irgendwo auf dem Land sein können, fernab von allem. Weit weg von jedem Ort, an dem JPP nach Susanna suchen könnte … und dennoch in der Nähe des New York Presbyterian Hospitals, falls David im Ernstfall doch zurück auf die Intensivstation musste.
«Ich vermisse Mama», sagte Susanna, während sie Käsemakkaroni in ihren Mund löffelte.
Jon starrte seine Tochter an und war einen Moment sprachlos. Dann drehte er den Wasserhahn zu und trocknete sich die Hände ab. Er kam um die Küchentheke herum und kniete sich am Tisch neben sie hin.
«Soll Mama dir heute Abend etwas vorlesen?»
Susanna nickte.
«Iss auf, dann suchen wir ein Buch aus.»
Das tat sie und entschied sich wie immer für Das Samtkaninchen. Das Buch war so zerlesen, dass der Buchdeckel ganz weich und eselsohrig war – ungefähr so wie das vielgeliebte Kaninchen darin selbst. Jon nahm seine Tochter huckepack und trug sie durchs Wohn- und Esszimmer in den langen Flur. Susanna hielt das Buch fest in ihren kleinen Händen und starrte geradeaus auf die geschlossene Tür zum neuen Schlafzimmer ihrer Eltern. Ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde und sich mit einem Klick wieder schloss.
Noch bevor ich das Wohnzimmer ganz durchquert hatte – mit den braunen Ledersofas, dazu passenden Lampen und der gemusterten Auslegeware wirkte es wie ein Hotelzimmer –, hörte ich Susanna schreien. Die Tür zum großen Schlafzimmer öffnete sich, und Andreas ungezügeltes krampfartiges Schluchzen drang heraus. Jon hatte mich schon vorgewarnt – dass Andrea «einfach nicht klarkam» –, um mir zu erklären, weshalb sie mich nicht sehen wollte. Trotzdem hatte mich das nicht auf das schreckliche Weinen meiner Schwägerin vorbereitet, mit dem sie auf eine so einfache Bitte ihres eigenes Kindes reagierte.
Sekunden später waren Jon und Susanna zurück im Wohnzimmer, sie wand sich in seinen Armen, und er musste sich anstrengen, um sie festhalten. Sie warf das Buch auf den Boden und versuchte sich mit aller Macht von ihrem Vater zu befreien. Ihr gequälter Gesichtsausdruck traf mich bis ins Mark, und ich fing ebenfalls an zu weinen. Ich umarmte die beiden, und wir standen eine Weile so da, während Susanna strampelte. Nach ein paar Minuten ließ sie sich gegen Jons Schulter fallen, presste ihr Gesicht gegen seinen Hals und seufzte.
«Willkommen in meinem neuen Leben», flüsterte er mir über Susannas helles zerzaustes Haar hinweg zu, das er sanft streichelte.
Etwas später setzten die zwei sich aufs Sofa. Susanna lehnte sich gegen ihren Vater und nuckelte heftig am Daumen, während er ihr vorlas. Ich konnte ihnen nicht einfach zusehen, wie sie sich langsam wieder beruhigten; ich hatte Angst, dass etwas, das ich sagen oder tun könnte, sie wieder aufwühlen würde. Also nahm ich meine Handtasche und ging zur Wohnungstür, um leise zu verschwinden … überlegte es mir dann aber doch noch einmal. Ich hatte bisher angenommen, dass Andrea vor allem mich nicht sehen wollte – mich, als das Sinnbild der Gefahr, die ich über sie alle gebracht hatte. Angesichts ihrer Vorgeschichte von Depressionen kam mir nun jedoch der Gedanke, dass sie an etwas viel Größerem, schwer Fassbarem leiden könnte. Also ging ich nicht, sondern machte mich auf den Weg zum Schlafzimmer.
Ich klopfte leise an; dass keine Antwort kam, wunderte mich nicht. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter und öffnete langsam die Tür. Schatten krochen in den Flur. Ich trat über die Schwelle und schloss die Tür wieder hinter mir.
Andrea lag im Bett, gegen die Kissen gestützt, ihr Neugeborenes im Arm. In der Dunkelheit des Zimmers konnte man die zerknitterte weiße Bettwäsche kaum von ihrer Haut unterscheiden, und die Farbe ihres einst blauen Nachthemdes wirkte wie ausgebleicht. Es war aufgeknöpft und gab eine große Brust frei, in der David sein Gesicht verbarg. Jedes Mal wenn ich ihn sah, schien es ihm jetzt besserzugehen. Seine Haut etwas weniger violett. Sein Körper etwas weniger mager. Nicht ganz so winzig. Er saugte an Andreas Brust, bewegte sich leicht in den Armen seiner Mutter und machte dabei die niedlichen Geräusche, die alle Babys machen, wenn sie trinken. Auf einem Stuhl in der Ecke saß ihre Kinderschwester Lisette, die jahrelange Erfahrung in der Frühgeborenenpflege vorweisen konnte. Sie war ungefähr 40, eine adrette Jamaikanerin, trug einen weißen Pflegeranzug und war offensichtlich geübt darin, sich nahezu unsichtbar zu machen. Sie tat so, als würde sie eine Zeitschrift durchblättern, obwohl es zum Lesen zu dunkel im Zimmer war.
Ich trat ans Bett und küsste Andreas feuchte Wange. Sie bewegte sich nicht, bis auf die Augen, deren Blick mich kurz streifte und die dann wieder auf einen unbestimmten Punkt oberhalb der Bettdecke starrten.
«Hi», sagte ich.
«Es tut mir leid.»
«Das muss es nicht.»
Es kam mir nicht unbedingt so vor, als wäre sie böse auf mich oder als wollte sie, dass ich verschwinde. Sie schien derzeit überhaupt nicht in der Lage zu sein, irgendetwas zu wollen, als ob ihre Emotionen sie so gnadenlos im Griff hätten, dass Denken oder Handeln unmöglich waren. Die Depression saugte ihr alle Energie ab; man konnte dabei fast zusehen.
