3. Kapitel

Ich erwachte, weil ein Sonnenstrahl direkt auf mein Gesicht fiel. Für einen Augenblick wusste ich nicht, wo ich war, dann wandte ich den Kopf und sah in Laureans hellgraue Augen. Waren sie nicht in der Nacht noch dunkel gewesen, beinahe schwarz? Er blickte mich unverwandt an, als täte er seit Stunden nichts anderes. Hatte er denn gar nicht geschlafen? In meinem Kopf brummte es wie nach einer durchzechten Nacht. Aber so viel hatte ich doch gar nicht getrunken? Eine undeutliche Erinnerung stieg in mir auf. Oh Gott! Wieder dieser Traum, erregend, ja, aber auch irgendwie beängstigend. Im Grund kannte ich diesen Mann doch überhaupt nicht. Vielleicht hatte er mir ohne mein Wissen irgendwelche Drogen verabreicht?

«Laurean, was ist passiert?»

Er antwortete nicht, tat so, als hätte er mich nicht gehört. Ich setzte mich auf und stellte fest, dass ich nackt war. Damit stand ja wohl fest, dass ich die weiteren Leistungen in Anspruch genommen hatte, doch außer einigen verwirrenden Traumbildern rührte sich noch immer keine Erinnerung. An das also, was wir tatsächlich getan hatten.

«Ich gehe jetzt», sagte ich und raffte mein Kleid und die Unterwäsche zusammen. Er reagierte überhaupt nicht. Wieder so ein Morgen danach, wo nach einer leidenschaftlichen Nacht alles nur noch schal und peinlich ist. Schade eigentlich, aber was hatte ich erwartet, bei … einem Callboy? Ich hätte es wissen müssen, trotzdem war mein Herz schwer. Hatte ich ihn überhaupt schon bezahlt? Mir wurde übel, als ich daran dachte, und während ich mich von Laurean abwandte, um wenigstens die Illusion von etwas Privatsphäre zu haben, leckte ich mir über die Lippen und verzog angeekelt das Gesicht. Es musste ein Traum gewesen sein, eine erotische, wilde und verstörende Fantasie, denn natürlich, es war vollkommen unmöglich, dass ich all das getan hatte. Wo waren denn nur meine Schuhe? Ich konnte sie nirgends entdecken und geriet in Panik.

Ohne mich noch einmal nach Laurean umzusehen, stolperte ich in die Eingangshalle, öffnete die hohe Tür und stand wenig später auf der Straße. Ich blickte nach links, dann rechts und überlegte, in welche Richtung ich gehen sollte, da brauste wie aus dem Nichts ein Taxi heran und kam unmittelbar vor meinen nackten Füßen zum Stehen. Der Fahrer sah mich nicht an und nickte nur stumm, als ich die hintere Tür öffnete und fragte, ob er in die Stadt führe. Das kam mir etwas sonderbar vor, aber was hätte ich sonst tun sollen als einzusteigen und mich nach Hause fahren zu lassen? Ich konnte ja kaum auf bloßen Füßen die ganze Stadt durchqueren, abgesehen davon, dass ich nicht einmal wusste, wo ich mich befand. Wie waren wir eigentlich hierhergekommen? Die Gegend war mir vollkommen fremd, vor der Stadt offensichtlich, denn weit und breit war kein einziges Haus zu sehen oder Autos oder Menschen. Nur Bäume, und hinter mir die Villa. Was für ein Glück, dass der schweigsame Taxifahrer zufällig vorbeigekommen war und angehalten hatte!

Als der Wagen anfuhr, blickte ich ein letztes Mal zum Haus hinüber. Es wirkte trostlos und verlassen. Bevor das Gebäude aus meinem Blickfeld verschwand, meinte ich, hinter einem der hohen Fenster im Erdgeschoss eine Bewegung zu erkennen. Eine hohe Gestalt, ein schmales, blasses Gesicht.

