6. Kapitel

Als der Leichenkarren durch das Tor auf den Nordhof des Klosters rumpelte, war Johannes Schedel gerade dabei, zusammen mit Guillelmus eine Ladung mit Starkbier entgegenzunehmen, das ein Brauer aus der Stadt eigens für das Kloster herstellte. Zwar brauten die Mönche ihr eigenes Bier, aber Johannes hatte herausgefunden, dass das Produkt dieses einen Brauers sich als Stärkungsmittel bei Magenbeschwerden besonders gut eignete. Aus diesem Grund hatte er von Prior Claudius die Erlaubnis erhalten, einmal im Monat eine kleine Kiste voll davon zu kaufen.

Während Johannes im Beisein des Brauers die Menge der Flaschen überprüfte und auch den Stand der Flüssigkeit in jeder einzelnen, dozierte er über die Vorzüge dieses speziellen Bieres. »... habe ich bisher den Grund für seine Wirkung nicht herausgefunden, aber das ist ja auch nicht nötig. Gott hat es gut eingerichtet, und das ist alles, was wir wissen müssen.« Er bemerkte, dass Guillelmus ihm nicht zuhörte, und sah auf.

Die Augen des jungen Mönches waren hervorgetreten wie die einer Kuh.

»Himmel nochmal! Nimm dich zusammen, wenn ich mit dir rede, Bursche! Was ist denn?« Johannes wandte den Kopf und bemerkte den Karren. Es war ein alter Leiterwagen, einer mit breiter Ladefläche, wie sie zu Dutzenden zur Zeit des letzten großen Ausbruchs der Roten Siech in Nürnberg in Dienst gestellt worden waren.

Auf der Ladefläche lag, in ein weißes Tuch eingeschlagen, eine einzelne Leiche.

Guillelmus bekreuzigte sich eilig. Seit sie die toten Inquisitoren gefunden hatten, wirkte der Junge fahrig und ängstlich wie ein kleines Kind. Es war schwierig für Johannes, sein Verhalten zu ertragen, denn es zeigte ihm allzu deutlich, wie er selbst sich gab. Da half es nur, sich zu beschäftigen, um nicht zu viel zu grübeln. Seit jener furchtbaren Nacht hatte Johannes kaum geschlafen und so viel gearbeitet, dass Sterne hinter seinen Lidern tanzten, wenn er blinzelte.

Direkt vor seinen Füßen hielt der Fuhrknecht an, ein krummer, sonnenverbrannter Mann mit schütterem Haar.

»Es hat niemand angeordnet, dass die Leich... hier ist niemand gestorben.« Guillelmus’ erschrockener Blick brannte auf Johannes’ Gesicht. Gerade noch rechtzeitig hatte er sich besonnen, dass niemand von den Leichen der Inquisitoren erfahren sollte. »Ihr müsst Euch in der Adresse geirrt haben«, schob er nach.

Der Mann hob den Kopf und starrte Johannes aus tränenden Augen an. »Hat niemand gesagt, dass ich gekommen bin, um Tote zu holen.« Er schaute über seine Schulter nach hinten, zog die Schultern hoch und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.

Johannes besann sich des Brauers. »Es ist alles gut. Ihr könnt jetzt gehen, ich sorge dafür, dass Ihr Eure Bezahlung erhaltet.« Er wartete, bis der Mann verschwunden war, schickte auch Guillelmus fort und schaute dann den Fuhrknecht genauer an.

»Warum seid Ihr dann hier?«

Im Gesicht des Mannes arbeitete es. »Ich soll Euch den da bringen.« Mit dem Daumen wies der Fuhrknecht über seine Schulter. Seine Hand zitterte.

Johannes warf einen Blick auf die Leiche. Das Tuch, mit dem sie eingeschlagen war, wurde durch ein dünnes Hanfseil gehalten, so dass die menschliche Gestalt unter dem Leinen sich deutlich abzeichnete. Etwas jedoch war seltsam: Der Leichnam wirkte auf eine gewisse Weise verunstaltet, die Johannes sich nicht erklären konnte. Er trat an die Seite des Karrens und schaute genauer hin.

Ein unförmiger Gegenstand schien unter der Leiche zu liegen und mitsamt ihr in das Tuch eingeschlagen worden zu sein.

»Was ist mit ihr?«, fragte er den Fuhrknecht.

Der Mann hatte sich zu ihm umgewendet und schaute ihn nur an.

Johannes wurde kalt.

Er fühlte, wie sich in seinem Unterleib etwas verkrampfte. Plötzlich musste er dringend auf den Abtritt. Er hielt dem Blick des Fuhrknechts einen Augenblick lang stand, dann nahm er ein Messer aus der Tasche, die er am Gürtel trug, und zerschnitt die beiden oberen Schlingen des Stricks. Behutsam schlug er das Tuch zur Seite.

Und prallte zurück.

Der Fuhrknecht bekreuzigte sich.

Auf dem Wagen lag nicht die Leiche eines Mannes, sondern die eines Engels.

»Woher habt Ihr den?«, krächzte Johannes. Er musste die Frage noch zweimal wiederholen, bis der Fuhrknecht ihm eine Antwort gab.

»Haben sie in der Lochwasserleitung gefunden. Mehr weiß ich nicht. Soll ihn hierherbringen, wohl weil Ihr Kirchenleute seid, schätze ich mal.« Noch einmal bekreuzigte er sich.

Johannes wurde bewusst, dass er sich mit beiden Händen an den Karrenstreben festgeklammert hatte. Langsam löste er seinen Griff und deckte Kopf und Schultern des Toten wieder zu. Dann suchte er die Fenster des Refektoriums ab, die auf den Nordhof hinausgingen, aber zu seiner Erleichterung befand sich dort niemand. »Was sollen wir damit machen?«, murmelte er.

»Aufbewahren. In Eurer Kapelle. Unter dem Kreuz. Das ist der Befehl von Bürgermeister Zeuner. Wahrscheinlich hat er Angst, dass der Gute sich plötzlich erhebt und in den Himmel davonschwebt!« Der Fuhrknecht sprang ab, um mit dem Abladen zu beginnen. Ebenso wie Guillelmus hatte er es jetzt sehr eilig.

Johannes funkelte ihn an. »Ihr vergesst Euch!«, zischte er. Fieberhaft überlegte er, was er jetzt tun sollte. Es kam ab und an einmal vor, dass der Stadtrat ein Mordopfer im Kloster aufbahren ließ. Meistens hatte dies einen einfachen Grund: Der Tote war ein wichtiger oder berühmter Mann, den man bis zu seiner Beerdigung nicht einfach in einem der Löcher unter dem Rathaus lassen wollte. Denn das war der übliche Aufbewahrungsort für ein Mordopfer, und dort blieb es so lange, bis der mit der Untersuchung betraute Schöffe erlaubte, es zu beerdigen.

Dieser hier jedoch ... ein Engel ... bei allen Heiligen! Ein Engel!

