22. Kapitel

Die Abendmessen in den Kirchen Nürnbergs hatten noch längst nicht begonnen, aber dennoch saßen in den Bänken der Gotteshäuser sehr viel mehr Menschen als an anderen Tagen. Die meisten hatten die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt, um still zu beten, aber einige starrten auch einfach zu den Altären und Kreuzen hinauf. Es waren jene, die bei dem Aufruhr am Rabenstein oder in der Sebalder Stadt Angehörige verloren hatten – oder deren Angehörige jetzt im Loch saßen und darauf warteten, dass der Rat darüber entschied, was mit ihnen geschehen sollte.

Bis auf einen Mann, der noch immer mit flammendem Blick in seiner Zelle hockte und von Engelheerscharen faselte, waren alle anderen, die von der Raserei befallen worden waren, wieder vernünftig geworden. Wie verkaterte Säufer hockten sie in ihren Gefängnissen, hielten sich die schmerzenden Köpfe und Glieder und konnten sich nicht erklären, was sie angetrieben hatte. Durch eine Befragung, die der Rat angeordnet hatte, war herausgekommen, dass die meisten von ihnen vor Beginn der Hinrichtung Wasser aus dem nahegelegenen Brunnen getrunken hatten. Danach hatte rasch das Gerücht die Runde gemacht, der Brunnen sei vergiftet gewesen. Es kam zu weiteren Ausschreitungen. Eine Bande junger Männer fiel in das Judenviertel ein, das sich im östlichen Teil der Stadt befand, und brannte zwei Wohnhäuser und ein Spital ab. Dreiundzwanzig Juden kamen dabei ums Leben, und die Brandstifter fanden sich kurze Zeit später im Stock des Lochgefängnisses wieder, weil keine andere Zelle mehr für sie frei war. Zwei Wäscherinnen von der Heubrücke wurden auf offener Straße überfallen und niedergeknüppelt, weil man sie für Hexen hielt. Ein paar beherzte Bürger konnten gerade noch verhindern, dass die Angreifer die beiden Frauen in Brand setzten.

Um neuen Ausschreitungen vorzubeugen, hatte Bürgermeister Zeuner selbst sich am Morgen des 12. August der Untersuchung des Rabensteinbrunnens angenommen. Mit zwei Stadtbütteln war er hinaus zum Richtplatz gegangen und hatte das Wasser probiert. Er war gesund geblieben, und um die aufgebrachte Volksseele zu besänftigen, hatte er die Demonstration kurz vor Sonnenuntergang in einer öffentlichen und weithin angekündigten Zeremonie wiederholt. Seitdem kursierten in der Stadt ein halbes Dutzend Geschichten über seinen Mut und genauso viele über seine Dummheit. Trotzdem hatte er erreicht, was er wollte: Die Menschen waren überzeugt davon, dass der Brunnen nicht vergiftet gewesen war.

Im Morgengrauen des 13. Augusts tauchten die Geißler wieder auf, doch die Stadtbüttel vertrieben sie sofort. Der Stadtrat ließ an allen Ecken ausrufen, dass jeder, der auf der Straße die allgemeine Verwirrung durch seine Reden noch steigerte, sofort ins Loch gesteckt werden würde.

Am Nachmittag des 14. August saß Katharina in der Wohnstube ihres eigenen Hauses und hielt den Kopf ins Sonnenlicht, das schräg durch das Fenster fiel und goldene Muster auf Decke und Wände malte. Bis eben hatte sie versucht, in einem Buch zu lesen, aber ihre Gedanken schweiften in einem fort ab. Die Wunde an ihrem Hals schmerzte ein wenig und auch ihre Kehle, deren Krampf sie noch immer zu verspüren meinte. Seufzend stützte sie das Kinn in die Hand und schloss die Augen.

»Woran denkst du?« Die Stimme ihrer Mutter drang leise, beinahe zögerlich in ihre Gedanken ein. Soweit Katharina wusste, hatten Richard und Arnulf nur Mechthild und Bertram verraten, dass sie noch am Leben war. Bertram hatte Katharinas Mutter an diesem Vormittag in Egberts Haus gebracht, damit sie Katharina etwas Gesellschaft leistete, und war sofort wieder verschwunden, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie bequem saß.

Katharina öffnete die Augen wieder. »An nichts.« Ihre Stimme war noch heiser von dem Erlittenen, aber Richard hatte ihr versichert, das würde sich bald wieder geben.

Mechthild ließ die Stickerei sinken, an der sie arbeitete. Der helle Leinenstoff verdeckte ihre knochigen Knie. »Stimmt nicht.« Sie wartete einen Moment. »Matthias? Sebald? Oder Bertram?«

Katharina zwang sich zu einem Lächeln. Es ging ihr nach all den schrecklichen Ereignissen noch nicht besonders gut, aber immerhin konnte sie sich bewegen und sprechen und wenigstens so tun, als sei alles wieder im Lot. Dafür, dass sie offiziell tot war, dachte sie mit einem Anflug von Galgenhumor, fühlte sie sich sogar ausgezeichnet.

Und wenn sie ganz ehrlich auch mit sich selbst war, dann war es Richard, an den sie am häufigsten dachte. An die Art und Weise, wie er sie wieder und wieder geküsst hatte, und an die Tränen, die ihm dabei über das Gesicht geflossen waren. Nachdem Arnulf einen Weg gefunden hatte, Katharina heimlich zurück in die Stadt zu schaffen, hatte Richard sie zu sich nach Hause bringen wollen. Doch Katharina hatte darauf bestanden, in ihr eigenes Haus gebracht zu werden, und schließlich hatte er, wenn auch zähneknirschend, eingewilligt. Seit dem Augenblick, da er gegangen war, war er noch zweimal wiedergekehrt, um nach ihr zu sehen. Aber sie hatte vergebens nach einem Anzeichen von Zuneigung oder gar Zärtlichkeit in seinen Gesten und in seiner Miene gesucht. Er hatte ihre Halswunde untersucht und war ihr dabei sehr nahe gekommen. Trotzdem hatte er sie nicht mehr als dringend nötig berührt und war darüber hinaus wortkarg, fast mürrisch gewesen.

Katharina konnte sich diese Reaktion nicht erklären, aber sie hätte sich in diesem Moment lieber die Zunge abgebissen, als ihrer Mutter ihre wahren Gedanken zu enthüllen. Zuerst musste sie sich über ihre eigenen Gefühle im Klaren sein, dachte sie.

»An die Ereignisse im Lochgefängnis«, log sie Mechthild also an. »An Sebald.«

»Du hast mir noch kein Wort davon erzählt.« Sanfter Tadel schwang in Mechthilds Worten mit, und Katharina konnte ihre Mutter verstehen. Sie hatte sich bisher tatsächlich geweigert, davon zu berichten, was im Lochgefängnis geschehen war. Jede Frage danach hatte sie mit einem stummen Kopfschütteln abgewehrt.

