hr und mehr Wasser entrissen und reinigten. Jess stöhnte, als die elementaren Was
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serwesen ihr Werk fortsetzten. Er konnte sie nicht daran hindern.
Karlas Gesichtsausdruck änderte sich. Ihre Züge wurden sanfter, menschlicher ... mütterlich. Ein Trick? »Jess - du weißt, was du zu tun hast.« Sie hatte aufgehört, Blitze gegen die Wände und Decke der großen Eishöhle zu schleudern, hatte auch ihre Angriffe auf ihn und Cesca eingestellt. Sie schien in sich selbst zurückzuweichen und den verdorbenen Wental zu blockieren.
Jess wusste, dass Absicht dahintersteckte. Er glaubte, tatsächlich etwas von seiner Mutter zu sehen. Mit den letzten Schatten ihrer Erinnerungen kämpfte sie gegen die destruktive Präsenz in ihr an. Karla begriff, dass ein schreckliches Chaos von ihr ausging - und sie wollte damit Schluss machen. Ja, das war seine Mutter. Jess glaubte fest daran.
Aber die Wentals behaupteten, dass es unmöglich war. Jess wusste, was er sah, erkannte das kurze Aufleuchten von Menschlichkeit in Karlas Augen.
Wie konnten sich die Wentals irren? Und wenn sie sich bei dieser Sache irrten, wie viele andere Fehler hatten sie dann gemacht? Der plötzliche Zweifel in seinem Herzen schien so schädigend zu sein wie ein verdorbener Wental.
Und deshalb vertrieb er ihn. Jess hatte seine Entscheidung bereits getroffen. Er hatte sich mit den elementaren Wasserwesen verbündet und den Verlust der eigenen Menschlichkeit akzeptiert, um zusammen mit ihnen zu kämpfen. Er sah, welchen Schaden diese destruktive Lebensform anrichtete, und er wusste, was verdorbene Wentals in der Vergangenheit angestellt hatten. Er wusste, dass Karla aufgehalten werden musste. Hier und jetzt.
Ohne den Blick von seiner Mutter abzuwenden, hörte Jess damit auf, den Bemühungen des Wentals in seinem Innern Widerstand zu leisten. Er warf seine ganze Kraft in den Kampf und bediente sich auch der Energie, die er von Cesca
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bekommen konnte. Er fühlte die Stärke von Cescas menschlichem Herz und die überirdische Kraft in ihr.
Der nächste Schlag, der Karla traf, war mächtiger als alle anderen zuvor, und sie empfing ihn mit einem erleichterten Lächeln. Ihre Haut veränderte sich, wurde ledrig und löste sich teilweise auf. Das Gesicht mumifizierte.
Der übernatürliche Sturm wurde noch heftiger, bis Karlas Körper Risse bekam und aussah wie eine zerbröckelnde Statue. Jess beobachtete, wie sich seine Mutter auflöste, wie sie zu einer Staubwolke wurde, vom Wind der Wentals erfasst und herumgewirbelt.
Schließlich hörte der Wental-Sturm auf, und es blieb nichts von Karla Tamblyn übrig, weder der verdorbene Wental noch die Frau, die sie einst gewesen war.
Im Hintergrund hörte Jess das Zischen von entweichendem Dampf, das Knacken von Eis und das Rauschen von Wasser, aber all diese Geräusche waren nichts im Vergleich mit dem Orkan, der den verdorbenen Wental besiegt hatte. Ohne seinen Einfluss krochen die übrig gebliebenen Nematoden zum eisengrauen Meer zurück und verschwanden in den kalten Tiefen.
Schließlich wagten sich überlebende Roamer aus ihren Verstecken.
Verwundete stöhnten und baten um Hilfe. Jess' drei Onkel näherten sich.
»Ich verstehe nicht, was ich gerade gesehen habe«, sagte Caleb. »Und ich bin mir nicht sicher, ob ich Bescheid wissen möchte.«
Jess konnte nicht sprechen. Er hätte seine Mutter in ihrem eisigen Grab ruhen lassen sollen. Letztendlich trug er die Verantwortung für diese Katastrophe - weil er Karla Tamblyn aus dem Eis geholt hatte und nicht in der Lage gewesen war, die Wental-Energie in seinem Innern zu kontrollieren.
»Es ist vorbei«, teilte Cesca den Roamern mit, als erinnerte sie sich an ihre Rolle als Sprecherin. Diese Roamer hat
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ten Cesca seit der Zerstörung von Rendezvous nicht mehr gesehen und wussten nicht, was mit ihr geschehen war. »Sie sind jetzt in Sicherheit und können damit beginnen, wieder Ordnung zu schaffen.«
Der alte Caleb ließ seinen Blick über das Chaos schweifen und blinzelte.
»Ordnung? Seit die Droger angreifen und die Große Gans mit der Jagd auf uns begonnen hat, ist nichts mehr in Ordnung.«
67 ANTON COLICOS
Als Tal O'nhs Kriegsschiffe Hyrillka erreichten, wurde der Transfer von Ausrüstungsgütern und Versorgungsmaterial zu einer enormen logistischen Aufgabe. Tausende ildiranische Techniker und Arbeiter kamen aus den gelandeten Schiffen, trugen Frachtbehälter und Werkzeuge - sie alle wollten sich sofort an die Arbeit machen.
Hyrillka war zweimal in die Knie gezwungen worden: einmal durch den Angriff der Hydroger, und dann durch den Wahnsinn des Designierten.
Doch der Weise Imperator gab keine seiner Welten auf, auch wenn der Rest des Reiches gefährdet war.
Zu Beginn der Mission leisteten Anton und Vao'sh der Kriegerin Yazra'h Gesellschaft, die den jungen Designierten an Bord des Flaggschiffs ermutigte. Ridek'h hatte seine private Kontemplationskammer aufgesucht, um dort zu meditieren - oder um sich zu verstecken?, überlegte Anton -, bevor er sich seiner planetaren Verantwortung stellte. Tal O'nh gab Anweisungen für den Wiederaufbau, doch Ridek'h wartete ab und machte sich Sorgen.
»Ich bin bereits erschöpft, und wir haben noch nicht ein 193
mal angefangen.« Der junge Ildiraner blickte aus einem Fenster des Kriegsschiffs.
Yazra'h beobachtete, wie sich die Isix-Katzen an Antons Beinen rieben, wandte sich dann an Ridek'h. »Ich bin begierig darauf, mit der schweren Arbeit zu begegnen, und du solltest es ebenfalls sein. Wir haben genug Zeit an Bord des Schiffes vertrödelt.« Sie beugte die Arme und ließ die Muskeln spielen. »Wir sind der Aufgabe gewachsen, Ridek'h.«
»Aber ich bin kein Arbeiter oder Kämpfer. Ich gehöre zum Adel-Geschlecht.«
Yazra'h musterte ihn skeptisch. »Und deshalb bist du einer schwierigen Herausforderung gegenüber hilflos? Unsinn. Ich bin adlig geboren wie du, aber ich kämpfe besser als ein Soldat, und ich kann härter arbeiten als ein Arbeiter. Ich bringe dir bei, Hyrillka zu regieren.« Yazra'h warf ihr kupferrotes Haar zurück. Es entging Antons Aufmerksamkeit nicht, dass sie ihm einen kurzen Blick zuwarf, und er gelangte zu dem Schluss, dass sie ihn zu beeindrucken versuchte.
»Erinnerer Colicos und ich möchten gern so bald wie möglich auf Hyrillka landen«, sagte Vao'sh. »Damit wir den Beginn des Einsatzes beobachten können.«
»Müssen wir sofort auf den Planeten?«, fragte Ridek'h mit fast weinerlicher Stimme. »Hier ist alles angenehmer und ... organisierter.«
Yazra'h warf ihm einen scharfen Blick zu. »Haben es die Bewohner von Hyrillka angenehm und organisiert, Designierter Ridek'h? Dein Platz ist bei ihnen, damit du siehst, woran es ihnen mangelt.« Durch das große Fenster war nicht nur der Planet zu sehen, sondern auch andere Schiffe der Flotte im Orbit. »Sprich hier von deiner Unsicherheit, aber erwähne sie nie deinem Volk gegenüber. Die Bewohner von Hyrillka haben bereits genug Zweifel -
füge ihnen keine weiteren hinzu. Sie werden Mut schöpfen, weil sie wieder einen Designierten haben.«
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»Selbst wenn es ein so unerfahrener und unsicherer ist wie ich?«
Yazra'h sah zu den beiden Historikern und überlegte, richtete dann die notwendigen Worte an den Jungen. »Was du jetzt fühlst, ist nur halb so wichtig wie das, was du vor deinem Volk zeigst. Gib dich so, wie es deine Rolle von dir verlangt: stark, tapfer und verlässlich.«
Anton beobachtete, wie der junge Ildiraner nach Kraft suchte und dann die Schultern straffte. Er setzte eine Maske auf, die Anton durchschaute, aber vielleicht war sie gut genug für das leidgeprüfte Volk von Hyrillka. »Danke.
Natürlich muss ich hinunter auf den Planeten.«
Hyrillkas wichtigster Raumhafen war bereits wiederaufgebaut, aber er konnte nicht all die hunderte von Kriegsschiffen aufnehmen. Tal O'nh hatte dieses Nadelöhr erkannt und sich für ein effizientes Landeprotokoll entschieden. Er beauftragte Ildiraner des Beamten-Geschlechts, Logistik-Pläne zu erarbeiten. Die verzierten Schiffe umkreisten den Planeten, und ihre Besatzungen konnten es gar nicht abwarten, mit der Arbeit zu beginnen.
Immer mehr Kriegsschiffe landeten, jeweils in Siebenergruppen.
Angehörige der Solaren Marine und Hyrillka-Ar-beiter entluden Ausrüstungen und brachten Arbeiter und Werkzeuge mit lokalen Transportern zu ihren Einsatzorten. Mit nur wenigen Besatzungsmitgliedern an Bord kehrten die leeren Schiffe in den Orbit zurück, damit andere landen konnten. Es würde Tage dauern, sie alle zu entladen.
Anton, Vao'sh und Yazra'h begleiteten den jungen Designierten an Bord eines Schiffes, das zur vierten Landegruppe gehörte. Als Ridek'h den Fuß auf Hyrillka setzte, rechnete Anton mit einer großartigen Begrüßung, denn die Ildiraner neigten zu derartigen Dingen. Aber die Fanfaren verloren sich im Lärm der Entladearbeiten.
