3. Kapitel

Das Infirmarium, die Krankenstube des Predigerklosters, lag über dem östlichen Kreuzgang. Von ihren Fenstern aus sah Johannes Schedel über eine Gruppe Bäume hinweg die Fassade des Dormitoriums und ein Stück des Nordhofes, der um diese Tageszeit im Schatten der hohen Klostermauern lag.

Sechs Stunden waren vergangen, seit man ihn geweckt hatte, und obwohl die Glocken die zweite Tagstunde noch nicht geschlagen hatten, drang bereits ein warmer Luftzug durch die offenstehenden Fenster und bewegte die Vorhänge vor den Krankenbetten. Es würde ein weiterer heißer Sommertag werden. Johannes, der sich gegen den Fenstersims gelehnt hatte und grübelnd hinunter in den Klosterhof schaute, rieb mit Daumen und Zeigefinger der Rechten über den Unterkiefer. Es ergab ein schabendes Geräusch: Er musste sich dringend rasieren gehen. Doch dafür hatte er jetzt keine Ruhe. Seine Gedanken kreisten in einem fort nur um eines: Wodurch war die nächtliche Wahnsinnstat des vierten Inquisitors ausgelöst worden? Welcher Irrsinn hatte den Mann befallen, dass er ein solches Blutbad angerichtet hatte? Und, nicht zuletzt: Würde es wieder geschehen?

Diese Frage war es, die den Infirmarius am meisten quälte.

Würde es wieder geschehen?

Anders, als sie alle geglaubt hatten, war der vierte Inquisitor nicht gestorben, sondern nur in eine tiefe Ohnmacht gefallen, aus der er bis jetzt nicht erwacht war. Prior Claudius hatte Anweisung gegeben, ihn ins Infirmarium zu bringen, wo er nun in einem von Johannes’ Betten lag – sorgfältig mit Lederriemen ans Gestell gebunden, für den Fall, dass er plötzlich erwachte und sein Wahn noch nicht vorbei war.

Der Vorhang davor bauschte sich lautlos. Johannes vermied es, allzu lange hinzusehen, stattdessen betrachtete er seine eigenen Hände, schob die Ärmel der Kutte hoch, um die Arme zu untersuchen. Kein Schweiß war zu sehen. Auch das flirrende Leuchten, das in der vergangenen Nacht jede Bewegung innerhalb seines Gesichtsfeldes umgeben hatte, schien fort zu sein. Johannes schloss die Augen, doch plötzlich sah er die lange Blutschliere vor sich, grell erleuchtet auf der weißen Wand, wie von einem Blitzschlag aus dem Dunkel gezerrt.

Hastig riss er die Augen wieder auf.

»Bruder Infirmarius?«, ertönte eine leise Stimme.

Johannes warf einen letzten Blick auf den leeren Hof, dann auf den ebenso leeren, unter der Hitze der vergangenen Tage beinahe weißen Himmel und wandte sich um.

Vor ihm stand Guillelmus, sein Famulus. Obwohl der junge Mönch schon seit fast zwei Jahren für ihn arbeitete, wirkte er noch immer eingeschüchtert, wenn er das Infirmarium betrat. Seine Augen, von langen blonden Wimpern umkränzt, quollen hervor, seine Blicke huschten über Wände und Möbel. Auch er vermied es, den Vorhang zu betrachten, hinter dem sich der bewusstlose Inquisitor befand.

»Ja, mein Sohn?« Johannes zwang sich zu einem Lächeln und suchte dabei unauffällig nach Anzeichen für Schweißausbrüche oder Gliederzittern bei Guillelmus. Zu seiner Erleichterung fand er weder das eine noch das andere. Nach den flirrenden Erscheinungen wagte er ihn nicht zu fragen. Er wollte kein Entsetzen unter den Mönchen auslösen.

»Ihr hattet um etwas zu trinken gebeten«, sagte Guillelmus und hob den Becher, den er in den Händen hielt.

Johannes nickte abwesend. Vor lauter Grübeln hatte er völlig vergessen, dass er Guillelmus zum Wasserholen geschickt hatte. Jetzt trat er vor den Jungen hin und nahm den Becher an sich. »Du bist lange fort gewesen«, sagte er und trank einen Schluck. Das Wasser war ungewöhnlich warm, als habe es seit Stunden in einem Krug herumgestanden.

»Zuerst war ich am Brunnen«, erklärte Guillelmus. »Ich habe einen Eimer mit frischem Wasser für Euch schöpfen wollen, aber Bruder Philipp hat mich aufgehalten. Er sagte, etwas sei im Brunnen, ein totes Tier vielleicht. Offenbar hat das Wasser einen seltsamen Geschmack, darum musste ich in die Küche laufen und nachsehen, ob man dort noch einen Krug für Euch hatte.«

Johannes unterdrückte ein Seufzen. Die Versorgung des Klosters mit frischem Wasser war eines der großen Probleme, mit denen die Predigermönche zu kämpfen hatten. Ganz in der Nähe befand sich eine Sickergrube, und offenbar drang deren Inhalt in regelmäßigen Abständen durch das Erdreich und verseuchte den klostereigenen Brunnen. Johannes hob den Becher an die Nase und roch daran.

Frisches, sauberes Wasser. Er lächelte Guillelmus an, freundlich diesmal und offen.