Jetzt jedoch fühlte sie, dass Mechthild auf einer Erklärung bestehen würde, und sie schilderte die Ereignisse so ausführlich wie möglich. Mechthild hörte aufmerksam zu, stellte ab und zu eine Zwischenfrage, und als Katharina mit Sebalds Freitod endete, sah sie betroffen aus.

»Er muss vor Angst wahnsinnig geworden sein«, sagte sie, und Katharina hätte fast erwidert: »Ja, wegen deines Mannes!« Sie biss sich auf die Lippe. Ihr Innerstes fühlte sich an wie mit Nägeln gespickt.

Bertram. Der Henker.

Sie knirschte mit den Zähnen und hielt sich vor Augen, dass Bertram, wie Bürgermeister Zeuner und Prior Claudius auch, die Wasserprobe als gutes Mittel angesehen haben musste, auf möglichst wenig qualvolle Weise Katharinas Unschuld zu beweisen. Sie sagte sich, dass er zusammen mit Richard und Arnulf versucht hatte, sie vor dem Ertrinken zu retten, dass er selbst dafür gesorgt hatte, dass nach dem Unglück mit dem ertrunkenen Jungen der Flaschenzug repariert worden war, dass offensichtlich der Schmied gepfuscht hatte, dass Bertram nichts dafür konnte, wie dramatisch die ganze Sache geendet hatte ...

Aber all dieses Wissen schaffte es nicht, die Vorstellung davon aus Katharinas Geist zu verdrängen, wie ihr Stiefvater sich über sie beugte und in den dunklen, kalten Fluss stieß.

»Die halbe Stadt war wahnsinnig«, erinnerte sie ihre Mutter und erstickte fast an dem Unausgesprochenen.

»Stimmt.« Mechthild legte den Kopf schief. »Aber jetzt hat sich die Lage wieder beruhigt.«

Plötzlich fühlte sich Katharina in ihrem eigenen Haus wie eingesperrt. Das Gefühl war nicht so schlimm wie unten im Loch, aber es reichte, dass sie aufseufzte. »Erzähl mir ein bisschen darüber, wie es in der Stadt aussieht.« Sie wusste, dass es Bertrams Gewohnheit war, Mechthild lange Berichte über die Zustände in den Straßen und auf den Plätzen abzuliefern.

»Auf dem Großen Markt liegen eine ganze Reihe Buden in Trümmern. Die Leute sind dabei aufzuräumen, aber es wird dauern, bis alle Spuren des großen Wahnsinns beseitigt sind.«

»Hat es Brände gegeben?«

»Einige. Beim Koberger und unten an der Fleischerbrücke, und jemand hat in seinem Wahn die Linde am Karthäusertor in Brand gesetzt, so dass sie auf ein Haus gestürzt ist. Die Stadt hat übrigens bereits einen neuen Lochwirt eingestellt. Sein Name ist Gabriel Dengler.«

»Was passiert mit der armen Sigrid?«

»Hartmann Schedel hat sie als Pfründnerin im Heilig-Geist-Spital untergebracht. Man kümmert sich dort gut um sie. Sie ist ja keine arme Frau.«

Katharina musste an die Verhältnisse denken, in denen Sebald und seine Mutter in der Lochwirtswohnung gelebt hatten. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass Sebald mit seiner Arbeit gutes Geld verdient hatte, auch wenn ihre Mutter es ihr jetzt noch einmal versicherte.

»Es muss schrecklich für sie sein!«, seufzte Mechthild. »Erst den einen Sohn zu verlieren und jetzt auch noch den zweiten.«

Das brachte Katharinas Gedanken auf Lorenz, den geheimnisvollen Bruder von Sebald. Bei einem seiner Besuche hatte Richard Katharina gegenüber fallen lassen, dass Hartmann Schedel ihm von Lorenz Groß erzählt hatte. Daraufhin hatte Katharina Richard gebeten, sein Wissen mit ihr zu teilen, und zu ihrer Erleichterung hatte er es auch getan – wenn auch mit knappen Worten.

Lorenz war nicht nur das Hirngespinst einer verwirrten alten Frau gewesen, wie Katharina immer gedacht hatte, sondern er hatte tatsächlich existiert.

»Er war viele Jahre älter als Sebald«, gab sie nun Richards Wissen an ihre Mutter weiter. »Und er war Sigrids ungeliebtes Kind. Als Sebald auf die Welt kam, zog sie ihn Lorenz in allem vor. Sebald war der Brave, er war ihr Engel.« Katharina fröstelte bei diesen Worten. »Und dann erkrankte Sebald an einem schrecklichen Leiden.«

»Das ihn so entstellt hat?«

Katharina nickte und schaute auf das Buch auf ihrem Schoß nieder. Sie hatte bisher nicht herausgefunden, was es mit dieser Krankheit auf sich hatte, die Hartmann Schedel und mit ihm auch Richard als »Antoniusfeuer« bezeichneten. Alles, was sie wusste, war, dass sie zu Verstümmelungen und manchmal zu Wahnsinn führen konnte.

»Sigrid begann zu glauben, dass Lorenz seinen jüngeren Bruder verflucht hatte«, fuhr Katharina fort. »Sie machte ihn für Sebalds Krankheit verantwortlich. Und damit ekelte sie ihn irgendwann aus dem Haus. Danach hat man Lorenz nie wiedergesehen.«

Eine Weile herrschte Stille im Raum.

»Sebald hat mich hin und wieder besucht«, begann Mechthild das Gespräch schließlich von Neuem, und Katharina hörte einen ganz leisen Vorwurf in ihren Worten.

... in jener Zeit, in der du mich nie besucht hast ...

»Ich weiß«, sagte Katharina. Sie presste die Lippen zusammen. Sie würde sich mit ihrer Mutter nicht streiten, nicht hier und nicht jetzt!

Zu ihrer Erleichterung schien auch Mechthild nicht an einem Streit interessiert. »Es fällt mir schwer, ihn mir als einen Mörder vorzustellen. Schwanenflügel!« Sie schauderte, und ihre Finger schlossen sich um die Stickerei.

»Mir auch.« Katharina senkte die Lider, doch sofort sah sie Matthias vor sich, den weißen Flügel, der durch den Staub gezogen wurde. »Aber die ganze Stadt war nicht bei Sinnen in den letzten Tagen.«

»Gibt es eine Erklärung dafür?«

Katharina schüttelte den Kopf. »Die Brunnen wurden ein weiteres Mal untersucht, aber man konnte keinen Hinweis auf Vergiftungen finden. Niemand weiß, was über Nürnberg gekommen ist, und ich fürchte, das Gerede von Hexen und Zauberern wird wieder zunehmen.« Sie verspürte einen Anflug von Angst bei diesem Gedanken, gepaart mit einer leisen Verzweiflung, weil sie nicht wusste, wie es mit ihr nun weitergehen sollte. Sie würde nicht ewig verheimlichen können, dass sie noch am Leben war. Und was dann? Voller Unbehagen kehrte Katharina zu dem Gespräch über Sebald zurück.