Ich durchquerte den Raum, schob den schweren Vorhang zur Seite und schaute auf die glitzernden Schleifen des East River. Am Ufer des Flusses stand das Gebäude der UN, davor flatterten die Fahnen der Mitgliedsstaaten an den in Reih und Glied stehenden Masten. Es war eigentlich derselbe Ausblick wie der vom Wohnzimmer, aber von hier aus wirkte es fast wie eine andere Stadt.
«Was hältst du davon, wenn ich hier einziehe?» Dieser Einfall war ein genialer Geistesblitz. «Ich könnte mich um Susanna kümmern … kochen, die Wäsche machen und den ganzen Kram.»
«Du?» Sie musste ihre Skepsis nicht erst lange erklären. Bis zu Jacksons und Ceces Tod hatte meine Familie sich gern darüber lustig gemacht, dass ich keine besonders gute Hausfrau war. Aber weil ich meine Familie so sehr liebte und als Polizistin gesellschaftliche Verantwortung übernahm, fand es niemand schlimm, dass ich nicht sauber machte, bevor Besuch kam, oder ab und zu aus Spaß Kekse backte. Doch kaum war ich Witwe geworden, hörten die Neckereien auf – ein weiterer kleiner Tod. Daher war Andreas unverblümte Frage einfach erleichternd.
«Jon könnte etwas Hilfe gebrauchen», sagte ich.
«Lisette?» Papierrascheln; die Zeitschrift wurde zugeklappt. «Könntest du Karin und mich eine Minute allein lassen, bitte?»
«Natürlich.» Für eine schmale Frau hatte Lisette eine tiefe Stimme, die noch dazu sehr warm klang. Sie stand auf und verließ das Schlafzimmer.
«Ich ertrage das nicht mehr», zischte Andrea, sobald wir allein waren. «Hier eingesperrt zu sein, wer weiß, für wie lange. Darauf zu warten, dass er uns findet. Und gleichzeitig kämpft David ums Überleben. Was, wenn er es nicht schafft? Oder wenn er es schafft, aber Susanna nicht, weil –»
«Schhh.» Ich setzte mich aufs Bett und griff nach ihrer freien Hand. Überlegte, ob ihre andere, die, mit der sie David hielt, kalt war.
«Ich ertrage das nicht mehr», wiederholte sie. «Ich bin eine schlechte Mutter. Ich –»
«Schhh.»
Es kostete mich meine gesamte Selbstbeherrschung, Andrea nicht daran zu erinnern, dass sie immerhin zwei lebendige Kinder hatte. Ja, Susannas Leben war bedroht; aber sie war lebendig und wohlauf. Ja, Davids Leben hing am seidenen Faden; aber er war lebendig und wohlauf. Sie hatte zwei Kinder, die am Leben waren. Und einen Mann, der sie liebte und der noch lebte. Aber ich sagte nichts dergleichen. Es auszusprechen wäre herzlos, sogar grausam gewesen. Ich drückte Andreas Hand und versuchte, sie zu wärmen. Was ich ihr eigentlich erklären wollte, war, dass jeder von uns einen Grund und einen Weg finden musste, sich ans Leben zu klammern.
«Mir ging es so viel besser in letzter Zeit.» Ich hielt inne und überlegte, wie weit ich mich offenbaren sollte, bevor ich auf den Punkt kam. «Und dann, als Mac und ich neulich auf dem Weg zu dir ins Krankenhaus waren und über die Brooklyn Bridge gefahren sind, war ich selbst erstaunt, dass ich mir plötzlich vorstellte, da herunterzuspringen.»
Sie starrte mich an, offensichtlich schockiert über dieses Geständnis.
«Wie soll ich dir das erklären?» Ich rang nach Worten. «Damit du mich nicht missverstehst?»
«Versuch es.»
«Vielleicht liegt es an den Medikamenten», begann ich, und dann redete und redete ich.
Ich hatte online nach Prozac recherchiert und herausgefunden, dass die vierzig Milligramm, die ich bekam, schon eher hoch dosiert waren, wenn auch nicht übermäßig: Achtzig Milligramm waren die Höchstgrenze. Ich hatte ferner herausgefunden, dass es alle möglichen Reaktionen auf das Medikament gab, meine war ein wenig ungewöhnlich, aber keineswegs unbekannt. In letzter Zeit fühlte ich mich seltsam schneller und stärker, und manchmal empfand ich eine Art inneren Druck – eine ständige Unruhe. Während ich mitten auf der Brücke im Stau stand, weit oben über dem glitzernden East River, und zuhörte, wie Autos mit sinnlosem Hupen gegen den Stillstand rebellierten, musste ich plötzlich daran denken, was man als Kind so oft von seinen Eltern zu hören bekam: «Und wenn dir jemand sagt, du sollst von der Brücke springen, machst du das dann auch?» Die korrekte Antwort war natürlich Nein. Aber da saß ich nun und war auf unheilvolle Weise mit der Gelegenheit konfrontiert. Es wäre so furchtbar einfach gewesen. Sicherheitsgurt öffnen. Tür aufmachen. Über die äußere rechte Spur sprinten. Den Zaun hochklettern. Mich darüber werfen. Eine Sekunde lang stellte ich mir vor, wie ich an diesem wunderschönen Tag durch die Luft flog, die Brust herausgestreckt, die Arme ausgebreitet. Schwerelos nach unten segelte. Und dann eintauchte. Das Wasser würde eiskalt sein. Der Tod schnell eintreten. Eine reizvolle Phantasie. Und dann zog der Wagen vor uns an. Mac legte den Gang ein, und wir fuhren weiter. Ich schloss die Augen und fragte mich, woher dieser Impuls zu springen gekommen war. Seit die Medikamente wirkten, hatte ich keine Selbstmordgedanken mehr gehabt. Was mich erstaunte, war, wie viel Kraft ich auf einmal in mir spürte, im Gegensatz zu den Wochen und Monaten zuvor, als ich mich zu schwach gefühlt hatte, noch ein zweites Mal Hand an mich zu legen. Obwohl ich mich selbst nicht mehr für selbstmordgefährdet hielt, stellte ich fest, dass ich jetzt dazu eindeutig in der Lage gewesen wäre, diese Welt zu verlassen. Vielleicht war ich wirklich noch nicht außer Gefahr. Was JPP betraf ohnehin nicht. Aber auch was mich anging nicht. Während wir über den Highway rasten, begriff ich mit ganz neuer Klarheit, wie sehr ich mich in der Grauzone zwischen JPP und mir verirrt hatte … sodass ich die wahre Gefahr nicht mehr erkannte.