Johannes presste die Knie aneinander. »Ich werde den Prior fragen gehen«, hauchte er. »Wartet so lange hier!« Eine halbe Stunde später stand er neben Prior Claudius in der Klosterkapelle und starrte auf den eingewickelten Toten nieder.

»Entfernt das Tuch!«, befahl der Prior. Sein Kehlkopf ruckte, und dann zeichneten sich die Kaumuskeln sichtbar an seinem Kiefer ab.

Johannes gehorchte. Seine Hände zitterten, doch er schaffte es, auch die restlichen Stricke durchzuschneiden, die dem Toten um Brust, Bauch und Oberschenkel lagen.

Aus der Umschnürung befreit, breiteten sich zwei große weiße Flügel aus, fielen über die Kante des Tisches, auf dem Johannes den Toten hatte aufbahren lassen. Ihre Spitzen berührten gerade eben die grauen Fliesen des Kapellenbodens.

»Jesus, Maria!«, keuchte Prior Claudius. »Was, bei allen Heiligen, ist das?«

Johannes war nicht in der Lage, es ihm zu sagen.

»Ein Engel?« Prior Claudius schlug ein Kreuz, dann noch eines. »Ein Engel«, wiederholte er fassungslos. »Ein toter Engel in meinem Kloster! Das ist Hexenwerk!«

Dies war der Moment, in dem Johannes die Regungen seines Leibes nicht mehr kontrollieren konnte. Ohne ein Wort der Entschuldigung stürzte er aus der Kapelle.

Er erreichte den Abtritt gerade noch rechtzeitig.

Keuchend und mit tränenden Augen übergab er sich.

Kurze Zeit später lag er in der Klosterkirche vor dem Dreikönigsaltar auf den Knien und versuchte, den Blick auf die Krippenszene in dessen Mitte gerichtet zu halten. Immer wieder jedoch schweifte er von dort zu der Darstellung der Verkündigung Marias ab. Der Engel auf diesem Bild hatte große Flügel, deren Decken in allen Farben des Regenbogens schillerten wie die eines Paradiesvogels. Johannes schluchzte auf und wollte die Augen niederschlagen. Dabei fiel sein Blick auf das untere Bild des linken Altarflügels. Weitere Engel. Weitere Flügel, weiß und buntschillernd. Er stieß einen gequälten Schrei aus.

Sein gesamter Körper bebte jetzt. »Warum hast du mich verlassen, Herr?«, stöhnte er.

Er schloss die Augen, doch das Bild der bunten Flügel auf dem Altar wurde ersetzt durch die weißen, die rechts und links von der Totenbahre herabgehangen und den Boden berührt hatten. Mit einem Schrei riss Johannes die Augen wieder auf.

Er hob die Hände zu dem Kreuz in die Höhe. »Warum, Herr?«, flüsterte er. »Warum lässt du zu, dass mich das wieder einholt?«

* * *

Jetzt, da das Tuch fort war, fiel Richard auf, dass von der Leiche kaum Geruch ausströmte. Das süßliche Aroma, das er zuvor wahrgenommen hatte, lag offenbar noch von ihren früheren Studien in der Luft. Der Tote schien bereits begraben gewesen zu sein, allerdings hatte jemand ihn kunstgerecht gewaschen. Nur in den feinen Rillen seiner Finger und am Ansatz seiner blonden Haare waren Reste von Lehm zu erkennen. An der Unterseite seiner Arme und Beine zeichnete sich die violette Verfärbung des Todes ab, aber von oben betrachtet, wirkte der Junge beinahe wie eine makellose Marmorstatue.

»Wie, um Himmels willen, seid Ihr an dieses Prachtexemplar gekommen?« Marquards Stimme klang beinahe so heiser wie die von Pömer, voller Anspannung und Unbehagen. Richard stellte fest, dass auch er selbst eine enge Kehle hatte.

Pömer schaute ihm lächelnd ins Gesicht. Er sah äußerst zufrieden aus. »Das hier ist der junge Gehilfe vom St. Sebald-Türmer. Der, den sie beim Stehlen in den Gärten auf der Schüdt erwischt haben.«

Richard zuckte zusammen. Ein Summen entstand in seinen Ohren, ein großer Druck, als befinde er sich unter Wasser. Wieder unter Wasser ... Er schüttelte den Kopf, seine Kehle verkrampfte sich. »Sie haben ihn getaucht, nicht wahr?« Kurz vermeinte er, feine Wassertropfen in den Haaren des Jungen glitzern zu sehen, aber es war eine Täuschung seiner plötzlich aufs Äußerste angespannten Sinne. Sein Mund war trocken, und er leckte sich über die Zähne.

»Wie es sich für einen Gemüsedieb gehört, ja.« Pömers Stirn krauste sich, und Richard wusste, dass der Getreidehändler sich über seine Reaktion wunderte.

Er zwang sich zu einem anerkennenden Lächeln. »Tod durch Ertrinken. Ihr hattet recht, ich bin wirklich zufrieden.« Sein Magen wollte sich umdrehen.

»Jetzt hat das lange Warten ein Ende«, sagte Pömer. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte er Richard schon einmal einen ertrunkenen Menschen gebracht, eine Frau, die beim Baden ausgerutscht, mit dem Kopf gegen einen Stein geprallt und dann unter Wasser geraten war.

Auch Marquard schien Richard aufmerksam zu beobachten. »Habt Ihr irgendein Problem mit dem Jungen?«, fragte er ihn ins Gesicht.

Richard schüttelte rasch den Kopf. Von den Männern hier wusste niemand, warum er so sehr darauf brannte, einen Ertrunkenen zu zergliedern. Zu seiner Erleichterung wandte der Maler sich an Pömer.

»Warum ist er tot? Ich meine, soweit ich weiß, steht auf den Diebstahl von Gemüse aus den Gärten nur einfaches Tauchen, oder irre ich mich?«

Kinder, die in den Obstbäumen oder Beeten von Fremden erwischt wurden, wurden üblicherweise in einen Drahtkorb gesteckt und darin viermal in die Pegnitz hinabgelassen. Es war eine Warnung, mehr nicht. Der Übeltäter sollte sich nass wie eine Wasserratte nach Hause trollen und sich bessern.

»Es ist wohl ein bisschen aus dem Ruder gelaufen«, beantwortete Pömer Marquards Frage. »Der Nachrichter war an jenem Tag nicht in der Stadt, und so hat der Löve seine Arbeit gemacht. Der Flaschenzug, mit dem er den Jungen wieder hochziehen sollte, hat geklemmt.«

Richard holte Luft. Sein Hals war jetzt so trocken, dass es ihn schmerzte. »Er ist in dem Korb ersoffen wie eine Katze«, murmelte er. Bilder stürmten auf ihn ein, dunkles Wasser, bitter in seinem Mund und eisig in seiner Kehle, doch er schob sie von sich. Es war besser, die Gedanken auf andere Dinge zu richten ...