»Sigrid war in den letzten Jahren zunehmend verwirrt. Sie erkannte Sebald nicht mehr, und vielleicht machte sie sich auch Vorwürfe, dass sie ihren älteren Sohn damals vergrault hat. Jedenfalls wusste sie oft nicht mehr, wen sie vor sich hatte. Sie machte Sebald die gleichen Vorwürfe, wie sie damals Lorenz gemacht hatte, verlangte von ihm, ihr kleiner Engel zu sein. Das muss in Sebald einen ganz eigenen Wahnsinn ausgelöst haben. Hartmann Schedel vermutet, dass er versucht hat, seiner Mutter die Engel zu schenken, weil er selbst ihren Ansprüchen nicht gerecht werden konnte.«

»Furchtbar!« Mechthild hob beide Hände an den Mund und bedeckte ihn mit den Fingern. Katharina sah, dass ihre Nägel blau angelaufen waren.

»Frierst du?« Sie erhob sich.

Mechthild ließ die Hände wieder sinken. »Nur innerlich. Wenn diese beiden Medici wussten, was damals in Padua geschehen ist, warum dauerte es dann so lange, bis sie eingegriffen haben?«

Dafür konnte Katharina auch keine vernünftige Erklärung geben. In ihren Augen hätte Bruder Johannes in dem Moment die richtigen Schlüsse ziehen müssen, in dem er Matthias’ Leiche zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hatte. Immerhin wusste er, dass der Mann, der damals in Italien den Engelmord begangen hatte, sich hier in Nürnberg aufhielt. »Wahrscheinlich waren sie wie gelähmt. Außerdem hatte Sebald in Padua die Flügel nicht im Fleisch seines Opfers befestigt, sondern nur an dessen Kleidung.« Hilflos zuckte Katharina die Achseln. »Es ist eine schwache Erklärung, ich weiß. Wahrscheinlich haben die beiden selbst keine bessere.«

»Menschliche Feigheit«, sann Mechthild. »Es ist nichts schwerer, als die Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen. Werden sie zur Rechenschaft gezogen werden?«

»Wofür? Sie haben nichts getan. Außer zu schweigen.« Richard hatte ihr berichtet, dass Bürgermeister Zeuner dafür sorgen würde, dass Hartmann Schedel niemals einen Platz im Stadtrat erhielt. Größer würde seine Strafe nicht ausfallen, denn der Mord damals in Padua ging den Nürnberger Stadtrat nichts an, und Schedel hatte sich – bis auf sein Schweigen – nichts zu Schulden kommen lassen. Ohnehin, hatte Richard missmutig behauptet, sei Hartmann Schedel ein angesehener und wichtiger Medicus, auf den die Stadt nur ungern verzichten wollte. Das würde den Gedanken an eine härtere Bestrafung von vornherein aussichtslos machen.

»Wie geht es nun weiter?«, flüsterte Mechthild, und damit berührte sie genau jenes Thema, dem Katharina bisher ausgewichen war.

Nicht einmal mit Richard hatte sie darüber gesprochen.

Vielleicht würde sie Nürnberg einfach verlassen und sich in einer anderen Stadt ansiedeln. Noch einmal von vorn anfangen, so wie sie es damals getan hatte, als sie zum ersten Mal aus der Stadt fortgelaufen war.

Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es noch nicht«, sagte sie. »Wir werden sehen.«

Kurze Zeit später pochte es unten an der Haustür, und Katharina warf einen verstohlenen Blick aus dem Fenster. Es war Bertram, der gekommen war, um Mechthild abzuholen. Katharina ließ ihn ein. Er grüßte sie, wich aber ihren Blicken aus und sprach, bis er das Haus verließ, kein einziges Wort.

Nachdem die beiden fort waren, begann Katharina wie ein gefangenes Tier in ihrem Haus herumzuwandern.

* * *

Am Tag nachdem der Brunnen am Rabenstein untersucht worden war, kam ein Ratsdiener zu Richard nach Hause und befahl ihm, im Rathaus zu erscheinen. Auf Richards Frage hin, worum es ginge, erhielt er nur eine äußerst knappe Antwort: »Bürgermeister Zeuner wünscht Euch zu sprechen.«

Richard folgte der Aufforderung mit gemischten Gefühlen, denn noch immer wusste außer ihm, Arnulf und Katharinas Eltern niemand, dass sie noch am Leben war. Er fürchtete, sich zu verraten, und so betrat er Zeuners Kontor angespannt und voller Unbehagen.

»Ah, Sterner! Setzt Euch!« Der Bürgermeister erhob sich und wies auf einen der Stühle vor seinem Pult.

Richard ließ sich auf die harte Sitzfläche sinken.

Zeuner sah furchtbar aus – blass und übermüdet. Seine Lider waren rot gerändert, und unter seinem rechten Auge prangte ein Bluterguss, der jedoch nicht mehr ganz frisch war. Richard wies mit einem fragenden Blick darauf, und Zeuner verzog das Gesicht.

»Ein kleines Missgeschick, das mir vorgestern Abend passiert ist. Ich war zu erschöpft von den ganzen Begebenheiten in der Stadt und bin gegen eine Schranktür gelaufen.« Zeuner lachte auf, und es klang in Richards Ohren seltsam gehetzt.

»Womit kann ich Euch dienen?«, fragte Richard nun.

Zeuner setzte sich wieder. »Ich ... tja. Wenn ich ehrlich bin, wollte ich Euch fragen, wo Ihr Katharina habt begraben lassen.«

Überrascht riss Richard die Augen auf. Mit allem hatte er gerechnet: damit, nun endlich verhört zu werden wegen der Rolle, die er am Rabenstein bei Katharinas Verschwinden gespielt hatte. Oder damit, ins Loch geworfen zu werden, weil Zeuner irgendwie in Erfahrung gebracht hatte, dass Katharina noch am Leben war und der Bürgermeister die Wasserprobe entgegen der üblichen abwehrenden Haltung der Stadt gegen die Inquisition doch nicht als Beweis für ihre Unschuld anerkennen wollte.

Aber diese Frage verblüffte ihn so sehr, dass er sich für einen ganz kurzen Moment nicht richtig im Griff hatte. »Begraben ...«, murmelte er. Dann erst wurde ihm bewusst, dass Zeuner ihn aufmerksam musterte.

Fieberhaft überlegte er, was er antworten sollte.

Doch er musste sich gar keine Antwort ausdenken, denn jetzt stützte Zeuner die Unterarme auf dem Pult ab und ließ den Kopf sinken. Es war eine Geste, die so voller Trauer und Verzweiflung wirkte, dass Richard unwillkürlich die Stirn runzelte. »Katharina«, hauchte Zeuner mit tonloser Stimme. Es dauerte einen Augenblick, dann hob er das Kinn wieder und sah Richard an. Seine Augen schwammen jetzt in Tränen.

Richard lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, weil die eigene Verwirrung ihn nun völlig verunsicherte. Was ging hier vor?