«Jedenfalls», sagte ich zu Andrea, «habe ich es dann nicht getan, wie du ja siehst. Später am selben Tag musste ich an etwas denken, was ich von Joyce habe: ‹Balance zu halten kann wie ein Tanz auf der Rasierklinge sein.›»
«Hast du ihr das alles auch erzählt?»
«Nein, das bringe ich nicht fertig. Ich habe Angst, sie könnte mir die Glückspillen wegnehmen. Ist das zu glauben? Dabei wollte ich sie erst gar nicht nehmen.»
Andrea lächelte ein bisschen. Doch dann musste sie plötzlich die Tränen zurückdrängen und flüsterte: «Ich weiß nicht, was ich machen soll.»
«Lass mich dir bitte, bitte helfen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schuldig ich mich fühle, weil ich euch alle in solche Gefahr gebracht habe.»
Sie schaute mich an, und wie ich spürte, begriff sie, dass ich ihr unausgesprochen einen Deal auf Gegenseitigkeit anbot. Wenn ich hier in ihr vorläufiges Zuhause einzog, würde sie damit auch mir helfen.
«Okay», sagte sie endlich, bevor sie die Augen schloss und unser Gespräch damit beendete.
Später, nachdem Susanna in ihrem Behelfsbettchen eingeschlafen war, und während Andrea, David und Lisette im hinteren Schlafzimmer weiter im Dunkeln hockten, saß ich mit Jon auf der Terrasse. Es war gerade kurz nach acht Uhr. Hinter uns ging die Sonne langsam unter und nahm das Tageslicht mit sich. Zurück blieb ein zartblauer Himmel, der immer dunkler wurde. Die Luft war angenehm, vielleicht ein wenig kühl. Wir tranken Weißwein … absolut verboten in Kombination mit Antidepressiva. Ich tat es trotzdem.
«Ich war im Netz, als du Susanna eben ins Bett gebracht hast.»
Er nickte und schaute über den Fluss hinüber nach New Jersey.
«Andrea hat eine Depression.»
«Ach, tatsächlich?» Er verzog sarkastisch einen Mundwinkel.
«Könnte eine postnatale Depression sein, obwohl ihr das nach Susanna nicht passiert ist. Bei manchen Frauen verschlimmert es sich dann zu einer postnatalen Psychose.»
«Offenbar lesen wir dieselben Webseiten.»
«Es gibt ein paar Antidepressiva, die man während der Stillzeit nehmen kann.»
«Sertralin, Paroxat und Fevarin.» Er nickte, einmal, entschieden. «Sie will nichts davon hören. Weigert sich, irgendwelche Chemie zu schlucken und Schluss; insbesondere im Moment, weil sie stillt.»
«Vielleicht ist langes Reden über mögliche Medikamente nicht der richtige Weg. Joyce brauchte Monate, bis sie mich davon überzeugt hatte, die Pillen zu nehmen; und ich war selbstmordgefährdet.»
Er schaute mich an. Weil ich war gesagt hatte. Überlegte, ob das auch der Wahrheit entsprach. Ich wich seinem Blick nicht aus, die Blicke aus unseren so ähnlichen blauen Augen trafen sich, während ich schweigend versuchte, meinen Bruder davon zu überzeugen, dass ich ihm jetzt nicht noch mehr Kummer bereiten würde.
«Sie kommt da durch», sagte ich.
Er zog die Stirn in Falten, einige davon waren tief und neu. Nippte am Wein. Schaute wieder in den Himmel, über den sich nun Nachtstreifen zogen. «Diese ganze Geschichte ist doch einfach unfassbar.» Er sank nach vorn und schlug die Hände vors Gesicht. Ich hatte Jon nicht mehr weinen sehen, seitdem wir Kinder waren. In der achten Klasse hatte ein Mädchen ihm mit Absicht ein kohlegeschwärztes Blatt Papier gegeben. Er war den ganzen Tag mit einem schmutzigen Gesicht herumgelaufen, ohne dass es ihm jemand sagte. Als er nach Hause kam und sich selbst im Spiegel sah, begriff er, warum seine Mitschüler ihn den ganzen Tag ausgelacht hatten. Heute als Erwachsene wusste ich, was seine jugendlichen Tränen bedeutet hatten: Es war seine erste Erfahrung mit dem Existentialismus gewesen; damals hatte er verstanden, dass er allein war auf dieser Welt. Aber zu jener Zeit, als er dreizehn gewesen war und ich elf und er mich nicht in sein Zimmer ließ, während er weinend auf dem Bett lag, da hatte ich sein Verhalten als Zurückweisung missverstanden.
«Dass Andrea sich im Moment verschließt», sagte ich, «darfst du nicht persönlich nehmen.»
«Das ist ziemlich schwierig.»
«Ich weiß. Trotzdem geht es dabei nicht um dich. Dahinter stecken nur die Hormone.»