»Bruder Philipp hat es aus dem Brunnen auf dem Hauptmarkt geholt.« Der junge Mönch senkte den Kopf. »Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?«

Johannes leerte den Becher, dann gab er ihn zurück. »Im Moment nicht. Du kannst gehen und den anderen im Garten helfen.«

Guillelmus nickte, aber er rührte sich nicht.

»Was hast du auf dem Herzen?« Johannes beobachtete, wie er in Richtung des Bettes sah, den Blick jedoch gleich darauf abwandte. »Der Mann macht dir Angst, oder?«

Guillelmus fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Dann nickte er.

Johannes gab sich einen Ruck. Mit zwei Schritten war er an dem Bett und zog den Vorhang zur Seite. Der Inquisitor lag auf dem Rücken. Johannes hatte ihn bis zum Kinn mit einem dünnen Laken zugedeckt, und unter dem weißen Stoff zeichneten sich die Konturen des Mannes und jene der Riemen ab, die über Brust und Oberschenkel verliefen. An den Stellen, an denen sich seine Hände befanden, waren zwei deutliche Beulen zu erkennen. An diesen Beulen blieb Guillelmus’ Blick haften.

»Er hat die Hände noch immer zu Fäusten geballt, nicht wahr?«, flüsterte er.

Johannes nickte. Nachdem der Inquisitor ohnmächtig geworden war, hatten sie alle Mühe gehabt, das blutige Messer aus seinen Fäusten zu befreien. Sie hatten es schließlich geschafft, aber Johannes hatte nichts gegen die Verkrampfung tun können, die den gesamten Körper des Inquisitors in ihren Griff genommen hatte. Noch immer ging der Atem des Mannes flach, seine Haut war kühl, als säße der Tod bereits auf seiner Brust. Aber sein Puls schlug regelmäßig und kräftig.

Guillelmus holte zitternd Luft. »Die anderen drei liegen in der Kapelle, oder?«

»Ja.«

Guillelmus’ Zunge erschien erneut zwischen seinen Lippen, verschwand jedoch sofort wieder. »Werdet Ihr sie untersuchen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Nun, zum Einen, weil ich es nicht darf. Ich bin ein geweihter Mann, Guillelmus.« Seit dem Vierten Laterankonzil im Jahre 1215 war es Klerikern verboten, sich der Chirurgie zu widmen, geschweige denn Leichen aufzuschneiden.

»Das hat den Prior neulich aber nicht gestört«, sagte Guillelmus.

Johannes konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Stimmt.« Im Frühjahr war einer der Klosterbrüder beim Fällen eines alten Apfelbaumes von einem herabstürzenden Ast getroffen worden. Das gesplitterte Holz hatte sich tief in seine Schulter gebohrt, und weil der vom Stadtrat vereidigte Chirurgus nicht greifbar gewesen war, hatte der Prior Johannes die Erlaubnis gegeben, die Wunde selbst zu versorgen und zu nähen. Johannes war sehr stolz auf das gute Ergebnis, das er dabei erzielt hatte. Der Mönch hatte nicht unter Wundbrand gelitten, und seinen Arm konnte er heute beinahe wieder wie vor dem Unfall benutzen. Allerdings hatte Johannes auf Anweisung des Priors an jenem Tag auf die Erteilung des Abendmahls verzichten müssen, denn es war undenkbar, in den Händen, die kurz zuvor mit menschlichem Blut besudelt worden waren, den reinen Leib Christi zu halten.

Zwischen Guillelmus’ Augen erschien eine steile Falte. »Meint Ihr, der Stadtrat wird Anweisung geben, sie untersuchen zu lassen?«

»Möglich.« Es war sogar wahrscheinlich, dachte Johannes. Zwar waren die brutalen Morde auf dem Klostergelände geschehen, aber die Umstände waren so seltsam und rätselhaft, dass die Obrigkeit ein Interesse daran haben würde, sie zu untersuchen. Er ballte die Hände zu Fäusten.

»... Euer Bruder«, sagte Guillelmus, und Johannes bemerkte, dass er dem jungen Mann kurze Zeit nicht zugehört hatte.

»Was ist mit Hartmann?«, fragte er.

»Ich dachte nur, vielleicht wird er mit der Untersuchung betraut werden.« Guillelmus zuckte die Achseln.

»Möglich.« Johannes war eine Idee gekommen, und er brauchte Zeit, um darüber nachzudenken. »Du solltest jetzt zu Bruder Philipp gehen.«

Guillelmus rührte sich jedoch noch immer nicht. Er wies auf den Inquisitor. »Gestern Nacht«, murmelte er. »Da hatte er Schweiß auf der Stirn.«

Johannes beugte sich vor. Plötzlich hatte er das dringende Bedürfnis, dem vierten Inquisitor einen Namen zu geben. »Markus Krainer. So heißt er.«

»Gestern Nacht hatte er Schweiß auf der Stirn.«

»Ja«, bestätigte Johannes. Er ahnte, worauf das hinauslief. Er wollte es nicht hören.

»Ich habe nicht schlafen können.«

Johannes nickte unwirsch.

»Und ich habe genauso geschwitzt wie dieser Mann.« Guillelmus’ Kehlkopf ruckte auf und ab, und mit einem kaum zu ertragenden Ausdruck von Angst in den Augen sah er Johannes an. »Glaubt Ihr, dass ich ebenfalls ...« Er hob die Hand vor sein Gesicht und starrte darauf, als fürchte er, sie könne sich selbständig machen.

