18. Kapitel

An diesem Nachmittag konnte Johannes sich weder auf die Psalmen und Gesänge bei den Gottesdiensten noch auf seine eigene Arbeit konzentrieren. In den vergangenen zwanzig Stunden war er von einem Gedanken zum nächsten getaumelt, war aufgesprungen, um seine Last laut herauszuschreien.

Seht her, ich bin schuld an den Engelmorden in eurer Stadt!

Dann wieder – vor allem, als man auf dem Leichenkarren die zweite geflügelte Leiche gebracht und in der Kapelle abgelegt hatte – war er völlig verzagt, hatte sich in einen dunklen Winkel verkrochen und die Arme über den Kopf gelegt, um sich allem nicht stellen zu müssen. Die Nachrichten, die ihm Guillelmus von den Ereignissen am Rabenstein überbracht hatte, und das anschließende Gespräch hatten jedoch eine Entschlossenheit in ihm geweckt, die er nun mit Mühe aufrechterhielt.

Gegen die elfte Stunde traf er Bruder Aurelius auf dem Gang vor dem Refektorium.

»Ich gehe ohne Erlaubnis zu meinem Bruder!«, erklärte er ihm.

Aurelius schaute ihn erstaunt an und nickte dann. »Das ist gut gesprochen. Wollt Ihr, dass ich Euch begleite, wie wir es geplant haben?«

Statt ihm eine Antwort zu geben, packte Johannes ihn am Ärmel und zerrte ihn einfach mit sich, aus dem Refektorium, die langen Gänge entlang, dann über den Nordhof und durch das Tor auf die Burgstraße.

Kaum dass sie das Haus von Hartmann erreicht hatten, fiel Johannes auf, dass die Haustür sperrangelweit auf stand.

Sein Magen drehte sich um. War seinem Bruder etwas geschehen? Vorsichtshalber zog er an dem Klingelzug, bevor der das prachtvolle Gebäude betrat.

»Hartmann?«, rief er in den breiten Flur hinein. »Bist du zu Hause?«

Aufgeregte Stimmen waren zu hören.

Sie kamen aus jenem Raum, der Hartmann als Schreibstube diente. Johannes zwang die aufsteigende Angst nieder und öffnete die Tür.

Hartmann stand an sein Pult gelehnt da, das Gesicht vor Schrecken eingefallen, die Augen weit aufgerissen. »Eine dritte Leiche? Bei allen Heiligen? Und wieder mit diesen weißen Flügeln? Wo habt Ihr sie gef...« Mitten im Satz fiel sein Blick auf seinen Bruder, und er unterbrach sich. »Johannes! Gott sei Dank!«

»Eine dritte Leiche?« Es war Bruder Aurelius, der sich jetzt in den Vordergrund drängte.

Der Büttel berichtete knapp, dass es sich bei der dritten Leiche um den Röhrenmeister handelte, der im Lochgefängnis gesessen hatte.

»Wir müssen es ihnen sagen, Hartmann!«, flehte Johannes. »Es geht so nicht weiter!«

Warnend hob Hartmann den Zeigefinger, doch es war bereits ausgesprochen.

»Wovon redet Ihr?« Misstrauisch schaute einer der beiden Büttel Johannes an.

Langsam, als weiche alle Kraft aus ihm, ließ Hartmann die Hand sinken. »Wir müssen sofort zu Bürgermeister Zeuner gebracht werden«, verlangte er mit matter Stimme.

»Warum?« Der Büttel blinzelte.

Hartmann schluckte, setzte zum Sprechen an.

Johannes machte die Männer auf sich aufmerksam, indem er sich laut räusperte. »Weil wir wissen, wer die Engelmorde begeht!«

* * *

Stille füllte Richard Sterners Haus und ließ den Puls in Katharinas Ohren laut klingen. Um nicht zu viel zu grübeln, entschloss sie sich schließlich aufzustehen. Vorsichtig setzte sie sich hin. Ihr war noch immer leicht schwindelig, doch nachdem sie einige Minuten auf der Bettkante gesessen hatte, wurde es besser.

Sie stand auf, hielt sich dabei am Bettpfosten fest, doch der Schwindel kehrte nicht zurück, also ließ sie den Pfosten los und tat einige Schritte. Es ging besser, als sie gedacht hatte.

Sie warf einen Blick auf das Bild über dem Bett.

Schlangenförmige Linien, mit einem schwarzen Kohlestift gezeichnet, und Konturen, die vage an eine Landkarte erinnerten. Das Bild war so gänzlich anders als alle Gemälde, die Katharina je in ihrem Leben gesehen hatte, so wenig bunt und so rätselhaft, dass sie sich kopfschüttelnd abwandte.