«Nein, Karin, hier geht es nicht nur um Hormone.» Er schüttelte den Kopf und weigerte sich, mich anzusehen. Und ich wusste, dass er damit auf die letzten Dominosteine anspielte.
Ich trank mein Glas aus, schenkte uns beiden wieder ein.
Es war zwei Wochen her, dass wir das letzte Mal von JPP gehört hatten. Die SOKO hatte seinen Videoanruf bei mir bis zu einer Schule im abgelegenen kenianischen Dorf Murungurune zurückverfolgt. Die ansässigen Behörden hatten schnell in Erfahrung gebracht, dass keiner in der Gegend jemanden gesehen hatte, der Martin Price ähnelte. Als Fremder und Weißer wäre er in dem kleinen afrikanischen Ort sofort aufgefallen. Ferner war festgestellt worden, dass die Schule in Murungurune versäumt hatte, ihren Server vor Eindringlingen zu sichern. Das holte sie sofort nach, während sie zugleich einige unerschrockene Journalisten empfing, die der Welt mit dramatischer Geste vorführen wollten, wie viele Leben weltweit in den Bann eines Kriminellen geraten konnten. Die implizite Botschaft war, dass niemand sich in Sicherheit wiegen durfte. Ganz gleich, wo. Nicht einmal die friedliebenden Menschen in Murungurune. Die allerdings wirkten eher verblüfft, als sich angesichts ihrer flüchtigen Berührung mit einem manipulativen Serienmörder aus Amerika zu fürchten. Ich hatte sie in den Nachrichten gesehen, und sie hatten ganz offensichtlich keine Angst vor JPP. Ein zahnloser älterer Mann lachte sogar darüber, wie absurd es doch war, dass sein Dorf plötzlich global Schlagzeilen machte. Auf Nachfrage gab er an, dass er noch nicht in der Schule gewesen war, um sich den neuen Computer anzusehen, und er wisse auch nicht, was ein Netz sei, sofern es nicht von einer Spinne stamme.
JPP befand sich nicht in Murungurune. Auch nicht in Moskau, Jakarta oder South Bend in Indiana – oder an irgendeinem anderen der Orte, an denen er erfolgreich in Internetserver eingedrungen war, um zu verschleiern, woher sein Anruf über Skype gekommen war. Was weiterhin ein Geheimnis blieb. Und daher wusste trotz all der Aufregung noch immer niemand, wo er steckte.
«Hier kann er euch nichts tun», sagte ich zu Jon.
Die Nacht hatte den Himmel verdunkelt, und es wurde sofort kalt auf der Dachterrasse. Jon schaute mich an: In seinen geröteten Augen leuchteten hellweiße Funken. «Ich hoffe, damit behältst du recht.» Dann streckte er den Arm zu mir aus und nahm meine Hand in seine.
Am folgenden Nachmittag fuhr Mac mich nach Brooklyn, damit ich eine Tasche packen konnte – halb Freund, halb Bodyguard. Es war der erste wirklich warme Tag des Frühlings, wir hatten ungefähr 24 Grad und genossen den goldenen Sonnenschein, von dem man den gesamten Winter lang träumte. Viele Leute saßen draußen vor ihren Häusern. Es gab keine Hektik und kein Gehetze, nur allgemeine Beglückung, weil das Wetter so perfekt war.
Wir fanden einen Block von meiner Wohnung entfernt einen Parkplatz und blieben bei einem italienischen Eisverkäufer auf dem Bürgersteig stehen, direkt gegenüber einer Grundschule. Vor dem Eiswagen warteten Kinder ungeduldig in der Schlange darauf, dass sie an die Reihe kamen. Die Luft war angefüllt von ihrem Geplapper. Das jüngste sah aus wie vier, das älteste vielleicht wie elf. Cece war nicht alt genug geworden, um zur Schule zu gehen, aber ich sah sie hier überall, erkannte ihre überschwängliche Heiterkeit, ihre Unbekümmertheit im Gesicht jedes einzelnen dieser Kinder, während sie ihre bunten Eisbecher entgegennahmen, um damit zu Freunden, den Eltern oder ihren Kindermädchen zu laufen, bereit für ein neues Abenteuer.
«Zwei kleine, Zitrone», sagte Mac zu der Frau, die das Eis in zwei Pappbecher beförderte und ihm überreichte. Er zahlte und gab mir einen der beiden. Die gefrorene, leicht säuerliche Süße schmolz auf meiner Zunge dahin. Wir aßen unser Eis und gingen schweigend nebeneinander her, bis wir vor meinem Haus angekommen waren. Dort setzten wir uns auf die Stufen davor und ließen uns die letzten zitronigen Tropfen aus dem Becher in den Mund laufen.
«Ich könnte mir vorstellen, in so einer Gegend zu wohnen», stellte Mac fest. «Hätte nie gedacht, dass ich das mal über die City sagen würde.»
«Das hier ist ja nicht die City, jedenfalls nicht so wie Manhattan.»
«Kommt einem eher vor wie eine Kleinstadt.» Er stand auf. «Tut mir wirklich leid, aber ich muss zur Nachtschicht zurück in Jersey sein. Die Schicht ohne Ende könnte man es auch nennen.» Als er den Arm drehte, um auf die Uhr zu schauen, fiel mir ein weißer Streifen an einem seiner Finger auf.
«Wo ist denn dein Ehering?»
«Wir haben es versucht, aber es hat einfach nicht geklappt.»
«Das tut mir leid.»
«Ja, mir auch.»
Ich schloss das eiserne Tor auf, und sofort fiel mir der Stapel mit der Post von gestern auf, der von einem Gummiband zusammengehalten auf dem staubigen Boden vor meiner Wohnung lag. Daneben entdeckte ich einen Flyer. Er war so gefaltet, als hätte jemand ein Papierflugzeug daraus gebastelt, bevor er ihn durch den Briefkastenschlitz befördert hatte.
