16. Kapitel

Der Zug nahm seinen Weg nach Süden über die Fleischbrücke und bog dann links ab, um in gerader Linie an St. Lorenz und am Kartäuserkloster vorbei zur Stadtmauer zu gelangen. Unterwegs wuchs er immer mehr an, bis er schließlich aus mindestens dreihundert Menschen bestand.

Die Sonne schickte ihre Strahlen durch die nach Osten führenden Gassen. Katharina hielt den Kopf gesenkt, damit sie möglichst wenig Menschen erkannten. Die Scham darüber, auf dem Henkerskarren transportiert zu werden, ließ ihr Gesicht brennen und ihr Herz unruhig stolpern. Immer wieder versuchte Sebald aus ihr herauszubekommen, was hier geschah, aber sie hielt sich an das Versprechen, das sie Zeuner gegeben hatte, und schwieg eisern.

Sie selbst hatte es ja auch nicht begriffen. Nachdem er ihr eröffnet hatte, was er plante, war er sehr geheimnisvoll geworden; auf ihre Frage, was passiere würde, wenn sie nach der Hinrichtung tatsächlich gestand, eine Hexe zu sein, hatte er nur geantwortet: »Warten wir es ab. So weit muss es vielleicht nicht kommen.« Mehr hatte sie nicht aus ihm herausgebracht.

Jetzt, da sie quer durch die Stadt zum Richtplatz gefahren wurde, war sie gleichzeitig hellwach und völlig abwesend. Die Gedanken rasten in ihrem Geist, doch es gelang ihr nicht, auch nur einen davon zu fassen zu bekommen.

Vor dem Frauentor kam der Zug ins Stocken, passierte die innere Durchfahrt, wandte sich nach rechts und durchquerte den Hof, um durch das äußere Tor auf die hölzerne Brücke hinauszugelangen, die über den Stadtgraben führte. Das Klappern der Pferdehufe und das Knirschen der Karrenräder klangen dumpf auf den dicken Bohlen. Von oben, aus einem Fenster im Torhaus, blickten zwei Soldaten auf den Zug nieder.

Vor dem Frauentor wurde angehalten, und die beiden Priester sprachen ein paar Gebete über Joachim Gunther. Er ließ sie mit gleichmütiger Miene über sich ergehen.

Inzwischen war es völlig hell, und es wurde nun rasch warm.

Katharina klammerte sich an den Holm, an dem sie festgebunden war.

Felder durchzogen das Gelände vor der Stadt, auf denen das Korn hoch und gelb stand. Links des Weges wurde an einer Scheune gebaut. Balken und Ziegelwerk lagen säuberlich gestapelt da, aber von den Zimmerleuten und Maurern war niemand zu sehen.

Der Richtplatz selbst war voller Schaulustiger, und zusammen mit den Neuankömmlingen, die dem Zug gefolgt waren, mussten es Hunderte sein, die neugierig auf das bevorstehende Spektakel warteten. Auf eigens zu diesem Zweck bereitgestellten Fuhrwerken hockten sie und verrenkten sich die Hälse, um so viel wie möglich zu sehen zu bekommen. Die Wohlhabenderen unter ihnen hatten Dienstpersonal dabei, die ihnen zu trinken und zu essen reichten, und es verursachte Katharina ein Gefühl von Ekel, mit anzusehen, wie sehr die Menschen es genossen, hier zu sein. Kinder rannten zwischen den Fuhrwerken herum, jagten sich gegenseitig, lachten und kreischten vor Vergnügen. Die Ärmeren, die sich keinen Diener und auch keinen Wein leisten konnten, drängten sich im Hintergrund um einen Brunnen mit gemauertem Rand. Die Winde, mit der der Eimer immer und immer wieder in die Tiefe gelassen wurde, damit man den Durst der Vielen stillen konnte, quietschte durchdringend.

Schließlich erblickte Katharina den Galgen, und ein Klagelaut entrang sich ihrer Kehle. Sie fühlte Gunthers Hand auf der ihren ruhen. »Seid zuversichtlich«, flüsterte er ihr zu.

Sie schluckte. Die Angst griff jetzt mit kalten Fingern nach ihrem Herz und presste es zusammen.

Die Stadtsoldaten hatten ein Rund abgesperrt, in das nun der Zug hineinmarschierte. Die Büttel, die den Zug begleitet hatten, vervollständigten den Kreis und schlossen ihn, sobald der Karren sich in seinem Inneren befand.

Dann verstummte das Tuscheln der aufgeregten Menge, und es wurde sehr still.

Katharina schwankte.

Der Stadtrichter ließ sich von einem der Schöffen eine Schriftrolle geben, trat mit gemessenem Schritt auf das Hochgericht zu und erklomm die paar niedrigen Stufen, die hinaufführten. Oben angekommen, drehte er sich um, rollte mit großer Geste das Schriftstück auseinander und verlas Urteil und Friedebann. Es war ein langer geschraubter Text, dessen Wortlaut nur schwer zu verstehen war. Katharina fehlte die Konzentration, um ihm zuzuhören.

»Lasst mich zu ihr!«

Ein kleiner Tumult entstand rechts hinter ihr, als Richard Sterner versuchte, durch den Kreis von Soldaten zu gelangen, aber er wurde aufgehalten. Katharina verspürte einen Anflug von Dankbarkeit, dass er da war. Sie hob den Kopf so weit, dass er ihr ins Gesicht schauen konnte.

Er wehrte sich gegen den Griff der Soldaten, dann gab er auf. Ohne Katharina aus den Augen zu lassen, trat er zurück neben einen Mann mit rabenschwarzem Haar und so leuchtend grünen Augen, dass Katharina ihre Farbe sogar über die Entfernung erkennen konnte. Sie sah, wie Sterner begann, auf den Mann einzureden.