Ich lehnte mich im Fond zurück und schloss die Augen. Die pulsierende Kraft, die in der Nacht durch meinen Körper geströmt war, hatte mich verlassen. Ich fühlte mich zerschlagen und vor Erschöpfung so weich, als könnte ich in der Sonne zerfließen. Immer noch hatte ich diesen seltsamen Geschmack im Mund, metallisch irgendwie, und konnte mich nicht entscheiden, ob ich es mochte oder nicht, fremd war das und doch vertraut. Während der Fahrt blickte ich aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen.

 

Erst als wir endlich vor meiner Haustür anhielten, wurde mir bewusst, dass ich dem Fahrer gar keine Adresse genannt hatte. Bevor ich mich weiter darüber wundern konnte, stellte ich mit Entsetzen fest, dass meine Handtasche verschwunden war. Hatte ich sie noch bei mir gehabt, als wir am Abend das Lokal verließen? Ich überlegte fieberhaft, doch da war nur eine gähnende Gedächtnislücke. Es kam mir vor, als hätte der gestrige Polterabend in einem anderen Leben stattgefunden. Zwischendurch blitzte das Bild des nackten Laurean auf, der blutend unter mir lag.

«Ich muss eben hinauflaufen und Geld holen, würden Sie bitte kurz warten?», keuchte ich und kämpfte erneut die aufsteigende Übelkeit nieder.

«Die Fahrt ist bezahlt», sagte der Fahrer, ohne auch nur den Kopf zu wenden.

«Oh», sagte ich und stieg aus. Noch ein Rätsel.

Nun stand ich erst einmal etwas ratlos und unschlüssig vor der Haustür. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte an der Hauswand hoch. Meine Wohnung lag im dritten Stock, da konnte ich kaum die Fassade emporklettern. Lena hatte für alle Fälle einen Ersatzschlüssel, aber die wollte ich an diesem Morgen nicht behelligen, zumal ich nicht einmal wusste, wie spät es war. In diesem Augenblick öffnete sich die Haustür und eine ältere Dame, die im Erdgeschoss wohnte, trat heraus. Ich grüßte höflich und schlüpfte an ihr vorbei, ehe sie mich genauer in Augenschein nehmen konnte.

«Guten Morgen, Frau Bach, wie sehen Sie denn … », hörte ich noch, ehe die Tür zwischen uns ins Schloss fiel. Ich verzichtete auf den Fahrstuhl und war in wenigen Augenblicken im obersten Stockwerk angelangt. Und nun, dachte ich, was jetzt? Kein Handy, um den Schlüsseldienst anzurufen. Ich legte meine Hand auf den Knauf, drehte ihn herum und war nicht einmal sehr erstaunt, dass die Tür sich öffnen ließ. Dabei wusste ich ganz genau, dass ich am Vorabend abgeschlossen hatte. In diesen Dingen war ich immer äußerst penibel, es war einfach ausgeschlossen, dass ich vergessen haben sollte, den Schlüssel wie immer zweimal herumzudrehen.

Ich trat ein und blickte mich vorsichtig um, als wäre es nicht meine Wohnung, die ich seit gut fünf Jahren bewohnte, sondern das Heim einer anderen Person. Jeder Quadratzentimeter war mir vertraut, ich hatte die Wände selbst gestrichen und die Teppiche ausgesucht, hier im Flur hatte ich einmal Rotwein verschüttet, was im hellen Veloursboden einen Fleck hinterlassen hatte, der sich nie wieder ganz entfernen ließ, und dort, am Eingang zum Schlafzimmer, war der Lack am Türrahmen abgeplatzt, als Max ausgezogen war und die Möbelpacker mit seiner verdammten Hantelbank hängen geblieben waren. Seit seinem Auszug wohnte ich allein, es war also ganz und gar mein Reich, mein Rückzugsort, und überall fanden sich Spuren meines Lebens. Dennoch fühlte es sich seltsam fremd an an diesem Morgen.