Das Bücherregal schien ihr wesentlich interessanter zu sein.

Sie trat davor und ließ ihren Blick über die Buchrücken streifen. An drei Stellen klafften Lücken in der Reihe, und sie fragte sich, ob Richard die betreffenden Bücher gebraucht und irgendwo in seinem Kontor liegen hatte.

Der Gedanke an Richards Arbeitszimmer weckte Neugier in ihr. Sie wusste einiges über seine Kindheit, aber kaum etwas darüber, wie er lebte und was ihn interessierte.

Spontan beschloss sie, das zu ändern und sich ein wenig in seinem Haus umzusehen. Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie sich ihr Kleid über das Untergewand, in dem sie die ganzen letzten Tage verbracht hatte. Der Rock roch muffig und war steif von Blut, und sie ekelte sich davor. Da sie aber auf keinen Fall Richard auf dem Gang seines eigenen Hauses völlig unzureichend bekleidet begegnen wollte, überwand sie sich. Die wirren und unangenehm fettigen Haare drehte sie zu einem losen Zopf und warf ihn über die Schulter nach hinten.

Dann machte sie sich daran, das Haus zu erkunden.

Es war für einen Mann, der allein lebte, recht groß. Vor dem Schlafzimmer erstreckte sich ein breiter Flur, auf dessen dunklem Dielenboden orientalische Teppiche lagen. Hier hingen ebenfalls seltsame Zeichnungen an den Wänden, darunter aber auch ein einzelnes farbiges Gemälde. Es zeigte ein sehr junges Mädchen mit blassem Gesicht und großen dunkelbraunen Augen. Es trug ein Kleid mit hellblauen Schleifen am Ausschnitt, und eine weiße Lilie ruhte in seiner rechten Hand. Katharina studierte eine Weile lang die regelmäßigen, feinen Gesichtszüge. Sie erinnerten sie ein wenig an Richard, und Katharina vermutete, dass es sich bei dem Bild um Magdalena handelte.

In einem reichverzierten Messinghalter steckten dicke weiße Kerzen, die jedoch nicht angezündet waren. Der Flur lief um eine Ecke, und dahinter entdeckte Katharina eine Treppe, die in einem weiten Bogen ins Erdgeschoss führte.

Noch immer achtsam, dass ihr nicht wieder schwindelig wurde, ging sie nach unten, wo sie vor einer halb offenstehenden Tür stehenblieb.

Kurz überkamen sie Skrupel, hier einfach so hineinzumarschieren, aber dann siegte der Wunsch, mehr über Richard zu erfahren. Ihr Herz klopfte, als sie die Tür ein Stück weiter aufstieß.

Richards Kontor.

Der Tür genau gegenüber, zwischen zwei Fenstern, die offenbar auf die Tuchgasse hinausführten, stand ein Sekretär aus rotbraunem Holz. Sein Aufsatz hatte gläserne Türen, und durch die Scheiben hindurch konnte Katharina weitere Bücher erkennen. Ein Stapel Papier lag auf dem Pult, eine einzelne Schreibfeder daneben, aber kein Tintenfass. Dafür ein hoher Bücherstapel, ganz an die Kante des Pultes gerückt. An den Wänden rechts und links hingen weitere Zeichnungen, diesmal alle farbenfroh, jedoch mit ungewöhnlichen Motiven. Katharina tat einen Schritt in das Kontor hinein und betrachtete sie. Ein paar bunte Blumen befanden sich auf dem einen. Eine sonnenbeschienene Landschaft auf dem anderen. Ganz in zarten, pudrigen Farben waren sie gemalt, anders als das Ölgemälde auf dem oberen Flur. Doch so profane Motive? Blumen? Ein Hügel, ganz ohne Kirche oder Menschen?

Sie freute sich schon darauf, Richard danach zu fragen, was er an diesen Bildern fand.

Das oberste Blatt auf dem Papierstapel war leer, aber da es leicht verrutscht war, konnte Katharina erkennen, dass das darunterliegende beschrieben war. Sie zögerte nur kurz, dann nahm sie das leere Blatt fort.

Und ließ es fallen.

Schwarze Linien. Diesmal erkannte Katharina auf den ersten Blick, was sie darstellten. Eine Faust. Ohne Haut. Wie straff gespannte Saiten zogen sich die Muskeln vom Gelenk quer über den Handrücken und über die Finger. Die Zeichnung war so detailgetreu, so sorgsam ausgeführt, dass Katharina ganz kurz vermeinte, den Geruch von frischem Blut wahrzunehmen.