Zeuner wischte sich über die Nasenspitze. »Verzeiht«, sagte er. »Ich vergesse mich, es ist nur ... Dieser schreckliche Unfall!«

»Ihr meint Katharinas ... Tod?« Richard musste sich zusammenreißen, bevor er das Wort aussprach.

Zeuner schniefte. »Ja.« Seine Stimme war jetzt so rau, als hätte er seit Stunden geweint.

Und da begriff Richard.

»Ihr ...« Er unterbrach sich und setzte neu an. »Ihr habt sie geliebt!« Es erklärte alles!, dachte er. Darum hatte Zeuner sich in den letzten Tagen so seltsam verhalten!

Der Bürgermeister brauchte eine Weile, bevor er nicken konnte. Jetzt waren nicht nur seine Augen rot, sondern auch seine Nase. Wieder wischte er darüber. »Das war der Grund, warum ich dafür gesorgt habe, dass sie zum Rabenstein mit musste!«, erklärte er. »Ich wollte sie dort irgendwie befreien ... während der Hinrichtung ... sobald alle Augen auf den Henker gerichtet waren.«

Richard warf den Kopf in den Nacken. »Aber dann begann der Aufruhr, und Arnulf und ich kamen Euch zuvor!«

»Sie war bei Euch?« Zeuner beugte sich vor. Seine Hände umschlossen die Tischkante. »Zwischen dem Rabenstein und der Sache mit Sebald Groß war sie bei Euch?«

Richard nickte nur.

Zeuner tastete in seinen Taschen nach einem Taschentuch, zog eines hervor und schnäuzte sich. »Dann habt Ihr ihr an jenem Tag wahrscheinlich das Leben gerettet.«

»An jenem Tag, ja.« Richard kam sich gemein vor, dem Bürgermeister nach wie vor etwas vorzumachen. Kurz überlegte er, ob er Zeuner erzählen sollte, dass Katharina noch am Leben war, aber ein überraschend heftiges Gefühl von Widerwillen hielt ihn davon ab. Er versuchte, es sich zu erklären, und kam zu dem Schluss, dass es Eifersucht war. »Wusste sie davon?«, fragte er. »Dass Ihr vorhattet, sie zu befreien, meine ich.«

»Nein. Ich habe sie nur gebeten, mir zu vertrauen, denn die Leute sind aufmerksam, wenn es um Hinrichtungen geht. Niemand sollte einen Ausdruck von Hoffnung in Katharinas Gesicht sehen auf dem Weg zum Rabenstein. Darum erzählte ich ihr nichts von meinem Plan.«

»Und die Sache mit der Wasserprobe?«

Wieder schniefte Zeuner. Das Taschentuch hielt er in der Faust, benutzte es jedoch nicht noch einmal. »Nachdem der Lochwirt sich umgebracht hatte und Ihr nach oben ins Rathaus gingt, da wollte ich mich ihr offenbaren. Aber dieser elende Inquisitor kam dazwischen. Und Prior Claudius. Zum Glück Prior Claudius, jedenfalls dachte ich das vor der Wasserprobe noch.«

»Ihr hofftet, dass die Probe Katharinas Unschuld zweifelsfrei beweisen würde«, vermutete Richard. »Oder hattet Ihr etwa vor, sie auch von dort heimlich zu entführen? Das wäre Euch nur schwerlich gelungen, schätze ich.« Nicht einmal Arnulf hätte das geschafft, fügte Richard in Gedanken hinzu. Nicht mal er.

Zeuner holte Luft. »Ich wollte nicht, dass sie stirbt ... die Kranwinde ... man hatte mir gesagt, sie sei repariert worden ... und Meister Bertram, er gab mir zu verstehen, dass er dafür sorgen würde, dass Katharina nichts geschieht ...« Er stieß einen gequälten Laut aus, der Richards Eifersucht ein wenig verjagte. Dann riss er sich zusammen. »Warum habt Ihr nicht gewartet, bis die Büttel die Leiche zurück in die Stadt brachten? Warum habt Ihr Eurem Mann befohlen, sie eigenhändig zurückzutragen?«

Nachdem Katharina einigermaßen zu sich gekommen war, hatte Richard sie gebeten, so zu tun, als sei sie wirklich tot. Arnulf hatte sie auf die Arme gehoben und durch das Stadttor getragen, ohne dass einer der Bürgermeister dagegen protestiert hatte.

Auf diese Frage wusste Richard keine Antwort, aber es war auch nicht nötig, eine zu geben, denn jetzt weiteten sich Zeuners gerötete Augen. »Ihr auch?«, flüsterte er.

»Was meint Ihr?«

»Ihr habt sie auch geliebt!« Plötzlich klang der Bürgermeister völlig sicher. Er stützte sich mit den Fäusten auf dem Pult ab und stemmte sich in die Höhe. Übergangslos wirkte er um zwanzig Jahre älter.

Richards wandte sich ein wenig ab, weil es ihm kaum gelang, das Leid des Mannes auszuhalten. Dabei fiel sein Blick auf eine Reihe von Kleiderhaken neben der Tür. Zeuners großer dunkelblauer Samthut hing dort, und ein zweiter, schwarzer mit einer großen Feder.

Richard achtete nicht weiter darauf, denn zu sehr beschäftigte ihn die Frage, die Zeuner ihm gestellt hatte.

Liebte er Katharina?

Er dachte an die Verzweiflung, die er empfunden hatte, als er sie für tot gehalten hatte. An die Schwäche, die er gespürt, den Schmerz, der sein Herz zerrissen hatte, bis zu dem Moment, in dem er ihren schwachen Pulsschlag unter seinen Fingern gespürt hatte.

Er stand auf, weil ihn die Gefühle überwältigen wollten.

»Ihr liebt sie auch!« Zeuner klang völlig sicher.

Richard wich bis zur Tür zurück. »Braucht Ihr mich noch?«

Zeuner rieb sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. »Sagt mir, wo Ihr sie beerdigt habt!«, bat er mit Grabesstimme.

Diesmal schaffte Richard es nicht, ihm etwas vorzumachen. »Kommt in mein Haus, sobald Ihr könnt«, konnte er noch sagen.

Dann verließ er das Kontor fluchtartig.

In der darauffolgenden Nacht schlief er schlecht, trotz der Anstrengungen der letzten Tage quälten ihn Alpträume, und nachdem er in den Morgenstunden endlich in einen tieferen, traumlosen Schlaf gefallen war, wachte er erst gegen Mittag wieder auf.

Da ihn der Hunger quälte, entschloss er sich, nachzusehen, ob er Arnulf in der »Krummen Diele« antraf. Er hatte sich bei dem Freund noch nicht für seine Hilfe bedankt – und auch dem Jungen, der ihn aufgespürt hatte, hatte er den versprochenen Gulden noch nicht bezahlt.

Im Gasthaus fand er Arnulf am selben Tisch sitzend wie vor einigen Tagen.

