14. Kapitel
Peter Hoger wälzte sich auf seinem Bett hin und her, weil er vor lauter Hitze nicht schlafen konnte. Draußen vor dem Haus stritten zwei Kater miteinander. Ihr Fauchen drang bis in das oberste Stockwerk von Hogers Haus hinauf und zerrte an seiner Geduld. Er griff nach dem Kissen, drückte es sich auf die Ohren. Das Fauchen wurde leiser, aber dafür begann Hoger nun der Schweiß aus allen Poren der Stirn zu sickern. Seufzend nahm er das Kissen wieder fort, knuffte es ein paar Mal und warf sich darauf.
Der zuckende Schein einer Nachtwächterlampe wanderte über die Decke. Die Schritte des Mannes ließen die Katzen verstummen, und Hoger schloss die Augen.
Noch immer wollte sich der Schlaf nicht einstellen.
Der Messingschläger riss die Augen wieder auf. Er langte nach dem Becher auf seinem Nachtkästchen, aber er hatte den letzten Tropfen Wasser schon vor Stunden ausgetrunken.
Mit einem unterdrückten Fluch setzte Hoger sich auf.
Dann schwang er die Beine aus dem Bett, angelte nach seinen Pantoffeln und schlüpfte hinein.
Ein Geräusch ließ ihn innehalten. Das entfernte Klirren von Glas. Er legte den Kopf schief, aber das Geräusch wiederholte sich nicht. Leise erhob sich Hoger. Er verließ sein Schlafgemach, öffnete kurz die Tür zu Bettines Zimmer, um nachzusehen, ob sie vielleicht im Haus unterwegs war und das Geräusch verursacht hatte.
Aber sie schlief tief und fest. Ihr gleichmäßiger Atem war durchzogen von unregelmäßigen schmatzenden Geräuschen.
Behutsam schloss Hoger die Tür. Im Dunkeln tappte er ins Erdgeschoss. Dort kontrollierte er alle Fenster und ging schließlich noch eine Treppe tiefer in die Küche. Ein leichter Luftzug ließ ihn innehalten, kaum, dass er die Tür zur Hälfte geöffnet hatte.
»Edith?« Leise rief er den Namen von Bettines Dienstmagd, aber er erhielt keine Antwort.
Das kleine Fenster der Hintertür war zerbrochen, die Tür selbst schwang im Luftzug sachte hin und her. Hoger wich einen Schritt zurück und tastete im Dunkel um sich. Seine Hand schloss sich um einen Spazierstock mit silbernem Knauf, der in einem Ständer auf dem Flur stand.
»Ist da wer?« Zögernd schob er die Küchentür weiter auf.
In diesem Augenblick erklangen draußen auf dem gepflasterten Hinterhof hastige Schritte. Hoger sprang in die Küche und steckte den Kopf durch die Hintertür. Alles, was er noch zu sehen bekam, war ein Stück eines Mantels, der um die Hausecke herum verschwand.
»Spitzbube!«, brummte Hoger und ließ den Spazierstock durch die Luft pfeifen.
Sein Blick fiel auf den Küchentisch, und beinahe hätte er geflucht. Dort stand ein Krug. Sein Krug, in dem Wein aus Italien aufbewahrt wurde, den Hoger mit niemandem teilte. Er warf einen Blick in das Gefäß und begann zu grinsen. Der Krug war noch fast voll. Offenbar hatte er den Einbrecher rechtzeitig verscheucht, bevor er sich an seinem Eigentum hatte gütlich tun können.
»Spitzbube!«, sagte er noch einmal und griff nach dem Krug. Er setzte ihn an den Mund, trank ein paar lange Züge und stellte ihn dann wieder an seinen Platz auf dem Regal. Danach schloss er die Hintertür, betrachtete das zerbrochene Glas und überschlug, was ihn der Schaden kosten würde. Schließlich schob er den schweren Tisch vor die Tür – für den Fall, dass der Einbrecher sich entschloss, wiederzukommen und sein Werk zu vollenden.
Als er die Küche verlassen wollte, knirschte es unter seinem rechten Pantoffel. Er bückte sich und hob eine Glasscherbe auf. Dünnes, wertvolles Glas.
Und es war leuchtend blau.
* * *
Obwohl die Lampe, die Sebald dagelassen hatte, die Schatten aus der Zelle vertrieb, war Katharina kurz davor, den Kopf zu verlieren. Das Gewicht der Gewölbe, der Mauern und Steine, die sich über ihr befanden, schien auf ihren Körper niederzusinken, presste ihr den Atem aus dem Leib und jedes bisschen Mut dazu. Sie hockte noch immer auf der schmalen Holzbank, allerdings hatte sie sich jetzt ein Stück zur Seite gedreht, so dass sie, mit dem Rücken gegen die vordere Zellenwand gelehnt, dasitzen und die Füße auf die Bank hochnehmen konnte. Ihre Gedanken klammerten sich an eines: Bürgermeister Zeuner würde sie hier herausholen.
Die melancholia jedoch machte alles Hoffen schwierig. Immer wieder stahlen sich düstere Ahnungen in Katharinas Geist, Selbstvorwürfe und Grübeleien über die Form und das Ausmaß ihrer Sünden, die sie am Ende bis hierher geführt hatten. Was, wenn sie das alles hier verdient hatte?
Sie wehrte sich gegen diese Frage, aber der Gedanke kehrte immer und immer wieder zurück, wie ein Hund, der sich in ein Stück Fleisch verbissen hatte und es nicht wieder loslassen wollte.