«Seltsam.» Ich nahm den Flyer und faltete ihn auf. Die Seite wimmelte von grellbunten Comic-Superhelden.
«Irgendein Kind, das dir einen Streich spielen wollte.»
«Ja, wahrscheinlich.» Der Flyer warb für eine Comic-Convention in Manhattan. «Comic-Con», las ich laut vor. «Im Javits Center am 12. Juli.»
«Das ist mein Geburtstag.»
Ich schaute Mac an. «Das wusste ich gar nicht.»
«Na ja, jetzt weißt du’s.»
Ich musste daran denken, dass er ihn dieses Jahr allein verbringen würde, weil Val und er sich ja nun scheinbar endgültig getrennt hatten.
«Ich lade dich ein», erbot ich mich. «Lunch oder Dinner? Kannst du dir aussuchen.»
«Ich überlege es mir.»
«Wie alt wirst du?»
Er zwinkerte und schwieg dazu. Anfang vierzig vermutete ich. Seine Haut war zwar wettergegerbt, aber Altersfalten hatte er nicht, und sein Haar war nur mit leichtem Grau durchzogen.
Als ich den Flyer auf den Stapel mit der Post legte, damit ich mit der freien Hand die Wohnungstür aufschließen konnte, bemerkte ich, dass jemand das Datum der Convention mit schwarzem Filzstift eingekreist hatte.
«Das ist seltsam.» Ich zeigte es Mac.
Er starrte darauf und zuckte die Schultern. «Na und?»
Ich schaute mir den schwarzen Kreis genau an: Anfang und Ende schlossen perfekt aneinander an, sodass es eine klare durchgezogene Linie ergab. «Ob den hier jemand absichtlich liegenlassen hat?»
«Bestimmt sogar, die Leute nämlich, die die Convention organisieren – die wollen dein Geld.»
«Nein, Mac, im Ernst. Denk doch mal kurz darüber nach.»
Ich schloss die Tür auf, und wir betraten meine Wohnung, in der es wie immer kühler war als draußen. Ich legte die Post auf dem kleinen Tisch unter dem Spiegel im Flur ab und nahm den Flyer noch einmal zur Hand. Mac ging direkt durch in die Küche, und ich hörte, wie er einen der Hängeschränke öffnete und wie dann Wasser aus dem Hahn der Spüle lief. Als ich hereinkam, stand er vor dem Fenster zum Garten und trank durstig.
«Ich glaube, er hat das hier hingelegt.»
«Karin …» Macs Tonfall, den ich inzwischen so gut kannte: geduldig, voller Bedauern.
«Den sticht der Hafer. Wir sind ihm wieder zu langsam. Er will, dass wir bei seinem Spiel mitmachen.»
«Aber sein Spiel ist Domino. Mit Comics hat er nichts am Hut. Das passt nicht zu seinem Muster, wie du wohl weißt.»
Ich studierte den Flyer erneut. Vielleicht hatte Mac recht, und hier ging es wirklich nur um Comics und alles, was damit zusammenhing. Nicht um Spiele. Nicht um Dominosteine. Und JPP war noch nie von seinem Lieblingsmotiv abgewichen. Wenn Serienmörder ihren charakteristischen Fingerabdruck änderten, variierten sie ihr Grundthema nur leicht und wichen selten drastisch davon ab.
«Das hier ist völlig anders als die Hinweise, die er sonst gibt», sagte ich. «Das stimmt. Aber trotzdem habe ich ein komisches Gefühl.»
«Das ist nur ein Stück Papier. Vielleicht hat der Wind es durch das Tor geweht. Ich würde da nicht zu viel hineinlesen.»
Wahrscheinlich hatte er recht. Meine Gefühle fuhren mit mir in letzter Zeit Achterbahn und waren völlig unzuverlässig. Das war der andere Grund, aus dem ich heute meine Tasche packte.
In einen mittelgroßen Koffer stopfte ich Kleidungsstücke, Bücher und Kosmetikartikel und erinnerte mich daran, das Fläschchen mit dem Prozac aus dem Bad zu holen … und eine Tablette davon für heute zu nehmen. Das hatte ich bisher versäumt, weil ich die letzte Nacht im Penthouse verbracht hatte. Fast augenblicklich fühlte ich mich besser, erleichtert, als ob meine Gedanken sich aufhellen und meine Sorgen von mir abfallen würden.
«Kommt mir vor wie Urlaubsvorbereitungen», sagte ich und schloss die Tür hinter uns ab.
«Auf eine Art machst du ja auch Urlaub, allerdings erwartet dich kein Strand.»
Mac trug den Koffer zum Auto. Über den FDR Drive kamen wir schnell ins Stadtzentrum zurück, wo meine Familie auf mich wartete. Mac hielt vor dem Gebäude und erklärte mir vor dem Abschied noch, an welche Regeln ich mich in der sicheren Wohnung zu halten hatte.
«Du darfst nicht raus.»
«Weiß ich.»
«Falls du irgendwohin willst, ruf mich oder Billy Staples an.»
«Verstanden.»
«Es ist mein Ernst, Karin. Die Wachen haben entsprechende Anweisungen.» Er machte ein so ernstes Gesicht, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. Natürlich lag mir die Sicherheit meiner Familie mindestens so sehr am Herzen wie ihm. Aber er kannte mich eben.
«Mac», ich küsste ihn auf die Wange, «mach dir keine Sorgen.»