Der junge Designierte schnappte nach Luft, als er die Ver 194
heerungen sah, den verbrannten Boden, die ruinierten Felder, die verwüstete Landschaft. »Seht nur, was getan werden muss!«
»Und sieh nur all die eifrigen Arbeiter«, erwiderte Yazra'h. »Sieh die vielen Schiffe und all das Material. Wie kannst du keinen Erfolg erzielen?«
»Wir haben noch nicht alle Schäden gesehen«, sagte Anton. »Aufgrund meiner historischen Studien weiß ich, dass der Wiederaufbau immer viel schwerer ist als das Zerstören.«
»Das soll der Faden sein, aus dem wir unsere Geschichte weben, Erinnerer Anton«, sagte Vao'sh.
Sie begannen mit einer offiziellen Besichtigungstour durch die Stadt und das umgebende Gelände. Der Shuttle flog tief und gab ihnen Gelegenheit, das ganze Ausmaß der Zerstörungen zu erkennen. Noch vor dem Eintreffen der Wiederaufbaugruppen hatten die Arbeiter von Hyrillka damit begonnen, das verbrannte Land zu roden und neues Getreide zu säen. Der wahnsinnige Designierte hatte die gewöhnliche Landwirtschaft aufgegeben und alle Ressourcen für die Produktion von Schiing eingesetzt, und deshalb gingen Hyrillkas Lebensmittel vor rate schnell zur Neige.
Die beschämte Bevölkerung arbeitete mit großer Hingabe und zeigte damit, wie sehr sie bereit war, für ihre Rebellion zu büßen. Wenn die Bewohner des Planeten weiter so hart arbeiteten, würde der Wiederaufbau viel schneller gelingen als erwartet.
Als die kleine Gruppe stundenlang mit dem Shuttle flog und sich die Schäden ansah, fühlte sich Anton von Benommenheit erfasst. Vao'sh saß neben ihm und hielt nach Details für kleinere Geschichten Ausschau.
Yazra'h blieb die ganze Zeit über auf den Beinen. Als sie den gequälten Ausdruck in Ridek'hs Gesicht sah, sagte sie mahnend: »Wenn du aufgibst, Designierter, so geben sie alle
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auf. Denk an die alten Geschichten in der Saga. Angenommen du wärst der Kommandant eines Kriegsschiffes, das von einem Dunkelschiff der Shana Rei verfolgt wird. Ein Dunkelschiff ist so schnell wie die Finsternis und so un-greifbar wie ein Schatten. Du hättest Angst, nicht wahr?«
Ridek'h zögerte und entschied dann, ehrlich zu antworten. »Ja.«
Yazra'h hob den Finger. »Aber selbst wenn du innerlich zitterst, du darfst deine Furcht der Crew nicht zeigen, denn bei ihr wäre sie siebenmal so stark. Du musst deine Angst besiegen und auf die Arbeit konzentriert bleiben, die es zu erledigen gilt. Wenn dein größter Kampf der Furcht gilt und nicht dem Feind, so hast du bereits verloren.«
Vao'sh lächelte, als er diese Worte hörte. Die Verfärbungen der Hauptlappen in seinem Gesicht wiesen Anton darauf hin, dass er sowohl amüsiert als auch beeindruckt war. »Vielleicht haben Sie etwas von einem Erinnerer in sich, Yazra'h.«
Sie schniefte und schien diese Bemerkung fast für eine Beleidigung zu halten. »Ich habe viele ungewöhnliche Fähigkeiten. Der Weise Imperator setzt so viel Vertrauen in diese Fähigkeiten, dass er mich beauftragt hat, den Designierten zu beraten. Ich besitze Ehre, weiß zu kämpfen und lerne aus Fehlern.«
Anton drückte Ridek'h die Daumen. Er vermutete, dass die Unzulänglichkeiten des jungen Mannes hauptsächlich auf Mangel an Erfahrung basierten. Mit sorgfältigem Rat und geduldiger Anleitung konnte er sein volles Potenzial entfalten.
Yazra'h trat hinter den Jungen und ergriff ihn an den Schultern, damit er gerade stand und alles sah. Gemeinsam blickten sie auf verbrannte Nialia-Reben und trockene Bewässerungskanäle hinab.
Vielleicht sah sie eine persönliche Herausforderung 195
darin, Ridek'h zu einem ordentlichen Regenten von Hyrillka zu machen.
Wenn jemand dazu imstande war, so Yazra'h, fand Anton. Sie hatte genug Kraft und Zuversicht für ihren Neffen und die halbe Bevölkerung des Planeten.
68 WEISER IMPERATOR JORA'H
Noch eher als Jora'h befürchtet hatte, kehrten die Hydroger nach Ildira zurück und brachten ihre Anweisungen. Bisher waren Adar Zan'nh und seine Experten nicht in der Lage gewesen, wirkungsvolle neue Verteidigungsmöglichkeiten gegen den Feind zu finden. Ohne die Möglichkeit, den Hydrogern Widerstand zu leisten, musste Jora'h ihren Forderungen nachgeben, denn sonst drohte dem ganzen Ildiranischen Reich der Untergang.
Der Weise Imperator hatte Osira'h nach Dobro geschickt und anschließend vier der sieben Kohorten der Solaren Marine nach Ildira beordert, um die Zentralwelt des Reiches zu schützen. Die Tals Nodu'nh, Lorie'nh, Tae'nh und Ur'nh befehligten mehr als tausenddreihundert geschmückte Kriegsschiffe. Die Hydroger schienen von dieser Demonstration der Macht kaum beeindruckt zu sein. Zwölf große, wie Diamanten funkelnde Kugeln flogen durch die vielen Septas der Solaren Marine, so als hätten sie nicht mehr Bedeutung als welke Blätter. Noch verzichteten sie darauf, das Feuer zu er-
öffnen.
Im Prismapalast nahm Jora'h seine ganze Kraft zusammen. Diesmal konnte er nicht auf Osira'hs Kommunikationsdienste zurückgreifen, aber es bedeutete auch, dass die Hydroger ihre seltsame Verbindung mit Osira'h nicht benutzen konnten, um seine Pläne auszuspionieren.
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Der Weise Imperator erhob sich aus seinem Chrysalissessel und verließ den Audienzsaal mit den Wächtern und Bediensteten. Er bestieg einen der höchsten Türme und bewegte sich dabei wie ein Mann, dem die Begegnung mit seinem Henker bevorstand.
»Ich bin das Oberhaupt aller Ildiraner«, sagte er sich. »Mit meinen Händen und Gedanken kontrolliere und schütze ich ein jahrtausendealtes Reich.
Ich werde tun, was getan werden muss, um unsere Zivilisation zu schützen.« Ganz gleich, welchen Preis ich dafür zu zahlen habe.
Sein Vater wäre sofort damit einverstanden gewesen, bei der Auslöschung der Menschheit zu helfen, ohne zu zögern und ohne Gewissensbisse. Der Weise Imperator Cyroc'h hatte zum Wohle des Reiches viele verwerfliche Dinge getan.
Aber ich bin nicht wie mein Vater. Noch nicht.
Ganz allein stand er oben auf dem höchsten Turm und wartete im hellen Schein von sechs Sonnen am Himmel. Die schimmernden Kugelschiffe der Hydroger fielen dem Prismapalast entgegen, und Jora'h gewann den Eindruck, dass eine riesige Faust über ihm schwebte, dazu bereit, ihn zu zerschmettern, und mit ihm den Palast und die ganze Stadt.
Jora'h wusste, dass patrouillierende Schiffe der Solaren Marine von Schlachten in der Nähe von Sternen berichtet hatten, von wilden Kämpfen zwischen Faeros-Feuerbällen und Kugelschiffen der Hydroger. Der Krieg gegen die Faeros schien die Hydroger nicht so sehr zu beschäftigen, dass sie ihre anderen Drohungen vergaßen.
Das erste Kugelschiff verharrte auf der Höhe des Balkons, und eine kleine Kugel löste sich wie ein Tautropfen davon. Darin befand sich ein einzelner Hydroger, wieder in der Gestalt des bereits bekannten Roamers. War dies de
l
r g eiche Gesandte, der die ursprünglichen Forderungen überbracht hatte, oder ein anderer? Eigentlich spielte es gar keine Rolle.
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Eine volltönende Stimme kam aus der Druckkapsel. »Unsere Pläne sind klar wie Kristall, und bald wird Ihre Unterstützung erforderlich.«
Es blieb Jora'h nichts anderes übrig, als sich zu fügen, aber er musste nicht den Eindruck erwecken, sich darüber zu freuen. »Wie lauten Ihre Anweisungen?«
»Wir schicken eine kleine Gruppe von Kugelschiffen, um die Menschen auf der Erde anzugreifen, aber wir überlassen es Ihnen, sie alle zu vernichten.«
»Sie alle? Das irdische Militär ist so mächtig wie die Solare Marine.«
»Nicht mehr. Die Menschen sind durch ihre eigenen Kompis geschwächt worden. Ihre Schiffe und Waffen sollten genügen.«
Jora'h brauchte einige Sekunden, um die Informationen zu verarbeiten.
»Warum sollten sich die Kompis gegen die Menschen wenden?«
»Sie waren darauf programmiert. Unsere Verbündeten, die Klikiss-Roboter, hassen die Menschheit, weil die Menschen ihre eigenen intelligenten Roboter geschaffen haben.«
Jora'h sah einen vagen Hoffnungsschimmer. »Ildiraner haben nie intelligente Maschinen gebaut. Das haben wir den Klikiss-Robotern vor langer Zeit versprochen. Warum wird mein Volk bedroht?«
»Ihr Volk ist irrelevant. Sie können nur dann der Vernichtung entgehen, wenn Sie uns bei dieser kleinen Angelegenheit helfen. Wir haben eine Vereinbarung mit den Klikiss-Robotern.«
»Sie hatten auch eine Vereinbarung mit uns.«
»Deshalb werden wir Ihr Volk nicht auslöschen, vorausgesetzt Sie erfüllen Ihre Aufgabe.« Der Gesandte fügte unheilvoll hinzu: »Kugelschiffe werden zu anderen ildiranischen Planeten fliegen, um Ihre Kooperation zu garantieren.«
Und dann, mit emotionsloser Stimme, erläuterte der Ge 197
sandte der Hydroger das Ende der Menschheit. Er erklärte, wie die Solare Marine die Menschen täuschen und sich in dem Moment gegen sie wenden würde, in dem sie besonders verwundbar waren.
Kalter Wind wehte Jora'h ins Gesicht. Die Kälte breitete sich in ihm aus, und ihm blieb nichts anderes übrig als zuzuhören.