Im Schein der Lampe betrachtete sie die feinen Narben an ihren Handgelenken, und plötzlich war Egberts Stimme in ihrem Ohr.
Stell dich nicht so an, Katharina!
Sie sah ihn vor sich stehen, in dem großen Haus in Antwerpen, das er damals gemietet hatte, und in ihrer Erinnerung hob er ein schmales Messer in die Höhe. Er hatte es nicht benutzt, denn Isobel – die tapfere, ruhige Isobel – hatte ihn daran gehindert. Prüfend hatte sie Katharina in die Augen gesehen, und sich dann zu Egbert umgewandt, um ihm ihre Meinung über die melancholia mitzuteilen.
Egbert hatte sie nicht hören wollen. Er hatte das Skalpell in die Messingschale geworfen und war aus dem Raum gestürmt. Die Schale hatte erst aufgehört zu klingen, nachdem seine Schritte unten auf der Treppe längst verhallt waren.
Damals, daran erinnerte Katharina sich jetzt, war sie wütend auf Egbert gewesen, und sie versuchte, dieses Gefühl zurückzurufen.
Es gelang ihr nicht. So schmerzhaft war die Erinnerung an das, was Egbert ihr damals angetan hatte, dass sie sie weit von sich schob. Und alles, was sie danach noch denken konnte, war:
Was, wenn ich das hier wirklich verdient habe?
Schließlich verlor sie jegliches Zeitgefühl.
Wie lange war sie schon hier unten? Stunden? Es kam ihr vor wie Tage. Ihre Augen brannten, und das Fleisch an ihren Unterarmen schmerzte, weil sie sich so heftig daran festkrallte. Sie rutschte an der Wand nach unten, bis sie auf der schmalen Pritsche lag.
Irgendwann schlief sie ein und träumte.
Sie träumte, dass die Zellentür geöffnet wurde. Das Gefühl von Bedrohung schlug über ihr zusammen, als eine hochgewachsene Gestalt sich durch die Türöffnung bückte. Eine Gestalt, deren Gesicht von Schatten verhüllt war. Die Gestalt packte sie, zerrte sie mit sich, und sie konnte ihren Geruch wahrnehmen. Es war ein Geruch, den sie schon einmal in der Nase gehabt hatte. Sie mühte sich, sich zu erinnern, wo das gewesen war, aber es gelang ihr nicht. Sie wusste, dass sie sich erinnern musste, dass ihr ein schreckliches Schicksal drohte, wenn sie es nicht tat, und dennoch gelang es ihr nicht. Sie wurde in einen kleinen Raum gebracht, der ein ganzes Stück tiefer lag als die Zellen. Eine steile Holztreppe führte hinunter. Katharinas Blick fiel auf eine schräg an der Wand stehende Leiter. Dann auf ein Gestell, an dem an langen Stricken zwei unterschiedlich große Steine hingen.
Ihre Knie drohten nachzugeben, doch der Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, hielt sie. Er schien zu lächeln. Er führte Katharina zu der Leiter, und im nächsten Augenblick war sie gefesselt. Ihre Arme ragten über ihren Kopf nach oben, und ihre Füße erreichten kaum noch den Boden. Der Mann berührte sie am Rücken. Dann riss er ihr die Kleidung vom Leib. Katharina spürte das harte Holz der Leiter an ihren Brüsten, an ihrem nackten Bauch, und in ihrem Traum wusste sie, dass sie den Mann hinter sich jetzt erkennen würde, wenn es ihr nur gelänge, sich umzuwenden. Das war der Moment, in dem sie schreiend aus dem Schlaf auffuhr.
»Ruhig!«
Eine bekannte Stimme. So bekannt wie der Geruch des Fremden aus ihrem Traum. Katharina fuhr zurück. Jemand stand vor ihr.
»Scht! Ich bin es. Sebald!«
Da endlich erkannte sie ihn. Erleichterung flutete durch ihren Leib. Sie war noch immer vollständig bekleidet. Der Fremde mit dem wohlbekannten Geruch war fort. Jetzt, da sie wach war, wusste Katharina plötzlich, dass es Bertram gewesen war, von dem sie geträumt hatte.
Sebald richtete sich auf. »Es war nur ein Traum«, sagte er. »Alles wird gut werden. Bürgermeister Zeuner ist auf unserer Seite, und er auch.« Er wies neben sich, und jetzt erst sah Katharina, dass in der Tür zu ihrer Zelle noch jemand stand.
Es war Richard Sterner.
In seinen dunklen Augen lag ein Ausdruck, den Katharina nicht zu deuten wusste. Mit einem schwachen Kopfneigen grüßte er sie.
»Ihr habt geträumt«, sagte er mit seiner ruhigen Stimme.
Katharina streckte sich. Sie musste sich im Schlaf auf ihrer Liegestatt herumgeworfen haben, denn ihr Rücken schmerzte. »Nur ein Traum«, murmelte sie. »Was wollt Ihr hier?«
»Euch helfen.« Er sagte es leise, so, als habe ihn ihre Frage getroffen.
Sie hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. »Wie wollt Ihr das tun?«
Er zuckte die Achseln und betrat die Zelle. »Ich kenne Bürgermeister Zeuner recht gut, ich könnte mich für Euch verbürgen.«
»Wir kennen uns gar nicht!«, widersprach Katharina. Sie hörte, wie Sebald einen überraschten Laut ausstieß.
Sterner warf ihm über die Schulter einen kurzen, undurchdringlichen Blick zu, schwieg jedoch.
»Woher wollt Ihr wissen, dass das, was man mir vorwirft, nicht wahr ist?«
»Hexerei?« Er schnaubte, als sei dies nicht einmal einer Erwähnung wert.