Ich durchquerte den Flur wie eine Schlafwandlerin und betrat das Wohnzimmer. Das Erste, was ich sah, war meine Handtasche, die unübersehbar auf dem großen ovalen Esstisch thronte, als hätte ich sie niemals mitgenommen. Konnte es sein, dass ich am Vorabend ohne sie das Haus verlassen hatte? Wann hatte ich Geld oder Handy gebraucht? Ich sah mich in die Bar gehen, wo Laurean auf mich gewartet hatte. Wir hatten nichts getrunken, dann aber ein Taxi zu dem Lokal genommen, in dem die Feier stattfand. Ich war sicher, den Fahrer bezahlt zu haben, und später, hatte ich nicht wutentbrannt die Geldscheine hervorgekramt und Laurean in die Hand gedrückt, als ich mich von ihm zurückgewiesen fühlte?

Es war alles höchst verwirrend, und ich verstand überhaupt nichts mehr. Nun, da ich mich wieder in meiner gewohnten Umgebung befand, kamen mir die Geschehnisse der Nacht mehr denn je wie ein Traum vor, eine kranke Fantasie. Ich ging hinüber in das angrenzende Arbeitszimmer und stellte den Computer an. Laurean. Wer war dieser Mann? Ich wollte sein Foto noch einmal ansehen, musste mich vergewissern, dass es ihn tatsächlich gab. Aber dann schien es, als hätten weder Champagne & More noch er jemals existiert. Die Seite war einfach nicht mehr auffindbar. Ich versuchte die unterschiedlichsten Suchanfragen, aber keine ergab auch nur einen einzigen passenden Treffer. Schließlich gab ich es auf. Ich schlug die Hände vor das Gesicht, doch es half nichts, immer wieder schoben sich rauschhafte Erinnerungsfetzen in mein Bewusstsein, die mich gleichermaßen verstörten und erregten. Sobald ich Laureans gebeugten Hals vor mir sah, spürte ich den Geschmack seines Blutes auf meiner Zunge. Es war köstlich gewesen und berauschender als Alkohol, dabei hatte es mich nicht benebelt, sondern hatte meine Sinne klarer gemacht als je zuvor, und so hatte ich auch den Akt empfunden, in dem wir uns schließlich vereinigten. Liebe oder Sex waren Worte, die nur unzulänglich beschrieben, was ich mit Laurean erfahren hatte. Und doch konnte es unmöglich real gewesen sein, dass ich mich gebärdet hatte wie ein Tier, der wilde, endlose Paarungsvorgang, dazu all das Blut, nein, das war doch unmöglich, beschämend und abartig …

Was konnte dann der Grund für diese verwirrenden Bilder sein? Drogen, Übermüdung, oder verlor ich vielleicht den Verstand? Erschöpft und traurig stand ich auf und schwankte hinüber in das Schlafzimmer. Ich streifte das Kleid ab und ließ es zu Boden fallen, dann warf ich mich auf das Bett und schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hatte ich nicht das Gefühl, geschlafen zu haben, dennoch mussten einige Stunden vergangen sein. Vor den Fenstern war es dunkel, das Zimmer war finster, dennoch spürte ich, dass ich nicht allein war.

«Laurean?», flüsterte ich.

«Ich bin gekommen, um dich zu holen», antwortete er. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich Laurean in grünlich leuchtenden Umrissen erkennen konnte, obwohl es doch an sich stockdunkel war. Seltsam, dachte ich, alles fühlt sich so anders an.

«Wie spät ist es?», fragte ich und streckte mich. «Ich muss morgen zeitig aufstehen, du weißt schon, Lenas Hochzeit, ich muss um neun Uhr an der Kirche sein …»

Sein heiseres Lachen jagte mir einen wohligen Schauer über den Rücken.

«Warum lachst du? Kommst du mit, begleitest du mich?»