69 ZAN'NH
Unmittelbar nach dem Verschwinden der Hydroger versuchte Zan'nh, ganz in seinen gewöhnlichen Pflichten aufzugehen. In diesen Zeiten war er sowohl Adar als auch agierender Erstdesignierter, und er fühlte sich in beiden Rollen nutzlos. Seine Solare Marine - vier volle Kohorten über Ildira -
hatte sich den bedrohlichen Kugelschiffen der Hydroger nicht einmal entgegenstellen dürfen!
Eine neue Frau präsentierte sich in den Gemächern, die dem Erstdesignierten für seine Fortpflanzungspflichten zur Verfügung standen.
Sie stammte aus dem Erinnerer-Geschlecht, war auf ihre Weise attraktiv und intelligent. Ihr Gesicht wirkte wie eine Skulptur aus dicken Hautlappen, die komplexe Emotionen zeigen konnten. Als Zan'nh sie liebte, beobachtete er ihre emotionalen Reaktionen und reagierte seinerseits darauf. Er wusste, dass die goldenen und grünen Töne ihrer Haut Freude anzeigten.
Er war nicht dazu geboren, der Erstdesignierte zu sein, aber der Weise Imperator erwartete von ihm, dass er trotzdem diese Aufgaben wahrnahm.
Natürlich waren sie nicht unangenehm, aber sie brachten auch Pflichten mit sich. Zan'nh begann bereits, die Namen der viele Frauen zu ver 198
gessen, die sich ihm begierig anboten. Als reinblütiger Adliger wäre es ihm vielleicht leichter gefallen, doch die Hälfte seiner Gene stammte aus dem Soldaten-Geschlecht, und deshalb kam er mit Taktik und Kommando besser zurecht als mit einer Romanze. Zum Glück schienen sich die Kandidatinnen nicht daran zu stören.
»Sie ehren mein Geschlecht«, sagte die Erinnerin mit einem Hauch Himmelblau in ihrem Gesicht. »Ich bin sicher, dass ich Ihnen ein gesundes Kind schenken werde.«
Zan'nh dachte daran, mit den Fingerkuppen über ihr Gesicht und die Schultern zu streichen, aber es fühlte sich seltsam für ihn an. Als Erstdesignierter hatte sein Vater die Frauen großzügig beschenkt, und Bedienstete hatten Geburten und Lebenswege der gezeugten Kinder aufgezeichnet. Zan'nh hätte sich lieber mit militärischen Angelegenheiten beschäftigt als mit diesen Dingen. Besonders jetzt - er musste einen Weg finden, die Hydroger zu besiegen!
»Es ist wichtig für uns alle, dem Ildiranischen Reich gegenüber unsere Pflicht zu erfüllen.«
Die Frau streifte ihre dünne, bunte Kleidung über, verneigte sich und verließ die Gemächer. Draußen im Korridor warteten Angehörige des Mediziner-Geschlechts, die sie untersuchten, und Beamte schrieben alles auf. Berater aus dem adligen Geschlecht wählten Kandidatinnen aus und bestimmten, welche Frau am nächsten Tag zu Zan'nh durfte.
Der Adar seufzte. Er fühlte sich nicht für derartige Aufgaben bestimmt.
Dass sein Bruder Thor'h den Weisen Imperator und das Reich verraten hatte, konnte er ihm nie verzeihen, und es befriedigte ihn keineswegs, befördert worden zu sein und Thor'hs Platz einzunehmen. Die Schwängerung all dieser Frauen ... Zan'nh wünschte sich, jemand anders wäre damit beauftragt gewesen. Seine Gedanken galten vor allem sche
takti
n Angelegenheiten.
Es stand ihm nicht zu, die Weisheit der Entscheidungen 198
in Zweifel zu ziehen, zu denen sein Vater durch die Hydroger gezwungen war. Die Terranische Verteidigungsflotte verraten und zerstören? Zan'nh hatte immer Unbehagen in Hinsicht auf die Menschen und ihr Ungestüm empfunden, mit dem sie von Planet zu Planet schwärmten. Von Adar Kori'nh wusste er, wie die Menschen die Seuche auf Crenna ausgenutzt hatten, um Anspruch auf jene Welt zu erheben, noch während die Solare Marine überlebende Ildiraner evakuierte. Zan'nh hatte beobachtet, wie unverschämte Menschen eine Himmelsmine in der Atmosphäre des ildiranischen Planeten Qronha 3 in Betrieb nahmen, ohne um Erlaubnis zu fragen.
Andererseits hatten die Menschen auch überraschenden Altruismus gezeigt. Sullivan Gold hatte viele Leben riskiert und verloren, um Ildiraner zu retten, als Hydroger die Himmelsminen über Qronha 3 angriffen. Ein so selbstloses Verhalten verdiente Aufnahme in die Saga der Sieben Sonnen, aber stattdessen waren jene tapferen Menschen an der Heimkehr gehindert worden. Zan'nh hoffte, dass sie einen Durchbruch erzielen konnten, zu dem Ildiraner nicht in der Lage waren.
Als er die Zeugungsgemächer verließ, eilte ein Kurier auf ihn zu. »Adar ...
Erstdesignierter! Der Weise Imperator möchte Sie unverzüglich sprechen!«
Zan'nh folgte dem atemlosen Mann.
Im Audienzsaal der Himmelssphäre herrschte bei den Höflingen und Beamten hektische Aktivität. Jora'h trat die Stufen des Podiums herunter und ihm entgegen. Zan'nh verbeugte sich und grüßte förmlich.
»Adar, die Hydroger haben ihre Anweisungen übermittelt, und Kuriere sind unterwegs, um meine Befehle zu überbringen. Ich habe bereits eine richt nach Dobro ge
Nach
schickt. Osira'h soll sie hören, für den Fall, dass die ydrog
H
er durch sie lauschen.«
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Zan'nh hob den Blick von den glänzenden Stufen unter dem Chrysalissessel. »Wie kann ich helfen, Herr?«
»Flieg sofort zur Erde und bring dem König folgende Botschaft ...«
7 0 VORSITZENDER BASIL WENZESLAS
Im stillen medizinischen Bereich des Flüsterpalastes wartete Basil zusammen mit seinem Stellvertreter Cain und OX. Sarein hatte den Vorsitzenden begleiten wollen, aber Wenzeslas hatte es ausdrücklich verboten. Er wollte nicht, dass sie dies sah. Selbst Captain McCammon schien inzwischen Sympathien für den König zu entwickeln - gaben denn alle so schnell auf? Basil musste der Sache ein Ende machen, und zwar sofort.
Prinz Daniel lag reglos und mit schlaffem Gesicht da, aber das würde sich bald ändern - es blieb Basil nichts anderes übrig, als ihn zu wecken. Medo-Spezialisten hatten bereits damit begonnen, den zuvor so aufsässigen Prinzen wieder zu beleben. Daniel stellte die nächstbeste Möglichkeit des Vorsitzenden dar. Für die andere Alternative hätte Basil zu viel Zeit gebraucht, und daran mangelte es ihm, an Zeit.
Daniel ist noch immer inakzeptabel, auch wenn er seit Monaten mit Albträumen bestraft wird, dachte Basil. Er legte die Hände auf den Rücken und blickte mit gerunzelter Stirn auf den blassen jungen Mann hinab. Aber er stellt das geringere von zwei Übeln dar.
Daniel war eine große Enttäuschung gewesen, doch er hatte sich Basils Politik nie direkt widersetzt. Er war nicht
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sehr intelligent und dachte vor allem an sich selbst, aber seine Aufgabe würde nur darin bestehen, zuzuhören und zu wiederholen, was man ihm auftrug. Mit Peter - beziehungsweise Raymond Aguerra, wie sein ursprünglicher Name lautete - hatte Basil jemanden gewählt, der zu intelligent war und zu viel Eigeninitiative zeigte. Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen.
Der Lehrer-Kompi stand stumm neben seinem einst dicklichen Schüler.
Nach einer notwendigen Erholungsphase sollte OX erneut versuchen, Daniel zu unterrichten.
Basil seufzte enttäuscht, nachdem Stimulanzien und Gegenmittel verabreicht worden waren und bevor sich der junge Mann regte. »Ich bin davon überzeugt, dass Prinz Daniel nie seine Lektion lernen wird, ganz gleich, wie viele Chancen und Warnungen er bekommt.« Er wanderte umher und beobachtete, wie Daniel zu zucken begann. Ein leises Stöhnen kam von den Lippen des noch immer bewusstlosen jungen Mannes. »Und was Peter betrifft... In der Öffentlichkeit gewinnt er beunruhigend viel Unterstützung. Selbst wenn er ganz klar gegen unsere Anweisungen handelt - die Bürger sind von allem begeistert, was er macht.«
»Sir, das Volk soll ihn bewundern«, sagte Cain. »Dazu ist der König da.
Bedeutet dies alles nicht, dass er seinen Aufgaben gerecht wird?«
»Er wird seinen Aufgaben nur dann gerecht, wenn er meine Anweisungen befolgt. Wir haben bei ihm zu gute Arbeit geleistet. Unter den derzeitigen Umständen brauchen wir gewiss niemanden, der uns Konkurrenz macht.
Peter hat die Kompi-Revolte zum Anlass genommen, in den Medien eine große Schau abzuziehen, ganz offensichtlich mit der Absicht, mehr Einfluss zu gewinnen. Zuvor hat er irgendwie die Nachricht von Estarras Schwangerschaft durchsickern lassen. Ich mag es nicht, wenn man mir die Entscheidungen abnimmt.« Basil schüttelte den Kopf. »Ich hätte 200
nie gedacht, mir einmal den stotternden, dummen König Frederick zurückzuwünschen.«
»Aber es ist alles gut ausgegangen, Vorsitzender.« Cain beharrte darauf, optimistisch zu sein. »Und er hatte recht in Hinsicht auf die Soldaten-Kompis. Es ist unlogisch, ihm das zur Last zu legen.«
»Dahinter steckt reine Opposition mir gegenüber. Je mehr Druck wir ausüben, desto weniger kooperativ ist er.«
»Vielleicht sollten wir es mit einer anderen Taktik versuchen«, erwiderte Cain. »Manchmal kommt man mit Druck allein nicht weiter.«
Diese Worte seines Stellvertreters schürten das Feuer des Zorns in Basil.
»Prinz Daniel ist meine neue Taktik.«
Als die Stimulanzien ihre Wirkung entfalteten, bewegte sich der Prinz, stöhnte und übergab sich. Die medizinischen Spezialisten eilten sofort herbei, säuberten und untersuchten Daniel. Die Finger des jungen Mannes zuckten, ebenso die Lider. Ein langes Ächzen entrang sich seiner Kehle. Er erbebte am ganzen Leib und würgte erneut, aber nach den vielen Wochen der intravenösen Ernährung war sein Magen praktisch leer.