Katharina stellte die Füße auf den Boden. Es tat gut, dass Sebald da war, und auch die Sorge, die Richard Sterner um sie zu empfinden schien, verschaffte ihr ein klein wenig Erleichterung.
»Darf ich?« Sterner wies auf die Bank neben Katharina.
Sie nickte. Vorsichtig ließ er sich neben ihr nieder, sorgfältig darauf bedacht, sie nicht zu berühren.
Dann saßen sie eine lange Zeit einfach nur schweigend nebeneinander, während Sebald an eine Wand gelehnt dastand und seine Blicke zwischen ihnen hin- und herwandern ließ.
»Ich muss gehen«, sagte er irgendwann. »Ich habe noch einiges zu tun, wegen der Hinr...« Er verstummte mitten im Wort und presste die Lippen aufeinander. »Ich darf Euch nicht hier mit ihr allein lassen«, sagte er zu Sterner.
Katharina wollte etwas erwidern, aber Sterner hatte bereits die Hand an der Geldbörse, die ihm vom Gürtel hing. Sebald griff nach der Tür. »Lasst Euer Geld stecken!«, brummte er. »Ich will es nicht. Katharina, möchtest du, dass er hier bei dir bleibt?« Ein unbestimmter Ausdruck von Trauer lag in seinen Augen, und ganz kurz war Katharina versucht, den Kopf zu schütteln, nur, um ihm nicht weh zu tun. Aber dann siegte die Angst. Die Angst vor der Dunkelheit, vor den Steinen und Riegeln und Schlössern, die zwischen ihr und der Freiheit lagen. Die Angst vor den Träumen.
Sie nickte kläglich.
Sebald warf Sterner einen langen finsteren Blick zu, als wollte er sagen: Lasst die Finger von ihr! Dann streckte er die Hand aus. »Gebt mir Euren Dolch!«
Richard gehorchte, und mit der Waffe in der Hand ging Sebald und schloss die Zelle hinter sich.
»Er mag Euch«, sagte Sterner leise. »Es gefällt ihm nicht, dass ich hier bin.«
»Es gehört sich auch nicht.«
»Ihr wolltet, dass ich bleibe.«
»Ja.«
Richard lehnte den Kopf gegen die Wand und seufzte. »Was genau wirft man Euch vor?«
Und jetzt erzählte Katharina ihm alles. Sie erzählte von Bettine Hoger und den anderen Patrizierfrauen, die sich in ihrer Obhut befanden. Und sie erzählte auch von den Tränken, die sie herstellte, um ihnen zu helfen. »Das gefällt manchen Männern nicht«, endete sie. »Und Peter Hoger hat mich schließlich angezeigt. Er glaubt, dass ich schuld bin an der Krankheit seiner Frau.«
»Aber das seid Ihr nicht.«
Sie zuckte die Achseln.
Viel mehr gab es nicht zu sagen. Irgendwann schloss Richard die Augen. Aber das Bild mit den bleichen Knochen kam so schnell, dass er Luft durch die Zähne zog.
Er hörte Katharina Kleider rascheln und spürte ihre Bewegung an seiner Seite. Aber er öffnete die Augen nicht, sondern beantwortete einfach ihre Frage: »Ich musste an etwas denken.«
»Wollt Ihr mir sagen, woran?«
Richard schüttelte den Kopf. Er würde Katharina nicht noch zusätzlich mit seinen eigenen Problemen belasten, entschied er.
Erneut raschelten Katharinas Kleider. »Warum seid Ihr hier?«
Weil ich nicht anders kann, hätte er beinahe gesagt, aber wieder schwieg er. Er öffnete die Augen wieder, spürte Katharinas Blick schwer und fast unerträglich auf sich ruhen, und er musste alle Kraft aufbieten, um ihm standzuhalten. Ihre rauchblauen Augen glänzten im unruhigen Licht der Laterne wie Eis, und ihre Lippen waren leicht geöffnet. Ihr Busen hob und senkte sich zwar langsam, aber dennoch war ihr die Mühe anzusehen, mit der sie atmete. Als sei die Luft zäh und dick. Wie Wasser.
Schwarzes Wasser.
Es dauerte einen Augenblick, bis er bemerkte, dass Katharina ihm eine Hand auf den Oberarm gelegt hatte. Gegen den dunklen Stoff seines Gewandes hob sich ihre Haut schneeweiß ab. Richard starrte darauf und hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Ihr habt Schlimmes erlebt«, sagte Katharina leise. »Dinge, die Euch verfolgen, nicht wahr?«
Er sprang auf die Füße. Mit zwei hastigen Schritten war er auf der gegenüberliegenden Seite der Zelle und blieb dicht vor der Wand stehen, die Hände zu Fäusten geballt. »Ich bin nicht gekommen, um Euch mit meinen Dämonen zu belasten«, presste er zwischen den Zähnen hervor. Aber das Bedürfnis, sich ihr anzuvertrauen, war inzwischen so groß, dass es ihm Übelkeit verursachte.
Katharina regte sich nicht. »Mir steht eine lange Nacht bevor«, erwiderte sie. »Und ich würde es vorziehen, mich mit fremden Problemen zu beschäftigen, statt mit den eigenen.«
Widerstrebend wandte Richard sich zu ihr um. Ihre Augen waren weit und hell, und es schien ihm, als blicke sie mit ihnen bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele.