Der Stadtrichter endete seine Rede mit dem Satz: »Darum verurteilt der Rat der Stadt Nürnberg Joachim Gunther zum Tode durch das Rad.«

Katharinas Lippen hatten angefangen zu kribbeln. »Rädern?«, hauchte sie.

Gunther starrte blicklos nach vorn auf den Rabenstein, gerade so, als ginge ihn das alles nichts an. Sebald band seine Fesseln auf, dann geleitete er Gunther von dem Wagen herab und übergab ihn an zwei Büttel, die ihn zu den Stufen führten.

Die Formation der Soldaten löste sich ein wenig auf, so dass Sterner nun zu Katharina gelangen konnte. Er kam an den Karren und packte nach ihren Fesseln, um daran zu zerren. »Bindet sie doch los, bei Gott!«, bat er Sebald.

Der sah sich unsicher um. In der Menge der anwesenden Ratsherren machte sich Pömer bemerkbar. »Tut, was er sagt«, befahl er. »Sie kann nicht weg.« Aber noch immer schien Sebald unschlüssig, bis auch Jörg Zeuner knapp nickend sein Einverständnis gab.

Also löste Sebald auch Katharinas Fesseln. Sie versuchte, einen Blick von ihm zu erhaschen, aber er vermied es sorgfältig, sie anzusehen. Als die Fesseln fielen und sie auf diese Weise ihres Haltes beraubt war, wurden ihre Knie schwach. Nur mit Mühe hielt sie sich an dem Holm aufrecht.

Der Karren schwankte plötzlich, und dann legte sich ein Arm um ihre Taille.

»Ruhig!«

Sterners Stimme.

Sterners Geruch.

Sie wollte sich losmachen. »Nicht«, murmelte sie. Ihre Zunge fühlte sich schwer und pelzig an. »Ihr ruiniert Euren Ruf!«

Aber er achtete nicht auf sie. Über ihren Kopf hinweg gab er dem Mann mit den grünen Augen einen Wink, es dauerte einen Moment, dann drängte sich dieser mit einer hölzernen Kelle in der Hand zwischen die Soldaten. Ungehindert kam er an den Karren und reichte Sterner die Kelle.

Richard setzte sie Katharina an den Mund. »Trinkt ein bisschen. Dann wird es Euch besser gehen.«

Sie fühlte zuerst die Kühle des Brunnenwassers auf ihren Lippen, dann trank sie. Das Wasser schmeckte fürchterlich bitter.

Katharina verzog das Gesicht.

Richard verspürte eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Misstrauen, als Zeuner dem Lochwirt den Wink gab, Katharina loszubinden. Noch immer grübelte er darüber nach, was der Bürgermeister vorhaben mochte. Die Erklärung, die er Richard geliefert hatte, dass Katharinas Hiersein zur Erlangung eines schnellen Geständnisses diente, mochte er nicht so recht glauben, und die Tatsache, dass Zeuner, bevor er Sebald zugenickt hatte, seinen Blick einen Moment lang suchend über die Menschenmenge hatte schweifen lassen, verstärkte Richards Misstrauen noch.

Kurz vermeinte er im Gedränge einen Mann mit federgeschmücktem Hut zu sehen, mit dem Zeuner Blicke tauschte, aber als er genauer hinsah, war der Mann verschwunden.

Gunther war inzwischen auf dem Hochgericht angekommen, und Richard hörte die beiden Priester Gebete für ihn sprechen. Als sie fertig waren, schnallte man Joachim Gunther auf ein Gestell, das aussah wie ein Andreaskreuz. Mit weit gespreizten Armen und Beinen lag er da, den Kopf zur Seite gewendet, als suche er in der Menge jemanden. Seine Blicke fanden Katharina und klammerten sich an sie.

Sie streckte die Hand nach ihm aus und lehnte sich an Richard.

Er umfasste sie fester, denn sie schwankte jetzt stärker als je zuvor.

Der Henker trat an das Gestell. Ein unterdrücktes Raunen ging durch die Menge, dann wurde in der Nähe des Brunnens Lärm laut. Jemand schrie etwas, doch er schien betrunken zu sein, denn seine Worte klangen lallend und undeutlich. Zwei Stadtsoldaten verließen den Kreis ihrer Kameraden, bahnten sich einen Weg zum Brunnen und sorgten für Ruhe.

Die Menge wandte sich wieder dem Rabenstein und dem Henker zu, der sich in der Zwischenzeit nicht gerührt hatte.

Richard biss die Zähne zusammen, denn Katharina krallte sich mit solcher Kraft in seinen Arm, dass es schmerzte. Der Henker wartete auf einen Befehl des Richters. Als er ihn erhielt, neigte er den Kopf, bückte sich zu einem Eimer hinunter, der zu seinen Füßen stand, und schöpfte mit einer Holzkelle etwas Wasser daraus. Dann setzte er die Kelle an Gunthers Mund und gab ihm zu trinken.

Der Verurteilte schluckte, verschluckte sich. Hustete.

Wieder gab es einen Tumult, diesmal vor einem der Fuhrwerke, die für die Schaulustigen aufgestellt worden waren. »Lasst mich hinauf!«, schrie eine Frau mit schriller Stimme. »Die Leiter, seht ihr nicht die Leiter? Sie führt direkt in den Himmel!« Diesmal brauchte es die Soldaten nicht, um wieder für Ruhe zu sorgen, denn ein Mann packte die Stammelnde bei den Schultern und schüttelte sie so heftig, dass ihr Kopf vor und zurück flog wie der einer Puppe.