Wie auch immer er in die Wohnung gelangt war, ich war einfach nur froh, dass er bei mir war. Wenn es nach mir ginge, wollte ich am liebsten keinen Schritt mehr ohne Laurean tun. Die ängstliche Verwirrung, die mich am Morgen noch gelähmt hatte, war verschwunden, sobald ich seine Stimme gehört hatte. So verliebt war ich schon seit Langem nicht mehr gewesen, und es war noch viel mehr als das. Mein Körper begann zu vibrieren, ich fühlte mich ganz leicht, beinahe als schwebte ich, und zugleich voller Energie. Ich streckte eine Hand aus, um Laurean zu mir auf das Bett zu ziehen, dabei spürte ich, wie sich Muskeln in meinem Körper anspannten, von denen ich nicht gewusst hatte, dass ich sie besaß. Es war ein gutes Gefühl.

«Du wirst ebenso wenig in eine Kirche gehen wie ich.»

«Was sagst du denn da? Natürlich muss ich in die Kirche gehen, ich bin doch die Trauzeugin. Lena ist meine beste Freundin, das weißt du.»

Ich leckte mir die Lippen, dann begann ich zu knurren. Das Geräusch kam wie von selbst aus der Tiefe meines Körpers, ein tiefes Grollen, das meinen Brustkorb anschwellen ließ. Plötzlich sah ich Laurean mit anderen Augen, das war nicht mehr dieses zarte Gefühl der ersten Verliebtheit. Ich wollte ihn besitzen, sein Blut, nein, ich wollte es nicht nur, ich wusste, dass ich es brauchte. Diese Empfindung war ungewohnt und brannte schmerzhaft, ich spürte sie in allen Poren und fletschte ungeduldig die Zähne.

«Siehst du?» Laureans Stimme war heiser. «Du wirst weder morgen noch jemals wieder eine Kirche betreten.»

«Ja», sagte ich und hatte schon vergessen, dass mir dieses Vorhaben eben noch so wichtig erschienen war. Auch wenn ich noch nicht vollends erfasst hatte, weshalb Laurean das sagte, zweifelte ich nicht daran, dass er recht hatte. In diesem Augenblick war ich außerstande, darüber nachzudenken, was dies für Lena und den morgigen Tag bedeuten würde. Und für mich. Mit jeder Faser meines Körpers lechzte ich nach Laurean, für anderes gab es keinen Raum mehr. In der Finsternis sah ich seine Augen aufblitzen. Gab es schwarze Edelsteine? So kamen sie mir vor, verführerisch und kostbar.

«Später», sagte er. «Erst die Beute.»

So begann die erste Nacht, in der Laurean und ich gemeinsam durch die Straßen streiften und er mich lehrte, nach Beute Ausschau zu halten. Ich hatte mich nach seinen Anweisungen angekleidet. Es war wichtig, dass wir nicht auffielen, sagte er. Äußerlich betrachtet waren wir ein modernes, gutaussehendes Pärchen wie viele andere. Laurean trug Chinos und Sakko, ich hatte mir ein luftiges Sommerkleid angezogen. Die Nacht war lau, während ich innerlich glühte. Die Gier wuchs mit jeder Stunde, die verging, ohne dass wir ein geeignetes Objekt ausmachen konnten. Du musst Geduld haben, Isa, hatte er immer wieder gesagt, du musst lernen, den richtigen Moment abzuwarten.

Schließlich gelangten wir in einen Park, wo wir uns im Schutz der Sträucher aufhielten, bis endlich, endlich eine einzelne Person herannahte. Laurean nickte mir zu. Ich sah, wie seine Augen vor Erregung glommen, dann wandte ich mich ab und trat auf den Weg.

Der Mann, der mir entgegenkam, erschrak kurz, dann ging er beruhigt weiter, als er mich sah. Eine Frau, allein im Park kurz nach Mitternacht, die hatte wohl mehr zu befürchten als er. Als er auf meiner Höhe war, wirbelte ich herum und schlang meine Arme um ihn. Zu meiner Überraschung warf ich den Mann vollkommen mühelos zu Boden. Bisher hatte er keinen Laut von sich gegeben, nur ein leichtes, überraschtes Keuchen. Als hätte ich nie etwas anderes getan, bog ich instinktiv seinen Kopf nach hinten und biss zu.