Der Infirmarius spürte, wie ein Schauer seine Wirbelsäule entlanglief. »Nein!« Sanft legte er Guillelmus den Arm um die Schultern. »Du musst dich nicht sorgen. Ich bin mir sehr sicher, dass das, was den Bruder Inquisitor letzte Nacht getrieben hat, keine ansteckende Krankheit war.«

War er das wirklich? Er dachte an den Schweiß, der den Mann am gesamten Körper bedeckt hatte. Und an den Schweiß, den er sich selbst vom Hals gewischt hatte.

Erleichterung flackerte in Guillelmus’ Blick auf. »Dann war das nicht die Pest?«

»Die Pest äußert sich gänzlich anders, mein Sohn. Glaub mir!«

Guillelmus kaute auf der Unterlippe herum. Er sah sehr kindlich aus dabei. »Aber wenn es keine Krankheit war, dann hatte Bruder Philipp ja doch recht! Dann war es ein Teuf...«

Johannes unterbrach ihn, indem er ihm einen Schlag in den Nacken gab. »Schluss mit der Grübelei!«, sagte er betont fröhlich. »Ich habe zu arbeiten. Geh jetzt endlich zu Bruder Philipp!« Er musste seine ganze Kraft aufwenden, um den jungen Mönch zur Tür hinauszuschieben.

»Er ist Mitglied der Heiligen Inquisition«, flüsterte Guillelmus. »Und gestern Abend hat er mit Prior Claudius über die aufkommende Bedrohung durch Hex...«

Die Tür fiel ins Schloss und schnitt den Rest seiner letzten Vermutung ab. Johannes sank gegen das dunkle Holz.

Die Wortfetzen des jungen Mönchs hallten in seinen Ohren nach.

Teufel. Hexen.

Mit zusammengebissenen Zähnen starrte er auf den bewusstlosen Inquisitor und unterdrückte einen Fluch.

* * *

Bevor Katharina die Kraft fand, vom Fensterbrett wegzutreten, wurde die Tür aufgestoßen, und ein Mann stürmte herein. Peter Hoger. Er war groß und kräftig, und es kam Katharina vor, als sei augenblicklich zu wenig Luft im Raum. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.

»Was hat dieses Weib hier zu suchen?«, donnerte Hoger. Sein Zeigefinger fuhr in Katharinas Richtung, als habe er vor, sie aufzuspießen. Sie wollte noch ein Stück zurückweichen, aber das Fenster in ihrem Rücken hinderte sie daran.

»Ich habe Eurer Frau ein wenig Gesellschaft geleistet«, sagte sie so ruhig, wie sie konnte. Ihre Gedanken wirbelten umeinander. Wenn Hoger sie anklagte, dann würde sie schneller im Lochgefängnis landen, als sie denken konnte!

»Gesellschaft geleistet?« Hoger überwand die Entfernung zwischen der Tür und dem Nachtkästchen mit zwei langen Schritten und griff nach einem der leeren Fläschchen. In seiner Hand sah es winzig aus. »Gesellschaft geleistet?«, wiederholte Hoger, und seine Stimme war jetzt zu einem heiseren Flüstern geworden.

Katharina schloss die Augen. Vorbei! Die Essenz überführte sie eindeutig als Quacksalberin, dachte sie, doch im nächsten Moment regte sich Widerspruch in ihr. Sie war alles andere als das!

»Ich habe Eurer Frau nur geholfen, ihre melancholia ...«

»Sagt Ihr mir nicht, was meine Frau für Krankheiten hat!«, brüllte Hoger. Katharina schnappte nach Luft.

Nur mit sichtlicher Anstrengung fing Hoger sich ein wenig. Die Adern an seinen Schläfen quollen dick und sichtbar hervor. »Ihr seid schuld an ihrem Zustand«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Ihr habt dafür gesorgt, dass sie sich krank fühlt, nur damit Ihr Eure überteuerte Medizin an sie verscherbeln könnt, aber jetzt ...«

»Meine Medizin ist nicht überteuert!«, fiel Katharina ihm ins Wort. Bei allen Vorwürfen, die man ihr machen konnte, war dies der einzige, der ungerechtfertigt war. Sie verkaufte ihre Essenzen zu exakt dem gleichen Preis, den der Stadtapotheker auch dafür verlangen würde. Darauf achtete sie sorgfältig, schon aus reinem Selbstschutz.

Hoger ballte die Hände zu Fäusten. »Wagt es nicht, mich zu unterbrechen!«, drohte er. »Denn das Eis, auf dem Ihr Euch bewegt, ist sehr dünn, meine Liebe!«

»Peter, was willst du damit sagen?«, mischte sich Bettine ein. Sie klang vorsichtig, aber nicht verängstigt.

»Ich will damit sagen, dass dieses Weib ...« Mit dem ausgestreckten Zeigefinger stach er auf Katharina ein, als führe er eine Klinge. Dann konnte er nicht weitersprechen, weil er Luft holen musste.

Katharina nutzte die Gelegenheit. »Es ist ihre Tätigkeit im Loch, die die Krankheit Eurer Frau verstärkt«, wandte sie zaghaft ein.