Der Nachtrabe grinste breit, und seine grünen Augen glitzerten im Sonnenlicht, das durch die weit geöffneten Fenster ins Innere der Gaststube strömte. »Ich habe auf dich gewartet.«

Richard legte Mantel und Hut ab, setzte sich und bestellte beim Wirt Brot und Fleisch und einen Krug Bier. »Zeuner hat mich gestern zu sich rufen lassen.«

Arnulf lachte auf. »War mir schon klar! Der Kerl ist mir nicht geheuer! Der kocht doch irgendein eigenes Süppchen, von dem keiner von euch eine Ahnung hat.«

Der Wirt kam und brachte Richard sein Bier. Er nahm es, leerte es in einem einzigen langen Zug und stellte den Krug wieder hin. Kurz überlegte er, Arnulf zu erzählen, dass Zeuner in Katharina verliebt war, aber dann überkam ihn wieder dieses nagende Eifersuchtsgefühl. Was, wenn Katharina die Gefühle des Bürgermeisters erwiderte? Sie war aus seinem Haus geflohen, nachdem sie seine anatomischen Zeichnungen entdeckt hatte. Jedenfalls vermutete Richard das, denn er hatte das Blatt auf dem Fußboden gefunden, und es war eine Erklärung dafür, warum sie so überhastet davongelaufen war.

Richard starrte auf seine Hände, und es hätte ihn nicht gewundert, wenn er dort Reste des Blutes von seinem letzten Studienobjekt gefunden hätte.

Katharina musste ihn für ein Monster halten, und im Dunkel der Nacht, wenn er wach lag und grübelte, dann redete er sich ein, dass das auch gut so war. Er hatte die Blicke bemerkt, die sie ihm zuwarf, seitdem sie fast ertrunken war, diese gleichzeitig liebevollen und verwirrten Blicke. Natürlich erinnerte sie sich daran, wie er ihr Gesicht mit Küssen bedeckt hatte, als ihm klargeworden war, dass sie lebte. Und sie fragte sich wahrscheinlich, was in ihn gefahren war, warum er sie kühl behandelte und nur zu kurzen medizinischen Besuchen zu ihr kam.

Aber er hatte keine andere Wahl.

Auch wenn es ihm das Herz brach: Er musste verhindern, dass sie sich in ihn verliebte, denn dadurch brachte er sie nur in Gefahr. Seine Seele war verdammt durch das, was er getan hatte, und er würde Gottes Zorn auf sie herabbeschwören, wenn sie seine Liebe erwiderte.

Richard presste die Handflächen gegen die kühle Oberfläche des Kruges. »Ich wollte dir danken«, sagte er zu Arnulf, der ihn die ganze Zeit mit ruhigem, aufmerksamem Blick beobachtet hatte.

Arnulf blinzelte, als tauche er aus einer tiefen Versenkung auf. »Hab ich Übung drin«, sagte er in seinem Gossenton, »im Leute vor’m Ertrinken retten. Aber im Ernst«, kehrte er zu seiner üblichen Sprechweise zurück, »es würde mich wirklich interessieren, wie du Katharina gerettet hast.«

»Es war ... ich weiß es auch nicht, nenn es Eingebung. Als sie dalag und nicht mehr atmete, da sind mir plötzlich Tausend Erinnerungen durch den Kopf geschossen. An die Frau, die du uns vor einem Jahr zum Sezieren gebracht hast, erinnerst du dich an sie? Und an den Jungen von neulich.« Der Wirt kam ein zweites Mal und stellte einen Teller mit dem Fleisch und Brot vor Richard ab. Ein Messer gab es in diesem Haus nicht, also zog Richard seinen Dolch aus dem Gürtel. »Außerdem musste ich in diesem Moment daran denken, wie ich damals in dem Weiher beinahe ertrunken wäre. Als ich nach Cesare Vasaris Leiche getaucht bin.«

Arnulf grunzte, sagte jedoch nichts dazu.

Richard stach seinen Dolch in ein Stück Fleisch und hob es hoch, um es zu betrachten. Dafür, dass das Gasthaus nicht den besten Ruf genoss, schien das Stück recht ordentlich zu sein. Er legte es wieder auf dem Teller ab. Er hatte keinen Appetit mehr. »Ich weiß schon! Aber was ich meine, ist: Damals spürte ich kurz vor dem Ertrinken einen schmerzhaften Krampf in der Kehle.« Er klopfte sich gegen den eigenen Adamsapfel. »Es war, als zöge sich hier drinnen alles zu einem einzigen faustgroßen Klumpen zusammen. Und in dem Moment, in dem ich bemerkte, dass Katharinas Herz noch schlug, reagierte ich völlig ohne nachzudenken.«

»Du hast sie zu Boden gedrückt, als wolltest du ihr etwas Unanständiges antun.«

»Ich war mir sicher, dass sie einen ähnlichen Krampf hatte wie ich damals. Darum hatte auch die Frau kein Wasser in der Lunge, im Gegensatz zu dem Jungen, Arnulf! Es gibt mehrere Möglichkeiten zu ertrinken. Katharina hatte einen Krampf in der Kehle.«

»Aber woher wusstest du, wie man den lösen kann?«

Richard legte den Dolch auf dem Tellerrand ab. »Ich wusste es nicht. Oder vielleicht doch. Ich habe einfach gehandelt.«

»Eingebung.« Arnulf schüttelte den Kopf. »Muss ein gutes Gefühl sein.«

Richard nahm ein Stück Brot und steckte es in den Mund. »Was?«

»Zu sehen, dass die ganzen Anstrengungen, die man all die Jahre gemacht hat, am Ende zu etwas nutze waren.«

Richard schluckte. Plötzlich musste er lächeln, denn er begriff, dass Arnulf ihm jeden einzelnen seiner selbstverdammenden Gedanken an der Nasenspitze abgelesen hatte. Darum hatte er das Gespräch auf Katharinas Wasserprobe gebracht.

Richard schloss die Augen und gestattete sich einen Moment der Hoffnung. Vielleicht stimmte es. Vielleicht war er nur dadurch in der Lage gewesen, Katharinas Leben zu retten, weil er erlebt hatte, was er erlebt hatte.

Vielleicht hatte am Ende doch alles einen tieferen Sinn.

Es war ein tröstlicher Gedanke, und Richard zwang sich, ihn einen Moment auszukosten, bevor er ihn sich verwehrte.

Arnulf verdrehte die Augen. »Jetzt iss endlich!«, befahl er rüde. »Oder gib’n Teller rüber, das sieht nämlich verdammt gut aus!«

* * *

»Katharina?«

Die Stimme von Bettine Hoger, die aus der Dunkelheit scholl, ließ Katharina bis ins Mark zusammenfahren. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte sie es nicht mehr im Haus ausgehalten, und so hatte sie sich einen Mantel übergeworfen, dessen Kapuze groß genug war, um ihr Gesicht zu verbergen, und war zu einem Spaziergang durch die Finsternis aufgebrochen.

Nie im Leben hätte sie erwartet, der Frau des Messingschlägers zu begegnen – und noch dazu von ihr erkannt zu werden. Einem ersten Impuls folgend, wollte sie davonlaufen, doch Bettines Stimme nagelte sie an Ort und Stelle fest.