»Ich hatte eine Schwester«, begann er zu erzählen. »Sie war vier Jahre jünger als ich, und oft musste ich auf sie aufpassen, wenn meine Mutter keine Zeit hatte. Eines Tages waren wir unten am Weiher.« Er hielt inne, hoffte darauf, dass Katharina etwas sagen würde, aber sie tat es nicht. Also sprach er weiter. »Magdalena, das war der Name meiner Schwester, war ein lebhaftes Kind, immerzu musste ich irgendwelche Spiele mit ihr machen, auch wenn ich gar keine Lust dazu hatte. Ich hasste es, auf sie achten zu müssen. Sie war nur lästig. Wenn ich in der Sonne dösen wollte, wollte sie am Weiher spielen. Wenn ich auf einen Baum klettern wollte, drohte sie, es zu verraten.« Er begriff, dass er anfing, sich zu beklagen, und er unterbrach sich. Er würde Katharina nichts vorjammern!
Über die Entfernung, die sie trennte, schaute Katharina ihn einfach nur an. »Ihr wart zusammen an diesem Weiher. Was ist geschehen?«
Richards Erinnerungen an jenen Tag waren jetzt so klar und deutlich, als sei es gestern gewesen.
»Ich nahm sie an der Hand, und gemeinsam liefen wir zu dem Weiher. Ich erinnere mich noch, dass das Schilf mannshoch stand und dass Sumpfhühner und Enten zwischen den engstehenden Stängeln brüteten. Da war ein Sandstrand, wo wir oft lagen und träumten. Eines von Magdalenas Lieblingsspielen war es, herauszufinden, wer länger unter Wasser bleiben konnte.« Richard bemerkte, dass er sich wieder der Wand zugekehrt hatte. Katharina stand hinter ihm, er konnte den Duft ihrer Haare riechen. Er legte die Hände gegen die feuchten Mauern des Lochgefängnisses. »Sie liebte dieses Spiel«, murmelte er. »Sie liebte es, wie das Wasser ihre Ohren verschloss, so dass sich alles ganz dumpf und fremdartig anhörte. Und an diesem Tag ...« Die Stimme versagte ihm.
»Sie ist ertrunken«, half Katharina ihm.
Er stöhnte auf. Sie war ertrunken. Aber nicht, weil sie ihr Lieblingsspiel gespielt hatte. Sondern, weil er sie umgebracht hatte. Magdalenas helle Stimme hallte durch Zeit und Raum zu Richard herüber, füllte seinen gesamten Kopf mit ihrem Klang, und ihm kamen die Tränen. In rascher Folge flammten Bilder vor seinem inneren Auge auf, ohne dass er sich gegen sie wehren konnte. Wie er Magdalena ins seichte Wasser gefolgt war. Wie sie beide den Kopf untergetaucht hatten. Das gurgelnde Geräusch, mit dem das Wasser auf seine Ohren gedrückt hatte. Und dann das Gefühl von Panik, als er sich aufrichten wollte und untergetaucht wurde. Das schlammige Wasser, das ihm bitter in Mund und Nase drang, und Magdalenas kleiner Körper, der ihm im Nacken hockte. Ihr Lachen, glockenhell und schadenfroh, als er keuchend und hustend durch die Wasseroberfläche gebrochen war. Und dann sein Zorn, mit dem er sich auf sie gestürzt hatte. Der Zorn, mit dem er seinerseits sie untertauchte. Einmal. Zweimal. Bis sie schrie und gurgelte und japste. Und dann ein letztes Mal. Das eine Mal, bei dem sie unter seinen Händen schlaff geworden war.
Die Mauern des Gefängnisses waren rau und kalt unter seinen Fingern und auch an seiner Stirn, die er gegen die Wand gelehnt hatte. Jetzt bog er den Kopf zurück und ließ ihn vorschnellen, ein einziges Mal nur, doch mit solcher Wucht, dass die Haut an seinem Haaransatz aufplatzte und ein scharfer Schmerz durch seinen gesamten Schädel fuhr.
»Kommt.« Katharina fasste mit beiden Händen nach seinen Schultern, zog ihn von der Wand fort und führte ihn zu der Bank, wo sie ihn niederdrückte. Dann setzte sie sich neben ihn und nahm seine Linke zwischen ihre Hände. »Wie alt wart Ihr, als das geschah?«
Er schaute sie an.
»Ihr wart noch ein Kind, vermute ich.« Sie ließ seine Hand los, griff nach ihrem Rocksaum und drückte einen Zipfel davon gegen die Platzwunde in seinem Haar. Ein feiner Schmerz durchfuhr ihn.
Er atmete tief durch. »Zehn. Ich war zehn. Sie sechs.«
»Und Ihr macht Euch heute noch Vorwürfe, weil Ihr sie nicht retten konntet?« Sie fragte es ganz schlicht, ohne Vorwurf oder Mitleid.
Richard nickte langsam, dann schüttelte er den Kopf. Die Trugbilder wollten zurückkehren, aber diesmal gelang es ihm, sie zurückzudrängen. »Ich habe sie getötet.« Er wusste, dass sie ihm nicht glauben würde, dass sie versuchen würde, ihm seine Schuldgefühle auszureden. Er täuschte sich nicht.
»Ihr wart ein zehnjähriger Junge!«
Sie kannte nur die halbe Wahrheit. Er hatte nicht den Mut, ihr zu gestehen, dass er Magdalena unter Wasser gedrückt hatte, bis sie aufhörte zu atmen. Und er hatte auch nicht den Mut, ihr von Cesare Vasari zu erzählen. Nicht heute.
Vielleicht nie.