Sie taumelte zurück.

Dabei fiel ihr Blick auf den Bücherstapel auf dem Pult. Etwas stand dahinter, gegen den gläsernen Aufsatz gelehnt. Ein Brett. Bezogen mit dunkelgrünem Samt. Doch das war es nicht, weshalb Katharina die Hände vor den Mund presste und entsetzt keuchte.

Auf dem Brett, mit dünnen Nägeln fein säuberlich aufgespannt, hing ein schillernder Vogelflügel!

* * *

Der eine der beiden Büttel, ein schlaksiger Mann mit dicken Unterarmen und einer schiefen Nase, schaute Johannes misstrauisch ins Gesicht. »Was hat ein Mönchlein wie Ihr mit dieser Sache zu tun?«

»Das erklären wir besser Bürgermeister Zeuner selbst. Los, bringt uns zu ihm!«, verlangte Johannes. Aber es gelang ihm nicht, genügend Autorität in seine Stimme zu bringen.

»Am besten«, brummte der Mann, »Ihr erzählt mir erst einmal, was Ihr dem Bürgermeister zu sagen habt. Er ist ein vielbeschäftigter Mann, und er kann sich nicht mit jeder Grille eines versponnenen Pfaffen beschäftigen!«

Johannes atmete tief durch. Draußen vor den Fenstern verfärbte sich der Himmel jetzt in rasender Geschwindigkeit zu einem düsteren Gelb.

Ein erster Blitz zerriss den Himmel.

Hartmann senkte den Kopf. Es wirkte wie eine Kapitulation. »Dann hört eben mir zu. Das, was Bruder Johannes Euch zu sagen hat, ist auch meine Geschichte.« Er sah grau aus, und seine Hände zitterten. »Vor knapp dreißig Jahren lebten Johannes und ich einige Zeit in Padua«, begann er. »Wir studierten dort zusammen mit Peter Ludder Medizin. Ludder war ein gelehrter Mann, aber auch immer ein wenig umstritten. Vor allem jedoch litt er unter chronischer Geldnot, was ihn dazu verführte, für einen Tiroler Herzog spezielle ...«, er presste kurz die Lippen zusammen, »... Studien in Angriff zu nehmen.«

Der Büttel wirkte äußerst ungeduldig, und weil Hartmann nicht weitersprach, nahm Johannes den Faden für ihn auf. »Diese speziellen Studien waren anatomische Forschungen. Leichenzergliederungen, um es genau zu sagen.«

Der Büttel pfiff durch die Zähne, doch Johannes sprach rasch weiter. Wenn er jetzt aufhörte, würde ihn der Mut verlassen. »Wir halfen Ludder bei seinen Forschungen. Wir achteten natürlich darauf, nur Heiden zu zerschneiden, genau so, wie es der Heilige Vater Sixtus IV. vorgeschrieben hat. Auf diese Weise gelangten wir zu vielen Erkenntnissen darüber, wie es um die menschliche Natur bestellt ist, und wir mussten begreifen, dass Gott den Menschen als wahres Wunderwerk geschaffen hatte. Aber unseren eigentlichen Auftrag konnten wir nicht erfüllen.«

»Kommt endlich zum Punkt!«, knurrte der Büttel.

»Der besagte Tiroler Herzog litt an einer Herzschwäche, an der bereits sein Vater und auch sein Großvater jung verstorben waren. Kein Medicus der Welt konnte ihm helfen, und wir waren sozusagen seine letzte Rettung. Er hoffte, durch unsere Forschungen Erkenntnisse darüber zu erlangen, wie ein Herz arbeitet. Er hoffte, dass wir einen Weg finden würden, ihn vor einem frühen Tod zu retten.«

»Aber das gelang nicht«, warf Hartmann dazwischen.

Johannes schüttelte den Kopf. »Den eigentlichen Auftrag vermochten wir nicht zu erfüllen. Da kam Peter Ludder auf eine Idee.« Er musste innehalten, weil die Erinnerung an jene Tage ihm die Luft abschnürte. Waren sie wirklich so überheblich gewesen? »Er schlug vor, es Galen gleichzutun und unsere Studien auf Tierkadaver auszuweiten.« Johannes sah Unverständnis im Gesicht des Büttels, aber er hatte auch das Gefühl, dass der Mann sich langsam für ihre Geschichte zu interessieren begann. »Wir waren uns nicht im Klaren darüber, wie er aus toten Tieren mehr Erkenntnisse ziehen wollte als aus toten Menschen. Aber genau das war der Punkt.«

»Ludder wollte keine toten Tiere zergliedern«, mischte sich wieder Hartmann ein. Der Satz stand im Raum und ließ Johannes frösteln.

