Epilog
Bis zu der Verabredung hatte ich noch etwas Zeit, mehr als eine Stunde. Wie immer wartete ich, bis es dunkel war: Keine Treffen vor zweiundzwanzig Uhr, jedenfalls nicht im Sommer, wie jetzt.
Ich stand verdeckt hinter der Ulme mit dem dicken Stamm, damit das Licht der Straßenlaterne nicht auf mich fiel. Es war mein Stammplatz, sozusagen, denn ich kam beinahe jeden Abend hierher. Irgendwie fühlte ich mich dann nicht so allein, denn das war ich seit jener Nacht, in der die Mönche die Salizaren niedergemetzelt hatten. Ich nahm nicht an, dass einer von ihnen sich ergeben hatte, das würden die Unsrigen niemals tun. Also war ich die Letzte des Stammes und die Fürstin zugleich. Keine Blutfeste mehr, kein Volk, dem ich angehörte, vor allem aber keine Tage und Nächte mehr mit Laurean, meinem Gefährten. Also hatte ich wieder damit angefangen, die Stunden, Tage, Wochen und Monate zu zählen. Ich bewegte mich erneut in der Welt der Menschen, das schien mir das Natürlichste zu sein, schließlich war ich einmal eine der Ihren gewesen, und auch wenn ich mich ihnen nun seltsam fremd fühlte, so war es immer noch besser, als einsam im Wald zu hausen.
Nachdem ich der Vernichtung entkommen war, hatte ich im Garten eines Vorstadthauses Kleider von einer Wäscheleine gestohlen, damit ich mich unter die Menschen begeben konnte. Nur ein einziges Mal noch hatte ich mich umgewandt. Als ich den Widerschein der lichterloh brennenden Villa ausmachte, wusste ich, dass die Mönche ebenfalls einen Weg gefunden hatten, ihre Anwesenheit an diesem Ort zu verschleiern. In den darauffolgenden Wochen hatten die Medien darüber spekuliert, was die Ursache für den Brand gewesen sein könnte, der die seit Jahren leerstehende Villa bis auf die Grundmauern zerstört hatte. Von einer Entdeckung der darunter befindlichen Gewölbe war nichts zu lesen. Was mochte der Grund dafür sein, fragte ich mich, in wessen Interesse lag diese Nachrichtensperre? Vielleicht reichte der Einfluss der Mönche weiter, als man es von einer im Verborgenen wirkenden Gruppierung angenommen hätte. Ich wusste es nicht und fand es auch niemals heraus.
Hingegen fügte ich mich überraschend schnell wieder in die Menschenwelt ein, als wäre ich niemals fort gewesen. Anstatt des Nachts unbemerkt durch die Straßen zu streifen, bezog ich eine Wohnung, schloss Bekanntschaften und grüßte die Nachbarn. All das eben, was das Leben unter den Menschen ausmachte. Wenngleich meine Haut etwas Farbe angenommen hatte, da ich mich nun auch tagsüber draußen aufhielt, sah ich einer Blutdurstigen immer noch ähnlicher als meinem eigenen früheren Ich. Zum Glück wusste niemand außer den Mönchen um die Besonderheiten unseres Äußeren. Die Menschen fanden mich einfach nur exotisch, sexy und schön. Zur Sicherheit schlug ich einen großen Bogen um alle Männer mit Haarkranz oder Halbglatze.
In kostbaren, viel zu seltenen Momenten spürte ich noch manchmal Laureans Gegenwart, und wenn das geschah, dann war die Empfindung so intensiv, dass ich meinte, mit ihm vereint zu sein, und ich fühlte, dass er wie Alesh und alle Brüder und Schwestern durch meinen Blutkreislauf zog. Manchmal biss ich mich selbst ein wenig, nur um Salizarenblut zu schmecken und nicht so einsam zu sein. Das tröstete mich dann und ich konnte wieder eine Weile weitermachen. Schließlich ging es nicht um mich, sondern um den Fortbestand des Stammes.
Und natürlich brauchte ich Blut, darum verließ ich mein neues Zuhause jede Nacht nach Anbruch der Dunkelheit. Manchmal traf ich Kunden, die ich wie früher über das Internet fand, denn ich brauchte nun auch das Geld für die Miete. Aber ich fand auch sonst ganz mühelos Beute. Für die Menschen war ich nur eine Frau, stellte also keine Gefahr dar, wenn ich mitten in der Nacht durch den Park streifte, und wenn die Aussicht auf schnellen Sex bestand, dann folgten sie mir überallhin. Ich fand keine Befriedigung in diesen Begegnungen, aber ich musste leben und ich brauchte das Blut, also machte ich weiter und trauerte um Laurean und sein stolzes Volk.