Richard fuhr sich durch die Haare und berührte dabei die Wunde. Sie riss wieder auf, und das Blut rann ihm mit einem leichten Kitzeln zwischen den Augenbrauen hindurch und den Nasenrücken hinunter. Er wischte es fort. »Verzeiht, dass ich Euch mit meinen Sorgen plage«, sagte er leise.
Er ließ sich von der Bank zu Boden rutschen, und Katharina tat es ihm gleich. Die Kälte der Steine drang ihm in die Knochen, aber er spürte sie kaum, denn nun zog Katharina ihn in ihre Arme und hielt ihn fest.
Tief atmete er den Geruch ihrer Haut ein.
Katharina war Sterner dankbar dafür, dass er sie abgelenkt hatte. Der gequälte Ausdruck in seinen Augen, als er ihr vom Tod seiner Schwester erzählt hatte, hatte sie tief getroffen, und sie hatte ohne zu überlegen dem Impuls nachgegeben, diesen Mann an sich zu ziehen und ihn zu trösten.
Die Muskeln seiner Arme und Schultern fühlten sich hart und unnachgiebig an, doch er entzog sich ihr nicht. Trotz der düsteren Situation, in der sie sich befand, rieselte ein warmer Schauer über ihren gesamten Körper.
»Wisst Ihr, dass ich Euch fast ein bisschen beneide«, wagte sie zu sagen.
Überrascht schaute er sie an. »Warum das?«
»Ihr wisst wenigstens, warum Ihr Euch schuldig fühlt.« Sie biss sich auf die Unterlippe, um sich selbst am Weiterreden zu hindern.
»Ich fürchte, ich verstehe nicht, was Ihr mir sagen wollt.« Er rückte ein Stück von ihr ab, um sie besser ansehen zu können. Katharina spürte, dass sie das bedauerte.
»Nun ...« Sie winkte ab. »Es ist unwichtig!«
»Nein!«, protestierte er. »Ihr habt Euch meine Geschichte angehört, jetzt gestattet mir, auch Eure zu hören.«
Aber plötzlich konnte sie nicht weiter. Alles in ihr sträubte sich dagegen, ausgerechnet diesem Mann von ihrer Krankheit zu erzählen. Er wirkte überaus gebildet, und möglicherweise wusste er, welchen Grund die Ärzte für die melancholia angaben. Auf keinen Fall, dachte sie, wollte sie, dass Sterner schlecht von ihr dachte. So wie Egbert, den sie damals durch ihre Krankheit aus dem Haus getrieben hatte ...
Sie schluckte schwer. »Es ist nichts! Hört nicht auf das dumme Gerede einer Frau.«
»Ihr müsst große Angst haben!«
Sie sah ihn an. Sein Blick ruhte ernst und ruhig auf ihrem Gesicht, und auf einmal machte ihr Herz einen Satz. »Es ist ein wenig besser, seit Ihr bei mir seid. Es gibt mir Hoffnung. Hoffnung darauf, dass der Stadtrat einsehen wird, dass ich keine Hexe bin. Wenn Ihr es glauben könnt, können es vielleicht auch andere.«
Sterner lächelte schwach.
»Ihr fürchtet Euch nicht vor mir«, murmelte Katharina.
»Nein.«
»Ihr glaubt nicht, dass ich eine Hexe bin.«
»Ich glaube überhaupt nicht an Zauberei.«
»Dann bete ich, dass es im Stadtrat genug Männer wie Euch gibt und ich bald wieder frei bin.«
Sterner legte den Kopf schief, so dass seine gewellten Haare auf eine Seite rutschten. »Und was habt Ihr dann vor?«
»Zunächst möchte ich dafür sorgen, dass die Untersuchungen in Faros Fall wieder aufgenommen werden. Er hat meinen Bruder nicht umgebracht, da bin ich ganz sicher. Irgendetwas Schreckliches ist ihm geschehen, und ich möchte herausfinden, was. Aber bevor ich etwas tun kann, muss ich erst einmal hier raus sein.« Plötzlich kehrte die Unruhe zurück, die das Eingesperrtsein mit sich brachte. Katharina stand auf, marschierte eine Weile in der Zelle umher, dann warf sie sich auf die Bank und blies die Wangen auf.
Plötzlich war ein leises Husten zu vernehmen.
Richard runzelte die Stirn. »Ist da wer?«
»Ja«, kam eine geisterhafte Stimme aus dem hinteren Teil der Zelle.
Sterner stand auf, griff an die Stelle, an der er üblicherweise seinen Dolch trug. Dann erst schien ihm einzufallen, dass Sebald ihn entwaffnet hatte, und er ließ die Hand sinken. »Wer seid Ihr?«
»Mein Name ist Joachim Gunther.« Die Stimme klang dumpf, aber plötzlich wirkte sie nicht mehr unheimlich, sondern, im Gegenteil, überaus menschlich.
»Das ist der Gefangene in einer der Todeszellen«, sagte Katharina.
Sterner nahm die Laterne, hielt sie in die Höhe und leuchtete damit in die hintere Ecke des Verlieses.
Dort, ungefähr zwei Handbreit über dem Boden, befand sich ein quadratisches Loch in der Wand. Es sah aus, als habe jemand einen einzelnen Stein aus der Mauer gebrochen. Durch dieses Loch drang Gunthers Stimme.
Katharina krabbelte zu ihm. Das Loch war kaum handtellergroß, und auch als sie das Gesicht ganz nah brachte, konnte sie wegen der dicken Mauern nicht besonders viel erkennen. Etwas bewegte sich in der anderen Zelle. Ein Fuß war kurz zu sehen, dann ein Knie und schließlich der Teil eines Gesichtes.