»Was hat seine Familie dazu gesagt, dass man den Henkersgehilfen mit seiner Bestrafung beauftragt hat?«, fragte Marquard.

Was haben sie dazu gesagt, dass er tot ist?, dachte Richard bei sich. Ein völlig unpassendes, grausames Lachen stieg in ihm auf. Er schluckte es runter.

»Der Türmer war kurze Zeit vorher gestorben, und eine Familie hatte der Junge nicht«, erklärte Pömer. »Glaubt Ihr etwa, ich hätte Arnulf den Auftrag gegeben, einer Familie ihren Leichnam aus dem Grab zu stehlen?«

Richard war sich nicht ganz sicher, wie weit der Getreidehändler zu gehen bereit war. Als sie sich vor ein paar Jahren zusammengetan hatten, um ihre anatomischen Studien erfolgreicher durchführen zu können, hatte er Pömer ein paarmal gefragt, warum er mitmachte. Die einzige Antwort, die er erhalten hatte, war ein lapidares »Aus reiner Neugier, mein Lieber, aus reiner Neugier!« gewesen. Irgendwann hatte Richard aufgegeben, weiter in Pömer zu dringen. Schließlich wussten der und Marquard über seine eigenen Motive, hier zu sein, auch nicht viel mehr. Alles, was Richard ihnen erzählt hatte, war, dass seine kleine Schwester Magdalena im Alter von sechs Jahren ertrunken war.

Er nickte langsam. »Nein, das hättet Ihr wohl nicht«, sagte er, auch wenn er nicht überzeugt war. Wegen Magdalena war er selbst bereits vor langer Zeit viel zu weit gegangen.

Einen Moment standen sie allesamt schweigend um den toten Jungen herum.

Schließlich war es Marquard, der die Stille durchbrach. »Ich überlege gerade, was dieser junge Kerl eines Tages sagen wird, wenn Jesus Christus ihn aus seinem Grab aufweckt und er feststellt, dass Menschen ihn nicht nur wie eine Katze ersäuft, sondern ihn auch noch auseinandergeschnitten haben.« Wie bei jedem ihrer Treffen brachte er früher oder später das Gespräch auf dieses Problem.

Richard fuhr mit dem Zeigefinger die Rinne am Rand des Seziertisches entlang, die dazu diente, eventuell fließendes Blut aufzunehmen und in einen Eimer zu leiten. »Papst Sixtus IV. hat Zergliederungen gutgeheißen«, sagte er, »weil sie dazu beitragen, dass wir Krankheiten wie die Pest besser verstehen lernen – und sie vielleicht eines Tages auch heilen können.« Es waren Worte, die er sich selbst immer und immer wieder vorbetete, wenn ihn die Zweifel und die Angst überkamen.

Marquard schien nicht gewillt, so schnell aufzugeben. »Stimmt. Aber auch Sixtus war sich klar darüber, dass ein Christenmensch am Ende seiner Tage mit seinem Leib auferweckt wird.«

Richard kämpfte gegen die Vorstellung sich öffnender Gräber, aus denen ihre Opfer emporstiegen, die Haut in Fetzen um ihre Körper hängend oder die Muskeln bloßgelegt wie dunkelrote Seile.

»Darum hat er angeordnet, nur ungetaufte Heiden zu zergliedern«, fuhr Marquard fort.

»Stimmt. Aber es wurden auch schon verurteilte Christen studiert, ohne dass Gottes Zorn die Männer, die es getan haben, getroffen hat.« Pömer tätschelte dem jungen Toten mit einer solchen Hingabe die Wange, dass Richard wegsehen musste. Plötzlich fühlte er sich matt und fiebrig.

Er begriff, dass er Gefahr lief, aus dem Gewölbe zu rennen und nie mehr zurückzukommen. Aber das durfte er sich nicht gestatten! Alles, was er bisher auf sich genommen hatte, wäre dann umsonst gewesen. Bei Gott, endlich hatte er wieder einmal einen Ertrunkenen vor sich! »Hört auf, Euch zu rechtfertigen«, sagte er zu Pömer, und er hörte selbst den harten und kalten Ton in seiner Stimme. »Und lasst uns endlich anfangen.«

Pömer legte den Kopf schief wie ein alter Hund, der den Befehl seines Herrn nicht mehr gut verstehen konnte. Dann hustete er und griff nach einem der Werkzeuge, die hinter ihm im Regal lagen. Es war ein schlankes, silbrig schimmerndes Skalpell. »Nur zu gerne! Haltet Euren Skizzenblock bereit, Marquard! Seid ihr soweit, Sterner? Ich vermute, Ihr wollt mit dem Brustkorb anfangen, nicht wahr?« Er reichte Richard das Skalpell.

Richard kämpfte die aufsteigende Übelkeit nieder und drängte die furchtbaren Erinnerungen, die an die Oberfläche seines Geistes steigen wollten, zurück in den hintersten Winkel. »Danke«, sagte er und nahm Pömer das Skalpell ab.

Einen Augenblick lang ließ er die Klinge über der weißen Brust des toten Jungen schweben und wartete auf die Erregung, die er sonst in solchen Momenten empfand. Die Erregung darüber, sein Wissen über den menschlichen Körper wieder ein Stückchen zu erweitern.

Doch zu seiner Überraschung blieb sie aus. Er presste die Lippen zusammen, dann senkte er das Skalpell in das weiße Fleisch des Jungen. Während er einen langen Schnitt von der Kehle bis zur Bauchdecke ausführte, leerte sich sein Geist. Jetzt waren da nur noch sein Werk, der tote Junge und er selbst. Die Suche nach Erkenntnis war kein Hexenwerk!

Für dich, Magdalena, dachte er im Stillen.

Pömer reichte ihm eine kleine Säge, mit der er eine nach der anderen die Rippen durchtrennte. Es dauerte nicht lange, und er begann von der schweren Arbeit zu keuchen. Schweiß brach ihm aus und rann in seine Augen. Mit dem Unterarm wischte er ihn fort.

Endlich hatte er die Lungenflügel freigelegt. Seine Hände klebten, doch er achtete nicht darauf.

Er starrte auf das vor ihm liegende Organ, das aufgebläht war wie eine volle Schweinsblase. Ungeduldig wartete er darauf, dass Marquard mit seiner Zeichnung fertig war und er weitermachen konnte.

Nur am Rande nahm er wahr, dass der Maler das Gespräch auf Jörg Zeuner gebracht hatte. Zeuner war Patrizier, Mitglied des Inneren Rates wie Pömer und zur Zeit mit dem Amt eines Lochschöffen beauftragt. Was bedeutete, dass er für die Untersuchung von Mordfällen auf dem Stadtgebiet zuständig war.

