KAPITEL 7

Es war das erste Mal, dass ich meine Wohnung wieder betrat, nachdem JPP an jenem Abend versucht hatte mich umzubringen. In meiner Abwesenheit war sie sauber gemacht und aufgeräumt worden. Der einzige Unterschied zu vorher waren die kleinen runden Kameras in jedem Raum, die mich nun Tag und Nacht beobachteten. Vor der Haustür parkte ein Van mit einem Überwachungsteam.

Mac legte meinen Koffer auf das Fußende meines Bettes, die Kulturtasche auf die Ablage des Badezimmerwaschbeckens und den Laptop auf den Küchentisch. Er hatte darauf bestanden, mich persönlich zurück nach Brooklyn zu bringen.

«Wie wäre es mit einem frühen Abendessen, bevor ich zurückfahre?», fragte er. «Geh doch mit mir in eins der fabelhaften Restaurants hier in der Gegend, von denen ich immer wieder höre.»

Er sprach von der Smith Street, eine Straße in der Nachbarschaft, in der sich ein Restaurant ans andere reihte. Während der fünf Monate, in denen ich nun in Brooklyn wohnte, war ich noch in keinem davon gewesen. Ich hatte kein Privatleben und vermisste es auch nicht. Weil ich aber nichts Essbares zu Hause hatte und auch keine Lust, gleich einkaufen zu gehen, war das eigentlich ein guter Vorschlag.

Sonntags um siebzehn Uhr dreißig war es nicht schwer irgendwo einen Tisch zu bekommen. Es war der Ausklang eines warmen Mainachmittags, und so entschieden wir uns für einen Tisch draußen vor einem französischen Bistro, Ecke Dean Street. Mac bestellte uns eine Flasche Wein, die an den Tisch gebracht wurde, während wir die Speisekarte studierten. Als eingeschenkt war, hob er sein Glas. «Auf dich.»

Wir stießen an. Ich nahm einen kleinen Schluck und stellte das Glas ab, war einerseits froh, mit Mac hier zu sitzen, und gleichzeitig fühlte es sich ungeheuer seltsam an. Ich wusste in den meisten Situationen einfach nicht mehr, wer ich war. Karin, half ich meinem Gedächtnis auf die Sprünge, ein Restaurant, Essen. Wir unterhielten uns entspannt und sparten schwierige Themen aus, während wir unsere Forelle Almandine und grüne Bohnen aßen. Irgendwann zündete eine Frau am Nebentisch sich eine Zigarette an, und der Wind trug den Rauch zu uns herüber. Mac wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, um ihn zu vertreiben.

«Val raucht nicht mehr.»

«Na endlich.» Sie hatte jahrelang weitergeraucht, trotz Macs Bitte, gemeinsam mit ihm aufzuhören.

«Wir waren gestern zusammen essen», sagte er, «und haben uns ein bisschen unterhalten.»

«Und?»

«Wir überlegen, ob wir es noch einmal miteinander versuchen wollen.»

«Aber das ist ja großartig!»

«Na ja, wir denken nur darüber nach. Wir lassen uns Zeit.»

Sie waren achtzehn Jahre verheiratet gewesen und hatten keine Kinder. Ich war so kurz nach meiner Heirat mit Cece schwanger geworden, dass ich mir eine Ehe ohne Kinder gar nicht vorstellen konnte. Mac und Val hatten immer wie ein glückliches Paar gewirkt, aber das jahrelange Zusammenleben musste wohl doch zu größeren Spannungen geführt haben, als es den Anschein gehabt hatte.

Wir aßen auf, tranken den Wein aus, lehnten ein Dessert ab und teilten uns die Rechnung. Der Nachmittag war inzwischen in einen lauen Frühlingsabend übergegangen, und wir spazierten langsam zu meiner Wohnung zurück.

Als wir am Haus angekommen waren, begleitete Mac mich bis vor die Wohnungstür und wünschte mir eine gute Nacht. Aber er machte danach keine Anstalten zu gehen.

«Nein, ich kriege es nicht hin», sagte er.

«Mac …»

«Lass mich bitte auf deiner Couch schlafen.»

«Warum?»

«Nur die eine Nacht, damit ich mich davon überzeugen kann, dass mit dir alles okay ist.»