Der Henker ließ die Kelle in den Eimer zurückfallen. Als er das große eisenbeschlagene Wagenrad nahm und in die Höhe hob, ging ein lauteres Raunen durch die Menge. Mit einer vollständigen Drehung präsentierte er das Rad den Anwesenden. Richard konnte hören, wie einzelne Menschen aufseufzten. Spannung lag in der Luft, als nähere sich ein schweres Gewitter. Katharina presste beide Hände vor den Mund.

Dann verstummten auch die letzten Tuscheleien.

Es wurde totenstill.

Der Henker beendete seine Drehung und hielt das Rad über den linken Unterschenkel Gunthers. Richard konnte den Blick nicht von der Frau vor dem Fuhrwerk abwenden. Die Haare hingen ihr über ein Auge, ihre Haube saß schief auf dem Kopf. Doch das alles schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Mit einem blöden Ausdruck glotzte sie einfach nur vor sich hin. Richard suchte in der Menge nach Arnulf und entdeckte ihn ganz in der Nähe des Brunnens. Seine Miene wirkte ernst und nachdenklich, während er seine Blicke umherschweifen ließ.

»Heilige Maria, Mutter Gottes«, flüsterte Katharina. »Steh ihm bei!«

Das Rad sauste hinunter. Richard packte Katharinas Kopf und riss ihr Gesicht an seine Brust. Das Rad prallte auf Gunthers Unterschenkel und zertrümmerte ihn. Gunther brüllte auf, und Katharina zuckte zusammen, als hätte der Hieb ihr gegolten. Sie hatte die Hände auf die Ohren gepresst und bebte am gesamten Körper, während der Henker sein grausiges Werk verrichtete. Immer wenn das Rad seinen höchsten Punkt erreicht hatte, wenn die atemlose Stille der Gaffer ihr anzeigte, dass es im nächsten Moment niedersausen würde, erstarrte sie, um dann bei Gunthers Schrei zusammenzuzucken.

»Nein!«, murmelte sie ab dem dritten Schlag. »Nein! Nein! Nein!« Und einmal: »Bertram!«

Richards Geist hatte sich geteilt. Eine Hälfte wehrte sich gegen das eigene Entsetzen, aber die andere war in der Lage, klar zu denken. Sie fragte sich, warum Zeuner nicht eingriff, um dafür zu sorgen, dass Katharina der Hinrichtung auch wirklich zusah. Unter den Ratsherren war Verwunderung entstanden, einige tuschelten, zwei redeten auf Zeuner ein, doch der hob die Hand und brachte sie damit zum Schweigen. Plötzlich hatte Richard den Eindruck, als warte Zeuner auf etwas, etwas, von dem nur er wusste.

Zunächst jedoch wurde ein Ruf laut. »Haltet ein!«

Es war der Stadtrichter, dessen schüttere Haare ihm in einer sorgfältig frisierten Welle über die Ohrläppchen hingen. Er stand auf der obersten Stufe zum Hochgericht. In der Menge wurde Gemurmel laut.

»Der Rat der Stadt Nürnberg hat befohlen, dass dem Verurteilten nach sechs Schlägen mit dem Rad der Rest der Strafe erlassen wird!«, rief er den Menschen zu. »Aus seiner großen Barmherzigkeit heraus verfügt der Rat der Stadt Nürnberg, dass Joachim Gunther nunmehr mit dem Schwert vom Leben zum Tode befördert werden soll!«

Die Erleichterung, die Richard bei diesen Worten durchströmte, ließ ihn erbittert auflachen. Was war das für eine Barmherzigkeit?, dachte er. Und was war er für ein Mensch, dass er darüber auch noch froh war? Seine Hände, die noch immer um Katharinas Kopf geschlungen waren, hatten wieder angefangen zu zittern.

Arnulf hatte sich über den Brunnenrand gebeugt und warf einen Blick in die Tiefe.

Als der Stadtrat die Begnadigung zum Schwert verkündete, befreite Katharina sich aus Richards Griff, der mit jedem Schlag des Rades immer schwächer geworden war. In dem kurzen Moment, in dem die Menge das neue Urteil verarbeiten musste, sah Katharina ihrem Beschützer ins Gesicht. Er war bleich, tiefe Linien hatten sich um seine Augen und seinen Mund eingegraben, und seine Augäpfel zuckten unruhig in ihren Höhlen.

Ein unheilvolles flirrendes Leuchten drang aus seinen Pupillen und wurde immer stärker.

»Richard!« Wie aus dem Boden gewachsen tauchte jener Mann neben Richard auf, mit dem er vor kurzem gesprochen hatte. Groß war er und kräftig, und aus seinen grünen Augen sprach eine Härte, wie Katharina sie noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. »Irgendwas ist mit dem Brunnen«, hörte sie ihn sagen, dann flammten auch seine Augen grell leuchtend auf.

Katharinas Ohren begannen zu summen.

In diesem Augenblick stemmte sich Joachim Gunther gegen seine Fesseln und warf den Kopf von rechts nach links. »Seht die Engel des Herrn!«, schrie er heiser und halb irre vor Schmerzen.

In der Menge ertönten Schreie.

»Ja!«, rief jemand. »Seht dort!« Gesichter wandten sich dem Himmel zu, Finger wurden ausgestreckt. Jemand begann irre zu lachen, und es dauerte einen Augenblick, bis Katharina begriff, dass es Joachim war.

Plötzlich brach ihr Schweiß aus allen Poren.