»Wer seid Ihr?«, fragte Gunther.
Katharina nannte ihm ihren Namen.
»Und der andere? Ich konnte Euch reden hören. Da ist noch jemand mit Euch in der Zelle. Ihr seid aber nicht ebenfalls zum Tode verurteilt, oder?«
Es war üblich, den zum Tode Verurteilten eine Wache mit in die Zelle zu geben, einen Lochwächter, der dafür zu sorgen hatte, dass der Gefangene nicht kleinmütig wurde und sich selbst umbrachte, bevor der Henker der Gerechtigkeit Genüge tun konnte. Katharina strengte sich an, etwas zu erkennen, aber außer Gunthers halbem Kopf sah sie nichts. »Nein«, beantwortete sie die Frage. »Bei mir ist ein ... Freund.« Sie warf einen Blick über die Schulter in Sterners Gesicht.
»Nun, bei mir auch, nicht wahr, Paul?«, sagte Gunther.
Zur Antwort erhielt er nur ein vages Brummen, und er quittierte es mit einem leisen Lachen. »Paul ist Lochwärter«, erklärte er Katharina und bestätigte damit ihre Vermutung, dass auch er nicht allein war.
»Ihr meintet, Ihr konntet uns reden hören«, sagte Katharina. »Habt Ihr auch verstanden, was wir gesprochen haben?«
»Undeutlich. Aber Ihr braucht Euch nicht zu sorgen. Bei mir sind Eure Geheimnisse sicher.« Wieder lachte er, und es klang in Katharinas Ohren sehr unpassend; fröhlich und vergnügt. »Spätestens morgen sowieso.«
»Ihr redet sehr gelassen über Euren Tod.«
»Stimmt.«
»Was genau wirft man Euch vor?«
»Oh, das ist eine längere Geschichte.« Wieder lachte Gunther, und Katharina begann sich Gedanken darüber zu machen, ob er in der Finsternis hier unten vielleicht verrückt geworden war. Wie viele Formen des Wahnsinns gab es?, fragte sie sich und musste plötzlich an Faro denken.
»Erzählt sie mir«, bat sie.
»Gerne.« Joachim Gunther berichtete, wie er von einem Nachbarn der Zauberei angeklagt worden war. Angeblich, so der Mann, habe er sich unsichtbar machen können und sei an zwei Orten gleichzeitig gewesen. Also hatte der zuständige Lochschöffe ihn zu den Vorwürfen befragt. Irgendwie war ihm dabei der Verdacht entschlüpft, Gunther könnte vielleicht geheimes Wissen über die Felsengänge unter der Stadt besitzen.
»Er meinte, das sei eine irdische Erklärung dafür, warum ich solche Fähigkeiten besäße.« Katharina sah, wie Gunter sich bewegte. »Wie dem auch sei, ich habe schließlich zugegeben, die Felsengänge zu kennen. Und mehr noch: Ich habe sogar behauptet, sie für den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach ausspioniert zu haben.«
»Aber warum?«, rief Katharina aus. »Sie werden Euch töten für etwas, das Ihr überhaupt nicht getan habt!«
»Stimmt.«
»Ich begreife das nicht!«
Gunther beugte sich zur Seite und brachte sein Gesicht dicht an die Öffnung. »Gibt es etwas in Eurem Leben, für das Ihr ohne zu zögern sterben würdet?«, wollte er wissen.
Die Frage überraschte Katharina. Sie musste eine Weile nachdenken, bevor sie langsam den Kopf schüttelte. »Es gab mal etwas – jemanden, aber er ist tot.« Halb erwartete sie, bei dem Gedanken an Egbert von dem altvertrauten scharfen Schmerz überwältigt zu werden, aber nichts geschah.
»Wenn er noch leben würde, und Ihr könntet ihn retten, indem Ihr sterbt, dann würdet Ihr es tun?«
»Ja.« Diesmal zögerte sie nicht. Sterners Miene war ausdruckslos, gerade so, als würde er gar nicht hören, was gesprochen wurde.
»Da habt Ihr die Antwort auf Eure Frage.« Gunther lehnte sich wieder an und entschwand dadurch Katharinas Blicken.
»Ihr sterbt für einen anderen Menschen?«, fragte sie.
Nun war es an ihm, zu überlegen, bevor er antwortete. »Für mehrere. Oder sagen wir lieber: für eine Idee.«
»Ich verstehe Euch trotzdem nicht.«
»Das müsst Ihr auch nicht.«
»Habt Ihr keine Angst vor dem Tod?«, wollte sie wissen.
»Die Kunst aller Künste und aller Wissenschaften Wissen – das ist recht zu sterben wissen«, rezitierte Gunther. Der Satz kam Katharina vertraut vor, und sie überlegte, ob sie ihn früher einmal von Egbert gehört hatte. Während sie noch grübelte, was sie sagen sollte, stellte Gunther nun seinerseits eine Frage an sie. »Und ihr? Habt Ihr Angst vor dem Tod?«
Diesmal dachte Katharina lange nach, bevor sie antwortete. Sie war sich dabei der Blicke Sterners in ihrem Rücken sehr bewusst und wandte den Kopf, um ihn ins Auge zu fassen.
»Ich glaube nicht«, antwortete sie.
Sein Kehlkopf ruckte auf und ab.
»Ihr glaubt?«, fragte Gunther.
