4. Kapitel

Am nächsten Tag kehrte ich lange genug in meine Wohnung zurück, um ein paar Angelegenheiten zu regeln und eine Tasche mit einigen Kleidungsstücken zu packen. Vorerst sollte ich in Laureans Nähe bleiben, was ohnehin das war, was ich mir am meisten wünschte. Er hatte mich gewarnt, dass es in den ersten Tagen nach meiner Verwandlung zu unkontrollierten Ausbrüchen kommen konnte. So konnte es beispielsweise passieren, dass meine Reißzähne sich unerwünscht zeigten, und das musste um jeden Preis verhindert werden. In der Bank meldete ich mich zunächst für eine Woche krank, danach würden wir entscheiden, wie es mit mir weitergehen sollte.

«Wir brauchen das Geld nicht, das du verdienst», hatte Laurean gesagt. «Aber es ist deine Entscheidung, wenn du dich weiter in ihrer Welt bewegen willst, für eine Weile jedenfalls.»

«Ja, aber was tun wir denn den ganzen Tag, wenn ich nicht arbeiten gehe oder schlafe?», hatte ich wissen wollen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das Leben von nun an aussehen würde. Musste ich wirklich alles hinter mir lassen? Ich hatte lange und hart daran gearbeitet, um beruflich an den Punkt zu kommen, an dem ich jetzt war. Andererseits, was bedeutete das schon? Es war höchst fraglich, ob irgendjemand mich in der Bank vermissen würde, wenn ich nicht zurückkehrte. Und was gab es eigentlich in meinem Leben, das mir wirklich wichtig war? Ich dachte an Lena, aber das war vorbei, sie hasste mich nun gewiss, und ich konnte es ihr nicht verdenken.

«Du wirst sehen, es warten Herausforderungen auf dich. Wenn die Zeit dafür reif ist, Isa, wirst du mehr erfahren. Du musst lernen, Geduld zu haben. Zeit spielt für dich nun keine Rolle mehr.»

Der Anrufbeantworter spulte sieben wütende und tränenreiche Anrufe von Lena ab und zum Schluss eine Nachricht von Hauke, der mich wüst beschimpfte und mir untersagte, mich ihnen jemals wieder zu nähern.

«Weißt du überhaupt, was du ihr angetan hast, du verfluchtes Miststück?», war das Letzte, das ich hörte.

Ich zog das Telefonkabel aus der Wand, dann löschte ich alle Nachrichten von der Mailbox meines Mobiltelefons. Es konnten nur weitere Verwünschungen oder Vorwürfe von Hauke und Lena sein. Wozu sollte ich sie mir anhören? Ich hatte mich gegen sie entschieden. Niemand war mehr wichtig, außer Laurean. Meine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich vier Jahre alt war. Ich besaß ein paar verblichene Fotos, die ich mir niemals ansah, weil es zu sehr wehtat, dass ich mich nicht einmal mehr an sie erinnerte. Nach dem Unfall war ich in eine Pflegefamilie gekommen, da meine Großeltern väterlicherseits ebenfalls nicht mehr lebten, die Eltern meiner Mutter entweder nicht willens oder unfähig gewesen waren, sich um mich zu kümmern. Nach allem was ich wusste, hatten sie niemals meine Nähe gesucht, und mir war nicht bekannt, ob diese Leute überhaupt noch lebten. Ich hatte mich oft gefragt, was das für Menschen gewesen sein mochten, dass sie sich ihres einzigen Enkelkindes nicht angenommen hatten. Manchmal dachte ich auch, dass es vielleicht an mir gelegen haben könnte, dass sie mich nicht gewollt hatten. Alles in allem war es keine sehr glückliche Kindheit gewesen. 