»Katharina Jacob, bist du es wirklich?«

Sie brachte es einfach nicht übers Herz, sich nicht zu erkennen zu geben, also wandte sie sich um und schlug zögernd die Kapuze zurück.

»Ja, Frau Bettine. Ich bin es.«

Bettine schlug die Hände zusammen. In dem schwachen Licht einer Laterne, die an einer Hausecke hing, hatte ihr Gesicht eine wächserne Färbung, aber Katharina glaubte trotzdem zu sehen, wie sie gänzlich bleich wurde. Ganz kurz fürchtete sie, die Handwerkersfrau könnte sie für einen Geist halten.

»Ich lebe, Frau Bettine!«, beeilte sie sich darum zu sagen.

Bettine kam einen Schritt näher. Mit einer zaghaften Bewegung näherte sie ihre Hand Katharinas Wange, stockte kurz und berührte sie dann. »Wirklich!«, hauchte sie. »Du lebst!« Sie trug ein geziemendes schwarzes Witwenkleid und eine hässliche, ebenfalls schwarze Haube, die nichts von ihren Haaren sehen ließ. »Wie kann das sein?«

Katharina nahm die Frau am Arm und zog sie in eine dunklere Seitengasse. Aus Angst, dass jemand aus einem der Fenster schauen konnte, schlug sie auch die Kapuze wieder hoch. »Der Inquisitor hat sich geirrt. Ich war nicht tot. Richard Sterner, der Mann, der mich aus dem Wasser gezogen hat, hat mich gerettet.« Ein warmes Gefühl von Zuneigung zu Richard durchflutete sie bei diesen Worten.

»Weiß deine Mutter ...?«

»Natürlich!«

Bettines Stimme war das Lächeln anzuhören, als sie sagte: »Das ist gut!«

»Ihr dürft niemandem davon erzählen, Frau Bettine, hört Ihr?« In einem der Hinterhöfe wurde eine Tür aufgestoßen, und es klang, als werde ein Eimer Wasser ausgeschüttet. Das Geräusch ließ Katharina zusammenzucken.

»Natürlich nicht! Was hast du jetzt vor?«

»Vielleicht werde ich die Stadt verlassen.«

»O nein!« Wegen der Dunkelheit war Bettine Hogers Gesicht nur ein helles Oval, aber an ihrer Stimme konnte Katharina mehr ablesen, als sie wissen wollte. Sie klang ausdrucksstark und lebendig. Keine Spur von melancholia bei ihr, und das, obwohl sie eigentlich um ihren Mann hätte trauern müssen.

War Peter Hoger vielleicht der Grund für ihre Krankheit gewesen? Konnte ein Mensch einen anderen krank machen? Katharina dachte an Bertram.

»Du darfst Nürnberg nicht verlassen!« Bettine zog Katharina zu einem Brunnen, der aus einer Hausmauer kam. Um den Rand des kleinen Bronzebeckens lief eine schmale steinerne Bank. Auf diese setzten die beiden Frauen sich nun. »Ich habe über dich nachgedacht, meine Liebe, über dich und deine Fähigkeiten.«

Katharina hielt den Atem an, denn fast fürchtete sie, Bettine könne am Ende doch noch die Meinung ihres Mannes angenommen haben und in ihr eine Hexe sehen. Doch die nächsten Worte der Handwerkersfrau machten ihr klar, dass ihre Angst unbegründet war. »Für mich gibt es nur eine Erklärung, warum es dir so gut gelingt, dich in mich hineinzuversetzen, wenn ich wieder einmal diese, diese ... hab.« Bettine zuckte die Achseln, weil sie kein passendes Wort fand.

»Heute seid Ihr aber wohlauf«, stellte Katharina fest.

Bettine nickte. »Schon seit ein paar Tagen, schon vor Hogers Tod. Aber frag mich nicht, woran das liegt. Ich war ein bisschen krank, aber das ist längst wieder vorbei, Gott sei es gedankt!«

Die Art, wie sie diese Worte aussprach, ließ Katharina aufhorchen. »Ein bisschen krank?«

»Schwindelig. Und irgendwas war mit meinen Augen. Ich sah die ganze Zeit so ein seltsames Flimmern, und meine Hände haben ein bisschen gekribbelt.«

Katharina dachte an die Ereignisse auf dem Rabenstein. Auch vor ihren Augen hatte es geflimmert. Sie presste die Lippen zusammen. Bettines Gegenwart und die Sorge, es könnte eine ansteckende Krankheit sein, die Nürnberg den Wahnsinn brachte, trieb sie auf die Beine.

»Warte!« Bettine fasste nach ihrer Hand und zog sie wieder hinunter auf den kühlen Stein. »Du musst mir zu Ende zuhören.«

Achselzuckend ließ Katharina sich zurück auf die Bank fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Nachtluft roch nach Tierdung und nach dem schwachen Geruch von Schweiß und Seife, den Bettine ausströmte.

»Auch du leidest unter der melancholia, nicht wahr? Das ist der Grund, warum du mir so gut helfen konntest.«

Katharina wusste nicht, was sie antworten sollte, also schwieg sie.

»Wie äußert sie sich bei dir?«, fragte Bettine.

Plötzlich hatte Katharina das dringende Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. Jemandem, der sie verstand, der ihre Gefühle am eigenen Leib kennengelernt hatte. Kurz dachte sie an Richard, an die seltsame Kühle, die seit der Wasserprobe von ihm ausging. Dieselbe Kühle, die Egbert verströmt hatte, damals, kurz bevor er davongegangen war ...

»Ihr kennt das«, sagte sie darum. »Schuldgefühle.«

»Oh.« Bettine beugte sich ein Stück vor, um in Katharinas Gesicht zu spähen. Ihre Finger berührten Katharinas Oberschenkel. »Mir kannst du es erzählen«, sagte sie.

Katharina schluckte, dann legte sie Bettine ihre gesamte Geschichte dar, einschließlich der Tatsache, dass Mechthild Bertram geheiratet hatte und einschließlich des Grundes, warum Egbert sie verlassen hatte. »Er hielt meine düsteren Stimmungen einfach nicht mehr aus«, endete sie. »Euer Mann hatte ganz recht, als er sagte, dass ich ihn aus dem Haus gegrault habe!«

Bettine schnaubte. »Peter war ein Narr! Er hatte keine Ahnung! Aber du weißt schon, dass diese Schuldgefühle größtenteils von deiner Krankheit herrühren, oder?«

Katharina verzog das Gesicht zu einer grimmigen Maske. »Wenn ich klar denken kann, dann ist mir völlig bewusst, dass ich nicht wichtig genug bin, dass Gott wegen meiner Verfehlungen ein solches Unglück auf Nürnberg niederschickt. Aber in den düstersten Momenten ...« Hilflos zuckte sie die Achseln.

»Du glaubst, dass das, was in der Stadt passiert ist, deine Schuld ist?« Bettine riss die Augen auf.