Draußen ertönte ein Donnerschlag, doch noch war er weit entfernt und schwach.

»Er wollte herausfinden, wie ein schlagendes Herz arbeitet?« Jetzt sprach der zweite Büttel, der bisher geschwiegen hatte. Er war dicker als der andere, und seine Augen hatten einen hellen, aufmerksamen Glanz. Auf der Oberlippe zierte ihn eine dicke rötliche Warze.

»Ja«, murmelte Hartmann, und Johannes war ihm dankbar dafür. »Wir haben Tiere betäubt, indem wir ihnen einen Schlag auf den Kopf gaben. Und dann haben wir sie aufgeschnitten. Wir haben dadurch eine Menge wertvolles Wissen erlangt.«

Der Büttel schüttelte den Kopf. Johannes konnte ihm den Ekel ansehen, den er empfand. »Aber dann ist etwas schiefgegangen, vermute ich?«

Johannes nickte. Was jetzt kam, schlich sich auch heute noch manchmal in seine Alpträume. »Bei einer unserer Studien hatten wir unser Versuchstier nicht gut genug betäubt. Es erwachte mitten in der Untersuchung. Und es schrie.« Johannes hob die Hände zum Kopf. Noch heute konnte er die Schreie des Tieres hören, sein hohes Kreischen, das Rauschen der großen weißen Flügel. Entsetzen packte ihn mit eisiger Hand, und sein Herz wollte ihm die Rippen zersprengen.

»Was für ein Tier war das?«, fragte der Büttel mit der Warze.

Hartmann räusperte sich. »Ein Schwan.«

* * *

»Ein weiterer Engelmord?« Richard stand in Jörg Zeuners Kontor, den Hut in der einen Hand und das Heft seines Schwertes in der anderen.

»Ich fürchte, ja.« Der Bürgermeister lehnte am Fenster..

»Warum habt Ihr mich rufen lassen?«, fragte Richard. Er war froh darüber, dass Zeuner offenbar zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt war, um ihn nach Katharinas Verbleib zu fragen.

»Euch und Enzo Pömer. Ich habe auch nach ihm schicken lassen, er müsste ebenfalls gleich eintreffen.« Tiefe Linien hatten sich um Zeuners Mund eingegraben. »Ich brauche Euren medizinischen Rat«, beantwortete er dann Richards Frage.

Richard legte seinen Hut auf dem Pult ab. »Warum das? Ihr hattet doch Medicus Schedel als Fachmann hinzugezogen.«

Die Linien um Zeuners Mund verschärften sich. Der Bürgermeister entblößte die Zähne, und es war eine Geste voller Zorn und gleichzeitig voller Hilflosigkeit. »Ich habe Schedel in Verdacht, etwas mit der ganzen Sache zu tun zu haben.«

Vor Überraschung ließ Richard sich auf den Stuhl fallen. »Das ist nicht Euer Ernst?« Er dachte daran, wie er Hartmann Schedel hatte rufen lassen, um Katharina zu behandeln. »Wie kommt Ihr darauf?«

»Es ist nur ein Gefühl. Aber in meinen Augen verhält er sich merkwürdig, sobald eine neue Leiche auftaucht. Er überspielt es, und er macht es gut. Aber dennoch glaube ich, dass er etwas weiß, das er uns nicht sagen will.«

»Aber ...« Richard wurde unterbrochen, weil an die Tür geklopft wurde und ein weiterer Ratsdiener den Kopf ins Kontor streckte.

»Ich habe Kaufmann Pömer nicht angetroffen«, meldete er. Er war ein wenig atemlos vom Laufen. »Sein Diener behauptet, nicht zu wissen, wo er sich aufhält.«

»Vielleicht schläft er, weil die letzte Nacht so kurz war«, sagte Richard. Insgeheim jedoch vermutete er, dass sich Pömer in seinem Keller befand und dass Thomas, sein Diener, den Befehl erhalten hatte, niemanden zu ihm vorzulassen.