Mit der ersten Pflegefamilie lief irgendetwas schief, als ich noch klein war, sodass ich in die nächste kam und dann in noch eine und noch eine. Wo auch immer ich landete, geschah stets irgendetwas, das nicht in meiner Hand lag, aber zur Folge hatte, dass ich nicht bleiben durfte. Das ging so, bis ich endlich volljährig war und auf eigenen Beinen stehen konnte. Seitdem war ich wie isoliert durch das Leben gegangen. Liebhaber kamen und gingen, und wenn wir uns trennten, dann verschwanden sie spurlos aus meinem Umfeld. Es war, als müsste ich zwanghaft alle Brücken hinter mir zerstören, ehe ich allein weiterzog. Lena war die Einzige, die irgendwie an mir hängen geblieben war, meine liebe, treue Freundin. Außer ihr gab es in meinem erwachsenen Leben nur die Kollegen und Geschäftspartner, mit denen man essen ging oder sich nach der Arbeit auf einen Drink traf. Mit dem einen oder anderen von ihnen war ich im Bett gelandet, doch in gegenseitigem Einvernehmen hatten wir danach stets so getan, als sei nichts geschehen. Es gab niemanden, das gestand ich mir an jenem Tag ein, als ich allein in der Wohnung war und über alles nachdachte, absolut niemanden, der mich wirklich vermissen würde. Ich horchte in mich hinein und suchte nach dem Schmerz, den dieser Gedanke in mir hätte auslösen müssen, doch ich fand nichts als Leere. In mir klaffte ein Loch, das ich nur noch durch Laurean füllen konnte.

Ich ging hinüber in das Schlafzimmer und legte mich auf das Bett, starrte an die Decke und erinnerte mich an den leidenschaftlichen Traum, den ich gehabt hatte, bevor wir uns zum ersten Mal trafen. Er hatte das mit Absicht getan, so viel verstand ich nun, er war wirklich dort gewesen, und ich lächelte unwillkürlich. Dann schloss ich die Augen und machte mich auf die Suche.

 

Stunden später erhob ich mich, als es bereits dämmerte. Wenig später verließ ich das Haus. Ich sah den wartenden Taxifahrer, stutzte kurz, dann stieg ich ein. So begann meine erste Woche in Laureans Reich.

Im Morgengrauen des nächsten Tages lagen wir von Blut und Leidenschaft gesättigt beieinander, meine Brust an seiner, während das Feuer im Kamin langsam verlosch. Laureans Brustkorb hob und senkte sich ruhig und regelmäßig. Wäre er ein Mensch, dann könnte man denken, er schliefe.

«Darf ich dich etwas fragen, Laurean?»

«Frage nur.»

«Wer … was sind wir eigentlich?»

«Wir sind Blutdurstige, Isa, und gehören dem Stamm der Salizaren an. Die Menschen nennen uns Vampire, dabei glauben sie nicht einmal, dass es uns wirklich gibt. Wir würden uns niemals so nennen, denn wir sind Salizaren. Das Wort Vampir ist eine Erfindung der Menschen, um ihrer Furcht vor unserem Tun Ausdruck zu verleihen. Insgeheim lieben sie den Gedanken an uns in gleichem Maße wie sie uns fürchten.»

Er lachte heiser.

«Aber Laurean, wen meinst du immer mit wir? Ich dachte, wir wären hier allein?»

«Das sind wir nicht», sagte er. «Wir sind niemals allein.»

«Oh!», gab ich zurück. Damit hatte ich nicht gerechnet. Aus unerfindlichen Gründen hatte ich immer nur an Laurean und mich gedacht, dass er ein Einsamer wäre, wie ich. Wir schwiegen.

«Bist du bereit, in den Stamm der Salizaren aufgenommen zu werden?»

Ich nickte beklommen, ich wartete, doch nichts geschah. Schließlich bemerkte ich ein Wispern und Raunen, es schien aus allen Ecken zu kommen. Vielleicht war das Geräusch auch die ganze Zeit schon da gewesen und ich hatte gedacht, es sei das Feuer, das knisterte, oder der Wind, der vor den Fenstern durch die hohen Bäume strich. Ich lauschte angestrengt. Außerhalb des kleiner werdenden Lichtkreises, den das verlöschende Feuer auf unsere nackten Körper warf, drängten die Silhouetten mehrerer Personen näher. Schulter an Schulter, viele waren es, immer mehr kamen aus allen Richtungen herbei, dabei raunten sie, brummten und knurrten. Bald war es, als befänden wir uns im engen Innern eines Bienenstocks.

«Laurean, wer ist das?»

«Das sind deine Brüder und Schwestern, sie sind gekommen, um dich zu begrüßen.»