Gunthers Glieder zuckten wild, und wenn er nicht festgeschnallt gewesen wäre, hätte es ihn von dem Gestell gerissen. Seine Beine waren zertrümmert, Blut tränkte das weiße Leinen seiner Hose, und auch beide Unterarmknochen hatte Bertram ihm gebrochen. Dennoch schaffte er es, einen Finger auszustrecken und damit auf Katharina zu zeigen.

»Dort ist er, der Engel! Seht hin, damit ihr ihn erkennt. Er lebt unter euch, und ihr vermögt ihn nicht zu sehen!« Seine Worte kreischten in ihren Ohren.

Einzelne Menschen in der Menge heulten auf. Gunther spannte seinen Körper und heulte mit ihnen. Er schien keinerlei Schmerzen mehr zu verspüren. Sein Kopf warf sich rastlos von einer Seite auf die andere. Jemand krachte mit solcher Wucht gegen den Karren, dass er erbebte. Katharina musste die Beine spreizen, um nicht zu fallen. Sie sah ein Gesicht über die Seitenwand des Karrens ragen, sah weit aufgerissene Augen, gebleckte Zähne. Im nächsten Moment fuhr eine zu einer Klaue verkrümmte Hand durch die Karrenstäbe und grapschte nach Katharina.

»Lass das!«, hörte sie Sterner fauchen.

»Hexe!« Der Angreifer.

»Weg hier!« Der Fremde mit den grünen Augen.

Katharina wurde gepackt. Sie sprang von dem Karren, knickte um dabei, dann wurde sie davongezerrt, durch die Menschenmassen hindurch. Gesichter drängten sich an sie heran, sie sah in Augen, die von flammendem Licht erfüllt waren. Verkrümmte Hände streckten sich nach ihr aus. Krallen, die sie zerreißen wollten.

Sie wollte schreien, aber ihr Mund war so trocken, dass sie keinen Ton hervorbrachte.

Jemand ganz in ihrer Nähe zischte »Teufelsbuhlin!« und dann: »Ihr habt ihn verhext!«

Ein sirrendes Geräusch ertönte, dann schwirrte etwas durch ihr Gesichtsfeld. Sie taumelte. Ein scharfer Schmerz setzte ihren Arm in Brand. Sie schrie auf. Jemand packte sie um die Leibesmitte, sie wurde mitgerissen.

»Vorsicht!«, brüllte der fremde Mann, der ehemals grüne Augen gehabt hatte. Jetzt lagen in seinem Schädel zwei glühende Kohlen.

Sie hörte Richard aufschreien, sah ihn herumwirbeln. Ein verzerrtes Gesicht kam nahe an sie heran, ein weit aufgerissener Mund, Zähne, die ganz dicht vor ihrem Hals zusammenklappten wie eine Falle. Sie riss einen Arm hoch, doch sie hatte das Gefühl, sich unter Wasser zu befinden. Ihre Bewegungen waren schwerfällig. Langsam. Wieder schrie jemand.

Joachim wurde unter einer Flut von zuckenden Leibern begraben, die sich auf ihn warfen. Bertram stand inmitten dieses Stromes, ein Fels in der Brandung, das Richtschwert hoch erhoben. Katharina sah, wie es auf die Wahnsinnigen niedersauste, wieder und wieder. Rasch wandte sie den Blick ab. Warmer Atem strich ihr über die Haut im Genick, dann grub sich etwas in ihren Hals, heiß und schmerzhaft wie Feuer. Sie schlug um sich, ein Mann stürzte zu Boden, auf den Lippen Blut. Ihr Blut.

»Katharina!«, hörte sie Richard rufen, doch ihr Name verhallte in tiefer, endloser Finsternis. Ihr Blick fiel auf ein fremdes Gesicht. Der Stadtrichter, der die Begnadigung verkündet hatte. Er lächelte. Auch seine Augen standen in Flammen.

Es war das letzte, was sie sah, dann stürzte sie in die Finsternis.

»Dort ist er, der Engel! Seht hin, damit ihr ihn erkennt. Er lebt unter euch, und ihr vermögt ihn nicht zu sehen!«

Richard, der von dem Aufflackern des Irrsinns in der Menge für einen kurzen Moment von Joachim Gunther abgelenkt worden war, riss bei diesen Worten den Kopf herum. Er sah den Verurteilten auf Katharina zeigen, und im nächsten Moment krachte ein Mann mit solcher Gewalt gegen den Karren, dass Richard beinahe den Boden unter den Füßen verlor. Er ließ Katharina los, klammerte sich an der Seitenwand fest. Sein Knie schlug dabei schmerzhaft irgendwo an, doch er achtete kaum darauf. Der Irre langte durch die Karrenstäbe nach Katharina.

So fest er konnte, schlug Richard gegen die verkrümmten Finger. »Lass das!«, fauchte er den Mann an, und im gleichen Moment war Arnulf bei ihm auf dem Karren.

»Weg hier!«, rief er, während der Irre sich die schmerzende Hand hielt und Katharina das Wort »Hexe!« entgegenschleuderte.

Richard packte Katharina kurzerhand um die Leibesmitte und zerrte sie mit sich vom Karren. Ihr Fuß verfing sich in einer Bodenfurche, und sie strauchelte, aber er zog sie einfach mit sich.

Plötzlich befanden sie sich mitten in der rasenden Menge. Eine Gruppe von drei jungen Männern war dabei, sich gegenseitig die Kleidung vom Leib zu reißen. Eine Frau hockte auf der Erde, den Kopf mit beiden Armen umklammernd, und wiegte den Oberkörper vor und zurück. Die jungen Männer stolperten über sie, doch sie schien es kaum zu bemerken. Als sie die nackten Körper vor sich sah, wurden ihre Bewegungen hektischer.