Die Medo-Spezialisten ignorierten das Gespräch und konzentrierten sich ganz darauf, Daniel wieder zu Bewusstsein zu bringen. Der junge Mann stöhnte lauter und erwachte schließlich. Seine Haut war grau und feucht.
Als er die Lider hob, reichte der Blick seiner blutunterlaufenen Augen ins Leere. Er starrte zur Decke empor, ohne sie zu sehen. Mehrmals blinzelte er, wie um Schreckensbilder zu verscheuchen. »Wo bin ich?«, brachte er quiekend hervor.
Basil beugte sich vor und sah streng auf ihn hinab. »Du befindest dich in einem Zimmer, in dem über deine Zukunft entschieden wird. Dies ist deine letzte Chance.« Er wandte sich an die medizinischen Spezialisten, nahm den unange
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nehmen Geruch von Erbrochenem und Arzneien wahr. »Alles dauert länger als erwartet. Wir sind in meinem Büro. Geben Sie uns Bescheid, wenn Daniel sauber und wach genug ist, um zu verstehen, was wir ihm sagen.
Ich bin sehr beschäftigt; lassen Sie sich nicht zu viel Zeit.«
Als ein Teil der Benommenheit verschwunden war, saß Daniel in seinem Bett und sah aus wie ein zweimal mit einer defekten Heizplatte aufgewärmter Tod. Er hatte einen metabolischen Schock aufgrund des langen erzwungenen Komas hinter sich und zehn Minuten geschrien, als er wieder zu sich gekommen war.
Basil hatte diese Unannehmlichkeiten nicht gesehen. Ihm ging es nur darum, dass sich Daniel an die Qualen erinnerte. Die Arme des jungen Mannes waren festgebunden gewesen, mehr zur Erinnerung an seine Hilflosigkeit als eine Vorsichtsmaßnahme, denn er war zu schwach, um Schaden anzurichten.
Als Basil, Cain und OX zurückkehrten, entsann sich der in Ungnade gefallene Prinz genau daran, womit er sich die Strafe eingehandelt hatte. Er war so dumm gewesen, den Befehlen des Vorsitzenden zuwiderzuhandeln, den Flüsterpalast zu verlassen und sich in der Öffentlichkeit wie ein hirnloser Narr zu verhalten. Dafür war er mit dem künstlichen Koma bestraft worden, mit endlosen Albträumen und dem Verfall des Körpers.
Prinz Daniel würde nie vergessen, wie nahe er dem Tod gewesen war.
Der junge Mann bebte vor Furcht, als der Vorsitzende wortlos neben seinem Bett stand. Basil brauchte gar nichts zu sagen. Er drehte sich um, sah erst OX an und dann seinen Stellvertreter. »Mr. Cain, erinnern Sie mich daran, warum wir OX mitgenommen haben. In letzter Zeit hatten wir genug Probleme mit Kompis.«
»Sir? OX wurde Jahrhunderte vor den Soldaten-Kompis 201
mit der Klikiss-Programmierung gebaut. Er stellt keine Gefahr dar.«
»Aber warum ist er hier?«, beharrte Basil.
»Weil wir ihn für diese Sache brauchen. OX wird sich alle Mühe geben, einen anständigen Prinzen aus Daniel zu machen. Glauben Sie mir, Vorsitzender, so ist es am besten.«
Daniel atmete schnell und voller Angst, als er zuhörte, wie ihm OX die gegenwärtige Situation der Hanse schilderte. Der Kompi gab ihm eine Zusammenfassung der Ereignisse, zu denen es seit Beginn des künstlichen Komas gekommen war. Die Wirkung der Medikamente, die er bekommen hatte, ließ allmählich nach, zurück blieben ein allgemeines Elend und ein übler Geschmack im Mund des jungen Mannes. Und er war viel dünner als vorher.
Daniels Blick huschte zwischen Kompi und Vorsitzendem hin und her. Er blinzelte immer wieder, schüttelte den Kopf und versuchte zu begreifen, was um ihn herum geschah. Dankbar nippte er an einem Glas Fruchtsaft, nahm Elektrolyte und Zucker auf. Vermutlich wunderte er sich darüber, noch am Leben zu sein.
Als der Kompi mit den Erklärungen fertig war, stammelte Daniel: »Und ...
und was passiert jetzt mit mir?«
»Kommt darauf an. Du hast dich bereits als große Blamage erwiesen.« Bei diesen Worten zuckte Daniel zusammen. »Die Frage lautet: Können wir noch etwas mit dir anfangen, oder müssen wir dich ausrangieren? Mir wäre es lieber, nicht mit einem anderen Kandidaten von vorn beginnen zu müssen. Aber ich habe auch keine Lust, noch einmal Zeit mit dir zu verlieren, wenn dir dies alles keine Lehre gewesen ist.«
»Es ist mir eine Lehre gewesen!«
Basil musterte den ängstlichen jungen Mann und fragte sich, welche äume
Albtr
er im Schlaf erlebt hatte. »Bitte, lassen Sie mich hier raus.«
»Le ht g
ic
esagt. Aber hast du dich grundlegend geändert?
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Hast du deinen Platz in der Hanse begriffen?« Basils Stimme war so scharf wie ein Skalpell. »Wenn du uns erneut mit deiner Widerspenstigkeit zwingst, dich aus dem Verkehr zu ziehen, verwandeln wir dich in Dünger für einen Kolonialplaneten. Warum Energie für ein Lebenserhaltungssystem verschwenden?«
»Nein! Ich werde mich fügen. Das verspreche ich!«
Basil sah Daniel in die Augen. Der junge Mann war in eine Aura der Angst gehüllt.
»Kannst du ein besserer König sein als Peter?«
Daniel schluckte und nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Ich kann die richtige Art von König sein. Er hatte seine Chance. Jetzt bin ich an der Reihe.«
»Du bist an der Reihe, wenn ich es sage.«
»Dann sagen Sie es, Vorsitzender. Bitte.« Daniels Lippen bebten. »Bitte töten Sie mich nicht. Ich möchte ein Prinz sein - der Prinz.«
»Ich suche nicht nach einem Prinzen, Daniel.« Basil ging ums Bett herum.
»Ich brauche einen neuen König.«
»Ich verfüge über die notwendigen Lehrprogramme, Vorsitzender Wenzeslas«, warf OX ein. »Nötig ist nur die Kooperation meines Schülers.«
Basil bedachte den Kompi mit einem verärgerten Blick. »Du solltest nicht zu sehr von dir eingenommen sein, OX. Immerhin hast du auch Peter unterrichtet.«
Daniel sah zu dem Kompi, den er zuvor gehasst hatte. »Ich verspreche, dass ich alles tun werde, was OX mir sagt! Ganz bestimmt!«
Die völlige Kapitulation des jungen Mannes und seine Versprechen waren ein gutes Zeichen - Peter hatte nie eine derartige Unterwürfigkeit gezeigt, t e
nich inmal ganz zu Anfang. Als Daniel zu wimmern begann, runzelte der itze
Vors
nde die Stirn. »Hör auf damit. Das ist nicht sehr königlich.«
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Daniel saß steif auf dem Bett und zitterte erneut. In einigen Tagen sollte er wieder gehen können. Er fasste sich und erinnerte sich an die Dinge, die OX
ihn gelehrt hatte.
Basil nickte anerkennend und wandte sich mit einem Lächeln an Pellidor und Cain. »In Ordnung, Daniel«, sagte er zufrieden. »Du hast mich überzeugt.«
7 1 OSIRA'H
Ein vom Flüsterpalast geschicktes Kampfboot mit neunundvierzig Ildiranern erreichte Dobro. Der Kurier bat um ein Gespräch mit dem Designierten, ohne zu spezifizieren, ob er Daro'h oder Udru'h meinte.
Ildiraner und befreite Menschen waren zum Raumhafen gekommen, um das Geschehen zu beobachten.
Der Kurier ließ den Blick über die Versammelten schweifen und erkannte das Mischlingsmädchen. »Der Weise Imperator möchte, dass auch Osira'h meine Worte hört.«
Knapp eine Stunde später trafen sie sich in der privaten Residenz des neuen Designierten, und dort überbrachte der Kurier seine Botschaft. »Die Hydroger sind mit ihren Forderungen nach Ildira zurückgekehrt. Adar Zan'nh wird zur Erde fliegen und der Hanse ildiranische Kriegsschiffe anbieten. Er wird behaupten, den Menschen damit helfen zu wollen.«
»Und stimmt das nicht?«, fragte Udru'h.
»Es steht mir nicht zu, darüber zu befinden. Die meisten Kriegsschiffe der Solaren Marine sind nach Ildira zurückbeordert worden und bereiten sich auf einen großen Einsatz vor.«
Osira'h hörte mit stummem Zorn zu und fühlte ihr Herz 203
von einem Messer der Enttäuschung durchbohrt. Am liebsten hätte sie geweint, weil ihr Vater so schnell kapitulierte.
»Der Weise Imperator ist damit einverstanden?«, fragte Daro'h fast ungläubig.
»Nur auf diese Weise kann er das Reich retten«, sagte Udru'h schroff.
»Osira'h hat ihm dabei geholfen, dies zu erreichen.«
Osira'h sah das Lächeln ihres Onkels, und Übelkeit quoll in ihr empor.
»Warum wollte mein Vater, dass ich dies höre?«, fragte sie.
»Vielleicht glaubt der Weise Imperator, dass du dich über deinen Erfolg freust«, sagte Udru'h. »Vielleicht möchte er dir auf diese Weise zeigen, dass deine Arbeit und das Zuchtprogramm einen Sinn hatten.«
Osira'h musste sich zwingen, ihn nicht böse anzustarren.
Sie fühlte eine Verbindung in ihrem Kopf und wusste, dass sie immer noch die Möglichkeit hatte, mit den Hydrogern zu kommunizieren. Aber sie schirmte sich ab und weigerte sich, die Fremden aus den Tiefen von Gasriesen an diesen neuen Informationen teilhaben zu lassen. Sie hoffte, jene erschreckend fremdartigen Gedanken nie wieder berühren zu müssen.
Wenn Udru'h Dinge vor dem Weisen Imperator geheim halten konnte, so war sie den Hydrogern gegenüber ebenfalls dazu imstande.