»Unsinn!«, donnerte Hoger. »Sie hat im Loch gearbeitet, bevor sie Euch kannte. Und sie hatte niemals Probleme damit. Bis zu dem Tag, an dem sie Euch über den Weg lief.«

Bettine warf Katharina einen warnenden Blick zu, und die zwang sich, den Mund zu halten. Es fiel ihr schwer, aber sie hatte der Handwerkersfrau versprochen, ihrem Mann niemals etwas davon zu sagen, dass seine Frau bereits seit vielen Jahren unter der melancholia litt. Bettine hatte es lange Zeit erfolgreich vor ihm geheimgehalten. Erst in den letzten Monaten, als die Krankheit ganz von ihr Besitz ergriffen hatte, war es ans Licht gekommen.

Bettine richtete sich ein wenig auf. »Katharina ist nicht schuld an meiner Krankheit«, murmelte sie.

»Doch!« Hoger starrte Katharina finster an. Sie wich ihm nicht aus. »Denn sie hat dich ...«, wieder atmete er tief durch, als koste es ihn Mühe, das letzte Wort auszusprechen, »... verhext!«

Vor Entsetzen über diese Anschuldigung blieb Katharina die Luft weg. Sie wollte etwas erwidern, wollte sich verteidigen, aber dann überfiel sie der unnachgiebige Drang zu fliehen.

»Ich glaube, ich gehe jetzt besser.« Sie wollte an Hoger vorbeischlüpfen, aber er war noch längst nicht fertig mit ihr. Er griff nach ihrem Arm und hielt sie mit solcher Kraft fest, dass es schmerzte.

»Ich habe Erkundigungen über Euch eingeholt«, fuhr er mit kalter Stimme fort. »Ihr seid die Witwe von Egbert Jacob, nicht wahr?«

Katharina räusperte sich. Bevor sie den Mund aufbekam, redete Hoger schon weiter. »Euer Mann ist Euch davongelaufen, stimmt es? Er hat es vorgezogen, auf irgendeiner gefährlichen Reise zu krepieren, statt an Eurer Seite zu bleiben.«

Das nun war nicht nur falsch, sondern schlicht und ergreifend beleidigend. Empörung stieg heiß und kraftvoll in Katharina auf und spülte alle Traurigkeit und alle Angst fort. Sie entriss Hoger ihren Arm. »Mein Mann«, zischte sie, »hatte seine Gründe, diese Reise anzutreten!«

Hoger ließ sich nicht beirren. »Ja, wahrscheinlich hat er es nicht mehr ausgehalten, an der Seite einer Hexe zu leben.« Er spuckte ihr das Wort förmlich vor die Füße.

Bettine stieß einen protestierenden Laut aus, aber Hoger schoss einen so kühlen Blick auf sie ab, dass sie tiefer in ihre Kissen versank.

Katharina wusste nicht, welche Anschuldigung sie mehr schmerzte: die völlig ungerechtfertigte, eine Hexe zu sein, oder die durchaus wahre, ihren geliebten Man aus dem Haus getrieben zu haben. Als sie wieder sprach, kratzten die Worte in ihrem Hals. »Ich bin keine Hexe. Aber im Gegensatz zu Euren Ärzten kann ich Eurer Frau helfen, ihre melancholia zu lindern.« Sie spie das Wort Ärzte förmlich aus. Ihr Gesicht war jetzt heiß, heiß und angespannt.

In Nürnberg gab es acht vom Rat vereidigte Ärzte, und allein sie durften die Heilkunst innerhalb der Stadtmauern ausüben. Unter ihnen befanden sich ein Fachmann für Augenkrankheiten und einer für Steinleiden und Knochenbrüche, sowie die sogenannten Physici, Spezialisten für innere Krankheiten. Darüber hinaus ein Chirurgus für Wundpflege. Zusammen mit dem Infirmarius des Predigerklosters in der Burgstraße durften also innerhalb der Mauern neun Männer als Heiler praktizieren.

Männer!

Selbst wenn Katharina irgendeinen Weg gesehen hätte, den Stadtrat von ihren Fähigkeiten und Kenntnissen zu überzeugen, hätte sie niemals eine Zulassung als Heilerin bekommen. Weil sie eine Frau war.

Aus diesem Grund arbeitete sie im Verborgenen, ständig auf der Hut, entdeckt zu werden.

Plötzlich mischte sich Bettine doch in den Streit ein. »Seit ihr Mann tot ist«, sagte sie vorsichtig, »ist Katharina auf das Geld angewiesen. Du weißt, dass ihr Mann die Medizin studiert hat, bevor er nach Nürnberg kam. Dass sie eine Hexe sein soll, Peter, ist doch völliger Unsinn!«

Plötzlich wurde Hogers Stimme honigsüß. »Wusstest du, dass sie bereits einmal verhaftet wurde, meine Liebe?«

Bettine erbleichte.

Katharina wich ihrem fragenden Blick nicht aus. Es stimmte. Vor zwei Monaten war sie festgenommen worden, weil eine ihrer Kundinnen zu viel über ihre unerlaubten Heilkünste geplaudert hatte. Damals hatte sie fünf Gulden zahlen müssen, als Strafe dafür, ohne Genehmigung Arzneien verkauft zu haben. Es war ein Vermögen für ihre Verhältnisse gewesen, und sie hatte tagelang gebetet, dass sie mit dieser Strafe davonkommen würde. Zu ihrer Erleichterung war der Vorwurf der Zauberei damals nicht aufgekommen.

»Stimmt das?«, fragte Bettine. »Du wurdest tatsächlich verhaftet?« Ein Anflug von Unbehagen huschte über ihr Gesicht, und sie presste sich tiefer in ihre Kissen.