Bevor Richard weitere Einzelheiten erkennen konnte, hörte er Arnulfs Stimme: »Hier! Nimm das!« Ein kurzes Schwert mit scharf geschliffener Parierstange wurde ihm in die Hand gedrückt. Er warf einen kurzen Blick zur Seite und erkannte, dass Arnulf eine armlange Klinge hielt und sie in diesem Moment auf eine Hand niedersausen ließ, die nach Katharina langte. Blut spritzte empor, der Verstümmelte stieß einen langgezogenen Schrei aus, aber da waren sie schon weiter.

»Teufelsbuhlin! Ihr habt ihn verhext!« Jemand fiel Katharina von der Seite an, so schnell bewegte er sich, dass Richard ihn aus dem Augenwinkel nur als Schatten wahrnahm. Er fuhr herum, Arnulfs Schwert hoch erhoben. Gerade noch rechtzeitig. Vor Katharinas Gesicht prallte ein langes Messer auf seine Waffe. Es gab ein kreischendes Geräusch, als die beiden Klingen sich aneinander wetzten. Richard drehte seine Hände ein Stück zur Seite, und die Spitze der Parierstange bohrte sich in das Handgelenk des Angreifers. Der Mann warf sich zurück, doch dabei vollführte sein Messer einen weiten Bogen. Traf Katharinas Arm.

Richard hörte sie schreien.

Von dem eigenen Schwung wurde er vorwärtsgezogen, stieß gegen den Körper des Angreifers, der von der Wucht des Zusammenstoßes zu Boden ging. Er verlor seinen Hut und blieb nur mit Mühe auf den Beinen.

Katharina wurde plötzlich aus seinem Gesichtsfeld gerissen.

Er wandte den Kopf, um zu sehen, wo sie war, und wieder rettete ihn eine ungeplante Bewegung. Der Angreifer hatte noch im Fallen sein Messer in beide Hände genommen. Jetzt sprang er wieder auf und stieß nach Richards Bauch. Richard parierte den Stoß mit dem Schwert, dann verkeilten sich beide Klingen ineinander. Über sie hinweg konnte Richard einen Blick in das Gesicht des Angreifers werfen. Er sah eine in unendlichem Grauen verzerrte Maske, Augen, die in schneller Folge blinzelten, und einen zu einem stummen Schrei aufgerissenen Mund.

Fast wäre er zurückgezuckt. Doch er beherrschte sich, stieß den Wahnsinnigen von sich.

»Vorsicht!«, hörte er Arnulf brüllen.

Er wirbelte herum, dann krachte jemand mit solcher Wucht gegen ihn, dass sein Zähne aufeinanderschlugen und rote Schleier vor seinen Augen zu tanzen begannen. Er fiel, traf auf der Erde auf. Kurz bekam er keine Luft. Sein neuer Angreifer war über ihm, die Sonne stand direkt hinter seinem Rücken, so dass er wie aus dem Licht ausgestanzt wirkte.

Richard schrie auf. Seine Klinge fuhr beinahe von alleine in die Höhe, traf auf einen weichen Widerstand.

Ein schrilles Kreischen erklang ganz dicht bei ihm. Er rollte zur Seite. Ein Körper fiel neben ihm zu Boden, riss ihm das Schwert aus der Hand.

Keuchend kam er auf die Knie, und dann sah er zum ersten Mal, wer ihn angegriffen hatte. Eine ältliche Frau mit dünnen grauen Haaren, die unter einer weißen Haube hervorragten.

Richards Schwert hatte sie mitten in den Leib getroffen.

Er hatte keine Zeit, nachzusehen, ob sie noch lebte. Wo war Katharina? Er taumelte auf die Füße.

Arnulf befand sich keine zwei Schritte von ihm entfernt, Katharina hinter seinem Rücken, während er die wuchtigen Hiebe eines der Stadtsoldaten abwehrte. Richard konnte das Keuchen der beiden Männer hören, war schon drauf und dran, dem Freund zur Hilfe zu eilen, als eine Gestalt Katharina ansprang und ihre Zähne in ihren Hals grub.

Sie schlug um sich.

»Katharina!«, schrie Richard. Dann musste er mit ansehen, wie sie zu Boden sank.

Im gleichen Moment hatte Arnulf den Soldaten besiegt. Sein Schwert fuhr durch die Luft, durchbrach die Deckung des Gegners und fraß sich seitlich in seinen Hals. Richard ließ sich keine Zeit zuzusehen, wie er fiel.

Er war schon bei Katharina, als Arnulf sich noch sammelte. Mit fliegenden Fingern untersuchte er die Wunde an ihrem Hals. Ein Menschenbiss, bei allen Heiligen!

Arnulf sprang vor, drängte eine junge Frau zur Seite, die sich auf Richard werfen wollte, dann half er, Katharina aufzuheben und auf Richards Schultern zu laden.

Richard stolperte vorwärts, hinter dem Nachtraben her, der ihnen mit dem Schwert einen Weg durch die panische Menge bahnte. Sie kamen zu einer Gruppe, die ganz offensichtlich von dem Irrsinn ebenso überrascht worden war wie Richard. Dennoch war es nicht viel leichter, ihnen zu entkommen als den Wahnsinnigen. In ihrer Angst stolperten die Menschen übereinander, rissen sich gegenseitig zu Boden in dem vergeblichen Versuch, der Meute der Irren zu entgehen, die über sie herfielen wie Dämonen, sie packten, ihre Kleider zerfetzten und ihr Fleisch.