Osira'h wandte sich an Daro'h. »Du hast die Zäune einreißen lassen, Designierter. Du hast die Menschen des Zuchtlagers frei gelassen. Willst du ihnen jetzt mitteilen, dass der Rest ihres Volkes zum Untergang verurteilt ist? Oder lässt du sie fröhlich weiterarbeiten, bis die Hydroger kommen und sie alle töten?«
Daro'h hob die Hände. »Ich kann das, was die Hydroger vorhaben, nicht bee
e
influss n.«
»Es hat keinen Sinn, den Menschen etwas mitzuteilen, 203
das sie nur beunruhigen würde.« Udru'h sah den Kurier an. »Ihr Schiff kehrt bald nach Ildira zurück, mit mir an Bord. Meine Arbeit auf dieser Welt ist getan, und der Weise Imperator braucht meine Unterstützung. Ich kann ihm bei schwierigen Angelegenheiten mit meinem Rat helfen.«
Als Dobros Dunkelheit die Ildiraner in ihre hell erleuchteten Unterkünfte zwang, versammelten sich die früheren Zuchtobjekte. Die Nachkommen der Burton-Siedler sprachen leise miteinander.
Das Gemeinschaftsgebäude war sauber geschrubbt und mit neuen Betten und Einrichtungsgegenständen ausgestattet worden. All die Männer, Frauen und ihre reinblütigen Kinder hatten nun die Möglichkeit, Gebäude außerhalb der ildiranischen Siedlung zu errichten. Sie konnten Familien gründen mit den von ihnen ausgesuchten Partnern - es ging nicht mehr darum, welche genetischen Muster am besten zu wem passten. Aber nur weil Daro'h die Zäune niedergerissen hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass die Menschen frei waren.
Osira'h wusste jetzt, dass ihre hoffnungsvolle Zukunft nur eine grausame Illusion war. Sie hatte versucht, an einem Rest von Optimismus festzuhalten, aber dann war es zu der befürchteten großen Enttäuschung gekommen. Die Botschaft des Kuriers kam dem Tropfen gleich, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der Menschheit stand das Ende bevor, und diese ehemaligen Gefangenen sollten wenigstens die Wahrheit kennen.
Nach so langer Zeit.
Der neue Designierte hatte ihnen nie die geheimen Aufzeichnungen und Bilder vom riesigen Generationenschiff gezeigt, mit dem ihre Vorfahren von der fernen Erde gekommen waren. Diese Menschen wussten nicht, warum die Ildiraner ihrem Genpool menschliche Gene hinzugefügt hatten, in der nung, dass irge
Hoff
ndwann ein telepathischer Mittler
204
zur Welt kam. Und eigentlich war das ganze grausame Zuchtprogramm unnötig gewesen.
Meine Eltern haben durch Liebe erreicht, was Zucht und genetische Sklaverei nicht zu leisten vermochten.
Und wozu? Damit Osira'h bei der Auslöschung der Menschheit mithelfen konnte.
Selbst Nira hörte entsetzt zu, als ihre Tochter die ganze Geschichte erzählte und auch von Jora'hs jüngster Entscheidung berichtete. Die Nachkommen der ßurton-Siedler waren über viele Jahre hinweg missbraucht worden, aber jetzt erfuhren sie, dass man sie von Anfang an belogen hatte. Sie waren Werkzeuge, dafür benutzt, das Ende der eigenen Zivilisation herbeizuführen.
»Die große Frage lautet: Was machen wir jetzt?«, sagte Stoner.
»Wir sollten dem neuen Dobro-Designierten dankbar sein«, meinte eine ältere Frau. »Unser Leben ist viel besser geworden. Die anderen Dinge entziehen sich unserer Kontrolle.«
»Und das genügt?«, erwiderte Osira'h zornig. Sie sah die anderen an und versuchte, sie anzustacheln. Diese Leute waren in Gefangenschaft aufgewachsen und kannten nichts anderes als Zäune, Mühsal und Leid.
»Man wird euch nie gestatten, Dobro zu verlassen. Wahrscheinlich wird man euch töten wie alle anderen Menschen.«
»Aber jetzt sind wir frei«, sagte ein kahl werdender Mann. »Wir alle haben gehört, was der Designierte versprochen hat.«
Nira wandte sich voller Kummer von der Dunkelheit jenseits des Fensters ab. »Können wir den Worten des Designierten trauen? Denken Sie nur daran, was Udru'h mit mir und Ihnen angestellt hat. Und Jora'hs neue e
Plän ...« Sie schloss die Augen. »Es darf nicht wahr sein.«
Osira'h berührte ihre Mutter am Arm. »Es ist wahr.«
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Sie spürte einen Stimmungswandel, als die Leute das ganze Ausmaß ihrer Situation begriffen. Zwischen Zorn und Ungläubigkeit hin und her gerissen versuchten sie, den Drang nach Rache mit ihrem Wunsch nach Frieden, Freiheit und einem neuen Anfang in Einklang zu bringen.
Stoner knirschte mit den Zähnen und senkte den Kopf. »Aber was sollen wir unternehmen? Wir wissen nicht, wie man kämpft. Wie können wir auf irgendetwas Einfluss nehmen? Sollen wir zum Designierten Daro'h gehen und verlangen, dass er etwas unternimmt?«
Nira hob die Stimme. »Daro'h ist zwar der neue Designierte, aber die Verantwortung trifft nicht ihn.«
Osira'h schloss die Augen und drängte ganz bewusst die liebevollen Erinnerungen an ihren Onkel und Mentor beiseite - all das, was von den angenehmen Zeiten übrig geblieben war, jedes Zeichen von Liebe, das Udru'h ihr gegenüber gezeigt hatte. Er würde bald nach Ildira aufbrechen und hatte Osira'h für den nächsten Tag zu einem Abendessen eingeladen.
Das war der perfekte Zeitpunkt für die Menschen, aktiv zu werden. Die ehemaligen Gefangenen mussten sich schnell auf einen Plan einigen.
»Wir alle wissen, wer das Zuchtprogramm geleitet hat«, sagte Osira'h. »Wir wissen, wer die Verantwortung trägt.«
7 2 SULLIVAN GOLD
Im Maschinenraum des ildiranischen Kriegsschiffs brummte der Sternenantrieb, und hinzu kamen die Stimmen der Besatzungsmitglieder.
Seitdem die Hydroger mit ihren schrecklichen Forderungen zurückgekehrt waren, herrschte eine hohe Alarmbereitschaft. Doch soweit Sullivan es beurtei
205
len konnte, stellten es die Ildiraner noch immer nicht richtig an.
Der Ingenieur Shir'of forderte ihn und Tabitha mit einem Wink auf, ihm zum Triebwerk zu folgen. Sie gingen eine metallene Treppe hinunter, vorbei an gewölbten Reaktortanks und mit heißem Ekti gefüllten Zirkulationszyindern. Shir'of zeigte ihnen alles, jedes Deck, jeden einzelnen Raum. Unterwegs begegneten sie hunderten von Besatzungsmitgliedern, mindestens dreimal mehr als Sullivan für erforderlich hielt. In dem ständigen Lärm rieb er sich die Schläfen, dachte immer wieder an Lydia und seine Kinder und Enkel. Wie sehr er sie vermisste!
Wenn uns hier etwas einfällt, lassen uns die Ildiraner heimkehren.
Vorausgesetzt der Adar hält sein Wort.
Tabitha nahm die Details mit einer Mischung aus Faszination und Verachtung auf. Inzwischen versuchte sie nicht mehr, sich mithilfe des ildiranischen Datenschirms Notizen zu machen. Sie hob das Gerät. »Dieses Ding ist vermutlich das gleiche Modell, das man schon vor zweihundert Jahren verwendete.«
Shir'of lächelte und schien es als Kompliment zu verstehen. »Als wir den höchsten Entwicklungsstand unserer Technik erreichten, waren weitere Verbesserungen nicht mehr nötig.« Er übersah den Fehler in seiner Argumentation.
»Und jetzt steckt ihr in Schwierigkeiten«, sagte Tabitha. »Nachdem ihr über viele Generationen hinweg Däumchen gedreht habt, wisst ihr gar nicht mehr, wie man Neues schafft.«
Als sie den Kommando-Nukleus erreichten, verzichtete Adar Zan'nh auf Förmlichkeiten. »Zeigen Sie mir Ihre Innovationen. Die Zeit wird immer knapper. Ich bin angewiesen, sofort zur Erde zu fliegen, und wenn Sie keine Alte nativ
r
e für uns finden, bevor ich zurückkehre ...« Er ließ das Ende des Satzes offen.
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»Wir hatten nur einige Tage, um darüber nachzudenken«, sagte Sullivan.
»Ja, und ich brauche normalerweise eine Woche, um einen unbesiegbaren Feind zu schlagen«, fügte Tabitha spitz hinzu. »Himmel, ich kann mir nicht in ein paar Tagen eine Wunderwaffe einfallen lassen, Konstruktionspläne für sie zeichnen und sie bauen.«
Sullivan sah sie an. »Genau das müssen wir aber tun.«
Tabitha ließ die Fingerknöchel knacken und konzentrierte sich auf das Problem. Auf dem Hauptschirm kennzeichneten leuchtende Punkte tausenddreihundert Kriegsschiffe im Orbit von Ildira. Sie stammten aus allen Sektoren des Ildiranischen Reiches. »Wir müssen also mit dem zurechtkommen, was wir haben. Wie können wir die Solare Marine auf eine andere Weise nutzen?«
Sullivan beobachtete die ständige Aktivität im Kommando-Nukleus.
Angehörige der Solaren Marine bedienten die Kontrollen der Konsolen, kamen und gingen. Auf der Brücke des ildiranischen Schiffs herrschte so reger Betrieb wie auf einer verkehrsreichen Straße.
»Ich habe mir Folgendes überlegt.« Tabitha biss sich auf die Unterlippe.
»Mir ist nur eine Möglichkeit bekannt, ein Kugelschiff der Hydroger zu erledigen, von den Waffen der Faeros mal abgesehen: Man muss es rammen, so wie es jener ildiranische Kommandeur gemacht hat. Sie haben nicht zufällig tausend leere Schiffe, die Sie dem Feind entgegen schleudern können, oder?«
Zan'nh hörte keinen Humor in diesen Worten. »Sie müssen nicht unbedingt leer sein. Die Solare Marine besteht aus sieben Kohorten. Als letztes Mittel werden wir unsere Kriegsschiffe auf die von Ihnen beschriebene Weise verwenden.«
Sullivan dachte daran, dass er in der Solaren Marine bisher nichts gesehen hatte, das sich auch nur entfernt mit
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Kompis vergleichen ließ. »Die Besatzungen Ihrer Schiffe sind sehr groß.
Haben Sie keine automatischen Systeme, um bei einem Kampf die Verluste irgendwie in Grenzen zu halten?«
Der Adar schüttelte den Kopf. »Das Ildiranische Reich hat keine intelligenten Maschinen, Roboter oder kompetente computerisierte Helfer.