Als Marquard ihm einen Wink gab, durchtrennte Richard einige Gefäße, legte dann das Skalpell neben der Leiche ab und hob einen Teil der Lunge aus dem Brustkorb des toten Jungen. Prüfend drückte er ihn mit den Daumen ein. Er war weitaus weniger elastisch, als er das bei früheren Leichen festgestellt hatte. Seine Finger hinterließen deutlich sichtbare Dellen in dem dunkelroten Gewebe, die auch nicht wieder verschwanden. An einer Stelle gelang es ihm sogar, das Fleisch gänzlich zu durchstoßen. Eine weißliche, schaumige Flüssigkeit trat zutage.

Behutsam und mit einem Anflug von Ehrfurcht legte Richard das Organ zurück an seinen Platz. Dann griff er nach einem Tuch, um sich die blutigen Hände abzuwischen. Die Worte eines italienischen Anatomen kamen ihm in den Sinn.

Die Anatomie enthüllt, was die Natur sorgfältig verborgen hat, und ich glaube nicht, dass man die Zerfleischung des menschlichen Körpers ansehen kann, ohne Tränen zu vergießen.

Die Lunge dieses Jungen unterschied sich vehement von der jener Frau, die er damals seziert hatte. Damals war da kein Schaum gewesen, und auch keine Dellen.

Aber was nützte ihm diese Erkenntnis? Würde er jemals begreifen, was in einem menschlichen Körper geschah, wenn er ertrank? Würde er jemals in der Lage sein, ein Mittel zur Rettung Ertrunkener zu finden? Warum waren die Symptome an den Leichen so völlig verschieden?

Oh, Magdalena, dachte er resigniert. Ich werde es nie schaffen!

»Wahrscheinlich marschiert er zur Stunde mit hängendem Kopf durch die Lochwasserleitung und dreht dort jeden Stein um«, sagte Marquard gerade.

Pömer stieß einen kieksenden Laut aus. Richard warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zu, und Marquard fragte: »Was habt Ihr? Ihr seid totenblass, mein Lieber!«

Richard bezog diese Frage auf sich. Weil ich in einer Sackgasse stecke, wie so oft zuvor, dachte er. Er sprach es jedoch nicht aus, stattdessen murmelte er: »Wenn es möglich wäre, an einem lebenden Organ ...«

»Das solltet Ihr niemals auch nur denken!«, fuhr Pömer ihm mitten ins Wort. Richard riss die Augen auf. Ein lebendes Organ zergliedern? Hatte er das wirklich gedacht?

»Schon gut«, wehrte er ab. »War nur so dahergesagt.« Aber er war sich nicht sicher, ob das stimmte. Wie weit war er auf seinem Weg bereits ins Dunkel abgeglitten?

»Hoffentlich!« Der Getreidehändler marschierte in Richtung des Bogendurchgangs, der in den hinteren Teil des Kellers führte. »Kommt mit«, befahl er. »Wir haben jetzt Wichtigeres zu besprechen als Eure Studien!«

Zu dritt gingen sie durch den Bogengang in einen Raum, den Richard bisher niemals betreten hatte. Fässer und Säcke standen hier zu hohen Stapeln aufgerichtet, und in einer Ecke befand sich eine wuchtige Reisetruhe, auf deren Deckel mehrere weiße Leintücher abgelegt worden waren. Eine einzelne Kerze brannte in einer Laterne unter der Decke und verbreitete mehr Düsternis als Licht.

Pömer führte sie zu einem der Fässerstapel, der ungefähr eine Schrittlänge vor der hinteren Wand stand. Diese Wand war nicht wie die anderen aus Stein, sondern aus schwarzen Eichenbohlen zusammengefügt. Direkt hinter den Fässern befand sich eine schmale, mit einem großen eisernen Schloss versperrte Tür. Pömer klopfte mit dem Knöchel seines Mittelfingers dagegen. Sie hörte sich massiv an.

»Dahinter«, erklärte der Getreidehändler, »befindet sich ein Gang, der eigentliche Grund, warum ich dieses Haus gekauft habe.«

Der Untergrund unter der Stadt war durchlöchert von Felsenkellern, von Gängen und Kammern, in denen Vorräte gelagert oder Bier gebraut wurden. Ein Gang von einer Ecke der Stadt zu einer anderen war nichts Ungewöhnliches, und doch hatte Richard das Gefühl, dass Pömer deswegen aufs Äußerste beunruhigt war. »Und?«, fragte er.

»Durch diesen Gang schafft Arnulf die Leichen hier herein.« Pömer sah Richard an.

Als der schwieg, holte der Getreidehändler tief Luft und legte die Handfläche gegen die Tür. »Der Gang führt von hier aus in Richtung Norden und mündet in der Nähe des Rathauses in die Lochwasserleitung. Und: Ich habe keinerlei Genehmigung dafür.«

Marquard stieß einen leisen Pfiff aus.

Und jetzt endlich begriff Richard, was der Getreidehändler ihm zu sagen versuchte. »Durch diesen Gang wäre es möglich, aus Eurem Keller unter den Stadtmauern hindurchzugelangen!«

»Und umgekehrt.« Pömer seufzte.

»Und umgekehrt. Einen solchen Gang zu graben würde der Rat als Verrat verstehen. Ich vermute, Zeuner weiß nichts davon?«

»Natürlich nicht! Bis eben wusste das niemand. Zeuner war zwar eine Zeitlang Mitglied dieses anatomischen Zirkels, aber den Gang habe ich stets vor ihm geheimgehalten.«

»Und vor uns auch«, fügte Marquard an. Er wirkte ein wenig gekränkt.

»Warum zeigt Ihr ihn uns jetzt?«, fragte Richard. Insgeheim überlegte er, ob es klug von Pömer gewesen war, auch Marquard den Gang zu zeigen. Der Maler war in seinen Augen nicht besonders zuverlässig.

»Wenn Zeuner den Mord in der Wasserleitung untersuchen lässt, besteht die Gefahr, dass er den Gang entdeckt. Sein Eingang ist zwar gut getarnt«, Pömer wischte sich über den Mund, »aber die Gefahr besteht trotzdem.« Jetzt bestätigte er das, was Richard vorhin vermutet hatte. Als Ratsneuling war der Getreidehändler noch nicht in der Position, bei den Berichten anwesend zu sein, die die Schöffen in regelmäßigen Abständen dem Inneren Rat zu leisten hatten. »Ich muss wissen, wie der Stand der Dinge ist«, beendete er seine Erklärung. »Aber wenn ich zu offensichtlich danach forsche, fällt es auf. Ihr dagegen ...«

»Wozu hat man noch mal diesen Gunther, diesen anderen Stadtverräter, verurteilt?« Die Frage des Malers unterbrach Pömer mitten im Satz. Niemand hielt es für nötig, sie zu beantworten, stattdessen breitete sich eine angespannte Stille im Raum aus.