Hatte er mich etwa deshalb nach Hause begleitet? Nicht nur, um mich vor JPP zu beschützen, sondern auch vor mir selbst? Natürlich. Und vielleicht hatte er ganz recht: Vielleicht gab es wirklich gute Gründe, sich Sorgen um mich zu machen. Ganz gleich, was ich versuchte, ich konnte die tiefe Traurigkeit nicht abschütteln, die seit Monaten ihre Klauen in mich geschlagen hatte. Ich litt noch immer darunter. Es wurde nicht besser. Und noch immer wollte ich diesen Schmerz einfach nur loswerden, ganz egal, wie.

«Mir passiert schon nichts», sagte ich zu Mac.

«Karin, bitte.»

Also suchte ich die Gästedecke, ein Kopfkissen und frische Bettwäsche heraus.

Dann kochte ich eine Kanne koffeinfreien Kaffee, und wir blieben lange wach und spielten Scrabble. Seltsamerweise fühlte es sich vollkommen normal an, in meiner Küche zu sitzen. JPPs Anwesenheit war für mich nicht mehr zu spüren. Meine verschwommenen Erinnerungen daran kamen mir langsam vor wie ein Traum.

«Vielleicht ist er ja wirklich tot», sagte ich.

Mac sah von den Buchstaben auf dem Spielbrett auf. «Vielleicht. Aber darauf verlassen würde ich mich nicht.»

«Stimmt, es wäre zu einfach. Aber …» Ja, was aber? Hier war doch der Wunsch Vater des Gedankens!

Ohne sich darum zu kümmern, dass er am Zug war, schaute Mac mich lange an. «Es ist nicht grad das, was man erwartet, oder? Du kommst zurück nach Hause, und da ist …»

«Nichts.» Rein gar nichts. Die Wohnung war sauber, und es existierten keinerlei Anzeichen mehr dafür, dass dieser Teufel hier gewesen war.

«Was dachtest du bei deiner Rückkehr denn hier vorzufinden?»

Ich überlegte. «Etwas, das mich daran erinnert.»

Er schaute mich an, hörte mir zu.

«Etwas ganz Klares. Wie wenn man ein beschlagenes Glas abwischt. Damit ich mich ganz genau in allen Einzelheiten daran erinnern kann, was passiert ist. Um es zu verstehen und davon ableiten zu können, was als Nächstes kommt. Falls denn etwas kommt. Damit ich mich das nicht mehr dauernd fragen muss.»

«Ja, das wäre schon praktisch, was?» Er beugte sich vor und inspizierte seine Spielsteine, nahm sich ein D und legte es an Zittern an. «Davon träumt doch jeder Detective: Man kommt nach einem beschissenen Tag nach Hause, und alle Informationen, die man bräuchte, warten da schon auf einen.»

Was hatte ich denn erwartet, wenn ich in meine Wohnung zurückkommen würde? Obwohl ich nicht bewusst darüber nachgedacht hatte, musste ich tief im Innern auf etwas Bestimmtes gehofft haben.

Während wir schweigend weiterspielten, fing ich an zu grübeln. Was wollte ich jetzt eigentlich? Dass JPP herkam und meinen Schmerz endgültig beendete? Oder wünschte ich mir, dass er tot war? Das wäre natürlich das Beste gewesen: JPP Vergangenheit, ausgelöscht, weg. Aber wie standen die Chancen dafür? Und wieso kam mir überhaupt der Gedanke, dass ich das vielleicht nicht wollte?

Später, als ich die halbe Nacht im Bett wach lag, begriff ich es. Weil ich immer noch sterben wollte. Und ich fürchtete, dass mir der Mut fehlte, mich selbst umzubringen. Ich brauchte ihn, um das für mich zu erledigen. Ein Teil von mir wünschte sich, dass er zurückkam und es noch einmal versuchte. Der andere Teil, der Teil, der ihn ins Jenseits wünschte, wollte auch die Zeit zurückdrehen und ihn auslöschen, bevor er meinen Mann und mein Kind auslöschen könnte … und das war schlicht unmöglich.

Falls er jetzt tot war, war er mir nicht tot genug.

Bevor ich endlich einschlief, dachte ich an Joyce und unsere nächste Sitzung am frühen Morgen. Sie würde ihre helle Freude an mir haben – bei der Vorstellung musste ich etwas lächeln, was die anderen Gedanken vorübergehend aus meinem Kopf vertrieb und mir einen erlösenden Weg aus der ständigen Grübelei eröffnete. Mir ermöglichte, dem Bewusstsein zu entfliehen. Und in einen kurzen, unruhigen Schlaf zu fallen.