Dann endlich hatte Arnulf den Rand des Chaos erreicht. Er blieb stehen, half Richard, Katharina in Sicherheit zu tragen. Sie schleppten sich noch ein Stück den Weg entlang, bis sie sich hinter einem Steinkreuz halbwegs geschützt wähnten. Dort fiel Richard einfach auf die Knie und legte Katharina vorsichtig ins Gras.

»Wir müssen sie in die Stadt bringen!«, keuchte Arnulf. Über seine Wange zog sich ein einzelner dunkelroter Streifen. Seine Augenbrauen waren zu dicken Strichen zusammengezogen, und er sah aufs Äußerste beunruhigt aus. »Menschenbisse sind gefährlicher als Hundebisse. Sie muss verarztet werden.«

Richard war völlig klar, dass er nicht übertrieb. Er zwang sich auf die Füße, auch wenn ihm jeder Knochen im Leib schmerzte. Mühsam lud er sich Katharina wieder auf, dann machten sie sich auf den Rückweg in die Stadt.

Hinter ihnen ebbte der Wahn langsam ab.

* * *

»Pater!«

Guillelmus’ Sandalen verursachten auf dem gefliesten Boden des Infirmariums klatschende Geräusche und verstummten dann.

»Ja?« Johannes Schedel strich die Decke des Bettes glatt, in dem der Inquisitor bis zu diesem Morgen gelegen hatte. »Was ist denn?«

Guillelmus hatte die Augen in den Höhlen verdreht, als habe ihn plötzlich ein Krampf ergriffen. »Die Hinrichtung, Pater!« Er holte so tief Luft, dass es wie ein Schluchzen klang.

Prior Claudius hatte dem jungen Mönch den Befehl gegeben, der Hinrichtung beizuwohnen, bei der er selbst als seelischer Beistand in dem Zug mitgelaufen war. Johannes hatte es für einen Fehler gehalten, aber seit er für die Vorgänge im Gästehaus des Klosters keine Erklärung hatte finden können, hörte der Prior kaum noch auf seine Meinung.

Die Erlaubnis, das Kloster zu verlassen, um seinen Bruder aufzusuchen, hatte er ihm auch nicht erteilt. Zwar war Aurelius, der als Klostergast nur bedingt an die Weisungen des Priors gebunden war, zu Hartmann gegangen, aber er hatte nichts erreicht, denn man hatte ihn einfach nicht zu dem Medicus vorgelassen.

Bruder Aurelius war noch immer der Ansicht, dass Hartmann Schedel nicht fähig war, sich der Verantwortung für seine Taten zu stellen. Seiner Meinung nach war es langsam an der Zeit, zu Prior Claudius zu gehen und eine umfassende Beichte abzulegen.

Johannes zwang die bei diesen Gedanken aufsteigende Verwirrung nieder und legte Guillelmus einen Arm um die Schultern. »Es ist schlimm, einen Menschen sterben zu sehen«, sagte er in väterlichem Ton. »Aber wir müssen begreifen, dass der Tod zum Leben ...«

»Ich meine nicht die Hinrichtung selbst«, stieß Guillelmus hervor.

Johannes stutzte. »Sondern?«

»Bei der Hinrichtung ist etwas geschehen.« Guillelmus’ schriller Tonfall bewirkte, dass sich Johannes’ Blase bemerkbar machte.

Er führte den jungen Mönch zu einem der leeren Betten und drückte ihn auf dem Rand nieder. »Und was?«

»Es gab einen Aufruhr.«

Erleichterung ergriff Johannes. Das war nichts Besonderes. Die Stadträte befahlen nicht umsonst manchmal ganze Hundertschaften von Soldaten zu einer Hinrichtung, um die blutdürstige Menge von Ausschreitungen abzuhalten.

»Es war kein normaler Aufruhr!« Guillelmus schniefte. Auf einmal war er den Tränen nahe.

Schlagartig begriff Johannes, dass er das, was sein Famulus zu sagen hatte, nicht hören wollte. »Sondern?«, fragte er mit schmalen Lippen.

Und dann erzählte Guillelmus es ihm. Er sprach von Menschen, die sich in Tiere verwandelten. Die mit gefletschten Zähnen ihren Nachbarn angriffen und ihm das Fleisch zerrissen. Er sprach von nackten Leibern, die sich auf den Verurteilten geworfen hatten und ihn mit ihren zu Klauen verkrümmten Händen in Stücke gerissen hatten. »Sogar der Henker«, endete er seinen grausigen Bericht, »sogar der Henker wurde von ihnen angefallen.« Guillelmus sank vornüber und verbarg das Gesicht in den Händen. Seine schmalen Schultern unter der weißen Kutte zuckten. »Es war, als hätte die Hölle ihre Pforten geöffnet und ihre Dämonen ausgespuckt, Pater!« Die letzten Worte drangen nur undeutlich durch seine Finger hindurch.

Johannes ließ sich neben ihm auf die Bettkante sinken. Sein Gesicht fühlte sich plötzlich kalt an, und er hob die Hände an den Mund. Sein Kinn zitterte. »Geh in die Klosterkirche und sprich ein paar Gebete«, riet er Guillelmus. »Der Herr wird sich deiner annehmen und dir deinen Frieden wiedergeben.«

Guillelmus schaute skeptisch, aber er erhob sich gehorsam und trottete davon.

Johannes blieb allein zurück.

»Es war, als hätte die Hölle ihre Pforten geöffnet!« Die mit hohler Stimme gesprochenen Worte ließen ihn bis auf die Knochen erschrecken. Er fuhr in die Höhe.

Markus Krainer, der Inquisitor, stand in der Tür zur Krankenstube. Er wirkte nach seiner langen Bewusstlosigkeit grau im Gesicht, aber offenbar hatte er etwas gegessen und getrunken, denn seine Wangen waren nicht mehr so eingefallen und papiern wie zuvor.