Diesmal konnte Katharina die melancholia kommen spüren. Die Spinnweben begannen ihren Geist zu verkleben, ihre Schultern wollten nach vorn sinken. Tränen schossen ihr in die Augen. »Was, wenn dieser Inquisitor recht gehabt hat mit seiner Vermutung, es sei meine Schuld?« Sie klopfte sich mit dem Daumenballen einige Male gegen die Stirn. »Ich kann den Kopf einfach nicht vom Denken abhalten.«

Bettine tätschelte ihr Bein. »Ich weiß.« Mehr sagte sie nicht.

Ein Mann kam aus einer der Gassen und ging schweigend und ohne Gruß an ihnen vorbei.

»Weißt du inzwischen, warum ich so oft bei Joachim Gunther im Loch war?«, fragte Bettine, als er fort war.

Katharina nickte. Sie erinnerte sich noch gut an die Wirkung, die allein Gunthers Anwesenheit auf sie gehabt hatte. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie bisher gar nicht richtig um den Mann getrauert hatte. Es war einfach keine Zeit dafür gewesen.

»Hat er dir von den Schriften des heiligen Augustinus erzählt?«, fragte Bettine.

»Nein.« Joachim hatte eigentlich nur wenig mit ihr gesprochen. Er hatte ihr hauptsächlich zugehört.

»Augustinus hat in einem seiner Bücher geschrieben, dass Gott jedem Menschen von vornherein bestimmt hat, ob er später einmal in den Himmel oder in die Hölle kommt. Schreckliche Vorstellung, oder? Joachim glaubt, dass Augustinus sich irrt.« Bettine schaute sich sorgfältig nach allen Seiten um, während sie das sagte, und in diesem Moment erinnerte sie Katharina an den zum Tode Verurteilten.

»Das würde bedeuten, dass die Kirche etwas Falsches lehrt!« Katharina flüsterte es nur, so ungeheuerlich war allein der Gedanke, und sofort dröhnte in ihrem Kopf eine Alarmglocke. Was tat sie hier? Sie war soeben nur mit knapper Not einer Verurteilung als Hexe entkommen, und jetzt führte sie ketzerische Reden. War sie denn völlig verrückt geworden?

Zu ihrer Überraschung nickte Bettine, triumphierend wie ein Lehrer, dessen Schüler soeben etwas sehr Kluges gesagt hatte. »Sprich nicht zu laut darüber!«, riet sie. »Es sind schon ganz andere Menschen für eine solche Aussage auf den Scheiterhaufen gestellt worden. Gelehrte Männer. Wenn du mich fragst, dann glaube ich, dass Joachim nicht für einen Verrat an der Stadt auf den Rabenstein gewandert ist.«

Katharina rieb sich die Knöchel ihres rechten Zeigefingers. Sie wusste, dass Bettines Vermutung richtig war, denn Joachim selbst hatte es ihr gesagt. Aber durfte sie dieses Wissen so einfach weitergeben? Sie entschied sich, lieber zu schweigen. Vorerst.

Bettine lächelte. »Ich habe viel über Joachims Worte nachdenken müssen, und weißt du was? Sie trösten mich, wenn es mir wirklich schlecht geht. Ich bete dann einfach zu Gott, und in der letzten Zeit habe ich immer häufiger das Gefühl, dass er mich hört.« Sie kicherte leise. »Ich war seit Wochen nicht mehr bei der Beichte! Wenn ich eigentlich hingehen sollte, mache ich stattdessen einen Spaziergang runter zum Fluss und wende mich direkt an Gott. Danach geht es mir besser.« Sie stand auf. Ihre Röcke raschelten dabei, und der Geruch von Seife, den sie ausströmte, verstärkte sich. »Keine Schuldgefühle mehr, Katharina. Die melancholia wird besser.« Sie legte Katharina eine Hand auf die Schulter und sah ihr tief in die Augen. »Denk darüber nach.«

»Wer ist hier jetzt die Heilerin?«, fragte Katharina.

Bettine lächelte leicht. »Wer weiß? Aber jetzt muss ich gehen. Meine Schwester wartet auf mich. Wo kann ich dich finden?«

»Bei mir zu Hause.«

Bettine beugte sich über Katharina und küsste sie auf den Scheitel. Mit schnellen, weit ausholenden Schritten, die so gar nicht zu der matten und traurigen Frau passen wollten, die Katharina kannte, verschwand sie dann in einer der Gassen. Ihre Schritte hallten noch eine Weile nach. Dann verstummten sie.

* * *

Richard und Arnulf teilten sich das Fleisch und auch das Brot, und als beides aufgegessen war, bezahlte Richard den Wirt und verabschiedete sich von dem Nachtraben.

Er hatte an diesem Nachmittag eine Verabredung mit Enzo Pömer, und er entschied, dass er ebenso gut sogleich zu ihm gehen konnte.

Thomas ließ ihn ein. »Herr Sterner! Gut, Euch zu sehen. Der Herr Stadtrat erwartet Euch noch nicht so früh, aber ich werde nachsehen gehen, ob er Euch empfängt.« Er verschwand in Pömers Kontor und kehrte gleich darauf zurück. »Er lässt Euch bitten.«

Richard betrat das Schreibzimmer des Getreidehändlers und blies die Backen auf. Es herrschte eine unglaubliche Hitze in dem Raum, in dem eisernen Ofen in der Ecke brannte ein kräftiges Feuer.

»Sterner!« Pömer erhob sich mit einem erfreuten Gesichtsausdruck von seinem Schreibpult. »Wie schön, dass Ihr schon da seid!«

Richard wies auf den Ofen. »Was ist mit Euch? Seid Ihr krank, dass Ihr so kräftig einheizen lasst?«

Pömer zog schaudernd die Schultern hoch. »Irgendwie schon. Aber keine Sorge, ich befinde mich in medizinischer Behandlung bei den besten Medici von Nürnberg. Sie meinen allesamt, dass ich mir eine Erkältung des Leibes zugezogen habe. Es geht vorbei.« Jetzt bemerkte Richard auch, dass Pömer schwitzte. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen und offenbar auf seinem gesamten Körper ebenfalls, denn die Manschetten und der Kragen seines Hemdes waren feucht. Als er Richard die Hand reichte, fühlte sich seine Haut jedoch kalt und glitschig an wie ein Fisch.

»Ihr habt mich gebeten, zu Euch zu kommen«, sagte Richard. »Worum geht es?«

»Nun, zunächst einmal bitte ich Euch darum, das zu tun, worum ich Euch ausgeschickt hatte, als man den ersten Engeltoten fand. Berichtet mir alles, was Ihr über die Vorgänge in der Stadt wisst.«

»Stadtrat Zeuner wird Euch und den anderen Ratsherren einen ausführlichen Bericht abliefern.« Richard nahm seinen Hut ab und legte ihn auf Pömers Pult. Dabei fiel sein Blick auf das Blatt, an dem der Getreidehändler gerade schrieb. Er hatte eine kleine, krakelige Schrift, die Richard nicht entziffern konnte, aber anhand einer Zeichnung erkannte er, dass es sich um eine medizinische Schrift handeln musste.