 

«Und dann bin ich im Dunkeln den Hügel ganz hinaufgestiegen. Es war eine Dunkelheit, durch die man hindurchsehen konnte. Silbrig irgendwie. Plötzlich ging es schlingernd auf und ab, und der Hügel hat sich in so eine Art Achterbahn verwandelt, würde ich sagen. So fühlte sich das für mich an, immer hoch, runter, im Kreis, zu schnell, aufregend, bedrohlich, aber eigentlich war es keine richtige Achterbahn. Und dann saß ich im Schneidersitz am Kopf einer langen Treppe, und unten hat sich die Eingangstür geöffnet, ich war wohl in einem Haus. Und dann bist du hereingekommen. Ich habe oben auf der Treppe auf dich gewartet, und du kamst so schnell auf mich zugeflogen, dass die Zeit zu schmelzen schien. Du hast gut gerochen. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnere. An deinen Geruch, es war ein Parfüm und doch kein Parfüm. Einfach nur du.»

Jacksons Worte verfolgten mich; er hatte mir kurz vor unserer Verlobung von dem Traum erzählt. Ich wusste sofort, was er bedeutete. Dass wir zusammengehörten. Glücklich waren. Angekommen bei einander. Der Beginn unseres gemeinsamen Lebens. Ab dem Moment war mir klar, dass wir zusammenbleiben würden. Oberflächlich betrachtet war es ein wirrer Traum, und trotzdem war seine Bedeutung ganz eindeutig. Und er hatte ihn mir anvertraut, was mir genauso viel bedeutete wie die Rolle, die ich darin spielte.

Ich erwachte am Morgen vor meiner Sitzung mit Joyce und hatte wieder Jacksons Traum geträumt. Hatte kurz vergessen, dass es Jackson nicht mehr gab. In diesem wunderbaren kurzen Moment erwartete ich, ihn neben mir in unserem Bett zu erblicken, sobald ich die Augen öffnete. Doch dann folgte das schreckliche Erwachen, und alles fiel mir wieder ein.

Und jetzt, während ich auf Joyce’ Couch saß, erzählte ich ihr schon wieder von dem Traum, zum dritten oder vierten Mal, seit ich bei ihr in Therapie war. Sie hatte gesagt, dass ich ihn immer wieder erzählen könnte; dass ich es jedes Mal tun sollte, wenn ich ihn geträumt hatte. Sie meinte, dass der Traum mit der Zeit seine Kraft verlieren und schließlich verschwinden würde. Aber er verlor seine Kraft nicht, und ich konnte nicht aufhören zu weinen.

Sie saß mir gegenüber, zurückgelehnt auf ihrem braunen Ledersessel, die Hände im Schoß gefaltet. Lauschte erneut der Erzählung des nachgeträumten Traums eines Toten. Sah zu, wie ich weinte. Ließ mich weinen, ohne dass es ihr unangenehm gewesen wäre. Auf dem Couchtisch zwischen uns lag eine Packung mit Taschentüchern, aus der ich mich großzügig bediente.

«Alle tun ihr Bestes, um mich wieder glücklich zu machen. Und ich will auch dankbar sein, aber in Wahrheit fühle ich gar nichts, und mir wäre es am liebsten, wenn sie mich allein lassen würden.»

«Allein», wiederholte Joyce, «damit du …?»

Ich holte Luft. Schüttelte den Kopf und wendete den Blick ab. «Damit ich allein sein kann.»

«Wie, allein?»

«Allein mit mir. Damit ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen kann, ganz ohne schlechtes Gewissen.»

«Und?»

Sie neigte den Kopf nach vorn und wartete. In China waren ihre schulterlangen braunen Haare nachgewachsen, was der graue Ansatz am Mittelscheitel erkennen ließ. Während sie mir Zeit gab zu antworten, nahm sie einen Schluck Kaffee aus einem roten Keramikbecher und stellte ihn dann auf einem kleinen Tisch rechts neben ihr ab. Darauf befand sich auch eine Ausgabe des Buchs, das sie mir geschenkt hatte. In der Mitte durchtrennte Post-its schauten an manchen Stellen zwischen den Seiten hervor. Auf dem Buch lag der mit Brillanten und Saphiren besetzte Ring, den sie während unserer Sitzungen immer abnahm. Ich hatte sie einmal danach gefragt, und sie hatte gelächelt und nur gesagt: «Das ist dir also aufgefallen», ohne direkt auf meine Frage einzugehen. Sie trug keinen Ehering, aber ich wusste, dass sie nicht allein in ihrer Wohnung lebte, weil ich hinter der geschlossenen Tür oft jemanden kommen und gehen gehört hatte.