»Ich fürchte, ich verstehe Euch nicht«, murmelte Johannes. Der Blick des Inquisitors war durchdringend, aber nicht unfreundlich.

Der Mann trat einen Schritt näher. »Euer junger Mitbruder spricht das aus, was viele Menschen in der Stadt glauben.«

»Ihr sagt das, als seid Ihr der selben Meinung.«

»Mit einem kleinen Unterschied.«

»Ein Unterschied.« Johannes verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich glaube nicht, dass die Pforten der Hölle weit offen stehen. Ich weiß es.« Bruder Markus ging zu dem zweiten Bett und setzte sich darauf.

Sofort spürte Johannes ein Gewicht auf seinem Rücken ruhen, wie ein Dämon, der ihn hinterrücks angesprungen hatte und ihm nun im Nacken saß. Unwillkürlich duckte er sich.

Über Bruder Markus’ Miene glitt ein Anflug von Zufriedenheit. »Ihr spürt es also auch.«

»Die Teufel?« Johannes hörte das Zittern in seiner Stimme. »Ich ringe jeden Tag mit ihnen.«

»Wisst Ihr, warum uns die Teufel der Hölle zunehmend plagen?«

»Ich fürchte nein.« Er dachte an die beflügelte Leiche in der Kapelle und an den ganz ähnlich hergerichteten Toten, vor dem er dreißig Jahren zuvor gestanden hatte. Die Schuldgefühle schlugen über ihm zusammen wie die Wogen eines riesigen, endlosen Meeres. »Oder doch: Die große Sündhaftigkeit der Welt?«

Bruder Markus lachte. »Ihr nehmt Euch wichtiger, als Euch zusteht, mein Guter! Nein! Der Grund für das immer häufiger werdende Auftreten von Teufelswerk ist ein ganz anderer. Nämlich der, dass die Hexen und Zauberer begonnen haben, sich zu Zirkeln zusammenzuschließen. Zu Sekten, deren einziges Ziel es ist, die heilige Kirche zu vernichten, um zu ihren uralten heidnischen Praktiken zurückzukehren. Diese Menschen, Bruder Infirmarius, sie beschwören die Teufel und Dämonen und rufen sie aus den Tiefen der Hölle hinauf in unsere Welt.« Der Inquisitor strich beiläufig über die Bettdecke. »Aber ich bin nicht gekommen, um Euch eine Predigt über das Hexenwesen zu halten. Das bespreche ich lieber mit Eurem Prior. Eigentlich wollte ich von Euch etwas ganz anders wissen.«

»Und das wäre?« Johannes musste sich räuspern. Das Gewicht auf seinen Schultern war wieder fort, aber dennoch wurde er das Gefühl nicht los, von einer unsichtbaren Bedrohung umzingelt zu sein.

»Wisst Ihr, was im Dormitorium geschehen ist?«

»Nein! Wir kamen erst, nachdem Ihr ... ich meine ...« Hilflos verstummte Johannes.

»Nachdem ich meine Begleiter umgebracht hatte, wolltet Ihr sagen.«

»Ich würde nie wagen, Euch ...«

»Schon gut. Nennen wir das Kind beim Namen.« Bruder Markus sah auf seine geballten Fäuste nieder. »Mit diesen Händen habe ich sie getötet, daran erinnere ich mich. Dass ich verhext war, steht ja wohl außer Zweifel, aber dennoch würde ich gern wissen, was genau in dieser schrecklichen Nacht geschehen ist. Einzelheiten, versteht Ihr?«

»Woran erinnert Ihr Euch?«

»Wir kamen am Nachmittag hier an, der Prior hieß uns willkommen, und wir zogen uns zu einer Besprechung in seine Zelle zurück, in der wir für ungefähr eine Stunde über den Hexenhammer disputierten. Danach nahmen wir an der Messe teil und auch am Abendessen der Mönche. Prior Claudius ließ uns den besten Wein des Klosterkellers servieren, aber ich bestand darauf, ihn mit seinen Mönchen und ihm zu teilen. Anschließend zogen wir uns zurück ins Dormitorium. Ich erinnere mich noch daran, dass wir uns die Malereien an den Wänden anschauten und überlegten, ob wir den Künstler für eines unserer Klöster einstellen sollten. Dann gingen wir schlafen. Ich weiß auch noch, dass ich wach wurde, weil sich eine meiner Visionen ankündigte. Ab und an spricht Gott mit mir, müsst Ihr wissen. Aber ich hatte fürchterlichen Durst, und so manifestierte sich die Vision nicht. Ich wollte etwas trinken, doch der Wein in unserem Krug schmeckte mir plötzlich ekelhaft, also schickte ich einen meiner Männer, um Wasser zu holen.«

»Moment!« Johannes’ Finger schoss in die Höhe. »Wisst Ihr, woher Euer Mann das Wasser hatte?«

»Aus dem Brunnen im Hof, vermute ich.« Krainer zuckte die Achseln. »Aber sicher bin ich nicht. Er nahm den Weinkrug und kam kurze Zeit später mit ihm zurück. Da hatte er Wasser darin. Warum interessiert Euch diese Frage?«

Johannes stand auf. »Darf ich Euch kurz untersuchen?«

Stirnrunzelnd nickte der Inquisitor, und Johannes ließ sich von ihm die Zunge zeigen. Sie sah völlig gewöhnlich aus, ohne sichtbare Verfärbungen. Auch der Atem von Bruder Markus roch nicht ungewöhnlich. Und die Farbe seiner Augäpfel und der Innenseite seiner Lider entsprach dem Üblichen.