»Vielleicht haben sie den Mörder längst gefasst«, hoffte Marquard. »Dann bestünde keine Notwendigkeit, in der Lochwasserleitung herumzukriechen.«

Richard verspürte einen fast zornigen Widerwillen gegen den Maler. »Ich könnte versuchen, mich ein bisschen umzuhören«, bot er an. »Vielleicht finde ich ein paar Leute, die mehr wissen als wir. Jemand, der die Leiche gefunden hat, zum Beispiel.«

Pömer nickte eifrig. »Genau das wollte ich sagen! Ich werde Euch ein Legitimationsschreiben ausstellen, das beweist, dass Ihr in meinem Auftrag handelt. Es sollte Euch einige Türen öffnen.« Er eilte durch den Bogengang wieder nach vorn. Als Richard ihm folgte, war er bereits dabei, mit rascher Hand einige Zeilen auf ein Blatt Papier zu schreiben. Er signierte sie, dann siegelte er das Papier und reichte es Richard. »Geht gleich«, forderte er.

Richard schaute auf den Bogen in seiner Hand, dann auf das dicke rote Siegel, das Pömer als Ratsmitglied auswies, schließlich auf die unselige Leiche des Jungen. Er wollte sich schon zum Gehen wenden, als Pömers Stimme ihn zurückhielt.

»Sterner?«

Er blieb stehen.

»Seid vorsichtig! Zeuner weiß nichts von dem Gang – und es sollte auf jeden Fall so bleiben. Versteht Ihr, was ich meine?«

* * *

»Bruder?«

Eine Hand legte sich auf Johannes’ Schulter, leicht wie eine Feder. Trotzdem zuckte er zusammen.

»Verzeiht, ich wollte Euch nicht erschrecken. Es tut mir leid, dass ich Eure innere Einkehr unterbrechen muss, aber der Prior verlangt, Euch zu sehen. Er wartet in seinem Studierzimmer auf Euch.« Es war einer seiner Mitbrüder, der mit mitleidvoller Miene hinter ihm stand und auf ihn herabsah. Johannes musste blinzeln, um durch den Tränenschleier hindurch sein Gesicht erkennen zu können.

»Schon wieder?« Er umfasste die Lehne der vorderen Kirchenbank und stemmte sich in die Höhe. Er seufzte, dann schlug er ein Kreuz über sich. »Ich komme.«

Der Mönch nickte, schob seine Hände in die Ärmel seiner Kutte und ging davon.

Johannes blieb noch einen Augenblick in der Bank stehen. Diesmal schaffte er es, den Blick von den Engeln auf den Altarflügeln abgewendet zu lassen und sich stattdessen auf die Darstellung der Flucht nach Ägypten zu konzentrieren. Der heilige Josef sah besorgt aus auf diesem Bild. Steile Falten standen über seiner Nasenwurzel, und es kam Johannes so vor, als schaue er nicht auf ein Gemälde, sondern in sein eigenes Spiegelbild. Wenn er doch nur auch davonlaufen könnte ...

Er wischte sich die letzten Spuren der Tränen vom Gesicht und verließ die Kirche. Auf dem Weg zu Prior Claudius’ Studierzimmer kam er am Eingang zur Kapelle vorbei, in der die Toten aufgebahrt waren. Er beeilte sich, das Gangstück hinter sich zu lassen, ohne ihm einen einzigen Blick zu widmen.

Prior Claudius war nicht allein. In einem der Lehnstühle, die er für Besucher bereithielt, saß ein hagerer, hochgewachsener Mann, an dessen Händen die Sehnen und Adern wie Seile hervortraten. Seine braunen Augen waren in ihren Höhlen beständig in Bewegung, die Blicke huschten über Wände und Möbel und fixierten Johannes schließlich. Sofort fühlte der Infirmarius sich unbehaglich. Zögernd blieb er in der Tür stehen.

Prior Claudius erhob sich und winkte Johannes heran. »Kommt nur«, bat er. »Darf ich Euch bekannt machen? Das ist Bürgermeister Zeuner. Herr Bürgermeister, der Bruder Infirmarius, Johannes Schedel.«

Zeuner neigte den Kopf zu einer formlosen Begrüßung und wartete, bis der Prior sich wieder gesetzt hatte. Unschlüssig, was nun von ihm erwartet wurde, blieb Johannes mitten im Raum stehen.

»Setzt Euch doch«, forderte der Bürgermeister ihn auf. Mit einer Geste, die so selbstverständlich war, als gehöre das Studierzimmer ihm, wies er auf den Sessel an seiner Seite.

Johannes sah, wie sich Claudius’ Miene verfinsterte. Der Prior nickte jedoch, und so ließ sich Johannes vorsichtig auf dem Rand des Möbels nieder. Er sank tief in das weiche Polster ein, und das gab ihm ein Gefühl von Haltlosigkeit. Krampfhaft schloss er seine Hände um die geschnitzten Armlehnen und versuchte, Ruhe zu bewahren. Er hatte keine Ahnung, warum er hergerufen worden war, und noch weniger wusste er, was Bürgermeister Zeuner von ihm wollte. Alles, was er zu denken vermochte, war: Jetzt haben sie mich! Nach all den Jahren ...

»Der Herr Bürgermeister ist bei uns, Bruder Johannes, weil er unseren geistlichen Rat braucht.« Ein schwaches Lächeln auf Claudius’ Gesicht zeigte an, dass er mit dieser Situation überaus einverstanden war. »Da Ihr der medizinisch Gebildete in unserem Kloster seid, habe ich Euch zu diesem Gespräch hinzugebeten, in der Hoffnung, dass Euer Wissen uns weiterhelfen kann.«

Johannes fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. »Ich verstehe nicht«, murmelte er. Klang seine Stimme wirklich so krächzend, wie es ihm seine Ohren weismachen wollten?

Bürgermeister Zeuner beugte sich ein wenig vor. Sein Blick ruhte auf Johannes’ Gesicht, und der hatte das Gefühl, bis auf den Grund seiner Seele durchschaut zu werden. Es hätte ihn nicht im Mindesten gewundert, wenn der Mann plötzlich aufgestanden wäre, ihm die Hand auf die Schulter gelegt und ihn abgeführt hätte. »In der Tat«, begann Zeuner zu sprechen, »benötige ich Euren Rat – als Medicus, aber auch als Kirchenmann.«

»Ich will versuchen, Euch so gut wie möglich zu helfen.« Johannes räusperte sich. Konnte es sein, dass der Bürgermeister nicht seinetwegen hier war?

Zeuner lächelte. In seinen braunen Augen lag ein freundlicher Ausdruck, und Johannes entspannte sich ein wenig. »Dafür danke ich Euch schon einmal im Voraus.«

»Bürgermeister Zeuner wurde vom Stadtrat mit der Untersuchung des Mordfalles betraut, dessen ... Opfer in unserer Kapelle liegt«, erklärte Prior Johannes. »Wir haben uns bereits eine Weile unterhalten und die geistlichen Implikationen besprochen, die das Verbrechen mit sich bringt.«

»Geistliche Implikationen«, wiederholte Johannes.