«Aaah», gurgelte er, dann hörte ich nichts mehr, nur noch mein eigenes Schmatzen.

Neben mir knurrte Laurean. Wie ein Jungtier, das widerstrebend dem Anführer des Rudels weicht, zog ich mich zurück. Schließlich, nachdem er selbst sich gestärkt hatte, überließ er mir die Beute ein weiteres Mal. Bald gab Laurean mir ein Zeichen, dass ich aufhören sollte. Ich richtete mich keuchend auf, das Blut des Mannes noch auf den Lippen.

«Wir wollen ihn nicht töten, weißt du. Du musst dich beherrschen.»

Laurean schob die rechte Hand unter sein Hemd und zog das goldene Amulett mit dem roten Edelstein darauf hervor, dann bückte er sich zu dem Mann hinunter, berührte die leblose Gestalt und murmelte ein paar unverständliche Worte. Gebannt beobachtete ich, wie sich die Wunde, die wir dem Mann zugefügt hatten, innerhalb von Sekunden schloss.

Laurean richtete sich auf. Seine schwarzen Augen funkelten und seine Lippen glänzten tiefrot.

«Wenn er nicht … tot ist, was ist dann mit ihm?», fragte ich.

«Er wird noch eine Weile ohne Bewusstsein sein, dann wird er ohne jede Erinnerung an das Geschehen wieder zu sich kommen. Einige Tage wird er sich noch etwas matt fühlen, doch äußerlich wird ihm nichts anzusehen sein. Das ist wichtig, hörst du? Nur wenn wir sie leben lassen, können auch wir überleben. Das wirst du bald verstehen. Halte dich immer daran. Du darfst sie niemals vollständig ausbluten lassen. Das bringt Unheil für uns alle, merke dir das!»

Ich nickte gehorsam. Wir wandten uns ab und kehrten auf verschlungenen Wegen in die geheimnisvolle Villa zurück. Laurean führte mich an, er sprang über Zäune und andere Hindernisse, als wären sie nicht vorhanden, und zu meinem Erstaunen folgte ich ihm ebenso mühelos. Niemand schien uns zu sehen, es war, als wären wir allein auf der Welt. Mein Körper hatte sich auf geheimnisvolle Weise verändert. Es war, als hätten sich meine Beine in Stahlfedern verwandelt, ich spannte die Muskeln an und sprang, als gäbe es keine Schwerkraft. Das Blut der Beute hatte sich mit dem meinen vermischt, ich konnte förmlich spüren, wie es in meinen Adern pulsierte. Obwohl ich gesättigt war, war es mir einfach nicht genug. Ich wollte mehr und mehr und mehr davon.

Als wir in der Villa ankamen, brannte das von unbekannter Hand entfachte Feuer im Kamin. Laurean entkleidete sich wortlos, ich tat es ihm nach, dann streckten wir uns auf dem Lager aus Teppichen aus und umschlangen einander mit Armen und Beinen. Es war, als lösten sich die Grenzen zwischen uns auf, er konnte mich ebenso nehmen wie ich ihn, ich war in ihm und er zugleich in mir. Zuerst bot er mir den Hals dar, dann bog ich meinen Kopf einladend zurück. Als Laurean seine langen, weißen Zähne in mein Fleisch bohrte, hatte ich Schmerz erwartet, den anzunehmen ich jedoch bereit war, doch was ich dann empfand, war noch viel mehr: Schmerz, ja, aber auch eine Mischung aus Entzücken, Wollust und Erfüllung, die so intensiv war, dass ich wollte, es würde niemals aufhören. In diesem Augenblick begriff ich, dass ich nun endgültig an ihn gebunden war, und nichts anderes wollte ich mehr.