Wenn ich hinter der Ulme stand, dann war die Einsamkeit so bohrend und schmerzhaft, dass ich es kaum aushalten konnte. Punkt neun Uhr, jeden Abend, wurde die Tür des Mehrfamilienhauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite geöffnet und eine Frau trat hinaus. Sie war nicht mehr ganz jung und sie hatte stets diesen kleinen Hund bei sich, der seine besten Jahre ebenfalls hinter sich hatte. Sie gingen immer die gleiche Runde, auf der ich ihnen ungesehen folgte. Ich wollte nur sicher sein, dass meiner Freundin im Dunkeln nichts passierte, denn wer wusste besser als ich, was einem in den nächtlichen Straßen dieser Stadt alles zustoßen konnte?
Einmal hatte ich es so eingerichtet, dass wir uns unter einer Straßenlaterne begegneten. «Guten Abend», hatte ich im Vorübergehen leise gesagt und auf eine Antwort gehofft, weil ich ihre Stimme so gern hören wollte, doch sie hatte nur genickt, ohne überhaupt den Blick zu heben, dann hatte sie ihre Schritte beschleunigt und sich beeilt, die Haustür aufzuschließen. Aus meiner lustigen, lebensfrohen Lena war eine ängstliche, alte Frau geworden. Der Gedanke, dass ich daran mitschuldig sein könnte, ließ mich nicht los, und so folgte ich ihr unauffällig jeden Abend und wenn ich mich manchmal in ihre Träume schlich, dann achtete ich sorgfältig darauf, dass diese stets gut für sie ausgingen. Ansonsten wusste ich nichts über sie, wie ihr Leben verlaufen war, was aus der Ehe mit Hauke geworden war. Hatten sie sich getrennt oder war er schon gestorben, hatten sie Kinder gehabt oder war Lena so allein auf der Welt wie ich?
An diesem Abend war alles wie immer gewesen. Ich hatte über ihre Rückkehr in das sichere Haus gewacht, erst dann wandte ich mich ab und eilte durch die Stadt zu dem vereinbarten Treffpunkt. Der Mann, mit dem ich verabredet war – nun, es schien mir, dass er etwas Besonderes an sich hatte. Kein Kunde, wir waren uns durch Zufall begegnet, als er mit dem Fahrrad aus einer Ausfahrt gekommen und mir über den Fuß gefahren war. Er hatte honiggelbe Augen, das war mir sofort aufgefallen, wie die einer Wildkatze, aber sie hatten warm und freundlich geblickt, und neugierig. Er war groß und breitschultrig, das gefiel mir, und der Hemdkragen hatte den Blick auf einen kräftigen und sonnengebräunten Hals freigegeben; vor allem aber hatte er nicht auf meine Brüste gestarrt, während er sich entschuldigte und wir ins Gespräch gekommen waren. Wir hatten unbefangen miteinander gelacht, als er etwas Komisches gesagt hatte, und dann hatte er mir schon die Telefonnummer entlockt und am selben Nachmittag noch hatten wir telefoniert und uns verabredet. Zum ersten Mal seit Langem freute ich mich auf etwas.
Ich wartete vor dem Eingang zu einem Biergarten, den er vorgeschlagen hatte. Es war eine laue Nacht. Wie damals. Ich horchte in mich und spürte, dass Laurean bei mir war, als wäre er zu mir unter die Haut geschlüpft. Das Gefühl erregte und beruhigte mich zugleich. Ich drückte den Rücken durch und warf mein langes, tiefschwarzes Haar zurück. Zwei Männer strebten auf den Biergarten zu, in dem viele Tische schon besetzt waren. Ich roch den Alkohol in ihrem Atem und registrierte die unverhohlen anzüglichen Blicke, die sie ungeniert meine langen Beine hinaufwandern und dann auf meinen Brüsten verweilen ließen. In einer anderen Nacht hätte ich wohl nicht gezögert, sie mitzunehmen, ich hätte sie mit meinen Augen eingeladen und an einen ungestörten Ort mitgenommen. Die Versuchung wallte in mir auf, nur ganz kurz, dann wandte ich den Blick ab und versuchte, nicht an meinen Blutdurst zu denken. Nein, das musste warten, ich hatte andere Pläne. Ich würde Laureans Auftrag erfüllen, indem ich für den Fortbestand unseres Stammes sorgte und mich als würdige Fürstin erwies. Unwillkürlich schob ich eine Hand unter den langen Ärmel meines luftigen Sommerkleides und berührte die leichte Vertiefung. Die Narbe würde mich stets an die Nacht erinnern, in der ich meinen Gefährten verloren hatte.
In diesem Augenblick bog Tim um die Ecke. So hieß er, Tim, der schöne Mann mit den honigfarbenen Katzenaugen.
Er ist es, sagte Laureans Stimme, und ich wusste, dass er recht hatte.
«Hi», sagte Tim. «Du siehst toll aus!»
Sein Blick hielt meinen fest. Ich spürte, wie Laureans Blut in meinen Adern pochte, ich fühlte seine Begierde und lächelte unwillkürlich. Ja, mein Liebster, er ist es. Wir haben ihn gefunden.
«Danke», sagte ich. «Du auch! Sag mal, was hältst du davon, wenn wir erst mal ein Stück spazieren gehen?»