Was sollte sie ihm sagen? Dass sie manchmal mehr Angst vor dem Leben hatte als vor dem Sterben? Dass es Tage in ihrem Leben gegeben hatte, an denen sie sehr dicht davor gewesen war, ins Wasser zu gehen? Sie scheute sich davor, dies in Sterners Gegenwart zuzugeben. »Ich habe noch nie genauer darüber nachgedacht.«
Wieder erschien Gunthers Gesicht hinter dem kleinen Loch. »Ihr lügt nicht besonders gut«, stellte er fest. »Eure Stimme zittert dabei.«
Der Wächter in seiner Zelle, den er Paul genannt hatte, schnaubte amüsiert, sagte aber nichts.
»Mag sein.« Katharina wollte etwas hinzufügen, aber in diesem Moment hörte es sich an, als würde Gunthers Zellentür geöffnet.
»Ich bekomme Besuch. Wartet einen Augenblick, ich bin gleich wieder bei Euch.«
Katharina konnte hören, wie er aufstand.
»Nun, mein Sohn, glaubst du nicht, dass es endlich an der Zeit ist, die Beichte abzulegen?« Eine Stimme, die Katharina vage vertraut vorkam. Kurz glaubte sie, es müsse der Priester mit den blauen Lippen aus St. Sebald sein, der ihr die Absolution verweigert hatte. Aber sie war sich nicht sicher.
Gunthers Stimme klang auf einmal sehr hart. »Ist es nicht.«
»Die Beichte wird dir die lange Nacht erleichtern«, sagte der Priester. Ihm war anzuhören, dass ihn Gunthers Ablehnung irritiert hatte. »Du solltest deinen Frieden mit Gott machen!«
»Das werde ich, Pater, aber auch wenn es Euch nicht gefällt: Dazu brauche ich weder Eure Hilfe, noch die eines anderen Pfaffen!«
Ein leises Ächzen aus der Kehle des Priesters verriet die Überraschung, mit der er die Beleidigung aufnahm. »Wünschst du also, dass ich wieder gehe?« Er klang herausfordernd, so, als glaube er keinen Augenblick lang daran, wirklich fortgeschickt zu werden.
Doch Gunther überraschte ihn. »Ja«, sagte er. Mehr nicht.
»Nun ... wenn du es so wünschst!« Eilige Schritte erklangen, dann fiel die Zellentür ins Schloss.
Katharina schüttelte den Kopf. »Seid Ihr sicher, dass das klug war?«
Schemenhaft sah sie Gunther an seinen Platz neben dem Mauerloch zurückkehren. »Warum nicht?«
»Ihr braucht ihn, um Euren Frieden mit Gott zu machen«, wiederholte sie die Worte des Priesters.
»Wann hat ein Priester das letzte Mal dafür gesorgt, dass Ihr Frieden mit Gott schließen konntet?«
Katharina dachte an ihre misslungene Beichte vom Vortag und an eine ganze Reihe von früheren ähnlichen Beispielen.
»Wie lange?«, bohrte Gunther nach.
»Es ist lange her«, gab sie zu.
»Stattdessen fühlt Ihr Euch gehetzt. Von irgendwelchen Teufeln, die nach Eurer Seele gieren, und in Angst versetzt vor dem großen Fegefeuer, in das Ihr nach Eurem Tod hinabgestoßen werdet. Stimmt es?«
Katharina lauschte in sich hinein. Das Fegefeuer hatte sie noch nie gefürchtet, was ihrer Meinung nach allein daran lag, dass ihr Leben diesem düsteren, grausamen Ort nur allzu oft aufs Haar glich. Aber Teufel und Dämonen? Ja. Die fürchtete sie.
Unwillkürlich griff sie sich an die Stirn, als könne sie ihren ganz persönlichen Dämon dahinter herumpoltern spüren. Die Worte ihres Vaters kamen ihr in den Sinn, unter Tränen hervorgepresst.
Ich habe solche Angst, dass sie besessen ist ...
Gunther, der sich die ganze Zeit, während sie nachdachte, nicht gerührt hatte, meinte: »Dachte ich mir.«
In diesem Moment begriff Katharina, was Gunther so anders wirken ließ als die meisten Menschen, die sie bisher getroffen hatte. So anders als Mechthild oder Egbert. Sogar so anders als Richard Sterner. Besonders als Sterner.
Gunther schien keinerlei Reue zu empfinden, aber auf eine gute Art und Weise. Er war nicht skrupellos oder distanzierte sich von der Schuld, die er sich aufgeladen hatte, sondern er schien einfach völlig sicher zu sein, dass sie ihm vergeben werden würde.
Glühender Neid durchfloss Katharina.
Sie bemerkte, dass Sterner seine Position auf der Bank leicht verändert hatte, so dass sich das Licht der Laterne in seinen dunklen Augen spiegelte. An seiner Miene konnte sie erkennen, dass er genau das Gleiche dachte wie sie.
»Wie könnt Ihr Euch so sicher sein?«, flüsterte sie.
»Es ist ganz einfach!«
Pauls warnende Stimme erklang: »Joachim!«
Doch er ließ sich nicht beirren. »Sie brauchen unsere Hilfe, Paul. Siehst du das nicht?« Und ohne auf eine Erwiderung zu warten, fuhr Gunther fort. »Ich rede mit Ihm. Und ich höre nicht auf das, was die Pfaffen mir einflüstern wollen.«
»Er? Ihr sprecht von Gott?« Jetzt endlich wandte Katharina den Blick von Sterner ab und richtete ihn auf das Loch in der Wand.
»Ja. Tragt Eure Schuld vor Ihn hin, und ihr werdet sehen, Er vergibt sie Euch. Ohne dass ein Pfaffe Euch Absolution erteilen muss.«
»Du redest dich um Kopf und Kragen.« Der Lochwächter räusperte sich vernehmlich.