Katharina nickte. »Aber nicht wegen«, sie stockte, »... unchristlicher Handlungen. Nur wegen des verbotenen Handels mit Arzneien.« Sie musste an die Stadtbüttel denken, die sie auf dem Weg hierher getroffen hatte, und an die Angst, von ihnen ins Lochgefängnis gesteckt zu werden.

Hoger triumphierte. »Selbst wenn sie keine Hexe ist, eine Betrügerin ist sie allemal!«

Bettine achtete nicht auf ihn. »Woher hattest du das Geld für die Strafe?« Katharina konnte ihr ansehen, wie verzweifelt sie ihr glauben wollte.

»Es war der Rest vom Erbe meines Mannes.« Sie hatte die Strafe angenommen und sie bezahlt, um dem Lochgefängnis zu entgehen, aber damit war sie nun endgültig auf ihrer eigener Hände Arbeit angewiesen.

»Wenn sie dich noch einmal erwischen ...« Bettine schüttelte traurig den Kopf.

... spannen sie mich auf die Folter, ergänzte Katharina ihren Gedanken im Stillen. Sie lauschte in sich hinein, doch da war plötzlich nichts mehr, keinerlei Angst, kein Aufbegehren gegen die Ungerechtigkeit ihrer Situation. Plötzlich war alles in ihr wie betäubt, als sei die melancholia der Handwerkersfrau auf sie übergesprungen.

»Nun!« Hoger hielt das Fläschchen hoch, das er noch immer in der Hand hatte. »Ich denke, wir haben sie noch einmal erwischt! Das hier reicht auf jeden Fall, um Euch festzusetzen. Und ich überlege noch, wie die Anschuldigung lauten wird.«

»Nein!« Mit einem Satz, den Katharina ihr niemals zugetraut hätte, sprang Bettine aus ihrem Bett. Sie baute sich vor ihrem Mann auf, das weite, weiße Nachtgewand bauschte sich um ihre Gestalt, als sie die Hände in die Hüften stützte. »Du wirst Katharina nicht ausliefern, mein lieber Mann!«

Hoger zog eine Augenbraue hoch. Katharina konnte ihm ansehen, wie sehr ihn der Auftritt seiner Frau überraschte.

»Wer sollte mich daran hindern?«, fragte Hoger.

Bettines Blick huschte zu Katharina. »Sie ist mir eine weitaus größere Hilfe, als alle deine Quacksalber zusammen.«

»Sie ist der Grund für deine Krankheit!«

»Das glaubst du, aber ich nicht.«

Hoger schüttelte ungläubig den Kopf. »Du würdest in einem Prozess für sie aussagen, nicht wahr?«

Bettine blitzte ihn an. »Gegen dich? Ja, wenn du mich dazu zwingst, und glaub mir, nicht nur ich! Es gibt eine ganze Reihe hochgestellter Bürgersfrauen, die es ebenfalls tun würden.«

»Den Vorwurf, unerlaubterweise Arzneien zu verkaufen, kann keine von ihnen entkräften!«

Bettine war nun völlig ruhig. »Mag sein. Aber wenn du Katharina für dieses Vergehen anzeigen willst, kannst du den Stadtbütteln auch gleich davon erzählen, was du neulich mit diesem astronomischen Instrument von Magister Müller gemacht hast, das dir rein zufällig in die Hände gefallen ist.«

Jetzt war es an Hoger zu erbleichen. »Du weißt davon?«, hauchte er.

Bettine triumphierte. »Dir war völlig klar, dass es Bernhard Walther gehören muss, denn er ist der Erbe dieses Magisters aus Königsberg. Trotzdem hast du es verscherbelt, Peter. Das nennt der Rat Diebstahl! Katharina bleibt ungeschoren«, fügte sie ungerührt hinzu. »Dann bleibst du es auch.«

Für einen langen Moment stand Hoger wie zur Salzsäule erstarrt. Dann warf er sich auf dem Absatz herum und stürmte mit der gleichen Wut aus dem Raum, mit der er hereingekommen war.

Katharina sah ihm nach, während Bettine zurück in ihr Bett kletterte und die Decke bis ans Kinn zog. »Du solltest jetzt besser gehen«, riet sie.

»Wird er ...?«

»Dich anzeigen?« Die Handwerkersfrau zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Um dich vor der Anklage wegen Arzneiverkauf zu bewahren, reicht meine Drohung wahrscheinlich.« Sie holte tief Luft. »Aber Zauberei, Katharina, das ist ein fürchterlicher Verdacht.«

»Zauberei, das ist ein fürchterlicher Verdacht!«

Bettines Worte klangen noch in Katharina nach, nachdem sie das Haus der Hogers längst verlassen hatte.

Ihre Fingerspitzen und ihre Kopfhaut kribbelten, als rännen Ameisen darüber, und um ihre Unruhe zu besiegen, lief sie eine Weile ziellos durch Nürnberg. Zwei Stadtbüttel kamen ihr entgegen, und sie blieb wie angewurzelt stehen. Sie konnte sich einfach nicht mehr bewegen. Die Gewissheit, dass man sie jetzt festsetzen und ins Loch werfen würde, presste ihr jegliches bisschen Kraft aus den Gliedern.

Doch die Büttel gingen vorbei. Einer von ihnen warf ihr einen fragenden Blick zu, dem sie auswich, dann verschwanden die beiden Männer um eine Hausecke.