Trotzdem verstand ich so vieles noch nicht, und als wir die Augen geschlossen hatten und sie wieder öffneten und einander im hellen Morgenlicht begegneten, da musste ich es einfach wissen. Ich richtete mich auf und betrachtete den blassen Körper, der ausgestreckt vor mir lag. Seine Brust hob und senkte sich, ruhig und gleichmäßig. Man hätte meinen können, er wäre nur ein Mann, mit dem ich die Nacht verbracht hatte. Wären da nicht die getrockneten Rinnsale gewesen, die sich wie mit roter Farbe kunstvoll aufgemalt über Hals und Oberkörper zogen.

«Warum ich?», fragte ich.

«Es ist so vorbestimmt», antwortete Laurean geheimnisvoll.

«Aber, wenn ich dir nicht gefolgt wäre, was wäre dann gewesen?»

«Warum fragst du das? Du bist mir gefolgt.»

«Aber wenn …»

»Du musst noch viel lernen, Isabel. Fragen nach dem wenn bringen gar nichts.»

Wir schwiegen. Da war noch etwas, das mich beschäftigte.

«Was ist mit dem Escortservice? Ich konnte die Seite nicht mehr im Internet finden. Ich meine, das ist es doch, was du tust, für Geld mit Frauen auszugehen? Du schläfst mit ihnen, wenn sie das wollen? Okay, aber warum ist die Seite dann jetzt nicht mehr aufzufinden?»

Laurean lachte rau.

«Das Ganze ist doch nicht echt, Isa. Es ist ein Fake. Am nächsten Tag gibt es eine neue Seite, damit niemand unsere Spuren verfolgen kann, falls sich wider Erwarten doch einmal jemand erinnern sollte.»

«Aber, wie konntest du wissen, dass ich mir ausgerechnet dich aussuchen würde?»

«Ihr sucht immer mich aus, das ist einfach so. Ihr könnt nicht anders. Dann mache ich den Job und lösche die Seite.»

«Oh.» Ich dachte nach, aber irgendwie ergab das alles keinen Sinn. «Heißt das, ich oder eine andere hätten dich gebucht, und danach wärest du dann verschwunden? Ehrlich, ich verstehe einfach nicht, warum du das tust! Das mit den Frauen, meine ich.»

Laurean setzte sich auf und schüttelte den Kopf. Seine grauen Augen waren in diesem Licht so hell, dass sie beinahe durchsichtig wirkten.

«Hör zu, Isa, ich weiß, bei euch Menschen geht es immer um Treue und Eifersucht und solche Sachen. Vergiss das alles, ja? Es spielt keine Rolle mehr. Auch wenn wir uns in eurer Welt bewegen und uns eurer Errungenschaften bedienen, sind wir … nun ja, wir haben eben besondere Bedürfnisse.»

«Was meinst du damit, ‹bei euch Menschen›? Was bist du denn dann?»

Diesmal war ich es, die ein Lachen ausstieß, dabei war ich alles andere als froh. So etwas wollte ich überhaupt nicht hören. Wie hatte ich mir auch einbilden können, dass dieser Mann mir ganz allein gehören würde? Es war doch immer wieder dasselbe, immer wollten sie Sex mit anderen Frauen, früher oder später, nie war ich einem genug, und dieser hier tat es auch noch für Geld. Die Eifersucht lag mir wie ein harter Klumpen im Magen, und ich tat mir mit einem Mal so leid, dass mir beinahe übel wurde. War es denn zu viel verlangt, dass ich ein einziges Mal einen Mann für mich allein haben wollte? Der mich ganz und gar wollte, vielleicht sogar heiraten, und …

Plötzlich fiel mir etwas ein. Siedend heiß.

«Oh Gott, es ist Sonntag, oder? Wie spät ist es? Ich muss los. Die Kirche, Lenas Hochzeit!»

Ich sprang auf und blickte mich um. Wo waren meine Sachen? Ich musste schnellstens zusehen, dass ich nach Hause kam. Umziehen, dann in die Kirche. Ob ich es noch schaffen konnte? Wie hatte ich das nur vergessen können?