Laurean lag bewegungslos, während die Gestalten langsam näher rückten. Das Murmeln und Brummen lullte mich ein. Ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren. Der Kreis wurde immer enger, über uns hingen nun blasse Gesichter, wie schmale Monde unter blauschwarzem Haar. Es war unmöglich, etwas in ihren dunklen Augen zu lesen. Waren sie wütend oder freundlich gesinnt, neugierig oder abweisend? Ihre Haut schimmerte silbrig. Sie trugen nichts auf dem Leib als ein kleines goldenes Amulett und die roten Spuren der nächtlichen Beute.

Plötzlich sprang Laurean auf, nun stand auch er über mir, sein Körper wie eine vollkommene Statue. Bei jeder Bewegung zeichnete sich das Spiel seiner Muskeln und Sehnen unter der Haut ab. Die Nacktheit schien für ihn der natürlichste Zustand zu sein, er wirkte nobel und erhaben wie ein Tier, das sich der Gefolgschaft seiner Meute sicher war. Laurean reichte mir eine Hand und bedeutete mir, dass ich mich ebenfalls erheben sollte. Die anderen waren so nah, dass ich sie hätte berühren können, ohne auch nur den Arm auszustrecken. Aus vereinzelten Kehlen war ein gieriges Knurren zu hören, doch Laurean brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Dann trat eine weibliche Gestalt vor.

«Bruder und Gebieter, Herr der Salizaren, ich grüße dich.»

«Ich grüße dich, Schwester. Hast du das Amulett?»

«Ja, Herr.»

Sie streckte die Hand aus und reichte Laurean ein Säckchen aus rotem Samt. Er öffnete es und entnahm ihm ein Amulett, das dem seinen glich, nur war dieses etwas kleiner und weniger aufwendig verziert.

«Salizaren, dies ist meine Schwester und Gefährtin für alle Zeiten. Nimm das Amulett als Zeichen deiner Zugehörigkeit zu diesem Stamm. Du darfst es niemals ablegen oder verlieren, sonst wirst du hart bestraft werden. Und nun bestimme ich, dass du fortan Alicia heißen sollst, Schwester und Gefährtin des Fürsten.»

Mit diesen Worten legte Laurean mir das Amulett um. Als das Metall meine Brust berührte, legte ich den Kopf in den Nacken und stieß einen wilden Triumphschrei aus. Ja, nun war ich Alicia, eine blutdurstige Kriegerin der Nacht. Die Energie, die mich durchströmte, schien zu gewaltig für meinen Körper. Ich fühlte mich so stark wie eine Löwin und ich gierte nach frischem Blut. Hinter den Fenstern lauerte bereits das Morgengrauen und ich stellte bedauernd fest, dass es für diese Nacht zu spät sein würde. Als hätte Laurean meine Gedanken gelesen, schlang er seine Arme um mich, unsere Amulette klirrten leise aneinander und entfachten einen knisternden Funkenregen. Im Kreis der Brüder und Schwestern ließen wir uns zu Boden gleiten. Laurean streckte den Kopf nach hinten und bot mir seine Halsbeuge dar. Rasch, bevor die Sonne über den Horizont kletterte, schlug ich meine Zähne hinein. Die Salizaren brummten und knurrten dazu, dass bald der ganze Raum vibrierte, und ich ließ mich von dem Blutrausch davontragen. Als ich das nächste Mal aufsah, waren wir allein.

 

Nach diesem Ereignis begegnete ich den Brüdern und Schwestern in der Villa nur selten. Die Salizaren waren viele, doch Laurean hatte mir erklärt, dass der Stamm sich nur zu besonderen Ereignissen, oder wenn Gefahr drohte, versammelte. Was für eine Gefahr das sein konnte, da wir doch die Bezwinger der Nacht und Herrscher über Blut und Träume waren, das fragte ich nicht.

Wir stillten unseren Blutdurst stets gemeinsam und Laurean lehrte mich, die Spuren unserer Taten sorgfältig zu verwischen. Eines Tages jedoch, als die Dämmerung sich über die Stadt senkte und ich mich bereit machte, trat Laurean zu mir und sagte: «Alicia, es ist Zeit. Du musst lernen, auch allein zu bestehen.»

Ich erstarrte. Zwar kannte ich keine Furcht mehr, aber ich hatte gedacht, ich könnte von nun an immer in Laureans Nähe bleiben.

«Aber warum? Das verstehe ich nicht. Warum gehen wir nicht zusammen? Du hast mir erklärt, dass du ewig lebst und dass wir in Ewigkeit verbunden sind. Du wirst immer bei mir sein. Ich will nicht allein gehen, ohne dich.»