Das gehörte zu der Vereinbarung, die wir vor langer Zeit mit den Klikiss-Robotern schlossen.« Sein Gesicht war steinern. »Eine weitere schlechte Übereinkunft.«
»Alles muss per Hand erledigt werden?«, fragte Sullivan ungläubig.
»Es mangelt uns nicht an Arbeitskräften.«
Tabitha rollte mit den Augen. »Als sich Adar Kori'nh mit all den Schiffen dem Feind entgegenwarf... Hatte jedes von ihnen eine volle Crew an Bord?«
»Eine minimale Crew«, sagte Zan'nh. »Es gab keine andere Möglichkeit.«
Sullivan fragte sich, wie viele Personen der Adar mit »minimal« meinte.
Tabitha wölbte die Brauen. »Haben Sie jemals etwas von einem
>Autopiloten< gehört?«
7 3 KOLKER
Hoch oben auf einem der Türme des Prismapalastes hatte der grüne Priester fast das Gefühl, im Blätterdach des Weltwalds auf Theroc zu sitzen.
Seine Haut nahm das warme Licht vieler Sonnen auf.
Seit ihm im Raum des Weisen Imperators der Schössling genommen worden war, fand er an nichts mehr Freu
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de. Er hatte jede mögliche Verbindung mit dem Weltwald verloren. Der Schössling lebte nicht mehr. Der Weise Imperator war zweifellos ein Ungeheuer, und gewisse Anzeichen deuteten darauf hin, dass weiterer Verrat bevorstand.
Zahlreiche Schiffe zogen am Himmel über Mijistra ihre Bahnen. Es herrschte rege Aktivität - die ganze Bevölkerung von Ildira schien an einem großen Unternehmen beteiligt zu sein. In Gruppen formierte Angriffsjäger flogen komplexe Manöver. Normalerweise hätten Ildiraner den Himmels-paraden applaudiert, doch jetzt waren sie alle beschäftigt. Hoch im Orbit hatten die Tals Lorie'nh und Tae'nh damit begonnen, die Kriegsschiffe der Solaren Marine vorzubereiten, die zur Erde geschickt werden sollten.
Sullivan, Tabitha und die meisten anderen gefangenen Himmelsminenarbeiter waren beschäftigt. Kolker hatte sich nie zuvor so allein und von allem getrennt gefühlt.
Der alte Ildiraner des Linsen-Geschlechts trat auf den Turm und leistete dem grünen Priester Gesellschaft, ohne dazu eingeladen zu sein. Kolker fragte sich, ob ihre Begegnung Zufall war oder ob Tery'l ihn gesucht hatte.
Gemeinsam blickten sie über den Wald aus kristallenen Gebäuden.
Kolker wollte in Ruhe gelassen werden, andererseits sehnte er sich nach einem Gespräch. Er wusste nur nicht, wie er mit diesem seltsamen, hyperreligiösen Ildiraner reden sollte. »Ich fühle mich allein«, platzte es aus ihm heraus. »Ich habe mich nie so allein gefühlt.«
»Ich bin nie allein.« Der alte Ildiraner blickte mit milchigen Augen zum Himmel hoch, obwohl der Sonnenschein so hell war, dass Kolker ihn nicht ertragen konnte, ohne zu blinzeln. »In meinem Alter werden die Augen neb-lig. Mein Sehvermögen lässt nach, und ich muss direkt in die Sonnen sehen, um ihr Licht zu empfangen. Doch die Lichtquelle bleibt hell in mir.
Die ee
S lenfäden halten mich
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warm und zufrieden.« Mit einer knorrigen Hand tastete er nach dem schimmernden Medaillon am Hals. »Es stimmt mich traurig, dass Sie nicht das Thism fühlen können, Freund Kolker. Wenn Sie in der Lage wären, uns alle durch das mentale Netz zu berühren, würden Sie sich nie allein fühlen.«
Kolker wandte sich ab. »Ich weiß, was mir die Einsamkeit nehmen würde, und es ist nicht Ihr Thism.« Zwar wünschte er sich sehnlichst ein Gespräch, aber es fiel ihm trotzdem schwer, mit jemandem zu reden, der so selbstzufrieden war.
Der Ildiraner des Linsen-Geschlechts spürte, dass er nicht willkommen war, und stand langsam auf. »So würden Sie nicht denken, wenn Sie verstünden, was ich meine.«
Kolker seufzte. Da der Alte schon mal da war, konnte er ihm auch zuhören.
Vielleicht lenkte es ihn von seinen Problemen ab. »Bleiben Sie und erzählen Sie mir davon.« Der grüne Priester konnte die Bitterkeit nicht aus seiner Stimme fernhalten. Immer wieder dachte er an den verlorenen Schössling.
»Erzählen Sie mir vom Thism.«
Und Tery'l erklärte ihm das mentale Netz der Ildiraner.
74 NIRA
Nachdem Osira'h zur Residenz des früheren Designierten gegangen war, um vor seiner Abreise mit ihm zu Abend zu essen, arbeiteten Nira und die anderen ehemaligen Gefangenen an den letzten Details der Pläne. Udru'h gab vor, das Mischlingsmädchen zu vermissen, und er glaubte, dass a'h we
Osir
gen seiner Abreise traurig war. Der ekelhafte Mann wollte Dobro e
hint r sich lassen und alle seine Ver
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brechen unter den Teppich kehren, als hätten sie nie existiert.
Nira hasste ihn für das, was er ihr angetan hatte, sowohl physisch als auch psychisch. Als sie damals ihre Schwangerschaft bemerkt hatte, war sie erst so glücklich gewesen. Osira'h war Jora'hs Kind, in Liebe empfangen - eine neue Erfahrung für den Erstdesignierten, dessen Aufgabe darin bestand, seine Gene in allen ildiranischen Geschlechtern zu verbreiten. Sie hätten ihre gemeinsame Tochter im Prismapalast aufgezogen, mit all der Zuneigung, die sie brauchte. Stattdessen war ihnen dies auferlegt worden.
Als Nira gehörte hatte, was Jora'h zusammen mit den Hydrogern in Hinsicht auf die Menschheit plante, begann sie an ihm zu zweifeln. In den Jahren ihrer Gefangenschaft hatte sie sich an ihrem Bild von Jora'h festgeklammert. Sie hatte ihn geliebt, doch jetzt sah sie ihn immer mehr als nur Weisen Imperator, als jemanden, dessen Herz gestorben war, als er im Chrysalissessel Platz genommen hatte.
Die unruhigen, zornigen Menschen des Zuchtlagers hatten sich an diesem Abend in einem Gebäude versammelt, und es oblag Nira, sie anzuführen.
Sie würden den Ildiranern das ganze Ausmaß ihres Zorns zeigen.
Nira sprach mit fester Stimme. »Durch die Freilassung habt ihr eine Macht bekommen, von der die Ildiraner nichts ahnen. Über viele Generationen hinweg hielten unsere Peiniger euch für schwach und hilflos. Heute Abend könnt ihr ihnen zeigen, dass ihr euch nicht länger missbrauchen lasst.
Heute Abend brennen wir das Alte nieder, beseitigen die Narben und pflastern den Weg für einen neuen Anfang. Wir werden sehen, ob der Designierte Daro'h zu seinem Wort steht.«
Nira sah zu den Mischlingskindern, die neben den Betten warteten. Sie e
hatt sie aus ihren Quartieren in der ildiranischen Siedlung geholt, ohne dass jemand Einwände erhob.
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Die Ildiraner der verschiedenen Geschlechter überwachten sie nicht mehr, seit Daro'h das Lager für offen erklärt hatte. Die Kinder waren einfach Überbleibsel eines aufgegebenen Programms.
Stoner bemerkte Niras Blick. »Sind sie hier sicher? Was geschieht, wenn Wächter kommen?«
»Es ist wichtig, dass sie dies sehen. Es ist mehr als nur ein Symbol.« Osira'h hatte ihren jüngeren Brüdern und Schwestern erzählt, dass ihre besonderen Fähigkeiten einem Reich helfen sollten, das das Volk ihrer Mutter auslöschen wollte. Selbst Rod'h hatte die Wahrheit in Osira'hs Worten erkannt. Die Kinder blieben jetzt bei Nira.
Die früheren Gefangenen verließen das Gebäude, wie eine Gruppe, die sich anschickte, in den Erosionsschluchten nach Opalknochen-Fossilien zu suchen. Sie trugen Zündvorrichtungen und improvisierte Fackeln.
Ildiraner liebten das Licht und hassten die Dunkelheit. An diesem Abend würden ihnen Nira und die anderen ein Lodern präsentieren, das sie bestimmt nicht so schnell vergaßen.
Sie versammelten sich vor den leeren Zuchtbaracken. Die im Lager aufgewachsenen Menschen kannten nichts anderes, aber auch sie hassten diese Gebäude. Nira nahm die erste Fackel und hielt sie an die nächste Holzwand. »Brennt sie nieder.«
Insgesamt waren es sieben große Baracken, jede von ihnen mit vielen Räumen, Symbole für Jahrhunderte des Leids. Flammenzungen leckten übers trockene Holz und breiteten sich schnell aus. Niras Kinder nahmen Anzünder, steckten damit weitere Holzwände in Brand, und auch die anderen halfen. Ein nächtlicher Wind kam auf, wie um das Feuer anzufachen. Nira beobachtete, wie die Flammen immer größer wurden. Die Zuchtbaracken brannten lichterloh, und Funken stoben empor.
Das große Feuer weckte schon nach kurzer Zeit die Auf 209
merksamkeit der Ildiraner in ihrer hell erleuchteten Siedlung. Glänzer erschienen zwischen den Gebäuden, in denen die Angehörigen des Meiziner- und des Linsen-Geschlechts wohnten.
»Dies genügt nicht!«, rief Benn Stoner. »Lasst uns auch die ildiranische Siedlung in Brand stecken. Die Arbeit unserer Vorfahren hat jene Gebäude geschaffen. Wenn es einen sauberen Anfang geben soll, müssen sie ebenfalls verschwinden.«
Der Vorschlag gefiel den zornigen Leuten. »Schlagt die Fenster ein!«, riefen sie. »Brennt die Gebäude nieder!« Sie liefen mit den Fackeln zur Siedlung.
Nira stellte besorgt fest, dass sie schnell die Kontrolle über die Menge verlor. »Nein! Wir haben bereits die Baracken in Brand gesetzt - mehr ist nicht nötig.«
Das Feuer breitete sich nicht nur im ehemaligen Zuchtbereich aus, sondern auch in den Herzen der Leute. »Wir zahlen es ihnen heim!«
Alle Baracken brannten, und die Flammen reichten weit gen Himmel. Nira begriff voller Kummer, dass sie den Mob nicht mehr kontrollieren konnte.