«Ich habe dir schon gesagt, du wirst in keine Kirche mehr gehen. Du kannst es nicht, Isabel.»

«Was soll das heißen? Das hast du mir gestern schon gesagt. Wie stellst du dir das vor? Natürlich muss ich in die Kirche, ich bin die Trauzeugin. Ruf mir bitte wieder ein Taxi, sei so gut, ja?»

Laurean rührte sich nicht. Plötzlich schoss ein Arm vor und seine Hand umschloss den Knöchel meines Beines wie eine eiserne Klammer.

«Du bist jetzt wie ich, Isa. Sobald du die Kirche betrittst … Nun, du musst mir einfach vertrauen, wenn ich dir sage, dass es nicht geht. Mit der Zeit wirst du das alles verstehen.»

Ich lachte unsicher auf.

«Lass mich los, Laurean, das ist doch dummes Zeug. Du tust mir weh!»

«Willst du es immer noch nicht begreifen? Du bist jetzt wie ich, eine von meinem Blut. Du hast das Blut des Fürsten und Herrn der Salizaren getrunken. Isabel, du bist jetzt meine Schwester, meine Gefährtin für alle Zeiten.»

«Aber … das … ich verstehe nicht …», stammelte ich.

«Was hast du denn gedacht, was wir tun? Hast du gedacht, ich wäre einfach irgendein Typ, der auf etwas ausgefallene Sexspielchen steht? Wach auf, Isa. Ich kann dich nicht dorthin gehen lassen. Es ist zu gefährlich, das musst du mir glauben!»

Meine Beine begannen zu zittern. Als sie nachgaben, fing Laurean mich auf. Er bettete mich auf den Teppich und schlang seine Arme um mich. Unsere Körper verschmolzen erneut, aber diesmal war es anders. Als wären wir einfach nur ein Mann und eine Frau, die sich liebten, oder vielleicht wollte ich auch einfach nur, dass es sich so anfühlte. Was es auch war, es war gut, es war besser als alles, was ich gekannt hatte, und als wir schließlich nebeneinander ruhten und mein Atem sich beruhigt hatte, sagte ich: «Ich muss ihr aber Bescheid sagen.»

«Das musst du wohl», antwortete er und nickte. Als ich aufstand, um in meiner Handtasche nach dem Handy zu suchen, hatte Laurean die Augen erneut geschlossen. Ich sah, wie die Augäpfel sich hinter den Lidern bewegten. Ich nahm das Telefon und ging, nackt wie ich war, hinaus in die Eingangshalle. Ich wusste, dass dieses Gespräch mehr bedeuten würde als nur die Absage zur Hochzeit. Lena würde mir niemals verzeihen.

Während ich die Kurzwahlnummer eingab, unter der ich das Mobiltelefon meiner Freundin eingespeichert hatte, entschied ich, dass ich sie nicht anlügen würde. Ich würde keine Krankheit vorschieben, ich würde mich nicht herausreden. Während ich auf das Freizeichen wartete, sah ich Lena vor mir. Wir kannten uns seit vielen Jahren, niemand kannte mich besser als sie. Ich dachte an ihr Lächeln und wie sie immer den Kopf in den Nacken geworfen hatte, wenn jemand etwas Lustiges sagte. Diese Linie ihres Halses, ich würde mich darüber beugen, und …

«Hi, Isa, wo bist du, es ist gleich neun! Wir warten schon!»

«Ich komme nicht.»

«Was?»

Lena kreischte aufgeregt ins Telefon.

«Ich kann dich ganz schlecht verstehen. Ist die Verbindung so schlecht? Isa, wo steckst du denn?»