Ich antwortete nicht. Brachte es nicht fertig. Sie wusste es ohnehin.

«Ich habe darüber nachgedacht», sagte sie, «was dir wohl den Impuls dazu gegeben hat, in deiner Wohnung zu bleiben, obwohl du wusstest, dass er wahrscheinlich dorthin kommt.»

Mir fiel auf, wie sie das formulierte. Sie sprach von einem Impuls, nicht von einer Entscheidung, sagte wahrscheinlich und nicht mit Sicherheit.

Ich zuckte die Schultern. Legte die Füße auf den Couchtisch, umschloss die gebeugten Knie mit den Händen, betrachtete meine trocken aussehende Haut.

«Manchmal, wenn ich zu Hause allein bin, trage ich noch immer meinen Ehering», sagte ich und starrte auf meine unberingten gespreizten Finger auf den Knien.

«Aber natürlich», sagte sie. «Ich würde das in deiner Situation auch tun. Trotzdem, Karin …»

«Nicht, Joyce, bitte. Erklär es mir nicht. Ich weiß schon, was das bedeutet.»

«Okay, und was bedeutet es?»

Das Hupen eines Autos. Lang und laut; ein genervter Fahrer draußen auf den Straßen der Stadt. Joyce wohnte und arbeitete in einer Wohnung im ersten Stock. Das einzige Fenster im Zimmer war geöffnet, um die frische Frühlingsluft hereinzulassen, aber gleichzeitig ließ es auch den ganzen Lärm herein. Während all der Zeit, die ich in den letzten Monaten auf dieser Couch verbracht hatte, hatte ich Kinder jammern und Pärchen streiten hören, hatte Verabredungen zum Abendessen und Unterhaltungen über das Wetter belauscht.

«Es bedeutet, dass ich nicht loslassen kann.»

«So denkst du darüber?» Joyce lächelte freundlich. «Dass du loslassen musst?»

So wie Joyce meine Worte betonte, erschienen sie mir jetzt kleingeistig.

«Vielleicht kannst du stattdessen lernen, mit deinen Gefühlen zu leben. Wenn du angestrengt versuchst sie loszulassen, so wie einen Ballon, dem du nachschaust, bis er am Himmel verschwunden ist, dann wirst du scheitern. Oder?»

«Ja.»

«Ich glaube nicht, dass irgendjemand erwartet, dass du deine Gefühle und Erinnerungen loslässt.»

«Das werde ich auch nie tun. Eigentlich meinte ich das auch nicht. Mir ging es darum, dass die Gefühle nicht aufhören.»

«Der Schmerz», korrigierte sie mich.

«Er ist immer da, und oft genug fühle ich mich, als würde ich darin ertrinken. Und ich will, dass er aufhört.»

«Es ist schwer zu ertragen.»

«Sehr schwer.»

«Als du beschlossen hast, an jenem Tag in deiner Wohnung zu bleiben, hast du also auch noch eine andere Entscheidung getroffen.»

Ich schaute sie an. Es war kein großes Geheimnis, was mich dazu gebracht hatte. Musste ich es da noch extra aussprechen?

«Karin?»

«Willst du das wirklich von mir hören?»

«Warum denn nicht?»

«Weil ich es eigentlich nicht sagen will.»

«Hast du es schon mal jemandem gesagt?»

«Es wissen doch ohnehin alle. Das war doch alles so offensichtlich.»

«Dann sag es.»

«Ich wollte, dass er mich tötet. Ich wollte sterben.» Ich hielt inne. Atmete ein und aus. «So, bitte, jetzt habe ich es gesagt.»

«Und dann hast du dich gegen ihn gewehrt, weil …?»

«Ich habe begriffen, dass er noch einen ganz anderen Plan hat, und bekam schreckliche Angst um meine Familie. Und deshalb habe ich es mir anders überlegt.»

«Und jetzt?»