Meine Stimme hatte den Ton eines quengelnden Kindes angenommen und ich schämte mich vor Laureans Blick, der kühl und abweisend geworden war. Aber ich wollte ihn nun einmal lieber bei mir haben. Hatte ich vielleicht doch Angst? War doch noch mehr Menschliches in mir, als er ahnte?

«Du wirst das tun, was ich dir befehle!»

Inzwischen war es dunkel geworden. Höchste Zeit. Laurean knurrte. Der Blutdurst, der alle Salizaren mit Einbruch der Nacht quälte, machte ihn ungeduldig.

«Ja, Herr», antwortete ich und senkte demütig den Kopf. Ich musste mich seinem Wort fügen. Laurean war nicht nur mein Gefährte, vor allem war er der Fürst der Salizaren. Ich hatte seinen Befehlen ebenso zu gehorchen wie alle anderen des Stammes.

«Du hast heute einen Kunden. Sei um zehn Uhr in der Bar des Hotels, wo auch wir uns getroffen haben.»

«Ich habe einen Kunden, wie meinst du das?»

«Du wirst das tun, was auch ich getan habe. Für dich wird es einfach sein, die meisten Männer wollen ohnehin nur Sex. Du kannst ihn leicht an einen Ort locken, an dem ihr ungestört seid.»

«Aber … die Bar, der Barkeeper kennt mich, was, wenn er sich hinterher an mich erinnert, er wird mich wiedererkennen, und …»

Laurean schüttelte nur den Kopf.

«Du musst wirklich besser zuhören, Alicia. Wozu hast du das Amulett? Berühre es, bevor du die Bar verlässt, niemand wird sich an dich erinnern.»

«Und ich soll … Sex mit einem Fremden haben?»

Ich verspürte keine moralische Entrüstung, ich wollte nur sichergehen, ob ich Laurean richtig verstanden hatte.

«Alicia, niemand sagt, dass du das tun sollst. Es ist deine Entscheidung, mit wem du dich paarst, das habe ich dir schon erklärt, ob Mensch oder Salizar. Aber du willst leben, oder nicht? Also brauchst du das Blut. Und nun geh.»

«Ja, Herr.»

Zum vereinbarten Zeitpunkt betrat ich die Hotelbar. Die Blicke der wenigen Anwesenden richteten sich auf mich, doch ich erkannte den Kunden mühelos in dem schwitzenden, etwas dicklichen Mann, der von seinem Barhocker herunterhüpfte, als ich näher trat. Wahrscheinlich konnte er sein Glück kaum fassen. Ich hatte mich so freizügig gekleidet, wie es von einer Frau erwartet würde, die sich gegen Bezahlung mit einem Mann traf. Extrem kurzer Rock, tiefer Ausschnitt. Erstaunlicherweise fühlte es sich gut an, und ich war kein bisschen unsicher. Reichlich ungeniert ließ der Kunde seinen schmierigen Blick über meinen Körper wandern. Beinahe hätte ich die Zähne gefletscht bei der Aussicht darauf, dass ich in Kürze seinen feisten Hals zerfetzen würde. «Alicia? Guten Abend! Möchten Sie sich zu mir setzen und, äh … erst etwas trinken?»

Ich lächelte schüchtern und fuhr mir blitzschnell mit der Zunge über die Lippen. Dann beugte ich mich vor und legte meine Lippen an das fleischige Ohr: «Lass uns doch lieber gleich gehen, Süßer.»

Ich ließ meine Brust über seine Schulter streifen. Als ich mich aufrichtete, fielen dem Dicken fast die Augen aus dem Kopf. Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich so mit einem Mann umgehen konnte, doch ich sah bereits, dass es funktionierte. Also drehte ich mich auf dem Absatz um und stolzierte auf den Ausgang zu. Natürlich würde er mir folgen, daran hatte ich keinen Zweifel.

An der Tür berührte ich das Amulett und murmelte die Worte, die Laurean mir eingeschärft hatte. Auf der Straße wandte ich mich nach rechts. Der Kunde hatte Mühe, mit meinen weit ausholenden Schritten mitzuhalten. Die Absätze meiner hohen Stiefel knallten auf das Pflaster. Ich konnte den Blutdurst kaum noch zügeln, doch solange andere Passanten um uns herum waren, durfte ich kein Risiko eingehen.