Katharina wollte Luft holen, doch ein Gewicht hatte sich auf ihre Brust gesenkt und ließ sie keuchen. Und dann, für einen kurzen Augenblick, verlor die Umgebung all ihre Farbe, wurde grau und trist und tonlos. Alle Empfindungen verblassten, bis auf eine einzige. Der Verlust.

Der Verlust ihres Mannes.

Sie lenkte ihre Schritte in Richtung Süden, hinunter zur Pegnitz, vorbei am Heilig-Geist-Spital und seiner Kapelle, in der die Reichskleinodien aufbewahrt wurden, die König Sigismund den Nürnbergern zur Aufbewahrung überlassen hatte. Am Ufer des Flusses ging sie entlang, bis sie zu einem hölzernen Steg kam. Ihre Schritte hallten dumpf auf den alten, fast schwarzen Bohlen wider. Als Katharina wieder festen Boden unter den Füßen hatte, befand sie sich auf der Schüdt, einer von zwei Flussarmen gebildeten Insel, die zum Großteil von Gärten und Obstbäumen bewachsen war. Die Wege hier waren nicht gepflastert und wanden sich zwischen knöchelhoch stehendem Gras hindurch. Die Luft roch anders, frischer, nach den Heuhürden, die überall zum Trocknen aufgebaut waren. Ganz in der Nähe waren lautes Rufen und das peitschenartige Knallen von abgefeuerten Armbrüsten zu hören. Katharina achtete nicht darauf, denn sie wusste, dass auf der Insel die Eibenschützen ihre Schießstände hatten und dass sie in den heißen Sommermonaten die Vormittagsstunden nutzten, um ihre Übungen zu absolvieren.

Sie ging bis zu einer Gruppe von Weidenbäumen, die dicht am Fluss standen und ihre schlanken Äste bis auf die trockenen Uferränder hängen ließen. Wenn die Pegnitz Hochwasser führte, berührten diese Äste das Wasser und wiegten sich leicht in der Strömung. Heute jedoch regten sie sich nicht, und auch die drei Schwanenpärchen, die sonst stets hier ihre Kreise zogen, waren nirgends zu sehen.

Katharina zögerte, doch dann zwängte sie sich durch das Unterholz, das die Weiden mit ihren schlanken, wie Speere aufragenden Ablegern bildeten. Das Ufer der Pegnitz senkte sich an dieser Stelle steil zum Wasser hin ab. Eine Baumwurzel hatte eine natürliche Stufe geschaffen, auf die Katharina nun ihren Fuß setzte. Sie griff nach einem vorstehenden Ast, ließ sich daran hinab und fand sich direkt am Wasserrand wieder. Ein Polster aus dichtem Moos bildete hier ein bequemes Sitzkissen, auf dieses ließ Katharina sich sinken. Sie zog die Knie an und umklammerte sie mit den Armen. Ihr Blick fiel dabei auf die feinen Narben an ihren Handgelenken. Die Schüsse hallten in ihren Ohren wider und riefen Erinnerungen wach, denen sie sich nur hier, an diesem Platz, stellen konnte.

»So viele Narben!«

Egbert lag neben ihr auf der Seite, den Kopf in die eine Hand gestützt, so dass ihm seine blonden Haare über den Unterarm flossen. Zärtlich fuhr er mit der anderen über die dünne Haut an ihrem rechten Handgelenk. Die Haare an Katharinas nackten Armen richteten sich auf. Sie war besessen von seinen Berührungen, gierte danach in jeder Minute, die Egbert nicht bei ihr war. Und so hielt sie still, auch wenn ihr seine Betrachtung ihrer Narben an den Handgelenken unangenehm war.

»Woher stammen sie?«, fragte er.

Sie zog mit der Linken das Laken ein Stück höher über ihren nackten Leib, schloss die Augen und genoss das Prickeln ihrer Haut unter seinen Fingerspitzen. »Aderlässe«, murmelte sie. Sie war schläfrig und völlig entspannt.

Egbert hob den Kopf von seiner Hand, musterte Katharina einen Moment und legte sich dann der Länge nach auf das Kissen, das unter ihm völlig plattgedrückt war. »Dachte ich mir.«

Katharina ließ ihre Finger über seinen entblößten Oberkörper krabbeln. Ihre Nägel verfingen sich dabei in den rotblonden Haaren auf seiner Brust. »Es hätte mich enttäuscht, wenn du es dir nicht gedacht hättest«, neckte sie ihn.

Er machte ein schnurrendes Geräusch. »Warum?«, fragte er. Seine Augen waren weit und sehr blau.

»Weil du bald selbst ein Medicus sein wirst. Da solltest du Aderlassschnitte erkennen, wenn du sie siehst.«

Er grinste breit. Er hatte ein wundervolles Grinsen, ein bisschen schief und immer etwas spöttisch. Manchmal wusste Katharina nicht, ob er sie ernst nahm, aber meistens störte sie das nicht weiter. Sie ließ sich ebenfalls in die Kissen fallen und schloss die Augen.

Wie verliebt sie in ihn war!

»Warum wurdest du zur Ader gelassen?«, fragte er.

Katharina schreckte auf. Sie war eingedöst und hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Die Nachmittagssonne, die in ihr Schlafzimmer schien und das Fensterkreuz als Schatten über ihr Bett warf, war eine gute Handbreit weitergewandert.