»Was bezweckt Ihr mit dieser Untersuchung?«, fragte der Inquisitor.

»Ich hege den Verdacht, dass Ihr vergiftet wurdet«, erklärte Johannes. »Wie Ihr inzwischen wisst, hat es in der Wasserleitung der Stadt einen grausamen Mord gegeben. Unser Brunnen ist mit dieser Wasserleitung verbunden.«

Bruder Markus’ Augen weiteten sich. »Vergiftet? Ihr meint, dass ich unter dem Einfluss dieses ... dieses Giftes meine Gefährten ...« Seine Stimme kippte weg. Seine Lippen formten lautlose Worte, wie ein eilig geflüstertes Gebet. »Aber wer sollte uns vergiften wollen? Außer den Angehörigen des Klosters wusste niemand von unserer Ankunft in Nürnberg.«

»Oh, unterschätzt nicht das Gerede in der Stadt! Ihr seid gesehen worden, als Ihr ankamt. Wahrscheinlich wusste noch am ersten Abend das ganze Viertel von Euch.«

Bruder Markus lehnte sich zurück, unter seinen Händen zerknitterte das Bettlaken. »Ein vergifteter Brunnen?«

Johannes erzählte ihm von dem Aufruhr am Rabenberg, über den Guillelmus ihm soeben berichtet hatte. »Dort steht auch ein Brunnen.«

Jetzt stemmte sich der Inquisitor in die Höhe. »Wenn Ihr recht habt, dann liegt der Fall hier noch weitaus schlimmer als ich dachte. Dann hat sich die Hexenbrut hier schon zusammengerottet, um die Stadt zu vernichten.« Er verabschiedete sich knapp von Johannes und verließ die Krankenstube.

Als hätten sich die Pforten der Hölle geöffnet ...

Vor dem Bett fiel Johannes auf die Knie und verschränkte die Hände zu einem Gebet. »Gib mir ein Zeichen, Herr!«, flehte er. »Was willst du von mir? Warum strafst du Nürnberg für das, was ich getan habe?«

* * *

Wie aus einem tiefen Schlaf war er aufgewacht und hatte sich in dieser Zelle wiedergefunden.

Faro stand mitten in dem winzigen feuchten Raum. Die Arme hatte er seitlich ausgestreckt, als könne er auf diese Weise die Wände rechts und links berühren. Die Handflächen hatte er nach oben gekehrt und den Kopf in den Nacken gelegt, so dass sein Blick gegen die schräge Holzdecke gerichtet war.

Sende mir ein Zeichen, Herr!, betete er. Ein Zeichen, das mich verstehen lässt, was geschehen ist.

Das Letzte, an das er sich erinnerte, war, dass er Seite an Seite mit Matthias durch die Lochwasserleitung gegangen war und sie entschieden hatten, beim Lochwirt einzukehren. Danach füllte nur noch tiefe, schwarze Leere seine Erinnerungen. Ab und an blitzte etwas auf, ein vages Bild, brennende Augen, weiße Federn. Dann vermeinte er, ein lautes Rauschen zu vernehmen, wie den Flügelschlag eines sehr großen Vogels.

Aber so sehr er sich auch abmühte, es gelang ihm nicht, sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war.

Er kannte die Form der Zelle, in der er sich befand. Hölzerne Wände, ein Fußboden aus unregelmäßig großen Steinplatten mit einem wuchtigen, ebenfalls steinernen Kohlebecken in der Mitte. Die strohgefüllte Pritsche an der Rückwand, die massive Tür, in deren winzigem Fensterchen sich keinerlei Gitter befand, aber das viel zu klein war, um dadurch zu entkommen. Das schwache Licht einer Tranfunzel fiel durch dieses Fensterchen und erhellte den Raum ein wenig.

Faro schloss die Augen. Ihm war, als flöge etwas Weißes dicht vor seinem Gesicht vorbei, wieder hörte er das Flügelrauschen. Sein Kopf schmerzte ein wenig, aber nicht so stark, wie wenn er zusammen mit Matthias gezecht hatte. Die Muskeln in seinen Schultern und Armen begannen zu zittern, aber er hielt die Arme noch immer erhoben und die Augen geschlossen, bis sich rote Funkenräder hinter seinen Lidern drehten.

Das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss seiner Zelle umgedreht wurde, ertönte. Faro öffnete die Augen wieder, trat einen Schritt zurück. Seine Beine berührten die Pritsche.

Die Tür schwang auf, das Licht der Tranfunzel verstärkte sich und enthüllte die Zeichnungen, die Dutzende von Gefangenen in die Holzwände geritzt hatten.

»Wer seid Ihr?« Faro musterte den Mann, der jetzt die Zelle betrat und den Schein der Lampe mit seinem Körper abschirmte, so dass weder sein Gesicht noch viel von seiner Gestalt zu erkennen waren.

Er erhielt keine Antwort. Stattdessen trat der Unbekannte auf ihn zu. Faro nahm seinen Geruch wahr. Schweiß!, dachte er, und dann schoss ihm der völlig unpassende Gedanke durch den Kopf, dass es draußen noch immer sehr heiß sein musste.

Im nächsten Moment krachte etwas seitlich gegen seinen Kopf. So schnell hatte der Unbekannte zugeschlagen, dass Faro die Bewegung erst im letzten Moment erahnt hatte. Er wurde zur Seite gerissen, seine Schulter prallte gegen die Wand, und er rutschte zu Boden.

In seinem Kopf klingelte es. »Was soll ...« Er kam nicht mehr dazu, zu Ende zu sprechen, denn ein zweiter Hieb traf ihn im Genick und schickte ihn hinab in die schwärzeste Finsternis.