Zeuner rümpfte die Nase. »Möglich. Die Ereignisse nehmen uns alle mit. Und dieser letzte Mord besonders.«

»Warum?« Richard verspürte Unbehagen. »Ist er ... anders als die beiden anderen?«

Zeuner lächelte schmal. »Ich weiß davon, dass Ihr Euch Hogers Leiche angeschaut habt. Der Büttel hat mir davon erzählt. Aber um Eure Frage zu beantworten: Kommt, und seht selbst!«

Er marschierte an Richard vorbei zur Tür. Mit solchem Schwung riss er sie auf, dass sie gegen seine Stiefelspitze krachte. Richard musste sich beeilen, ihm zu folgen.

Zu seiner Überraschung führte Zeuner ihn nicht wie erwartet zum Predigerkloster, sondern in einen schmalen Gang im unteren Geschoss von einem der unzähligen Anbauten des Rathauses. Vor einer schlichten, billig aussehenden Holztür blieb er stehen. Das mächtige Schloss, das daran angebracht war, schien ganz neu zu sein und wirkte für die Tür viel zu massiv.

Zeuner nestelte einen Schlüssel aus seinem Schlüsselbund und schloss auf. »Wir haben die Leiche erst einmal hierher bringen lassen, weil die Kärrner mit den Toten vom Rabenberg beschäftigt sind.« Er gab der Tür einen Stoß, und mit einem leisen Quietschen schwang sie nach innen.

Richard roch den scharfen Geruch von Essig und Seife – offenbar war dieser Raum ein Putzmittellager. Doch dann drang etwas anderes in seine Nase, das schwere, süßliche Aroma von Blut. Er wappnete sich.

Der Raum hatte kein Fenster, und die Dunkelheit wich nur widerwillig zurück, als Zeuner eine Kerze von einem der Regale nahm, sie draußen auf dem Gang an einer Lampe anzündete und dann in die Höhe hielt.

»Bei Gott!« Der Ausruf rutschte Richard einfach heraus. Mit zwei schnellen Schritten war er bei der Leiche, die man einfach auf den Fußboden gelegt hatte.

Es war Faro.

Richard kniete sich neben ihn. Die Spitze seines Schwertes schrammte dabei über den Boden. »Wie konnte das geschehen? Ich meine: Saß er nicht mehr im Kerker?«

»Doch.«

Richard berührte die Leiche. Sie strömte noch einen letzten Rest von Wärme aus. »Er kann noch nicht sehr lange tot sein. Er ist noch nicht gänzlich kalt. Ich würde vermuten, er ist nach Hoger gestorben. Und Ihr sagt, Ihr habt ihn in seiner Zelle gefunden?«

»Ja.«

Jetzt wandte Richard den Kopf. Zeuner hatte die Kerze auf das oberste Regalbrett gestellt. Gerade war er dabei, weitere zu entzünden.

»Ihr persönlich?«, präzisierte Richard seine Frage.

Zeuner nickte und ließ Wachs auf das Regalbrett tropfen. »Ich hatte gestern Abend bereits Nachricht vom Lochwirt erhalten, dass Faro Jorges offenbar dabei war, aus seinem Wahn aufzuwachen. Aber wegen all der Dinge, die zu tun waren, die Hinrichtung, der Mord an Hoger, hatte ich keine Zeit, mich sofort darum zu kümmern. Heute Nachmittag ging ich hinunter ins Loch – und da fand ich ihn so. Die Zellentür war übrigens abgeschlossen.«

»Der Mörder muss also Zugang zum Loch haben.« Ein Flügel ragte unter Faros Arm hervor, und vorsichtig strich Richard über die weißen Federn. Sie waren mit dunklem Blut verklebt. Er schaute auf das Gesicht des toten Röhrenmeisters. Anders als bei Matthias Körber hatte man diesem Mann die Augen geschlossen, und dadurch wirkte er ein wenig friedlicher als die beiden anderen Opfer. Richard erinnerte sich an Zeuners Andeutung, dass dieser Mord beunruhigender war als die beiden ersten, und er sah noch einmal genauer hin.

Die Flügel hatten, anders als bei Matthias und auch bei Hoger, mehr Blut abbekommen, an der Stirn befand sich eine Abschürfung, die vermuten ließ, dass man Faro vor seinem Tod bewusstlos geschlagen hatte.

»Er hat keine Stichwunde am Bauch!« Zeuner klang, als kämpfe er mit der Übelkeit. »Körber und Hoger hatten das.«

Richard stützte sich mit der Faust am Boden ab und erhob sich. Seine Stimme zitterte, als er die Worte des Bürgermeisters ergänzte: »Diesmal hat der Mörder ihm die Flügel bei lebendigem Leib angeheftet!«

* * *

Der Geruch des Flügels drängte sich in Katharinas Nase, schwer, süßlich, nach beginnender Verwesung stinkend.