»Mein Kopf ist bereits so gut wie von den Schultern, vergiss das nicht«, gab Gunther fröhlich zurück. »Mehr als einmal kann man ihn wohl kaum verlieren. Aber, Frau Jacob: Egal, was Ihr getan haben mögt, Er wird es Euch vergeben, wenn Ihr Ihn darum bittet.«
Sterner stieß ein höhnisches Schnauben aus. »Ihr verachtet die Pfaffen und ihre ständigen Aufrufe zur Buße und predigt doch nichts anderes als sie!«
Gunther schwieg eine Weile. »Ich bin kein gelehrter Mann. Aber ich habe gehört, was Ihr vorhin erzählt habt, und ich weiß, dass Ihr Euch mit einer schweren Last quält. Es geht nicht nur darum, dass Ihr den Tod Eurer Schwester nicht verhindert habt. Habe ich recht?«
Mit einer heftigen Bewegung sprang Richard auf und marschierte zur Zellentür. »Verschont mich mit Eurem Gewäsch!«
»Wenn Ihr es wünscht.«
Katharina konnte Gunthers Hand sehen, die sich auf dem kalten Fußboden abstützte. Ihr Genick begann zu schmerzen. Sie richtete sich auf und massierte ihren Hals.
»Was ist es, was Euch am meisten quält?«, fragte Gunther.
Die Frage nahm ihr den Atem. Sterner stand neben der Zellentür, die Hände hatte er zu Fäusten geballt und den Kopf gesenkt, so dass sein Gesicht hinter der Flut seiner braunen Haare nicht zu erkennen war.
Fieberhaft überlegte Katharina, was sie auf Gunthers Frage antworten sollte.
Richard spürte die Abwehr, die Katharina empfand, beinahe körperlich. Er konnte sie verstehen. Er hätte sich ebenfalls geweigert, diesem völlig Fremden seine tiefsten Geheimnisse anzuvertrauen. Um die Erinnerungen an Cesare Vasaris bleiche Knochen zu vertreiben, trat Richard zu Katharina. Sie schaute ihn von unten herauf an. Zögernd ging Richard neben ihr auf die Knie, und dann zog er sie nun seinerseits in die Arme.
Sie legte den Kopf an seine Brust. Er fühlte, dass sie zitterte.
Sein Herz begann zu flattern.
Dann erzählte sie von ihrer Kindheit, davon, wie ihr Vater sie geschlagen hatte, weil er den Teufel aus ihrem Kopf vertreiben wollte. Richards Kehle wurde eng bei ihren Worten.
»Ich weiß, dass Gott mich für eine schwere Sünde straft, indem er mich an der melancholia leiden lässt«, endete sie. »Aber ich kann nicht herausfinden, welche das ist, um sie zu bereuen.« Sie klang jetzt, als sei sie den Tränen nahe. Richard schloss die Augen. »Aber das Schlimmste ist, dass ich mich jede Nacht, wenn es am dunkelsten ist, immer und immer wieder frage, ob es vielleicht meine Schuld ist, dass Matthias sterben musste. Was, wenn ich durch meine Schuld tatsächlich einen bösen Geist auf ihn herabbeschworen habe? Und auf Faro. Was, wenn ich schuld bin an seinem Zustand?«
Sie beugte den Oberkörper ein wenig zurück. Richard öffnete die Augen wieder, und tatsächlich konnte er jetzt Tränen hinter ihren Lidern schimmern sehen. Im trüben Licht der verlöschenden Lampe war der hübsche Farbton ihrer Iris zu einem stumpfen Grau verblasst. In seiner Brust erzitterte etwas unter ihrem Blick.
»Ihr habt Euren Bruder nicht getötet«, sagte er leise. »Und es war auch kein Dämon. Kein Teufel, sondern ein Mensch. Und sie werden ihn dafür richten.«
»Faro.« Sie klammerte sich an Richard fest, als könne er ihr irgendeinen Halt bieten, von dem er selbst nichts wusste. »Ihr müsst mir helfen, seine Unschuld zu beweisen!«
Er dachte an Pömer, an den geheimen Gang, an den toten Christenjungen in dem Keller ... Es erforderte alle Kraft, die er aufbieten konnte, zu nicken. »Ich helfe Euch«, versprach er, und in Gedanken setzte er hinzu: Egal, was es mich kostet.
»Dazu ist später noch Zeit.« Gunthers Stimme zerriss den Bann, der sich zwischen sie gelegt hatte. »Jetzt solltet Ihr mit mir beten.«
Katharina machte sich los, aber dann zögerte sie, von Richard fortzurücken. Sie näherte ihr Gesicht dem seinen, und bevor ihm klar wurde, was sie vorhatte, gab sie ihm einen unendlich sanften Kuss auf die Lippen. »Danke«, flüsterte sie.
Dann wandte sie sich dem Mauerloch zu, faltete die Hände zum Gebet und senkte ihren Kopf auf die Brust.
»Barmherziger Gott, schau auf diese Frau, die ihre gesamte Schuld vor dich getragen hat, und gib ihr ein Zeichen deiner Vergebung ...« Er redete noch eine ganze Weile so weiter, doch Richard vermochte nicht, ihm zu folgen. Er hatte die Fingerspitzen auf seinen Mund gelegt und versuchte, die Erinnerung an Katharinas federleichte Berührung dort festzuhalten.
»Jetzt lasst uns schweigen«, sagte Gunther schließlich.
Tiefe Stille senkte sich über die Zellen, und in sie eingehüllt verging der Rest der Nacht.