Ich räusperte mich, dann wiederholte ich mit lauter Stimme: «Lena, ich werde nicht kommen. Ich kann nicht deine Brautjungfer sein. Verzeih mir.» Dann unterbrach ich das Gespräch und schaltete das Handy aus. Dieser Bruch würde endgültig sein. Ich fühlte nichts außer einem vagen Erstaunen, dass ich das eben tatsächlich getan hatte. Seit Monaten hatte Lena kaum von etwas anderem geredet als von ihrer Hochzeit und ich hatte genau gewusst, was dieser Tag und meine Anwesenheit ihr bedeuteten. Doch ich hatte keine andere Wahl, und so kehrte ich zu Laurean zurück.

«Schläfst du?», fragte ich leise.

Er schlug die Augen auf.

«Wir schlafen nicht, Isa. Aber in der ersten Zeit kann es sein, dass du noch manchmal einschläfst, das ist ganz normal.»

«Wie meinst du das, dass du … ich meine, dass wir nicht schlafen?»

«Wie ich es sage, Isa. Wir haben einfach kein Schlafbedürfnis. Stattdessen gehen wir in die Träume der Menschen. Dort kannst du tun, was du willst. Du wirst sehen, es wird dir gefallen. Wenn du willst, nehme ich dich mit. Komm her, lege dich zu mir und schließe die Augen.»

Laurean ergriff meine Hand, sobald ich mich neben ihm ausgestreckt hatte, und ich machte die Augen zu. Das Letzte, was ich fühlte, war der Druck seiner Finger, dann fielen wir tief, erst durch heiße, dann durch kalte Luft. Alles war ganz rot, dann blau, dann war gar keine Farbe mehr da. Schließlich umfing uns Wasser und um uns herum tanzten zahllose Delfine. Ein kleiner Junge ritt auf einem von ihnen und Laurean und ich schwangen uns ebenfalls auf eines der flinken Tiere. Wir ritten mit dem Jungen um die Wette. Er lachte und hatte keine Angst vor uns. Dann flogen wir der Sonne entgegen. Über uns war ein Flugzeug, das in der Luft zu stehen schien. Der Rumpf zerbarst, Passagiere und Wrackteile stürzten an uns vorüber rasend schnell in die Tiefe. Nur ein alter Mann schwebte nahezu bewegungslos, wie ein Ballon. Ich sah seinen Mund auf- und zugehen und obwohl kein Laut zu uns drang, wusste ich, dass er um Vergebung bat. Doch wofür? Laurean schüttelte den Kopf und öffnete eine Tür, die sich mitten zwischen den Wolken befand. Wir betraten eine Ebene, die unendlich schien. Eine junge Frau lief an uns vorüber. Ihr Haar war kupferfarben und sie hatte Angst. Ihr Mund war zu einem unhörbaren Schrei geöffnet. Ich wandte mich um und erblickte ein vielköpfiges Monster, das die Frau verfolgte. Ohne zu zögern streckte ich eine Hand aus und zerschmetterte das Monstrum, als wäre es eine lästige Fliege. Doch die Frau hörte nicht auf zu schreien. Diesmal waren wir es, die sie ängstigten. Laurean ließ sich auf alle viere nieder. Im nächsten Augenblick hatte er sich in ein rassiges, pechschwarzes Pferd verwandelt, das ich bestieg. Schon nach wenigen Sprüngen hatten wir die junge Frau erreicht. Ich warf mich auf sie, schlang meine Beine um ihren Körper und biss zu. Schließlich kam ein Wind auf und trug sie wie Staub von mir fort, nahm sie einfach aus meinen Armen. Ich schlug die Augen auf.

«Das war unglaublich», sagte ich und streckte mich. Im Kamin brannte bereits das Feuer und die Dämmerung hinter den Fenstern kündigte die Beutezeit an. Laurean hatte sich erhoben, er stand angezogen vor mir und ließ die Reißzähne in den Mundwinkeln aufblitzen. In meinem Mund stieß die Zunge an etwas, das sich noch ungewohnt anfühlte, scharf und glatt. Ich konnte es kaum erwarten, mich in die Nacht zu stürzen.