Die Wände des Kontors drohten auf sie einzustürzen. Richards Stimme dröhnte in ihrem Kopf.

Was, wenn ich Euch beichte, ein Mörder zu sein?

Keuchend kämpfte sie gegen den Druck auf ihrer Brust an.

Richard?

Die Gedanken in ihrem Kopf drehten sich wild im Kreis. Er wäre der Letzte gewesen, den sie verdächtigt hätte.

Er – der Engelmörder?

Sie wankte rückwärts, bis sie einen Stuhl in ihren Kniekehlen spürte. Ohne sich umzuwenden, fiel sie darauf und bog den Oberkörper nach vorn, um nicht ohnmächtig zu werden. Auf einmal ergab alles einen Sinn!

Er war plötzlich aufgetaucht, nachdem Matthias ermordet worden war, hatte sich aufopferungsvoll um sie gekümmert. Was bezweckte er? War er wahnsinnig? Sie rief sich sein Gesicht ins Gedächtnis, seine Augen mit diesem seltsamen flackernden Blick. Die Schuld, die sie manchmal darin zu sehen geglaubt hatte. Was für ein Spiel spielte er mit ihr? Und was war mit dem Mord an Peter Hoger? Sterner war bei ihr im Loch gewesen, als Hoger gestorben war. Der Mann mit den grünen Augen fiel ihr ein. Arnulf. Was hatte Sterner über ihn gesagt?

Manchmal hilft er mir, wenn ich allein nicht weiter weiß.

Draußen auf dem Marktplatz rumpelte ein Fuhrwerk vorbei und riss Katharina aus ihrer Starre. Schritte erklangen.

Blieben sie vor dem Haus stehen?

Kerzengerade saß Katharina da, lauschte. Ihr Herz trommelte gegen die Rippen. Anatomische Studien! Das war es, was er trieb.

Sie musste die Augen schließen. Freigelegte Muskeln, Blut an seinen Händen. Die Schritte verklangen. Im nächsten Moment wurde der Klingelzug betätigt.

Katharina stemmte sich in die Höhe. Sie musste fort von hier! Sie stolperte aus dem Kontor, auf dem Flur blickte sie sich panisch um. Keine Zeit mehr, ihre Schuhe von oben zu holen. Fort von hier! Sie riss die Haustür auf und hetzte auf die Straße.

Fast rannte sie dabei einen Stiefelputzerjungen um, der auf dem Hausstein stand.

* * *

Auf dem Weg zurück in Zeuners Kontor rasten Richards Gedanken. Die Reihenfolge der Toten. Matthias: Katharinas Bruder. Peter Hoger: der Mann, der sie der Hexerei angeklagt hatte. Und jetzt Faro.

Sie hatten das Kontor noch nicht ganz erreicht, als Richard wie angewurzelt stehenblieb.

»Ist Euch etwas eingefallen?« Fragend schaute Zeuner ihm ins Gesicht.

Die Opfer waren nicht zufällig ausgesucht, sondern folgten einem Plan. Und Katharina war die Verbindung!

»Vielleicht«, antwortete er. »Aber ich weiß es noch nicht. Ich muss weg. Sobald ich etwas herausgefunden habe, gebe ich Euch Bescheid!« Er rannte los.

Was, wenn Katharina in Gefahr war?

»Erzählt mir wenigstens, was Euch ...« Er war um eine Ecke, bevor Zeuner zu Ende gesprochen hatte. In der Eingangshalle kamen ihm einige Männer entgegen.

»Sterner!« Er erkannte Hartmann Schedels Stimme, aber er blieb nicht stehen.

»Ich muss weg!«, rief er dem Medicus zu und war bereits auf der Straße. Die Sonne stand nur noch knapp eine Handbreit über den Dächern der Stadt, und der Himmel hatte in der Zwischenzeit eine düstere, seltsam fahle Tönung angenommen. Die Luft war erfüllt von einer Spannung, die Richard anhalten ließ, als sei er gegen eine Wand geprallt. Schlagartig stellten sich die Härchen in seinem Nacken hoch, und er tastete nach dem Schwertknauf.