Zeuner nickte. »Euer Vater«, er wies auf den Prior, »versucht gerade, mich davon zu überzeugen, dass wir es bei dem Toten nicht mit einem wie auch immer gearteten Vertreter der himmlischen Heerscharen zu tun haben.«

Claudius wies auf ein dickes Buch, das rechts von ihm auf dem Pult lag. »Ich habe dem Bürgermeister gerade eine Passage aus der Summa Theologiae vorgelesen, bevor Ihr kamt.« Johannes schaute auf das von Thomas von Aquin geschriebene Buch.

Zeuner lachte leise. »Vorgelesen, ja. Aber ich sagte Euch bereits, dass ich des Lateinischen nicht so mächtig bin wie Ihr.«

Prior Claudius lächelte erneut und lehnte sich zurück. »Darum werde ich es Euch auslegen. Thomas von Aquin schreibt in diesem Buch nichts anderes, als dass Engel von Gott ihr Sein und ihren Geist erhalten haben.«

Zeuner neigte den Kopf, als lausche er einer wichtigen Predigt. »Wie der Mensch auch.«

»Ja. Nur dass Gott die Engel ohne Materie schuf.«

»Sie sind also körperlos?«

»Genau. Sie sind geistige Wesen, erschaffen zwar, aber rein geistig, ohne jede Körperlichkeit und Zusammensetzung aus Materie.«

Zeuner stützte sein Kinn in die Hand. »Das heißt also, dass der Tote in Eurer Kapelle auf keinen Fall ein Engel ist. Dachte ich mir.«

Prior Claudius schaute Johannes auffordernd an. Der war verwirrt, da er nicht wusste, was von ihm erwartet wurde. »Ihr seid medizinisch versiert«, sagte der Prior mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme. »Wie ist Eure Meinung in diesem Fall?«

Wieder musste Johannes gegen den Kloß in seinem Hals anschlucken, bevor er antworten konnte. »Theologisch habe ich dem nichts hinzuzufügen. Vom medizinischen Standpunkt aus würde ich sagen, jemand hat den Mann umgebracht und ihm dann diese schrecklichen Flügel angeheftet. Ein furchtbares, gotteslästerliches Verbrechen, das ...«

»Schon gut!« Zeuner hob die Hände. »Wir konnten bereits in Erfahrung bringen, dass es sich bei dem Toten um einen der Röhrenmeister des Stadtrates handelt.«

Überrascht hob Claudius eine Augenbraue. »Ihr wisst, dass es ein Mensch ist? Warum lasst Ihr mich dann erst lange über das Wesen von Engeln dozieren?«

Zeuner zuckte die Achseln. »Wir dachten, der Mann könne vielleicht gestorben und gleich darauf als Engel zur Erde zurückgekommen sein, wo er dann – von wem auch immer – getötet wurde.«

Prior Claudius schnaubte. »Die Vorstellung, dass Menschen nach ihrem Tod als Engel bei Gott leben, ist kindlicher Aberglaube! Menschen sind Menschen. Auch nach ihrem Tod. Und Engel sind Engel. Weder wird je ein Engel in einen Menschen verwandelt werden noch ein Mensch in einen Engel.«

Zeuner beugte sich vor. Er sah verwirrt aus. »Erzählen nicht Eltern ihren Kindern, dass die Verstorbenen oben im Himmel ...«

»... bei Gott sind«, unterbrach Claudius ihn. »Ich vermute, es rührt von der falschen Vorstellung her, die allgemein über die Seele des Menschen herrscht. Ein weiterer großer Kirchenmann, Duns Scotus, schreibt dazu sehr richtig, dass ...«

Diesmal unterbrach Zeuner ihn. »Verschont mich damit!«, bat er. »Ich habe in Erfahrung gebracht, was ich wissen wollte.«

Johannes erwartete, dass er nun aufstehen und gehen würde, aber zu seiner Überraschung blieb er sitzen.

»Können wir Euch mit weiteren Dingen helfen?«, fragte Prior Claudius. Er wirkte nun etwas ungehalten, doch Zeuner schien das nicht zu stören.

»In der Tat« sagte er. »Es gibt leider nicht nur diesen Mord, um den ich mich zu kümmern habe, sondern auch noch andere – sagen wir ähnlich unerfreuliche Fälle.« Er zog die Nase kraus, dann fuhr er fort: »Ein Nürnberger Bürger, ein sehr geachteter Mann, ein Messingschläger, ist vor wenigen Stunden zu mir gekommen und hat eine Frau der Zauberei angeklagt.«

»Zauberei.« Unter Prior Claudius’ rechtem Auge zuckte ein einzelner Muskel.

»Zauberei«, bestätigte Zeuner. »Seit einigen Jahren häufen sich die Fälle davon in auffälliger Weise, und meistens belegt der Rat die Angeklagten mit milden Strafen, aber ich würde gern wissen, wie Ihr als Dominikaner zu diesen Dingen steht. Ich meine, ich habe eine dieser Streitschriften in den Händen gehabt, die in der Stadt kursieren und in denen es heißt ...«

Mit einem Ruck erhob Prior Claudius sich. »Die Schrift, aus der jene Auszüge stammen, wurde von Angehörigen meines Ordens geschrieben«, gab er zu. »Ich hingegen bin nur ein einfacher Mönch und kein Angehöriger der Heiligen Inquisition. Ich maße mir nicht an, zu diesen Fragen eine eigene Meinung zu besitzen.«

Zeuner verzog das Gesicht. »Die heilige Inquisition. Ist sie nicht eigentlich zuständig für die Verfolgung von Ketzerei?«

Prior Claudius nickte, und Johannes konnte förmlich sehen, wie ihm der Schweiß ausbrach. In der Stadt war es weithin bekannt, dass vier Inquisitoren in das Kloster gekommen waren. Aber entweder, Zeuner wusste nichts davon, oder aber sein Wunsch, mehr über Zauberei und Hexenwerk zu erfahren, war nicht besonders ausgeprägt. Er stand auf und lächelte den Prior an. »Schön. Ich danke Euch trotzdem für Eure Hilfe, Pater!«

Claudius reichte dem Bürgermeister die Rechte, und der beugte sich vor, um ihm einen flüchtigen Kuss auf den Ring zu hauchen. Dem Prior war die Erleichterung anzusehen, dass der Tod der drei Inquisitoren unentdeckt blieb.

Johannes saß noch immer in seinem Sessel und wusste nicht, wie ihm geschah, als Zeuner sich im Hinausgehen noch einmal umwandte und ihn direkt ansprach. »Ach, was ich beinahe vergessen hätte: Was, glaubt Ihr, sind das für Flügel, die der Mörder verwendet hat? Für Gänse sind sie ein bisschen zu klein, oder?«

Johannes schluckte heftig. In seinen Ohren gellte das Echo eines Geräusches, das er vor vielen Jahren einmal gehört hatte und das er niemals im Leben wieder hören wollte. Der gellende Schrei eines sterbenden Lebewesens. Er schloss kurz die Augen, bevor er den Blick auf den Bürgermeister heftete.

»Ich würde vermuten, dass es sich um einen Schwan handelt«, sagte er leise.