Ich wendete mühsam den Blick von ihr ab. Schaute mich im Büro um. Weiße Wände. Ein gerahmtes Museumsplakat für ein Rauschenberg-Happening. Regale voller Bücher. Kleine Andenken von ihren Reisen, zu denen ein neues hinzugekommen war: eine winzige chinesische Strohpuppe mit Sonnenschirmchen in der Hand. In der Zimmerecke auf dem Boden ein ordentlicher Stapel alter Zeitschriften, die mit einer Schnur zusammengebunden waren und ins Altpapier wandern sollten. Nur mit Mühe hielt ich der Versuchung stand, auf die Uhr zu schauen, in der Hoffnung, dass die Stunde bereits um sein möge.

«Eigentlich möchte ich darüber nicht sprechen», sagte ich.

«Weil dir das sonst zu viel Energie raubt, um den unerträglichen Schmerz zu beenden.»

«Vielleicht.»

«Karin, ich glaube, wir sind an einem Punkt, an dem wir noch einmal über Medikamente reden sollten.»

Das hatte sie mir schon einmal vorgeschlagen, vor drei Monaten, aber ich hatte es abgelehnt. Pillen waren mir wie ein billiger Fluchtweg vorgekommen – ein Einwand, der mir angesichts meines sehnlichen Wunsches, allem entfliehen zu können, jetzt ziemlich absurd erschien.

«Was für Medikamente?», fragte ich, weil ich dieses Gespräch nicht mehr ertragen konnte. Joyce wollte, dass ich ihr meine Selbstmordgedanken genau beschrieb: wie, wo, wann. Sie versuchte, mich in die Ecke zu drängen. Ich sollte die Verantwortung dafür übernehmen, was ich getan hatte oder möglicherweise noch tun würde. Was sie genau von mir wollte, wusste ich nicht; aber diese Gedanken, diese Gefühle gehörten mir. Ich lebte schon so lange mit ihnen, dass sich dieser Zustand normal anfühlte. Ich war nicht sicher, ob ich sie aufgeben wollte. Während ich so dasaß, ihr gegenüber, fühlte ich mich leer und matt, und das war genau der Zustand, den sie beenden wollte.

«Antidepressiva. Zuerst versuchen wir es mit Prozac. Jeder reagiert ein bisschen anders darauf, allerdings existieren auch Alternativen. Trotzdem ist es eine gute erste Wahl.»

«Ich weiß nicht, Joyce.»

«Hast du es schon mal genommen?»

«Nein.»

«Kennst du jemanden, der es genommen hat?»

«Na, wer denn nicht?»

Joyce seufzte. «Wir müssen es irgendwie schaffen, die schwarze Wolke über deinem Kopf zu vertreiben. Ich glaube nicht, dass Gesprächstherapie allein dir helfen wird. Das versuchen wir nun schon seit einer ganzen Weile, und jetzt müssen wir einen anderen Weg gehen. Depressionen sind oft heilbar.»

Oft. Sie war sich in meinem Fall also nicht einmal sicher. Es war das erste Mal, dass sie mir so unmissverständlich zu Medikamenten riet. Sie war meine Ärztin, und ich spürte, dass es ihr wirklich darum ging, mir zu helfen. Eine Frage musste ich ihr allerdings doch stellen.

«Seit wann ist Trauer eine Krankheit?»

«Ist sie nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne wie genetisch bedingte Depressionen. Aber wenn Trauer nicht mit der Zeit vergeht, wenn sie es einem Menschen unmöglich macht, Freude am Leben zu haben, und er seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann, muss man sich ernsthafte Gedanken machen.»

«Meinen Alltag kann ich bewältigen.»

Sie beugte sich vor und schaute mir in die Augen. «Du bist selbstmordgefährdet, Karin.»

Das brachte mich zum Schweigen.

«Versprich mir etwas.»

«Okay.»

«Hol die Medikamente ab, nimm die Tabletten genau nach Vorschrift. Komm am Mittwoch und Freitag wieder her. Wir werden uns für eine Weile dreimal die Woche sehen und dann schauen, wie es geht. Ehrlich gesagt hätten wir damit schon vor drei Monaten anfangen müssen. Vertrau mir bitte.»

Und damit war die Sache entschieden, die Therapiestunde um. Joyce hatte das Ruder in die Hand genommen, was mein Leben anging, und ich fügte mich. Mit einem Rezept für Prozac in meiner Handtasche verließ ich ihre Praxis. Eines musste ich ihr lassen: Sie verstand ihren Beruf oder erweckte zumindest den Anschein. Wenn man sich hilflos fühlte, ging nichts über jemanden, der einem genau zeigte, wo es langging.