Vom Weißen Turm her wurde die Stunde geläutet, der Türmer auf dem Laufer Schlagturm fiel ein, und Richard bemerkte, dass die Glocken von St. Sebald stumm blieben. Er hatte jedoch kaum Gelegenheit, sich darüber zu wundern, denn in diesem Moment kam eine Gruppe Männer durch die enge Rathausgasse und versperrte ihm den Weg. Es waren Patrizier. Sie waren zu dritt und hatten einen Vierten gefesselt, der mit verbundenen Augen zwischen ihnen einherstolperte. Das Hemd hatten sie ihm halb vom Leib gerissen, so dass seine unbehaarte Brust entblößt war. Mehrere dünne blutigrote Kratzer liefen quer über seine helle Haut. Auch aus seiner Lippe sickerte Blut und vermischte sich mit seinem Speichel zu einem langen hellroten Faden, der ihm vom Kinn baumelte. Seine Kiefer bewegten sich mahlend aufeinander, so, als kaue er auf etwas herum. In dem Moment, in dem seine drei Peiniger Richard entdeckten und dabei kurz von ihrem Opfer abließen, sank es auf die Knie. Der Mann beugte den Oberkörper vor und stöhnte, und dann spie er den Inhalt seines Mundes direkt vor Richards Füße.

Im ersten Moment weigerte sich Richards Geist schlichtweg, die matschige Masse zu erkennen. Doch dann traf es ihn mit der Wucht eines Hiebes. Es war der abgebissene Kopf eines kleinen Vogels. Jetzt erkannte Richard auch, dass es nicht sein eigenes Blut war, das dem Mann von der Lippe tropfte.

Plötzlich verdüsterte sich der Himmel noch mehr, und die Luft wurde gelb wie Schwefel.

Die drei Männer warfen Richard einen finsteren Blick zu, in dem so viel Zorn flammte, dass er unwillkürlich nach dem Heft seines Dolches tastete.

Einer der drei brachte sein Gesicht ganz dicht an Richards Nase. »Aus dem Weg, Kerl!« Aus seiner Kehle stank es nach fauligem Fleisch. Richard wandte den Kopf zur Seite. Und dann machte er Platz.

Die drei packten ihr Opfer an den Schultern, zerrten es zurück auf die Füße. Dann drängten sie sich an Richard vorbei und setzten ihren Weg fort. Kurz bevor sie um ein Ecke verschwanden, warf der Mann in ihrer Mitte den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Wolf. Langgezogen und klagend.

Richard schluckte, dann rannte er wieder los. Zwischen den Häusern hindurch auf den Großen Platz vor der Frauenkirche. Wie an jedem anderen Tag auch fand hier Markt statt, aber es waren heute weitaus weniger Menschen unterwegs als sonst.

»Nicht!« Eine schrille Frauenstimme ließ ihn innehalten. Er wandte sich um. Eine junge Frau stand mit dem Rücken an eine Hauswand gepresst da. Mit weit aufgerissenen Augen wies sie auf den Platz hinaus. »Sie sind alle wahnsinnig!«

Für einen Augenblick lang erkannte Richard nicht, was sie meinte, denn in den beiden Gassen, die von den hölzernen Marktständen gebildet wurden und die er von seinem Standpunkt aus überschauen konnte, schien nichts Ungewöhnliches vor sich zu gehen. Doch dann, als habe jemand einen Vorhang vor einer Theaterbühne fortgezogen, sah er, was sich vor seinen Augen abspielte.

Die Menschen, die er im ersten Moment für die üblichen Marktbesucher gehalten hatte, waren alles andere als das. Kaum jemand bewegte sich, und wenn, dann tat er es mit langsamen, schlurfenden Schritten. Ein Mann hatte einen leeren Marktstand umgeworfen und war darauf geklettert, um von dort aus Beschimpfungen auf die Menschen zu seinen Füßen herabzuschleudern. Eine Frau, offensichtlich sein Eheweib, hockte mit verdrecktem Rock und halb geöffnetem Mieder zu seinen Füßen, reckte ihm die Arme entgegen und flehte in einem fort: »Ansgar! Komm zu mir! Ansgar, du sollst mich geigen!«

Ein Marktweib hockte hinter seiner leeren Kiepe. Es hatte sämtliche Eier auf den Fußboden gekippt und schlug eines nach dem anderen mit der Faust entzwei. Eiweiß hing in langen Fäden von den Fingern der Frau herab, besudelte ihr Kleid und verfing sich in ihren wirren Haaren, wenn sie sich die losen Strähnen aus dem Gesicht zu schieben versuchte.

Ein kleiner Junge, er mochte kaum älter als fünf Jahre sein, stand mit zitternden Gliedern an einer Ecke. Seine riesigen Augen gaben ihm ein eulenhaftes Aussehen, und die Lippen, die sich in einem fort stumm bewegten, zogen sich immer wieder zurück und entblößten dunkelrotes Zahnfleisch.