Sie fühlte sich elend.
Der neben ihr stehende Rod'h zog an ihrem Ärmel. Er sah, wie sie zur Siedlung blickte. »Gehen wir jetzt zu meinem Vater?«
In ihrem Schock hatte Nira ganz vergessen, wer Udru'h für den Jungen war.
»Ja, Rod'h«, sagte sie. »Jetzt gehen wir zu deinem Vater.«
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7 5 EHEMALIGER DESIGNIERTER UDRU'H
Eine frische Dosis Schiing zirkulierte in Thor'hs Adern und wirkte wie ein Sandsturm, der das Licht schluckte und es finster werden ließ. Die Droge isolierte den Verräter, trennte ihn vom Trost des Thism. Seit dem katastrophalen Ende von Rusa'hs Rebellion zeigte sein wächsernes Gesicht nicht die geringste Emotion.
»Du schläfst ruhig, Thor'h«, brummte Udru'h. »Und wir anderen müssen uns den Konsequenzen unserer Taten stellen.« Er wandte sich von dieser unerledigten Sache ab und ließ den komatösen früheren Erstdesignierten in seinem kahlen Zimmer zurück. Er musste Thor'h bald in Daro'hs neuer Residenz unterbringen. Aber nicht jetzt. Udru'h beabsichtigte, diesen Abend auf angenehmere Weise zu verbringen. Er hatte Osira'h zu einem letzten gemeinsamen Essen eingeladen, bevor er nach Ildira aufbrach.
Das Mädchen wartete bereits auf ihn. Steif saß es am Tisch, wie üblich schlicht gekleidet. Udru'h zögerte nur einen Moment. Er hatte dieses Mischlingskind fast wie seine eigene Tochter aufgezogen und ihm alles beigebracht, was es für die Erfüllung seiner Aufgabe wissen musste. Und Osira'h war bei ihrer Mission erfolgreich gewesen. An diesem Wissen konnte Udru'h festhalten, selbst wenn er für seine Arbeit auf Dobro nie ein Wort der Anerkennung bekam, selbst wenn ihn der Weise Imperator für die Lügen und das bestrafte, was er mit Nira gemacht hatte. Das Zuchtprogramm war wichtig gewesen.
Als er Platz nahm, eilten Bedienstete mit Getränken, Aperitifs und dampfenden Speisen herbei. Udru'h schaltete weitere Lampen ein, obwohl a'h offe
Osir
nbar nichts gegen die Düsterkeit einzuwenden hatte. Sie hatte vie e
l Z it bei ihrer
210
Mutter und den anderen menschlichen Zuchtobjekten verbracht. Aber in Wirklichkeit gehörte sie hierher, zu ihm.
Osira'h sah auf. »Soll ich dich noch Designierter oder Ehemaliger Designierter nennen?«
»Nenn mich Onkel.« Das Lächeln wirkte fehl am Platz in Udru'hs Gesicht.
Das Mädchen nahm die Antwort kommentarlos entgegen.
Man brachte ihnen Teller, und sie aßen schweigend. Keiner von ihnen zeigte Genuss an der Mahlzeit. Das eigene Unbehagen erschien Udru'h seltsam - sie hatten häufig zusammen gegessen.
»Dies erinnert mich daran, wie oft wir bei deinem Unterricht zusammengesessen haben.« Ein Gefühl des Verlustes suchte ihn heim, als er diese Worte sprach. »Als du jünger warst, hast du mir gefallen wollen.
Das ist noch gar nicht so lange her.«
Osira'h saß auf der anderen Seite des Tisches und sah ihn aus ihren großen Augen an. Sie war distanziert und verschlossen. »Für mich fühlt es sich wie tausend Jahre an.«
Udru'h konnte sich kaum vorstellen, was sie durchgemacht hatte. Wie war es gewesen, in die Tiefen eines Gasriesen zu sinken und dort mit den Hydrogern zu kommunizieren oder zu sterben? Was war mit Osira'hs Bewusstsein geschehen, als sie ihr Selbst den Fremden geöffnet hatte? »Ich bedauere die Probleme, mit denen du konfrontiert worden bist.«
»Es war notwendig«, sagte Osira'h schlicht. Ihre Stimme klang ein wenig schärfer, als sie fragte: »Tut dir leid, was du mit meiner Mutter gemacht hast?«
Udru'h runzelte die Stirn. Die grüne Priesterin war irrelevant, aber vermutlich hatte sie mit ihrer Tochter über schreckliche Dinge gesprochen.
»Auch das war nötig.«
Draußen kam es zu Unruhe. Udru'h hörte Schreie, die 211
Stimmen von Menschen. Er stand auf, eilte zum breiten Fenster und blickte über die ildiranische Siedlung hinweg zum ehemaligen Zuchtlager.
Flammen leckten dort empor -die alten Zuchtbaracken waren in Brand gesetzt worden! »Was machen die Menschen?« In der trockenen Jahreszeit und mit dem Wind konnte sich das Feuer schnell ausbreiten.
Eine Menge lief durch die Straßen und versuchte nicht, leise zu sein.
Erschrockene Ildiraner kehrten rasch in ihre Häuser zurück, doch die Menschen verfolgten sie. Mit scharfkantigen landwirtschaftlichen Werkzeugen zerstörten sie Straßenlampen. Dunkelheit breitete sich aus.
Dies war Wahnsinn! Udru'h lief los, um die Tür seiner Residenz zu verriegeln. »Bleib hier, Osira'h! Es ist eine Art Aufstand.« In dem Versuch, das Richtige zu tun, hatte Daro'h den Menschen zu schnell zu viel Freiheit gegeben. Udru'h hätte den jungen Designierten davor warnen sollen. Die ehemaligen Zuchtobjekte wussten mit ihrer plötzlichen Freiheit nicht umzugehen.
Osira'h trat ruhig und neugierig zum Fenster. Mit mobilen Glänzern versuchten drei ildiranische Wächter, eine Verteidigung zu organisieren, aber die Menschen schienen völlig außer Kontrolle zu sein. Wie Tiere fielen sie über die Ildiraner her.
Udru'h eilte zu dem Zimmer, in dem Thor'h lag. Er verachtete die Taten des Erstdesignierten, war aber verpflichtet, den jungen Mann zu schützen.
Wenn es allein nach ihm gegangen wäre, hätte er den verräterischen jungen Mann den Wölfen dort draußen vorgeworfen, auf dass sie ihn zerfleischten.
Doch der Weise Imperator hatte ihm klare Anweisungen gegeben, und Udru'h hatte seinen Bruder schon zu oft enttäuscht.
Er hob den vogelscheuchenartigen Körper hoch und trug ihn die Treppe hinunter in den Keller des Gebäudes. Der
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Raum unter seiner privaten Residenz, ein für den Notfall bestimmtes Schlupfloch, war das perfekte Versteck.
Anschließend hastete Udru'h wieder nach oben, rief nach den Wächtern, um eine Verteidigung gegen die rebellischen Menschen vorzubereiten.
Daro'h war zwar der neue Designierte, aber Udru'h konnte in einer Krise besser das Kommando führen. Er fragte sich, was Daro'h in seiner eigenen Residenz machte.
In der Hauptetage stand Osira'h vor dem Eingang des Gebäudes. Sie sah ihn an, lächelte ... und zog die Tür weit auf.
»Nein!«, rief Udru'h, aber er konnte sie nicht rechtzeitig aufhalten. Draußen wartete der Mob, und als sich die Tür öffnete, drang das zornige Gebrüll der Menschen herein.
76 ANTON COLICOS
Es überraschte Anton nicht, als sich der junge Ridek'h im beschädigten Zitadellenpalast niederließ. Yazra'h hatte ihn dazu ermutigt. Es war der Ort, an dem ein Designierter wohnen sollte. Ridek'h hatte sein Quartier selbst gewählt, und zwar nicht die Gemächer, in denen Rusa'h und seine Vergnügungsgefährtinnen gelebt hatten, und auch nicht die Räume, in denen sein Vater Pery'h gefangen gewesen war.
Baugruppen arbeiteten tagelang, rissen beschädigte Gebäude ab, machten Straßen frei und errichteten provisorische Unterkünfte.
In von künstlichem Licht erhellten unterirdischen Gewölben fanden die be e
id n Historiker die alten Archive intakt. »Es ist wie ein Grab voller e
Aufz ichnungen«, sagte Anton aufgeregt. »Was wir hier wohl finden?«
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»Viele Geheimnisse und Informationen, die es angeblich nicht wert waren, in die Saga aufgenommen zu werden.«
Einige breitschultrige Ildiraner aus dem Arbeiter-Geschlecht standen vor dem zugemauerten Eingang, dazu bereit, die Mauer einzureißen. Sie waren überhaupt nicht daran interessiert, was sich hinter ihr befand.
Yazra'h beobachtete, wie ihre Katzen unruhig durch den Gang liefen. »Kann ich euch hier allein lassen? Oder muss ich weiter bei euch bleiben?«
Anton lachte leise. »Es dürfte hier genug geben, um uns beschäftigt zu halten.«
Die Kriegerin zuckte mit den Schultern. Es schien sie zu erstaunen, dass sich zwei Männer darauf freuten, viele Stunden inmitten alter, staubiger Dokumente zu verbringen. Trotzdem schenkte sie Anton ein Lächeln.
»Finden Sie neue Geschichten für mich.«
»Ich könnte immer welche erfinden«, erwiderte er gedankenlos.
Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Ich möchte nur wahre hören.«
Anton bat Yazra'h, die Katzen zurückzulassen, als sie ging, um sich wieder um Ridek'h zu kümmern. Die gelbbraunen Tiere blieben gern bei ihm. »Es gibt nichts Schöneres, als in Gesellschaft einer Katze zu lesen«, sagte Anton. Ildiraner schienen das nicht zu verstehen.
Vao'sh erteilte Anweisungen, und die muskulösen Arbeiter schlugen mit schweren Keulen zu. Die durchsichtigen Steine der Barriere zersprangen, und Anton wich zurück, um nicht von umherfliegenden Splittern getroffen zu werden. Nach zwei weiteren wuchtigen Schlägen brach die Mauer zusammen.