Pömer verzog den Mund, als er sah, worauf Richard schaute. »Oh, wie Ihr seht, als Zeichner tauge ich wenig. Könnt Ihr erkennen, was das darstellen soll?«

Richard schüttelte den Kopf und nahm das Blatt an sich. Er drehte es richtig herum, aber noch immer konnte er anhand der schwarzen Linien nicht viel erkennen. »Sieht aus wie eine Hand, aber sie wirkt irgendwie unproportioniert.« Er fuhr mit dem Nagel des Zeigefingers darüber.

»Es soll eine verstümmelte Hand sein. Die beiden kleinen Finger fehlen und der Daumen.«

»Ah!« Jetzt erkannte Richard es. »Ihr solltet Euch überlegen, Marquard Eure Schriften illustrieren zu lassen.«

Pömer lachte auf. »Wahrscheinlich habt Ihr recht!«

Richard legte das Blatt zurück auf den Stapel. Dann kam er Pömers Aufforderung nach und gab ihm einen umfassenden Bericht der letzten Tage ab.

»Schlimme Sache!«, murmelte Pömer, und sein Gesicht sah dabei so verknittert aus wie das eines uralten zahnlosen Jagdhundes. Er watschelte zu einem Schrank, öffnete ihn und entnahm ihm eine Karaffe und zwei Gläser. Ohne die Schranktür wieder zu schließen, ging er zu einem kleinen Tisch mit mehreren Lehnstühlen, stellte die Gläser darauf ab und goss eine leicht dickliche dunkelrote Flüssigkeit ein. Einen der beiden Becher reichte er Richard. Der roch daran. »Was ist das? Wein?«

»Ein neuer Wein aus Italien, ja. Sehr süß und sehr lecker. Probiert unbedingt, Ihr werdet begeistert sein!«

Richard zögerte. Es war noch früh am Tag, und er hatte soeben einen ganzen Krug vom Bier des Wirtes aus dem Spittlertorviertel getrunken. Wenn er jetzt auch noch starken Wein in sich hineinkippte, würde ihm recht bald der Kopf schwirren. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich ihn ein bisschen verdünne.«

Seine Worte ließen Pömer laut auflachen. »Das ist aber nicht Euer Ernst, oder?«

»Warum nicht?«

Pömer wies mit dem Kinn in Richtung Fenster. »Da draußen ist eine halbe Stadt wahnsinnig geworden. Was meint Ihr, woran das liegt?« Als Richard ihm keine Antwort gab, tat er es selbst. »Wenn ich eine Stadt vergiften müsste, dann würde ich es mit Hilfe der Brunnen tun, mein Lieber!«

»Aber Zeuner hat festgestellt, dass der Brunnen am Rabenstein nicht vergiftet gewesen ist.«

»Habt Ihr schon einmal etwas davon gehört, dass Gift seine Wirkung mit der Zeit verlieren kann?« Pömer nahm einen tiefen Schluck von seinem Wein und seufzte wohlig auf.

Richard nippte nur kurz. Das Getränk war tatsächlich schwer und süß und schmeckte nach schwarzen Kirschen. Er tat einen längeren Zug. »Wollt Ihr mir jetzt endlich erzählen, wozu Ihr mich herbestellt habt?«

»Natürlich. Nun, diese ganzen Ereignisse in den letzten Tagen haben mich zu der Überlegung gebracht, dass wir vielleicht aufhören sollten mit unseren Forschungen.«

Diese Eröffnung kam unerwartet für Richard, aber er war erleichtert darüber, dass Pömer dieses Thema ansprach. Das Gespräch mit Arnulf hatte ihm klar gemacht, dass es an der Zeit war, Frieden zu geben.

»Warum nicht?«

Pömer sah erstaunt aus. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Ihr so schnell beipflichtet! Um so froher bin ich nun. Wäret Ihr so freundlich und würdet mir helfen, den toten Jungen dort unten aus meinem Keller zu schaffen?«

* * *

Katharina blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen und genoss die frische Nachtluft. Dann stand sie auf und begann, ziellos durch die Stadt zu schlendern. Auch jetzt mied sie die Nähe des Henkersteges, überquerte die Pegnitz auf der Holzbrücke beim Barfüßerkloster und streifte dann durch die Gassen der Lorenzer Stadt, vorbei am Friedhof der großen Hauptkirche, der von einer hüfthohen Einfriedung umgeben war, vorbei an den hohen Mauern des Kartäuserklosters und im Schatten der Stadtbefestigung zurück zum Fluss.

Die Pegnitz führte viel Wasser, seitdem das Gewitter über Nürnberg niedergegangen war, und das Holzrad der Mühle an der Schüdt drehte sich geschäftig und verursachte dabei trotz der späten Stunde eine Menge Lärm. Katharina überquerte den Fluss ein weiteres Mal und lenkte ihre Schritte jenen Weg entlang, den sie vor einigen Tagen schon einmal gegangen war.

An jenem Tag, an dem Matthias gestorben war.

Sie kletterte den Abhang hinunter, ließ sich in das weiche Moos sinken und blickte über den Fluss hinweg, in dessen Oberfläche sich der Mond und eine Handvoll Sterne spiegelten. In ihrem Licht sah Katharina ein paar Enten mit unter den Federn verborgenen Köpfen schlafen, aber von den Schwänen war kein einziger zu sehen.

Katharina rupfte eine Handvoll Moos ab und ließ es von einer Hand in die andere rieseln. Irgendein kleiner Käfer, den sie in der herrschenden Dunkelheit nicht genau erkennen konnte, krabbelte an ihrem Zeigefinger entlang und versuchte, ihr zu entkommen. Sie setzte ihn zurück in das Moos.

Irgendwann schließlich stand sie wieder auf. Sie klopfte ihren Rock sauber und wischte sich die Hände trocken. Dann wollte sie den kleinen Abhang hinaufklettern. Sie hatte den Fuß bereits auf die vorstehende Wurzel gesetzt, die ihr als Halt diente, als sie stutzte. Rechts von ihr, zwischen den schlanken Weidenruten leuchtete etwas Weißes.

Katharina beugte sich herab und sah genauer hin. Der Boden war an dieser Stelle unnatürlich stark aufgewühlt. Ein unbehagliches Kribbeln griff nach ihrem Genick, und eine düstere Ahnung drohte ihr den Atem zu nehmen. Langsam hob sie die Hände und bog das Holz auseinander.

Und dann biss sie in ihren Unterarm, um einen Schrei zu unterdrücken.

Vor ihren Füßen, von dem bräunlichen Schlamm fast bis zur Unkenntlichkeit besudelt, lag der Kadaver eines weiteren Schwans. Die frischen Schnitte zwischen seinen weißen Rückenfedern wirkten im Mondlicht schwarz.

Katharina ließ die Ruten los.

»Es ist noch nicht vorbei!«, flüsterte sie.