»Da!« Die junge Frau wies mit zitternder Hand in Richtung des Schönen Brunnens. Ein bewaffneter Patrizier kam aus Richtung der Sebalduskirche gerannt, und dann blieb er mitten im Lauf wie angenagelt stehen. Er legte den Kopf schief und schien zu lauschen. Und dann, ganz langsam, zog er das Schwert aus seiner Scheide.

Richard sah es kommen.

»Nein!« Er stürzte vorwärts, auf den Mann zu, der sich, von seinem Schrei abgelenkt, schwankend zu ihm umdrehte. Das Schwert hatte er halb erhoben, und dann stürzte er sich mit solcher Geschwindigkeit auf Richard, dass der der Schwertspitze ausweichen musste. Der Blick des Mannes flackerte unstet.

Langsam, um den Mann nicht noch mehr in Schrecken zu versetzen, zog Richard seine eigene Waffe.

»Wer – seid – Ihr?«, stammelte der Patrizier. Dann kniff er die Augen zusammen, und sein Kopf kippte nach hinten weg, als habe er keine Kraft mehr in seinem Körper.

Richard drückte mit seiner Klinge die des Mannes herunter.

»Lass das!«, donnerte der Mann. Sein Schwert ruckte hoch, doch Richard hatte keine Mühe, den fahrig ausgeführten Streich zu parieren. »Teufel, dich werde ich ...« Mit einem Brüllen, das dem eines Stieres glich, stürzte der Mann sich auf Richard. Doch er war zu benommen, um Schaden anzurichten. Richard wich aus, der Kerl rannte stolpernd an ihm vorbei und blieb dann verblüfft stehen. »Komm her!«, befahl er. Er lallte. »Deine Flugkunststücke nützen dir gar nichts, du ... du ...« Langsam drehte er sich um. Ebenso wie der Junge hatte er jetzt die Zähne gefletscht. Das Schwert rutschte aus seinen kraftlosen Fingern und polterte zu Boden. Er hob die Hände, dann griff er Richard zum zweiten Mal an.

Wieder wich Richard aus, doch diesmal war er nicht schnell genug. Zwar entkam er dem Wahnsinnigen, doch gleichzeitig prallte etwas mit voller Wucht gegen ihn. Er stolperte vorwärts, die Luft wurde ihm aus den Lungen getrieben. Ein Gewicht senkte sich auf seinen Rücken. Arme legten sich um seinen Hals wie ein Schraubstock. Er wirbelte herum. Das Gewicht wurde nicht leichter.

Ein Marktweib hockte auf seinem Rücken und zischte ihm ins Ohr wie ein böser Geist. Fingernägel bohrten sich in Richards Brust. Er warf sich herum, schleuderte die Wahnsinnige gegen die Seitenwand einer der Buden. Ihr lauter Schrei vermischte sich mit dem Dröhnen der Bretter, und sie sank zu Boden.

Richard ließ sie und den Patrizier, wo sie waren, und eilte weiter.

Er umrundete eine Gruppe von jungen Männern, die sich, zum Faustkampf bereit, gegenüberstanden, jedoch in ihrem Zorn aufeinander wie erstarrt schienen. Und er wich zwei Frauen aus, die ineinander verkrallt über den Boden rollten wie wütende Katzen.

Mit Mühe und Not erreichte Richard Pömers Haus und brachte sich auf dem Hausstein in Sicherheit. Die Tür wurde aufgerissen, kaum dass er, von seinem eigenen Schwung getragen, gegen sie krachte. Jemand packte ihn, zog ihn ins Innere.

»Gott sei Dank, Herr Sterner!« Es war Thomas. Er sah erschüttert aus. »Was geschieht dort draußen?«

Richard stützte sich keuchend an der Wand ab und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Ich weiß es nicht, Thomas. Ich weiß es nicht. Aber ich danke dir, dass du mich gerettet hast.« Er tastete nach seiner Brust, über der das Hemd zerfetzt und blutig war. Quer über seine Haut zogen sich vier lange brennende Schrammen.

»Ihr seid verletzt!«, rief Thomas aus. »Kommt, ich helfe Euch!« Er wollte Richard stützen, doch der wehrte ab.

»Es geht schon! Ich muss weiter, zu Katharina.«

Plötzlich stand Pömer vor ihm. »Ihr könnt da nicht wieder raus. Seht doch!« Er wies aus dem Fenster, wo die Menge noch immer in rasendem Irrsinn tobte.

In diesem Moment brach das Gewitter über Nürnberg los.