Ich fand schnell heraus, wie das Leben in diesem Hochsicherheitstrakt ablief. Alles, was wir brauchten, wurde bestellt und geliefert. Lebensmittel. Kosmetik. Kleidung. Wir verließen den Unterschlupf nie, und nach ein paar Tagen ununterbrochenen Aufenthalts darin fühlte er sich eher wie ein Raumschiff an. Es dauerte nicht lange, bis mir klar wurde, wie angespannt Jon, Andrea und Susanna sich die ganze Zeit schon fühlen mussten – während sie darauf warteten, dass David wuchs und JPP irgendwann zuschlug. Oder weshalb Susanna Wutanfälle bekam und Andrea immer wieder im Treibsand ihrer Depression versank. Auf mein Drängen wurde sie dreimal die Woche aus dem Gebäude eskortiert und zu Joyce’ Praxis gefahren. Allein aus der Wohnung herauszukommen, war wahrscheinlich ebenso hilfreich wie die Therapie selbst. Ich hatte inzwischen nur noch ein Mal die Woche Therapie. Manchmal war ich etwas neidisch, wenn Andrea die Wohnung verließ. Aber ich war entschlossen, hier zu bleiben, bis ich nicht mehr gebraucht wurde, und wann das sein würde, war nicht abzusehen.
Ich sagte Joyce, dass es mir gutging. Ich kam klar. Die Medikamente wirkten wahre Wunder. Und ich fühlte mich auch viel besser, weil ich jetzt eine sinnvolle Aufgabe hatte. Wovon ich ihr nichts erzählte, war die brennende Unruhe in mir. Ich hatte das Gefühl, dass ich irgendwann unweigerlich dagegen rebellieren würde, hier weiter eingesperrt zu sein. Äußerlich schien es mir zu helfen, mich mit Hausarbeit von meiner Trauer und meinem Zorn abzulenken – es war wie eine Therapie für mich, und Jon und seine Familie brauchten weiß Gott jemanden, der zuhörte und mit anpackte –, aber die in mir brodelnden Emotionen waren keineswegs abgekühlt, sondern schliefen höchstens vorübergehend.
Ich kochte. Ich putzte. Ich spielte mit Susanna. Redete stundenlang mit Jon und noch länger mit Andrea. Sie verbrachte jeden Tag mehr Zeit im sonnigen Wohnzimmer, zog sich nun morgens sogar an und öffnete die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer. Meine Eltern besuchten uns ein paar Mal die Woche, und Mama brachte uns immer eine Tasche mit Puzzles oder Bastelutensilien mit. Zusammen falteten wir aus dem bunten Papier eines Origami-Sets Vögel und Schmetterlinge … so viele, dass wir daraus ein großes Mobile machten und es im Wohnzimmer an die Decke hängten. Auf unterschiedliche Arten vertrieben wir uns die Zeit und leisteten einander Gesellschaft. Dennoch konnte die Langeweile extrem werden; wir waren der lebende Beweis dafür, dass es alles andere als erholsam war, den ganzen Tag zu Hause bleiben zu müssen und auf unbestimmte Zeit nichts zu tun. Es geschah einfach gar nichts hier. Stattdessen hingen wir in der Luft, warteten ab, für den Fall, dass vielleicht doch noch etwas passieren könnte. Seltsamerweise war es ja eigentlich unser Ziel, genau das zu verhindern.
Also wurde es zu einem Riesenereignis, als David, nachdem ich ungefähr zwei Wochen im Penthouse wohnte, zum ersten Mal lächelte. Wir feierten das mit einer Flasche Champagner, die Mac mitbrachte, als er davon hörte – er war ohnehin auf dem Weg in die Stadt gewesen, obwohl er nicht erwähnte, weshalb. Er ließ den Korken knallen und goss den schäumenden Champagner in die Weingläser, die Lisette, Jon und ich ihm hinhielten. Andrea und Susanna stießen mit Apfelsaft an. Wir tranken und unterhielten uns darüber, was für Fortschritte David machte, und malten uns aus, wie er wohl sein würde, wenn er erst einmal ein richtiger Junge sein würde. Als würde er all die Aufmerksamkeit genießen, lächelte David noch einmal. Und noch einmal. Das Lächeln erblühte auf seinem kleinen Gesicht wie eine sich im Zeitraffer öffnende Blume. Die blaugrauen Augen begannen zu leuchten, was jedes Mal zu glücklichen Begeisterungsstürmen führte.
Am Nachmittag hielt David ein Schläfchen, Andrea las Susanna im Schlafzimmer vor, und Jon telefonierte wieder einmal mit irgendjemandem wegen eines Filmprojekts, das anzunehmen er sich nicht in der Lage sah. Ich beugte mich zu Mac und flüsterte: «Bring mich hier raus.»
Er lächelte verschwörerisch.
Ich bedeutete Jon durch Gesten, dass ich bald zurück sein würde, und Mac begleitete mich nach draußen.
Seit ich in das Penthouse gezogen war, hatte ich manchmal auf dem Balkon gesessen und einfach nur auf die Stadt gestarrt, die in dieser Höhe vor allem aus Dächern zu bestehen schien. Oder in den Himmel, hatte beobachtet, wie die Wolken ihre Form änderten, während sie vorbeizogen. Manchmal stellte ich mich auch ans Geländer und schaute hinunter auf den weit entfernten Bürgersteig; die Menschen sahen von hier oben aus wie Ameisen und die Autos, als wären sie Spielzeug. Es hatte mich überrascht, wie schnell ich mich eingesperrt fühlte. Das lag einerseits daran, dass ich in diesem Hochhaus festsaß. Andererseits war der Effekt aber auch rein psychisch, weil ich natürlich wusste, dass wir uns zu unserer eigenen Sicherheit nicht wegbewegen durften. Und dann spielte auch das Prozac dabei eine Rolle. Ich hatte dadurch so viel neue Energie und sehnte mich nach mehr Bewegung und Freiraum, als mir mein momentanes Leben gestattete.
Joyce und ich hatten kürzlich darüber gesprochen, was Glück bedeutete; dass man Glück ganz spontan bei gewissen Erfahrungen empfand, dass es nichts mit materiellen Dingen zu tun hatte; und dass man es weder planen noch kontrollieren konnte; und dass man Glück oder Zufriedenheit, wie ich kürzlich herausgefunden hatte, auch daraus schöpfen konnte, anderen auf ganz einfache Art behilflich zu sein.