Bürgermeister Zeuner legte den Kopf schief. »So, so. Ein Schwan.« Er nickte Johannes zu, dann verließ er das Studierzimmer, ohne die Tür hinter sich zu schließen.

* * *

Von Pömers Haus bis zum Rathaus waren es nur wenige Schritte, und da der Türmer von St. Sebald genau in dem Moment die Mittagsstunde schlug, als er sich von Marquard verabschiedete, hatte Richard ein wenig Zeit. Das Ermächtigungsschreiben Pömers befand sich in seiner Tasche, aber über Mittag, das wusste er, war im Rathaus kaum jemand zu sprechen. Erst zu Beginn der siebten Tagstunde würden die Schreiber und Kopisten, die Büttel und auch die Ratsmitglieder zurück an ihre Arbeit kehren.

Um die eigenen Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken, entschloss sich Richard, einen kleinen Spaziergang zu machen. Sein Blick fiel auf das wuchtige Holzgerüst, das man schräg vor der Frauenkirche aufgebaut hatte. Während des vergangenen Reichstags hatte hier der berühmte Conrad Celtis einen Dichterwettstreit abgehalten. Die Tage des Redens waren jedoch vorbei, und ein halbes Dutzend Arbeiter damit beschäftigt, das massive Holzgerüst auseinanderzubauen und die einzelnen Balken sorgsam am Rande des Marktplatzes zu stapeln.

Zu Richards Linken hatten einige Marktbetreiber bereits wieder die hölzernen Stände und Hütten aufgebaut, die wegen der vielen Veranstaltungen der vergangenen Monate per Ratsbeschluss hatten entfernt werden müssen. Der Duft von am Spieß gebratenem Ferkel und frischem Brot stieg Richard in die Nase und ließ seinen Magen knurren. Er überlegte, ob er sich etwas zum Mittagsmahl kaufen sollte, doch dann fiel sein Blick auf seine Hände, die er in Pömers Keller nur notdürftig mit dem Tuch gereinigt hatte. Das Blut in den feinen Falten seiner Haut und unter seinen Fingernägeln war inzwischen dunkel geworden.

Der nächste Brunnen stand an der nordwestlichen Ecke des Platzes, und die Nürnberger nannten ihn wegen seiner prachtvollen, teilweise goldenen Verzierungen den Schönen Brunnen. Ihn steuerte Richard nun an. Um das Wasserbecken zu erreichen, musste er drei Stufen hochsteigen. Er nahm seinen Hut ab, legte ihn auf die Brunnenumrandung, wobei er darauf achtete, dass die Feder nicht nass wurde. Dann tauchte er die Hände in das von der Sonne erwärmte Wasser und rieb sich Blut und Schmutz von der Haut. Er brauchte eine Weile, bis er das Gefühl hatte, sauber zu sein, und als er fertig war, war ihm der Appetit vergangen. Nachdenklich betrachtete er die feinen Schlieren, die seine Waschung in dem klaren Wasser hinterlassen hatte.

Und dann traf es ihn wie ein Schlag auf den Kopf.

Dunkles, kaltes Wasser ... blutige Schlieren ... bleiche Knochen, die sanft hin- und herschwebten ...

Mit beiden Händen musste er sich an der Brunnenumrandung abstützen. Sein Oberkörper kippte nach vorn, und nur mit Mühe blieb er auf den Beinen. In seinen Ohren rauschte es, er konnte den Druck spüren. Den Druck des Wassers.

Der Anfall ging so schnell vorüber, wie er gekommen war. Der Druck verschwand und auch die Bilder. Schwerfällig richtete Richard sich wieder auf. Er begegnete dem neugierigen Blick eines kleinen Mädchens, das seine Schwäche bemerkt hatte, und mühte sich um ein beruhigendes Lächeln. In den kindlichen, weit aufgerissenen Augen stand Sorge.

Dann wurde das Mädchen am Arm gepackt und fortgezogen.

Richard hörte, wie seine Mutter es anzischte: »Du sollst doch nicht immer stehen bleiben, wenn so ein Betrunkener vorbeikommt!« Der verächtliche Blick der Frau brannte in Richards Gesicht, doch er zwang sich, ihm standzuhalten. Er straffte die Schultern. Seine Hände waren noch immer nass. Er hob sie und fuhr sich mit ihnen durch die wirren Haare. Dann hielt er inne und betrachtete seine ausgestreckten Finger.

Sie zitterten.

»Oh, Magdalena«, flüsterte er. »Ich bin erneut erfolglos gewesen!« Er wandte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Brunnen. Seine Knie zitterten ebenso wie seine Hände, und er ließ sich rücklings an den goldenen Ornamenten hinabgleiten, bis er auf seinen Fersen hockte.

Vor seinem inneren Auge beschwor er den Anblick des Lungenflügels herauf, den er vorhin dem toten Jungen aus dem Brustkorb entnommen hatte. Dieser weißliche Schaum ... Richard schüttelte den Kopf.

Warum war dieser Schaum bei der Frau vor einem Jahr nicht dagewesen? Ihre Lunge hatte er zusammengefallen und schrumpelig in ihrem Brustkorb vorgefunden. Was hatte das zu bedeuten? Er zermarterte sich den Geist über dieser Frage, aber er kam zu keinem Ergebnis. Schließlich musste er sich eingestehen, dass er seinem Ziel, ein Mittel zur Rettung Ertrinkender zu finden, keinen einzigen Schritt näher gekommen war.

»Sieht so aus, Magdalena, als hätte ich mein Seelenheil vergeblich aufs Spiel gesetzt.«

Mühsam erhob er sich.

Die verbliebene Zeit strich er ruhelos um die Häuser und versuchte, seinen Kopf vom Grübeln abzuhalten. Dann endlich schlug der Türmer von St. Sebald die siebte Stunde, und im Abstand von wenigen Augenblicken antworteten ihm die drei anderen auf St. Lorenz, auf dem Laufer Schlagturm und auf dem Weißen Turm.

Richard unterdrückte ein Seufzen.

Es war an der Zeit, Jörg Zeuner aufzusuchen.

Der Saalbau des Rathauses hatte an seiner Ostseite einen türmchenbewehrten Giebel, ganz ähnlich wie die Frauenkirche am Fischmarkt, jedoch bei weitem nicht so prachtvoll. Richard warf einen kurzen Blick daran in die Höhe und sah auch an dem dreifenstrigen Chörlein empor, das aus der Fassade ragte und für das wuchtige Gebäude viel zu klein wirkte.

Dann durchquerte er die Lochgasse und achtete dabei darauf, nicht auf die in das Pflaster eingelassenen Gitter zu treten, die in die Verliese unter der Erde führten. Er nahm seinen Hut ab, erklomm die Steintreppe zum Rathaussaal und fand sich in einem breiten Gang wieder, aus dem linkerhand eine große, reich verzierte Doppeltür abging. Hier herrschte nach der mittäglichen Pause das übliche Durcheinander. Ratsmitglieder standen beieinander und diskutierten über Fragen der Stadtführung, Schreiber hasteten in den Saal hinein und wieder heraus und verschwanden rechterhand durch einen Bogen, hinter dem eine Treppe ins Obergeschoss führte.