«Hallo, wo gehen wir denn hin? Ich habe doch im Hotel ein Zimmer, wollen wir nicht lieber …»

Ich hörte den Dicken hinter mir keuchen.

«Gleich, Süßer, wir sind gleich da.»

Mein Ziel war ein brachliegendes, verwildertes Grundstück unweit des Hotels. Laurean hatte mir gesagt, dass dies ein guter Ort war. Ich hätte den Mann auch auf sein Zimmer begleiten können, doch im Schutz der Nacht und unter freiem Himmel fühlte ich mich sicherer. Es war ganz nah. Ohne mich umzusehen, ergriff ich den Arm des Mannes und zog ihn in die mit Unkraut überwucherte Einfahrt. Nach wenigen Schritten hatte das Unterholz uns verschluckt. Wir gelangten auf eine kleine Lichtung, die von der Straße aus nicht zu sehen war. Ganz schwach nur fiel der Lichtschein der nächsten Straßenlaterne durch das Geäst auf die Stelle, an der wir standen. Der kleine, dicke Mann japste, er war noch ganz außer Atem. Beinahe hätte er mir leid getan, aber der Hunger war zu groß. Ich knurrte und warf ihn zu Boden.

«Au … he, nicht so wild …was bist du denn für eine …»

Während der Mann hilflos stammelte, riss ich ihm die verschwitzte Krawatte herunter. Er war nur noch eine Beute. Ich zerfetzte das Hemd und warf mich über ihn, bog seinen Kopf zurück und biss zu. Der weiche Körper unter mir bäumte sich noch einmal auf, dann gab er zuckend nach, während ich Blut und Leben in mich aufnahm. Ich saugte und schmatzte voller Wohlbehagen, da spürte ich schon, wie sie näher kamen. Angelockt vom betörend süßen Duft des frischen Blutes dauerte es niemals lange, bis die Inzepat uns mit einer Mischung aus Gier und Unterwürfigkeit umkreisten. Sie stellten die niedrigste Stufe im Stamm der Salizaren dar, die ohne jegliche Privilegien am Rande des Stammes lebten, eine Kaste von Unberührbaren im Stammessystem der Salizaren. Über ihnen standen die Suprimat, eine Art bürgerlicher Mittelschicht, über denen wiederum die höchste Kaste, die reinblütigen Nobilat angesiedelt waren. Mit seiner Entstehung wurde jedem Salizaren die Zugehörigkeit in eine der Kasten zugewiesen. Nur Laurean als ihrer aller Herrscher stand außerhalb der Kasten und ihm allein oblag es, seine Untertanen innerhalb des Systems zu erhöhen oder zu erniedrigen. Die Inzepat durften nicht selbst jagen, daher stürzten sie sich wie Aasgeier auf tote Menschen und Tiere, um ihren Blutdurst zu befriedigen. Manchmal überließen die Höheren des Stammes ihnen eine Beute, wenn sie ihre Gier gestillt hatten. Wenn Laurean zugegen war, wagten die Niederen sich niemals näher als ein paar Schritte heran.

Vorsorglich stieß ich ein warnendes Knurren aus. Noch hielten sie sich im Unterholz verborgen, aber ich konnte hören, wie sie lüstern hechelten. Auch wenn Laurean nicht in der Nähe war, so glaubte ich nicht, dass sie es wagen würden, mir die Beute streitig zu machen. Ich schlug meine Zähne erneut in den feisten Hals. Da erklang in der Nähe ein wütendes Grollen, das mich zusammenzucken ließ. Ich ließ augenblicklich von der Beute ab und sprang auf. Eine hohe Gestalt trat mir aus dem Unterholz entgegen. Ein Mensch war es sicher nicht, das konnte ich riechen.

«Wer bist du?», fragte ich und fletschte warnend die Zähne, wobei das kostbare Blut der Beute mir aus den Mundwinkeln lief. «Nenne deinen Namen und deine Kaste, wenn du mit Alicia sprichst, der Gefährtin des Laurean!»