 

Mac wartete an der Ecke Cornelia und Bleecker Street auf mich, in der Nähe eines italienischen Cafés. An den Tischen davor saßen ein paar Leute mit Kaffee und Zeitung beim Frühstück. Es war gerade einmal kurz nach zehn Uhr morgens.

Als er mich sah, kam er mir entgegen. Sobald er in Hörweite war, fragte er: «Ist alles in Ordnung?»

Es gab wohl kaum etwas Komischeres, als von einem Kollegen (einem ehemaligen Kollegen) vom Psychiater abgeholt zu werden. Hätte ich nun höflich «Ja, alles okay» geantwortet, wäre das gelogen gewesen. Wenn ich aber sagte «Nein, überhaupt nicht», würde er sich große Sorgen machen. Stattdessen sagte ich das Erste, was mir in den Sinn kam.

«Vollständig geheilt.» Ich grinste.

Er lachte, und die Anspannung zwischen uns verflog.

«Hast du noch Zeit für einen Kaffee?», fragte ich ihn.

«Das wäre schön, aber ich muss zurück nach Jersey.» Richtig, er hatte ja einen Beruf.

Wir fuhren mit der Linie F zurück nach Brooklyn, wo Mac seinen Wagen abgestellt hatte. Bevor er mich verließ, bestand er allerdings noch darauf, mit mir zur Apotheke zu gehen, damit ich meine Tabletten abholte. Ich hatte ihm auf dem Rückweg davon erzählt. Schlimmer Fehler. Eigentlich hatte ich mir noch überlegen wollen, ob ich die Glückspille der Nation nun wirklich auch nahm. Jetzt blieb mir keine andere Wahl.

Mac wartete zwanzig Minuten mit mir in der Apotheke, und dann noch, bis ich gleich dort die erste Tablette ohne Wasser heruntergeschluckt hatte.

«Bitte schön», sagte ich und leckte mir die Lippen. Ich ließ das Fläschchen mit den Pillen in meine Handtasche fallen. Es war vollbracht. Ich hatte die Tablette genommen. Hielt mein Versprechen. Versuchte es jedenfalls.

«So ist’s brav.» Er zwinkerte. Dann hielt er mir beim Hinausgehen die Tür auf, und wir befanden uns wieder auf der Simon Street. Draußen stand ein junger Angestellter der Apotheke und entfernte mit irgendeiner Maschine Kaugummireste vom Bürgersteig. Die platten, angetrockneten Klumpen klebten überall.

«Eine Sisyphusarbeit», bemerkte Mac, als wir an dem Mann vorbeigingen, der den Kopf schüttelte und seufzte, während er die Maschine erneut auf dem Beton ansetzte.

Wir gingen die Smith Street hinunter und bogen dann in die Pacific Street ein, wo ich zwei Blocks weiter zwischen Hoyt und Bond Street wohnte.

«Soll ich morgen Abend wiederkommen?», fragte Mac. «Und dich dann am Mittwoch zur Therapie in die City bringen?»

«Nein, danke, das musst du nicht. Das schaffe ich schon.» Ich brauchte keine Eskorte, trotzdem war ich ihm insgeheim dankbar für das Angebot.

«Sag Bescheid, falls du es dir doch anders überlegst.»

Sein Auto stand gegenüber von einer Schule, noch einen Block von meiner Wohnung entfernt. Ich blieb stehen, was ihn wohl überraschte.

«Ich komme noch mit bis zu dir.»

«Das musst du nicht, Mac. Ich bin dir wirklich dankbar für alles, was du für mich tust. Aber ab und zu sollte ich auch mal ein paar Schritte allein machen dürfen.»

«Nein, nicht im Moment.»

«Ehrlich, ich kann ihn nicht mehr fühlen da draußen. Ich glaube nicht einmal, dass er noch in dieser Welt weilt. Ernsthaft. Ich habe einfach keine Angst mehr.»

Mac zog eine Augenbraue hoch. «Okay. Aber versprich mir wenigstens, dass du mich sofort anrufst, wenn du drinnen bist?»

Das tat ich. Wir standen vor seinem Auto und überlegten, wie wir uns nun am besten verabschieden sollten. Endlich klopfte ich ihm auf die Schulter, so wie Männer es untereinander tun. Eine kurze Berührung, vielleicht fast ein kleiner Knuff. Aber ich war eben kein Mann, und zwischen uns existierte plötzlich eine gewisse Anspannung, etwas, das anders und neu war. Er klopfte mir ebenfalls auf die Schulter. Dann schloss er die Wagentür auf und stieg ein.