In seiner schlichten, aber teuren Nürnberger Bürgerstracht fiel Richard hier nicht auf, und es gelang ihm, einige der Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Zu seiner Überraschung drehten sich die meisten nicht um den Mord in der Lochwasserleitung, sondern man sprach hauptsächlich über eine Ratsversammlung, in der es darum gegangen war, der Familie der Stromer eines ihrer Ratsmandate zu entziehen.

»Es ist nun einmal so, dass jede Familie nur einen Sitz im Rat haben soll«, hörte Richard einen der Männer sagen, und ein anderer hielt ihm entgegen: »Schon, aber die Pfinzings zum Beispiel haben auch dauernd zwei.«

Dieser Streit währte schon seit Jahrzehnten und flammte immer wieder einmal auf. Er interessierte Richard nicht, also schlenderte er weiter und wandte sich dabei nach rechts. Die Stadt hatte in den letzten Jahren immer wieder angrenzende Häuser aufgekauft und sie durch Umbauten den eigenen Bedürfnissen angepasst. Der gesamte Komplex des Rathauses hatte dadurch und durch die unterschiedlichen Baustile der einzelnen Gebäudeteile eine fast labyrinthische Anmutung.

In einer kleineren Halle, aus der eine Treppe sich wie eine Wendel in die Höhe schraubte, wurde Richard auf ein anderes Gespräch aufmerksam. Plötzlich fiel der Name des Getreidehändlers.

»... dass er den Titel des Stadtrichters nicht tragen darf, wird Pömer schön fuchsen!« Es war ein noch recht junger Stadtrat, der das gesagt hatte. Richard kannte ihn flüchtig. Sein Name war Karl Mullner.

Mullners Gesprächspartner, ein alter Mann, dem die schneeweißen Haare genau wie Richard in neuester italienischer Mode zu seidigen Wellen gelegt über die Schultern fielen, winkte ab. »Den fuchst so einiges, glaub mir!« Der Alte bemerkte, dass Richard sie belauschte, und wandte halb den Kopf.

Richard fasste sich ein Herz. »Verzeiht«, sagte er. »Ich bin auf der Suche nach Bürgermeister Zeuner. Wisst Ihr zufällig, wo ich ihn finde?«

Der alte Mann zuckte die Achseln. »Ich glaube, er wollte zum Predigerkloster. Hat er jedenfalls gesagt.«

»Nein, er ist längst zurück.« Mullner wies mit dem Daumen hinter sich zur Treppe. »Wenn ich eine Wette abschließen müsste, würde ich meinen, er ist beim roten Siegmund.«

Richard schaute die Stufen hinauf. Er schien ratlos auszusehen, denn der weißhaarige Alte erklärte ihm: »Siegmund ist einer der Schreiber. Er hat sein Kontor im ersten Stock und ist hier bekannt dafür, dass er immer eine Flasche mit Selbstgebranntem in seinem Pult aufbewahrt. Für die Schöffen, die aus dem Loch kommen und den Gestank aus der Kehle spülen müssen.« Er sah Mullner an und fügte bedeutungsvoll hinzu: »Oder die Mordopfer begutachten müssen.«

»Dann war Zeuner heute schon im Loch?«, fragte Richard.

Mullner nickte. »Heute Vormittag, ja. Warum interessiert Euch das?«

»Nur so. Es heißt, es hat einen Mord gegeben. Bedeutet das also, dass Ihr bereits einen Verdächtigen habt?«

Mullner runzelte die Stirn, aber dann musterte er Richard und fand ihn in seiner Kleidung für würdig, ihm Auskunft zu geben. »Einen Freund des Toten, ja. Einen Röhrenmeister namens Faro. Der Nachname ist mir gerade entfallen. Man fand ihn bei der Leiche, das blutige Messer noch in der Hand.«

Richard verneigte sich knapp und wies die Treppe hinauf. »Oben, sagtet Ihr, ist Siegfrieds Kontor?«

»Siegmund. Den Gang runter, zweite Tür rechts. Nummer vier.« Mullner nickte Richard zu und wandte sich dann wieder seinem Gesprächspartner zu.

Ohne weiter beachtet zu werden, erreichte Richard die bezeichnete Schreibstube. Der Gang bestand zur Gänze aus dunklem, glänzendem Holz, Wände und Decken waren kassettenförmig gegliedert. Die Tür zu Siegmunds Kontor war, wie alle hier oben, mit Schnitzereien in Form von Efeublättern verziert und trug die Zahl Vier in alter Schreibweise auf Augenhöhe.

Richard klopfte an, und als er zum Eintreten aufgefordert wurde, steckte er den Kopf durch den Türspalt. Ein Geruch schlug ihm entgegen, den er sofort erkannte.

Branntwein.

Zeuner war tatsächlich da. Er saß auf einem hölzernen Lehnstuhl, hatte den Oberkörper zurückgelehnt und die Augen halb geschlossen, als genieße er gerade die wärmenden Strahlen der Sonne, die durch ein kleines Fenster hoch oben in der Wand auf sein Gesicht fielen.

Hinter einem Pult aus Eichenholz, das übersät war mit Stapeln von Papier und alten ausgefransten Federn, hockte ein rothaariger Mann mit schiefen Zähnen und weit auseinanderstehenden Augen. Er schaute Richard fragend an.

Der wies auf Zeuner. »Ich bin auf der Suche nach dem Herrn Schöffen«, sagte er.

Das veranlasste Zeuner, die Augen zu öffnen und sich gerade hinzusetzen. »Ah, Sterner! Was führt Euch zu mir?«

»Ich muss kurz mit Euch sprechen. Habt Ihr einen Augenblick Zeit für mich?«

Zeuner warf einen Blick in Richtung des rothaarigen Schreibers. »Ich komme.« Mit einer schwungvollen Bewegung stand er auf. »Ich komme nachher noch mal, Siegmund«, sagte er. »Dann führen wir unser Gespräch zu Ende.«

Der Schreiber nickte nur.

Zeuner trat zu Richard auf den Gang und schloss die Tür hinter sich. »Was ist?« Seine Augen lagen im Schatten der dunklen Haare und wirkten dennoch durchdringend.

Richard war sich sicher, dass Zeuner einen ausgezeichneten Schöffen abgab. Er warf einen Blick über die Schulter, aber niemand beachtete sie. Am Ende des Ganges war ein Ratsdiener damit beschäftigt, die Schnitzereien abzustauben. Abgesehen von ihm waren sie allein.

Aus einer inneren Eingebung heraus entschied Richard sich, Pömers Schreiben nicht vorzuzeigen, sondern so zu tun, als treibe allein persönliche Neugier ihn hierher. »Es geht um den Mord«, eröffnete er das Gespräch.