»Ach, nur so.«

Egbert setzte sich auf. Das Bettlaken rutschte ihm dabei vom Körper und entblößte seinen muskulösen Bauch und einen Teil der Haare unter seinem Nabel. Katharina spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. »Niemand wird nur so zur Ader gelassen, Kindchen!«

Sie hasste es, wenn er sie Kindchen nannte. Sicher, sie war mehr als zehn Jahre jünger als er, aber sie war immerhin seine Frau! Als sie siebzehn geworden war, hatte er sie geheiratet.

»Als Kind war ich einmal ziemlich krank«, sagte sie. Es fühlte sich an, als müsse sie ihm ein Geständnis machen.

Er runzelte die Stirn. Dann schaute er an sich herunter und zog die Decke bis zur Brust hoch. »Davon hast du noch nie etwas erzählt!«

Klang er ein wenig enttäuscht? Böse sogar?

Katharina lehnte sich an ihn und legte ihren Kopf an seine Brust. Tief sog sie seinen herben Geruch ein. »Es war nichts Schlimmes.«

»Erzähl mir davon!«

»Nein!« Sie streckte ihren Zeigefinger aus und piekste ihn in die Seite.

Lächelnd wich er ihr aus. »Doch!«

»Nein!«

Und da begann er, sie zu kitzeln, und über dem, was dann folgte, vergaß er zu Katharinas Glück seine Frage.

Die Eibenschützen hatten ihre Übungen beendet. Drückende Stille senkte sich über die Schüdt und holte Katharina in die Gegenwart zurück.

Egbert! Sie schloss die Augen. Später hatte er dann herausgefunden, warum man sie als Kind so oft zur Ader gelassen hatte. Und noch später hatte er es selbst getan, damals, bevor er so überraschend davongeritten war und Katharina ihn zum letzten Mal lebend gesehen hatte.

Sie unterdrückte ein Schluchzen. Wenn sie anfangen würde zu weinen, das wusste sie, würde sie nicht wieder aufhören können. Es war besser, sich zu beherrschen, besser, auf der Stelle wieder aufzustehen, um nicht wie damals in diese furchtbare Starre zu versinken.

Die Schwäne kamen um einen Brückenpfeiler herum, bemerkten Katharina und hofften auf einen Leckerbissen aus ihrer Hand. Zielstrebig schwammen sie auf sie zu.

Katharina betrachtete sie eine Weile und wunderte sich darüber, dass sie heute nur zu fünft waren. Ihr Gefieder leuchtete in der Sonne schneeweiß, und auf dem Rücken eines der Tiere glitzerten ein paar Wassertropfen. Die Vögel zogen dicht am Ufer Kreise und ließen Katharina dabei nicht aus den Augen.

»Ich habe nichts für euch«, murmelte sie.

Der Anblick der schönen Tiere hellte ihre Stimmung ein wenig auf. Vorsichtig streckte sie die Hand aus, aber die Schwäne zogen es vor, ihr nicht zu nahe zu kommen. Sie entfernten sich ein Stück und beäugten Katharina aus ihren dunklen Augen. Ein Männchen reckte den Hals und schlang ihn um den seiner Partnerin. Es war eine Geste, die in Katharinas Augen sehr zärtlich aussah.

Wenn Egbert ihr seine Zuneigung hatte zeigen wollen, dann hatte er ihr die Hand in den Nacken gelegt und die feinen Härchen dort mit dem Daumen gestreichelt ... Katharina bekam eine Gänsehaut bei dieser Erinnerung. Sie glaubte, ihren Mann lachen zu hören, dieses leise, ein wenig spöttische Lachen, mit dem er auf alles reagiert hatte, was ihm begegnete. Sie sah sein schmales Gesicht vor sich, die scharfe Nase und die blauen Augen. Und auch sein Geruch, der Duft von mit Lavendel und teurem Sandelholz parfümierter Seife, mit der er seine Haare zu waschen pflegte, war ihr jetzt so deutlich in Erinnerung, dass sich ihre Nasenflügel unwillkürlich weiteten. Doch ein leichter Luftzug wehte heran, brachte einen schwach fauligen Geruch mit sich und vertrieb auf diese Weise die Erinnerung.

Schlagartig schossen Katharina Tränen in die Augen. Halb blind erhob sie sich und wollte schon nach dem Ast greifen, um sich den Abhang hinaufzuziehen, da fiel ihr Blick auf etwas Weißes zwischen den Weidenruten.

Sie bog die Stangen zur Seite. Ein Schwanenhals fiel ihr entgegen. Der Kopf des Tieres war in den Nacken geworfen, die Augen blind und grau, wie mit Raureif überzogen. Die ehemals makellosen weißen Federn wirkten stumpf und schmutzig. Eine Fliege kam angesurrt und hockte sich auf den Schnabel.

Katharina schluckte. Ohne darüber nachzudenken, bog sie die restlichen Äste zur Seite, und noch während sie das tat, fragte sie sich, was sie eigentlich antrieb. Der Geruch des toten Tieres stieg ihr jetzt deutlicher in die Nase, schwer und ekelerregend, faulig und ein bisschen süßlich. Sie atmete flach durch den Mund.

Am Leib war das Gefieder mit etwas Dickflüssigem, Dunklem verklebt, das Katharina erst beim zweiten Hinsehen als Blut erkannte. Die schwarzen Füße mit den Schwimmflossen ragten steif in die Luft.