Ich sah ihm zu, wie er ausparkte und die Pacific Street in Richtung der Autobahn entlangfuhr, die ihn zurück nach New Jersey bringen würde. Allein der Gedanke daran, dass er an den Ort zurückkehrte, an dem ich einmal zu Hause gewesen war, ein sinnvolles Leben geführt hatte und geliebt worden war, tat mir sehr weh. Ich wäre auch lieber dort gewesen, bei den Menschen, die ich liebte. Meinen Eltern. Andrea und Susanna. Und bei Jon, wenn er aus L. A. zurückkehrte. Aber alles in Maplewood und Montclair erinnerte mich an Jackson und Cece. Das ertrug ich einfach nicht. Ich musste hierbleiben, zumindest räumlich weit weg von der ewigen Tortur der Erinnerungen.

Jetzt lag ein ganzer Tag vor mir. Ein ganzes Leben. Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, in denen ich mich ablenken musste von der Qual, die meine Seele auffraß. Im Augenblick kam es mir so vor, als wäre das für mich eine unüberwindliche Herausforderung. Selbst mit der kleinen Tablette, die sich in meinem Magen auflöste und in meine Blutbahn drang, um meine Traurigkeit aufzuhellen. Die Schönwetter-Chemie, von der Joyce hoffte, dass sie meine dunkle Wolke vertrieb.

Ich kaufte ein paar Sachen ein und verbrachte den Rest des Tages damit, in meinem Garten Unkraut zu jäten und die Pflanzen wiederzubeleben, die noch nicht vertrocknet waren. Nach einem leichten Abendessen las ich ein wenig im Bett. Schlief früh ein. Stand erst spät wieder auf. Am Morgen war ich so erschlagen von dem ganzen Schlaf, dass ich beim Frühstück kaum die Augen offen halten konnte. Ich nahm meine zweiten vierzig Milligramm Prozac und überlegte, ob darin vielleicht ein Schlafmittel enthalten war.

Und dann wurde ich plötzlich hellwach. Ich konnte gar nicht mehr still sitzen.

Ich wusch mein Schüsselchen ab, das Glas und den Becher. Duschte schnell. Zog eine Jeans und ein T-Shirt an. Und beschloss, statt in der Wohnung vor mich hin zu brüten, irgendetwas zu unternehmen. Aber noch bevor ich dazu kam, mir zu überlegen, was eine dreiunddreißig Jahre alte selbstmordgefährdete Ex-Polizistin aus New Jersey an einem Wochentag allein in New York anfangen sollte, rief Skype nach mir.

Seit einem Jahr hatte ich diesen Klingelton nicht mehr gehört; niemand versuchte, mich auf diesem Weg zu erreichen. Skype war Jacksons Ding gewesen … Mac musste den Account zufällig aktiviert haben, als er den Computer am Tag zuvor eingerichtet hatte. Ich ging zum Küchentisch, wo mein Laptop offen dastand. Das Auge der eingebauten Webcam schaute aus seinem Schlitz am oberen Rand des Bildschirms, und ich nahm den Anruf mit einem Mausklick an.

Mir blieb das Herz stehen. Ich hörte auf zu atmen. Bewegte mich nicht. Konnte nicht denken.

Er erschien auf meinem Bildschirm, in schlechter Auflösung und verschwommen. Aber am Leben.

Martin Price.

JPP.

Der Domino-Killer.

«Hallo.»

Ich setzte mich an den Tisch vor den Laptop. Zitterte unkontrollierbar. Starrte ins kalte Auge der Webcam. In sein Gesicht. Oder das Abbild seines Gesichts. Auf den grauen Geist, der da auf meinem Bildschirm schwebte.

Der Domino-Killer
titlepage.xhtml
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_000.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_001.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_002.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_003.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_004.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_005.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_006.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_007.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_008.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_009.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_010.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_011.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_012.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_013.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_014.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_015.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_016.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_017.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_018.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_019.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_020.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_021.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_022.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_023.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_024.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_025.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_026.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_027.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_028.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_029.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_030.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_031.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_032.html
CR!ZQYBEJ9D8D4W7D57HSQZ8XPM627E_split_033.html