Zur Antwort erhielt ich ein wütendes Knurren, doch war es nicht mehr ganz so herausfordernd wie zuvor. Ich wusste, dass ich nicht nachgeben durfte, wenn ich meine Stellung behaupten wollte. Auch wenn ich als Laureans Gefährtin an sich unantastbar war, so erkannte ich doch manchmal ein lüsternes und herausforderndes Funkeln in den Augen meiner Brüder und Schwestern. Mir war längst klar geworden, dass mir insbesondere die weiblichen Nobilat meine Stellung neideten. Zwar durften sie sich jederzeit dem Fürsten anbieten, doch auch wenn Laurean sich ihrer Körper und ihres Blutes bediente, bleiben sie doch die, die sie waren. Seit ich an seiner Seite war, hatte er stets abgelehnt. Aber ich wusste, dass dies nicht immer so bleiben würde. «Du kannst unsere Lebensspanne nicht mit menschlichen Maßstäben messen, Alicia», hatte Laurean gesagt. «So etwas wie Ehe und Treue gibt es bei uns nicht. Du wirst dich mit unseren Brüdern und Schwestern vereinigen und manchmal mit den Menschen, die zugleich deine Beute sind. Unsere Lust nach Blut und Paarung ist keine Sünde, Alicia, es entspricht unserer Natur. Das ist alles.»

In mir floss offenbar immer noch genügend menschliches Blut, dass allein der Gedanke an Laureans makellosen Körper, der sich mit einer anderen Salizarin vereinigte, mich die Zähne fletschen ließ. Ich wollte, dass er nur mir gehörte, aber das würde nicht in Erfüllung gehen. Um den Preis meines ewigen Daseins an Laureans Seite musste ich alles Menschliche aufgegeben. Bisher war ich den Blicken der anderen Salizaren jedes Mal ausgewichen, wenn sie meine Zustimmung suchten. Da ich höher gestellt war als sie, musste ich ein Zeichen geben, ehe sie sich mir nähern durften. Wenn ich nach einem Nobilat oder Suprimat verlangte, durfte ich mich ihrer jederzeit bedienen. Von den Inzepat sollte ich ablassen, so hatte Laurean es mir befohlen: «Ihr Blut ist unrein, da sie sich von Aas und niederen Lebewesen ernähren. Ihr Blut schmeckt bitter und faulig und es wird das deine ebenfalls verunreinigen. Sie sind deiner nicht würdig. Wenn einer von ihnen sich dir ungebührlich nähert, entreiße ihm das Amulett.»

«Was passiert dann mit ihnen?», hatte ich gefragt, doch Laurean hatte geschwiegen. Von einem Inzepat hatte ich also kaum Widerstand zu befürchten.

Ich konnte das Gesicht des anderen noch immer nicht erkennen. Er stand vollkommen unbewegt da, seine Silhouette wurde vom Lichtschein der fernen Straßenlaterne umrahmt. Das Gegenlicht störte meine Fähigkeit zur Nachtsicht, die noch nicht ganz ausgeprägt war.

Der Blutgeruch, den der Leib zu meinen Füßen ausströmte, wurde schal. Ich war wütend, denn ich hatte nicht genügend getrunken, um meinen Durst zu stillen. Erneut knurrte ich in die Richtung des Fremden.

«Sprich, oder willst du der Gefährtin des Laurean nicht gehorchen? Tritt vor und zeige dich!», befahl ich. Doch der unbekannte Salizar rührte sich noch immer nicht. Stattdessen ließ er ein respektloses Fauchen hören.

«Gefährtin des Laurean? Dass ich nicht lache. Seine Hure bist du, seine Menschenhure. Nur weil du sein Blut geleckt hast, bist du noch lange keine Salizarin. Höre, Alicia, du bist weniger als ein Inzepat, denn in deinen Adern fließt menschliches Blut. Du bist keine von uns und wirst es niemals sein.»

«Hure nennst du mich? Dir werde ich es zeigen! Laurean wird dir das Amulett entreißen. Jetzt sage mir endlich deinen Namen und Stand, oder bist du zu feige? Ich meine doch, den fauligen Gestank von Aas zu riechen. Du bist wohl selbst nur ein Inzepat und wagst es, so mit deiner Herrin zu reden?»

Die hohe Gestalt trat näher. Ich musste mich beherrschen, um nicht zurückzuweichen.

«Du hast keine Ahnung, die du dich nun Alicia nennst und doch ein halber Mensch bist. Laurean und ich sind mehr als nur Stammesbrüder! Er und ich und unsere Schwester Jezebel sind die rechtmäßigen Abkömmlinge des ewigen Fürsten Androlus und seiner Gefährtin Geser. Du bist keine Herrin und wirst es niemals sein. Du bist nur die Menschenhure meines Bruders. Ich bin Desan, Nobilat vom Stamm der Salizaren, und damit von weitaus höherem Stand als du.»