In einer Sitzung bat sich mich, ihre nächste Frage spontan zu beantworten, ohne darüber nachzudenken: «Was würde dich jetzt glücklich machen?»
«Ein langer Spaziergang, ganz allein. Nicht, dass es mir etwas ausmacht, mit Jon und seiner Familie zusammenzuwohnen. Das tut es nicht. Es ist nur …»
Joyce hatte gelächelt. «Ich verstehe schon.» Sie nickte wie ein Lehrer, dessen Unterricht endlich Wirkung zeigte.
Mit Mac hinauszugehen war nicht ganz dasselbe, wie allein zu sein und einfach nur vor mich hinzulaufen. Schließlich hatte er eine Waffe dabei und spielte meinen Bodyguard. Trotzdem. Es war angenehm. Kaum traten wir an diesem sonnigen Nachmittag auf die Second Avenue hinaus, fühlte ich mich befreit.
Den Verkehr an mir vorbeirauschen zu hören, das grelle Hupen an einer verstopften Kreuzung, das unablässige Absatzklappern vorbeieilender Geschäftsfrauen, das Aufprallen eines Basketballs, den ein Teenager neben sich her dribbelte.
Den süßlichen Duft von Parfüm aufzuschnappen, den Fleischgeruch der Hot Dogs, die beißenden Abgase, wenn ein Taxi neben uns an der roten Ampel stand.
«Wollen wir eine Kaffeepause machen?», fragte Mac, nachdem wir zwanzig Minuten nur herumspaziert und so bis zur Ecke 23. Straße und Park Avenue South gekommen waren.
«Gern.»
In einer Seitenstraße einen halben Block weiter gab es ein Café. Wir setzten uns an einen der Tische draußen, bestellten Cappuccinos und einen Apfelmuffin, den wir uns teilten. Der leichte Schwips vom Champagner war bei mir durch den Spaziergang verflogen, jetzt fühlte ich mich entspannt und ein wenig müde.
«Okay», sagte Mac und rührte den weißen Schaum auf seinem Cappuccino in den Kaffee, bis er sich ganz damit vermischt hatte. «Bestimmt interessiert dich, was Billy Staples und ich in letzter Zeit so getrieben haben, während Alan und die anderen Jungs vorm Computer saßen.» Er grinste in seinen Kaffee. Ich hatte nur ein Glas Champagner getrunken, er dagegen zwei, und vielleicht hatte er trotz des Spaziergangs noch keinen klaren Kopf.
«Was denn?»
Verschwörerisch hob er die Augenbrauen und schwieg einen Moment, als müsste er sich noch überlegen, ob er es mir wirklich erzählen sollte. «Wir haben gesucht», sagte er dann.
Ich musste gar nicht erst fragen, nach wem.
«Wo?»
«Da draußen, nicht mehr nur im Netz. Weißt du, wir haben auf eigene Faust beschlossen, einfach loszulegen.»
Mac hatte mir gegenüber seit Wochen kein Wort verlauten lassen; dem Mann musste ich öfter einmal Champagner einflößen. Seitdem ich der Meinung gewesen war, dass der Flyer für die Comic-Con von JPP gewesen war, hatte Mac es vermieden, irgendetwas mit mir zu besprechen, das meiner Intuition – oder meiner Paranoia, wie immer man es sehen wollte – neue Nahrung hätte geben können. Meiner Überempfindlichkeit. Also versuchte ich mich zu beruhigen und übte mich stattdessen in der nicht ganz leichten Aufgabe, nur von einem Tag zum anderen zu leben.
«Erzähl», bohrte ich weiter.
«Turniere. Für alle möglichen Spiele. Karten – Blackjack, Poker und auch die neueren: Yu-Gi-Oh, Pokemon, so was. Tischtennis. Schach. Alles Mögliche.» Er nippte am Kaffee, um zu sehen, wie heiß der noch war, und nahm dann einen Schluck.
«Also sucht ihr nicht mehr nur in Richtung Domino.» Ein kleiner Triumph nach unserer letzten Unterhaltung zu dem Thema.
«Stimmt. Allerdings lassen wir die ganzen Sportgeschichten aus. Ich glaube nicht, dass er damit viel am Hut hat, was meinst du? Wir konzentrieren uns nur auf Spiele. Da gehen Massen an Menschen hin, und die sind nicht einfach nur Fans, die sind …»
«Fanatiker.»
Er lachte leise. «Ja, das trifft es genau. Echte Fanatiker, die meisten von denen. Wie Price, nur eben ohne den Killerinstinkt.»
Obwohl er es in lockerem Ton gesagt hatte, zuckte ich zusammen. Ich nahm ein, zwei Schlucke Kaffee, um meine Gefühle herunterzuspülen. Dann brach ich ein Stück vom Muffin ab. Zu süß. Ich lehnte mich zurück und sah Mac an.
«Würde er dich nicht wiedererkennen?», fragte ich. «Und verschwinden, bevor du ihn siehst?»
Genau wie ich war auch Mac jedes Mal in den Zeitungen gewesen, wenn dort über JPP berichtet wurde. Falls Price so war wie die meisten anderen Serienmörder, hatte er jeden Artikel für sein Erinnerungsalbum ausgeschnitten. Wahrscheinlich hatte er sich Macs Gesicht neben meinem auf den Fotos genau eingeprägt.
«Falls er wirklich da wäre, vielleicht. Wahrscheinlich sogar. Aber wir dachten uns, es kann ja nichts schaden, obwohl wir uns keine großen Hoffnungen gemacht haben. Uns ist natürlich klar, wie gefährlich es im Moment für Price wäre, irgendwo in der Öffentlichkeit aufzutauchen, aber Billy und ich waren eben beide –»
«Ungeduldig», unterbrach ich ihn. «Frustriert. Ruhelos.»