Katharina stieß den Kadaver mit der Schuhspitze an, und er rollte zur Seite, so dass jetzt seine Rückenpartie zu sehen war.

Katharina presste die Hände auf den Mund.

Auf dem Rücken des Schwans klafften zwei längliche blutige Wunden.

Jemand hatte ihm säuberlich beide Flügel abgetrennt.

* * *

Johannes kniete in seiner Zelle vor einem ellenlangen Kruzifix. Er hatte die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt, doch es wollte ihm nicht gelingen, sich auf seine Gebete zu konzentrieren.

»... et dimitte nobis debita nostra ...«, murmelte er und brach ab. Sein Blick hob sich zu dem Kreuz. Sonst, wenn er hier kniete und betete, hatte er stets das Gefühl, dass der kupferfarbene Heiland ihn anblickte. Heute jedoch schien die Figur sich von ihm abgewandt zu haben. Es gelang Johannes nicht, Christus’ Blick aufzufangen.

Mit einem tiefen Seufzen ließ er den Kopf wieder auf die Hände sinken und begann von Neuem: »Pater noster ...« Diesmal stockte er schon nach den ersten beiden Worten. »Heilige Maria«, flüsterte er, »bitte für uns und für Bruder Markus, und verleih uns die Kraft, dem standzuhalten, was auf uns zukommen mag.«

Ein leichter, kaum wahrnehmbarer Luftzug strich seinen Nacken entlang, und es fühlte sich an, als habe etwas Unsichtbares seine Haut gestreift.

Mit angehaltenem Atem hockte er da, den Hals steif vor Angst, die Schultern hochgezogen, so dass sie fast seine Ohrläppchen berührten. Dann endlich gab er sich einen Ruck und drehte sich um. Halb erwartete er, eine Ausgeburt der Hölle hinter sich stehen zu sehen, einen Teufel mit schwarzer Haut und rotglühenden Hörnern, der die Klaue nach ihm ausstreckte und ihn mit Wahnsinn schlug, so wie er Bruder Markus, den Inquisitor, geschlagen hatte.

Doch die Zelle hinter ihm war leer.

Er war allein.

Die Sonne musste inzwischen hoch am Himmel stehen, doch da Johannes die Läden geschlossen hatte, herrschte in seiner kleinen Kammer dämmriges Zwielicht. Nur die beiden Kerzen, die er rechts und links vom Kruzifix auf zwei Wandborden aufgestellt hatte, flackerten vor sich hin.

Johannes kniff die Augen zusammen. Bewegte sich dort etwas in den Schatten? Seine Blase verkrampfte sich ruckartig, und der Drang, die Latrina aufzusuchen, trieb ihn auf die Füße.

»Weiche von mir!«, hauchte er, tastete nach dem Kreuz, das ihm an einer silbernen Kette um den Hals baumelte, und schloss die Faust so fest darum, dass sich ihm die Enden des kleinen Querbalkens schmerzhaft in die Haut bohrten. Er hob das Kreuz in die Höhe.

Die Dunkelheit in der Zimmerecke blieb still.

Nichts rührte sich, und trotzdem hatte Johannes das unheimliche Gefühl, dass sich noch jemand mit ihm in der Zelle befand. »Maria voll der Gnaden«, betete er und griff auch noch mit der anderen Hand nach dem Kreuz. Ohne es loszulassen, wischte er sich mit dem Rücken der Rechten über die Stirn. Die silberne Kette war gerade lang genug, um das zuzulassen. Kühl und glatt schmiegte sie sich an seine Wange und die Seite seiner Nase.

Es überraschte Johannes, dass seine Stirn trocken und kühl war. Er fühlte sich fiebrig.

War da ein leises Flüstern zu hören? Rief ihn jemand? Er legte den Kopf schief, um zu lauschen. Fast wartete er auf das grelle Flimmern, das er in der vergangenen Nacht gesehen hatte. Doch es kehrte nicht zurück.

Johannes hielt den Atem an. Wieder glaubte er, eine leise Stimme zu hören, ein kehliges Lachen, das ihn verspotten wollte.

»Weiche von mir, Satan!«, schrie er aus voller Kehle. Dabei stolperte er rückwärts, bis er das Fenster in seinem Rücken spürte. Er ließ das Kreuz mit der Rechten los, tastete hinter sich und riss die Läden auf.

Helles, freundliches Licht flutete die Zelle und vertrieb alle Schatten.

Johannes ließ das Kreuz sinken.

Er war allein.

Ein kräftiges Pochen an seiner Tür ließ ihn erschrocken aufschreien. »Bruder Infirmarius?«, hörte er die Stimme von Guillelmus. »Geht es Euch gut?«

Langsam öffnete Johannes die Hand. Es fühlte sich an, als müsse er die Enden des Kreuzes aus seinem Fleisch herausziehen, doch als er genauer hinsah, fand er keinerlei Verletzungen, nur zwei tiefe, weiße Druckstellen, in die jetzt rasch das Blut zurücklief. »Es ist alles gut!«, rief er und musste sich räuspern.

War es das? Drohte ihm dasselbe zu widerfahren wie dem Inquisitor? Johannes schloss die Augen und atmete tief durch.

Noch einmal schaute er misstrauisch in jede Ecke des Raumes. Er war tatsächlich allein.

Der Teufel hatte sich zurückgezogen.