Seine Stimme klang wie die Laureans, sie klang an sich tief und wohltönend, wenn sie nicht so hasserfüllt gewesen wäre.

«Ich werde dir zeigen, wer von höherem Stand ist», fauchte ich und berührte das Amulett. Dann sprang ich Desan aus dem Stand heraus an. Durch die Wucht des Aufpralls stürzten wir zu Boden. Der überraschende Angriff traf meinen Widersacher unvorbereitet, sodass er sich nicht sofort wehrte. Ich schlug meine Zähne in seinen Hals. Das Salizarenblut durchströmte meine Adern wie eine aufputschende Droge. Meine Sinne waren auf das Äußerste geschärft, während Desan unter mir zu kämpfen begann. Er wand und wehrte sich erbittert, doch noch steckten meine Reißzähne fest in seinem Fleisch. Ich schlang meine Arme und Beine um ihn. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich befreite, doch freiwillig würde ich nicht von ihm ablassen. Der Blutdurst ließ mich alles vergessen. Doch plötzlich waren da Stimmen, menschliche Stimmen, die sich näherten. Desan musste sie ebenfalls gehört haben, denn wir hielten im gleichen Moment inne. Ich lockerte meinen Biss und hob den Kopf.

«Hey, Baby, das ist doch ein nettes Plätzchen für uns …»

«Ich weiß nicht, Schatz, hör mal … da ist doch irgendwas.»

«Ach was, wahrscheinlich ist das nur eine Katze. Komm schon, Baby, ich bin so heiß auf dich, und du weißt doch, zu mir können wir heute nicht.»

«Nein, hör doch mal, da ist schon wer …»

Ich stieß ein warnendes Knurren aus, denn ich spürte, wie Desan unter mir seine Muskeln anspannte. Er konnte mich jeden Augenblick abwerfen. Sobald wir wieder ungestört waren, würde der erbitterte Kampf weitergehen.

«Da sind schon welche …«, hörte ich die weibliche Stimme sagen.

«Na, und wenn schon, dann stören die uns wenigstens nicht. Hey, nur eine ganz kleine Nummer.»

«Ich will hier nicht, ich gehe jetzt.»

«Ach Mann, jetzt warte schon …»

Die Schritte entfernten sich.

Diese Menschen wissen gar nicht, was für ein Glück sie gehabt haben, dass ich beschäftigt bin, dachte ich. Vielleicht hätten wir die Gelegenheit nutzen sollen? Zu spät. Ich beugte mich über Desans Hals. Sein Blut war so köstlich. Laurean hatte recht gehabt. Dies war die Natur der Salizaren und nun auch meine, und es wäre sinnlos, wenn ich mich noch länger dagegen wehrte. Als Gefährtin des Fürsten war es mein gutes Recht, Desans Gehorsam einzufordern. Ich würde sein Blut trinken, das so süß und berauschend war wie Laureans, und mich mit ihm paaren. Im nächsten Augenblick wurde ich fortgeschleudert und fiel krachend zu Boden, doch ich sprang sofort wieder auf die Füße. Ich knurrte und wartete darauf, dass Desan nun seinerseits über mich herfallen würde. Kampflos würde ich mich ihm nicht ergeben. Wild fauchend blickte ich um mich, doch er war verschwunden. Im Unterholz hinter mir raschelte es. Ich fuhr herum, immer noch kampfbereit, doch da war nur noch Desans Stimme: «Ich habe eine Nachricht für meinen Bruder, der sich anmaßt, alleiniger Herrscher der Salizaren zu sein. Richte ihm aus, dass ich mir das Blutamulett holen werde. Ich habe das gleiche Anrecht darauf, Fürst der Salizaren zu sein!»

Dann war es still.

Desans Blut, das eben noch erfrischend durch meine Kehle geflossen war, hinterließ nun einen bitteren Nachgeschmack. Ich musste schnellstens in die Villa zurückkehren und mit Laurean sprechen. Eilig berührte ich das Amulett, um die Wunde der Beute, die reglos am Boden lag, zu verschließen. Ich sprach die Worte, die Laurean mich zu diesem Zweck gelehrt hatte. In einigen Stunden würde der Mann leicht benommen, aber unversehrt zu sich kommen und er würde niemals erfahren, was mit ihm geschehen war. Ich verließ die Lichtung und ließ mich von der Dunkelheit verschlucken. Dabei hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass jemand mir folgte. Desan, dachte ich, wer sonst sollte es sein?