Er starrte mich an. Ihm war klar, dass ich von meinen eigenen Gefühlen sprach.
«Bei wie vielen Turnieren wart ihr bis jetzt?» Ich hatte nun beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und lehnte mich erwartungsvoll nach vorn.
Plötzlich wirkte er wieder deutlich distanziert und schien auf einen Schlag nüchtern geworden zu sein.
«Nein», sagte er, weil er wohl meine Gedanken erraten hatte.
«Ich könnte euch helfen.»
«Karin …»
«Wenn Price mich bemerkt, kann er vielleicht nicht widerstehen. Möglicherweise kann ich ihn aus der Deckung locken.»
Mac bedeutete der Kellnerin, sie möge ihm die Rechnung bringen. Sie kam schnell an unseren Tisch, er zückte sein Portemonnaie und ließ mich nicht zahlen.
«Am besten bringen wir dich zurück in die Wohnung.»
«Ihr geht doch heute Abend zu so einem Turnier, oder?»
«Hör auf.»
«Deshalb hattest du heute auch Zeit, um uns zu besuchen. Deshalb musstest du nämlich sowieso in die Stadt.»
Er stand auf. «Deine Familie braucht dich.» Es klang herzlich, aber gereizt.
«Brauchte. Andrea ist wieder aufgestanden. David geht es schon so viel besser. Alle können wieder schlafen. Wozu lebe ich eigentlich, wenn ich nicht da helfen darf, wo ich im Moment wirklich gebraucht werde? Ich habe Jackson und Cece an diesen Scheißkerl verloren. Mir ist nichts geblieben.»
«Deine Eltern», korrigierte er mich. «Jon, Andrea, David, Susanna.»
«Ganz genau. Susanna. Nur wenn wir hier weiter herumsitzen und warten, bis er Mittel und Wege gefunden hat, um an sie heranzukommen –»
«Du kannst nicht mitkommen, Karin.»
«Ich habe ihn schon einmal aufgespürt.»
Wir waren wieder auf dem Rückweg Richtung Wohnung. Als Mac an einer roten Ampel stehen blieb, hakte er mich fest unter. Er schüttelte den Kopf. «Das wäre zu gefährlich. Muss ich dich außerdem wirklich daran erinnern, dass du nicht mehr bei der Polizei bist?»
«Sag mir nur eins. Habt ihr vor, die Comic-Convention zu überwachen? Wenn ihr euer Netz ohnehin weiterspannt, warum dann nicht auch –»
«An meinem Geburtstag? Machst du Witze?»
Ich wusste, wie stur Mac sein konnte, also ließ ich ihn in Ruhe. Er lieferte mich im 23. Stock ab, wo ich mich schon wieder wie eine Gefangene fühlte, bevor ich das Penthouse überhaupt betreten hatte. Am liebsten hätte ich noch einmal mit der Comic-Convention angefangen. Wieso sollte man es da nicht versuchen? Im schlimmsten Fall war es Zeitverschwendung – aber wir verabschiedeten uns, als ob die Angelegenheit sich erledigt hätte. Mac gab mir einen zarten Kuss auf die Wange und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl.
«Warte! Dein Geburtstag ist am Donnerstag. Du hast mir noch nicht gesagt, ob du lieber zum Lunch oder zum Dinner gehen möchtest.»
Er lächelte. «Okay, dann also zum Lunch.»
Die Türen des Fahrstuhls, der die ganze Zeit im 23. Stock stehen geblieben war, gingen mit einem Ping auf, sobald Mac auf die Taste gedrückt hatte.
Als ich in den Flur kam, fiel mir als Erstes der köstliche Geruch aus der Küche auf. Dort fand ich Jon und Andrea, die gerade Lachs mit Polentakruste und Salat machten. Im Ofen röstete ein Baguette. Susanna saß auf dem Boden und malte etwas aus, David schlief, und Lisette löste in einer Ecke des Wohnzimmers ein Kreuzworträtsel. Angesichts dieses Familienidylls wurde mir klar, dass ich hier zwar willkommen war, aber nicht mehr gebraucht wurde.
«War’s schön?», fragte Andrea. Ihre Wangen waren von der Hitze in der Küche gerötet.
«Ja, war angenehm, mal rauszukommen.»
«Kann ich mir bestens vorstellen.» Jon klatschte in die Hände, und der Maisschrot daran fiel wie eine Staubwolke ab. Andrea lachte.
«Ich lege mich vor dem Abendessen noch ein paar Minuten hin.»
Damit ging ich ins Gästezimmer, wo mein Koffer aufgeklappt auf einem Stuhl stand. Kleidungsstücke hingen heraus. Ich setzte mich aufs Bett und lehnte mich gegen die Wand, mit dem Laptop zwischen meinen Knien. In die Suchmaske tippte ich ComicsCon New York ein. Dann las ich die Website der Convention … mir brach der Schweiß aus … mein Herz begann heftig zu klopfen.
Beherrsch dich, ermahnte ich mich, unternimm ja nichts, wahrscheinlich hat Mac recht. Vielleicht war es wirklich am besten, wenn ich mich ruhig verhielt. Bei meiner Familie blieb. Den Profis die Sache überließ. Und JPP – dieses Monster.
Aber wie sollte ich hier ruhig herumsitzen und mich pflichtbewusst um meine vom Schicksal gezeichnete Familie kümmern wie eine viktorianische alte Jungfer, wenn der Mann, wegen dem wir in diesem Wolkenkratzer-Mausoleum festsaßen, irgendwo da draußen war? Wie sollten wir da einfach entspannt abwarten, bis JPP wieder die Messer wetzte? Oder gar unser ganzes Leben lang in Angst davor verbringen?