 

«Nun, hast du Beute gefunden?», hatte Laurean gefragt, und ich hatte genickt, als er mich vor dem Kaminfeuer empfing, doch als ich sogleich von der Begegnung mit Desan berichten wollte, hatte er mir bedeutet zu schweigen. Ich entkleidete mich, legte mich zu meinem Gefährten und bog den Kopf einladend in den Nacken. Seine Lippen waren auf meinem Hals, ich spürte schon, wie die Hauptader an seiner Zunge pulsierte und ein Reißzahn bereits die Haut aufritzte.

«Ich schmecke frisches Salizarenblut», fauchte er und grub seine Zähne tief in mein Fleisch.

«Es war Desan», keuchte ich. «Ich wusste nicht …»

«Schweig, wie es sich gehört

Da versank ich schon in dem lustvollen Schmerz seines Bisses und vergaß, was ich hatte sagen wollen. Erst als der Morgen graute, richtete Laurean sich auf und sagte: «Nun berichte mir, was sich mit Desan zugetragen hat. Ich nehme an, mein Bruder hat dir eine Botschaft für mich mitgegeben.»

«Ja, aber woher weißt du das?»

Laurean schwieg. Seine Miene war unergründlich.

«Bist du sauer, dass ich  … ich meine, ich hatte ja nicht gewusst, dass er dein Bruder ist. Er kam, als ich meinen Blutdurst stillte, und da er mich unterbrochen hatte, da dachte ich … »

«Du musst mir nichts erklären, Alicia. Desan ist ein Nobilat wie alle anderen, auch wenn er meint, ein Anrecht auf meinen Titel zu haben. Du darfst dich seiner jederzeit bedienen, doch du musst vorsichtig sein. Er hat einst unseren Stamm an die Morganthen verraten. Darum hat Androlus, unser oberster Fürst, mich zu seinem Nachfolger bestimmt, bevor er starb, und Desan in die Verbannung geschickt.»

«Aber ich dachte, ihr könntet nicht sterben? Ihr … ich meine, wir leben doch ewig, oder nicht? Und warum ist Desan dann wieder hier, wenn er verbannt wurde?»

Laurean schüttelte den Kopf.

«Ach, Alicia, ewig ist auch nur so ein Wort aus eurer Menschenwelt. Für uns ist es ohne Bedeutung, denn natürlich sterben wir nicht, wie ein Mensch stirbt, und darum müssen wir die Zeit auch nicht messen. Dennoch gibt es Dinge, die auch unser Dasein gefährden, und so ist es auch durch Desans Verrat geschehen.»

«Wenn Desan dein Bruder und Jezebel deine Schwester ist, dann sind Androlus und Geser eure Eltern?»

«Ja, als Mensch würdest du das so nennen, aber diesen Begriff gibt es bei uns nicht. Wir sind durch die Paarung des obersten Fürsten der Salizaren und seiner Gefährtin entstanden, doch von dem Augenblick an, da Geser uns in die Welt geworfen hat, sind sie nur noch unser Herr und unsere Herrin gewesen. Es passiert so selten, dass ein Salizarenfürst eine Nachfolge bestimmen muss, dass dieser Gedanke in unserer Kultur keine Rolle spielt. Erst als Androlus seine Vernichtung kommen sah, bestimmte er, dass ich fortan unseren Stamm führen soll.»

Während ich versuchte, all diese Informationen zu verarbeiten, schwirrten mir viele weitere Fragen durch den Sinn.

«Aber warum hat Desan dann so einen Hass auf dich? Ich meine, wenn er es doch gewesen ist, der euch verraten hat? Und wer sind die Morganthen?»

«Sie sind ebenfalls Blutdurstige und zugleich eine große Gefahr für uns Salizaren, Alicia. Desan hat seinen Verrat gebüßt und ich glaubte, dass er seine Tat bereut und sich geändert hätte. Aber nun befürchte ich, dass er sich erneut mit unseren Feinden verbünden könnte, nur um mich zu besiegen. Sei also auf der Hut vor ihm!»