»Vor langer Zeit wurden an diesem Ort Apokryphen untergebracht«, e
rt
rklä e Vao'sh. »Dokumente, die nie Teil der Saga der Sieben Sonnen waren für de
und
n Saal der Erinne
212
rer deshalb keinen historischen Wert hatten. Sie sind halb vergessen, und wir müssen jetzt in ihnen nach Informationen suchen, mit denen der Weise Imperator etwas anfangen kann.«
Die Arbeiter schaufelten Mauerteile beiseite, und Vao'sh trat mit einer mobilen Lampe ins Archiv. »Zahllose Dokumente, die seit Jahrtausenden niemand mehr gesehen hat! Es wartet reichlich Arbeit auf uns, Erinnerer Anton.«
Vao'sh griff nach einem Stapel perfekt erhaltener Diamantfilm-Blätter und schien den Tränen nahe zu sein. Er schickte die Arbeiter fort und reichte Anton ein weiteres Diamantfilm-Bündel. Der menschliche Gelehrte kehrte damit in den helleren Korridor zurück, blickte aufs oberste Blatt und betrachtete die ildiranischen Schriftzeichen. Für ihn waren sie ungewohnt verziert und archaisch. »Ohne Ihre Hilfe kann ich dies vielleicht nicht entziffern.«
Einige Bedienstete brachten auf Geheiß von Ridek'h weitere Glänzer und zwei Schreibtische - vermutlich Yazra'hs Idee. Anton wünschte sich, dass seine Mutter Gelegenheit gehabt hätte, sich mit diesen uralten Geheimnissen zu befassen. Margaret Colicos hätte ihrem Sohn sicher gern dabei geholfen, diese unbekannten Teile des ildiranischen Epos zu untersuchen. Anton hatte noch immer nichts von ihr gehört und fragte sich, ob sie noch lebte ...
Vao'sh und er nahmen sich die alten Dokumente vor. Der Weise Imperator hatte ihnen aufgetragen, nach Antworten auf Fragen zu suchen, die bisher noch niemand gestellt hatte. Die beiden Historiker arbeiteten eng zusammen, suchten nach Geheimnissen aus der Zeit des alten Krieges und Möglichkeiten, die Hydroger zu besiegen. Anton war sehr fasziniert, obwohl e
de
r an
m Nutzen der alten Aufzeichnungen zweifelte. Soweit er wusste, e
hatt sich der letzte große Konflikt für niemanden zum Vorteil entwickelt.
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In den unterirdischen Gewölben verlor Anton schon bald das Zeitgefühl -
die Isix-Katzen knurrten, wenn sie hungrig wurden. Nach einem Arbeitstag kam Yazra'h und richtete einen strengen, tadelnden Blick auf die beiden Historiker. »Ihr vergesst alles um euch herum! Esst! Schlaft! Wisst ihr, wie lange ihr schon hier unten seid?«
»Keine Ahnung«, sagte Anton.
Vao'sh sah nur kurz auf. »Bitte lassen Sie uns von den Bediensteten etwas zu essen bringen.«
Anton strich über den goldenen Kopfpelz der Isix-Katzen. »Und vielleicht sollten Sie die Katzen ins Freie bringen. Sie sind hier unten lange genug eingepfercht gewesen.«
»Ich sollte Sie ins Freie bringen, Erinnerer Anton. Und Ihnen Bewegung verschaffen.«
»Derzeit bin ich zu beschäftigt.«
Yazra'h schnaubte abfällig und ging mit ihren Katzen fort. Kurze Zeit später brachten Bedienstete Speisen.
Anton fühlte sich in einer anderen, isolierten Welt, getrennt von der Arbeit in der ildiranischen Kolonie. Vao'sh, die Finger und Hautlappen staubbedeckt, nahm sich ein Diamantfilm-Blatt nach dem anderen vor und las verblüffend schnell. Als er sich einem neuen Aufzeichnungsstapel zuwandte, schnappte er plötzlich nach Luft. »Geschichten aus der Verlorenen Zeit? So etwas sollte eigentlich gar nicht mehr existieren!«
»Jemand scheint klug genug gewesen zu sein, sie aufzubewahren.« Anton blickte auf die vor ihm liegenden Blätter: Testamente, Berichte von früheren Problemen mit den Hydrogern, Geschichten über die Faeros und sogar die Shana Rei. Er wusste nicht, wie er Fakten von Fiktion unterscheiden sollte.
Vao'sh hob ein Diamantfilm-Blatt so, als fürchtete er, sich daran die Finger zu verbrennen. »Geheimnisse in Geheimnissen innerhalb von Geheimnissen.« Die Färbung der Haut
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läppen brachte Abscheu zum Ausdruck. »Die Verlorene Zeit war nie wirklich verloren. Es sollten nur die Aufzeichnungen über den alten Krieg gegen die Hydroger versteckt werden. Wir glaubten, dass alle Erinnerer starben und jener Teil der Geschichte für immer in Vergessenheit geriet.
Aber das stimmt nicht! Der Weise Imperator brachte sein Volk dazu, den ganzen Konflikt nach einigen Generationen zu vergessen.« Vao'sh sah aus, als müsste er sich übergeben. »All die Dinge, die man mich lehrte ... Vieles davon entspricht nicht der Wahrheit. Das gilt auch für die Verlorene Zeit!«
Anton war daran gewöhnt, dass Historisches nachträglich geändert oder sogar erfunden wurde, und er fühlte sich davon nicht so angeekelt wie Vao'sh. Ganz im Gegenteil: Er spürte das Prickeln neuer Aufregung. »Sind deshalb die Shana Rei als Ersatzfeind erfunden worden? Um die Lücke in der aufgezeichneten Historie zu füllen?«
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« Vao'sh las den Text noch einige Male und legte das Blatt dann beiseite. Anton blickte über die Schulter seines Freunds und Kollegen. Der Erinnerer schien bestürzt zu sein und nicht noch mehr lesen zu wollen, doch die Anweisungen des Weisen Imperators zwangen ihn, tiefer zu graben, auch wenn er Dinge fand, die sein Weltbild erschütterten. Anton hatte Mitleid mit ihm.
Vao'sh starrte auf ein anderes Diamantfilm-Blatt und schien zu befürchten, dass es gleich in Flammen aufging. »Nach diesen Worten zu urteilen, Erinnerer Anton, haben die Shana Rei vielleicht tatsächlich existiert.«
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7 7 KONIG PETER
»Dieser Mistkerl!« Peter wusste, dass er eigentlich nicht überrascht sein sollte. »Dreimal verfluchter egoistischer Mistkerl! Er will uns umbringen.«
Der treue Lehrer-Kompi wartete vor König und Königin, die sich gerade seine Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Basil und Prinz Daniel angehört hatten. Seit Tagen stand Peter nach Basils Anweisungen im Königlichen Flügel praktisch unter Hausarrest, doch OX konnte sich frei im Flüsterpalast bewegen. Er hatte fast jedem König in der Geschichte der Hanse gedient.
Basil Wenzeslas behandelte Kompis und Untergebene immer so, als wären sie nicht mehr als Möbelstücke. Er achtete nicht auf OX und vergeudete keinen Gedanken daran, dass der Lehrer-Kompi vielleicht nicht mit seinen Plänen einverstanden war. Der stellvertretende Vorsitzende Cain hatte OX
bereits zweimal benutzt, um sehr vorsichtig formulierte Botschaften zu überbringen.
Sie waren allein im Königlichen Flügel und standen neben einem Springbrunnen, dessen beständiges Plätschern eventuellen Lauschern erhebliche Probleme bereiten würde. OX hatte die lokalen Abhörvorrichtungen lokalisiert und deaktiviert, was bedeutete: Peter und Estarra konnten an diesem Ort auf ihre geheimen Handzeichen verzichten.
Estarras Gesicht zeigte sowohl Sorge als auch Entschlossenheit. »Jetzt, da Daniel wieder wach ist ... Wie viel Zeit bleibt uns?«
»Basil wird aktiv, wenn er eine Möglichkeit findet, die nicht viel Staub aufwirbelt.« Peter sah in das ausdruckslose Polymergesicht des Kompi OX.
»Aber zuerst muss er sicher sein, dass Daniel wirklich eine bessere Alte nativ
r
e ist. Uns wird er vermutlich erst dann strenger überwachen und kon
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trollieren, wenn er seine Pläne in die Tat umsetzt. Ich schätze, wir haben noch mindestens einige Tage.«
»Er weiß nicht, dass wir gewarnt sind«, flüsterte Estarra. »Das gibt uns einen Vorteil.«
Peter strich ihr übers Haar. »Basil hat die TVF-Schiffe von den Kolonien zurückgezogen, wodurch sie völlig schutzlos sind.« Er schnitt eine Grimasse. »Die Hydroger können sie ganz nach Belieben auslöschen und dann hierherkommen. Das Ende der Menschheit steht bevor. Vom Beginn dieses Krieges an hat Basil alle für entbehrlich gehalten, abgesehen von sich selbst.«
In Estarras Zügen zeichnete sich deutliches Unbehagen ab. »Ich sage dies nicht gern, Peter, aber was ist, wenn der Vorsitzende recht hat? Welche andere Wahl hat er? Er hat den größten Teil der Terranischen Verteidigungsflotte verloren, und was von ihr übrig ist, reicht nicht, um die Hydroger aufzuhalten. Was ist, wenn Basil Wenzeslas die richtigen Entscheidungen getroffen hat?«
»Vielleicht hat er die richtigen getroffen, aber auf die falsche Weise.« Peter rang mit seinem Zorn und fühlte das Glühen seiner Wangen. »Sieh nur, was er mit der Menschheit gemacht hat. Du kennst die letzten taktischen Zusammenfassungen. Er hat die Hanse-Kolonien bereits zum Tod verurteilt.«
Captain McCammon hatte von sich aus beschlossen, dem König zu helfen, indem er ihm heimlich Kopien der täglichen Lageberichte für den Vorsitzenden zukommen ließ -der König sollte über die Ereignisse in der Hanse auf dem Laufenden sein. Die Informationen waren wichtig, aber die Umstände erlaubten es Peter leider nicht, auf ihrer Grundlage zu handeln.
»Ich habe viele Beispiele von extremen und irrationalen Verhaltensweisen des Vorsitzenden zur Kenntnis genommen, vor allem im letzten Jahr«, sagte de
e
r L hrer-Kompi.
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»Er verstößt gegen seine eigene wichtigste Regel und lässt sich von persönlichen Gefühlen beeinflussen. Er denkt mehr an sich als an die Hanse oder die Zukunft.« Peter wandte sich an den Lehrer-Kompi. »Wir brauchen deine Hilfe, OX.«
Sie erstarrten, als sie Bewegung im Flur hörten. Zwei königliche Wächter vor der Tür wichen beiseite und ließen farbenprächtig livrierte Bedienstete mit Speisen für ein frühes Mittagessen eintreten. Beide Männer trugen die für Arbeiter im Flüsterpalast typischen bunten Mützen und Westen. Peter hatte zunächst geglaubt, dass diese altertümliche Aufmachung für Touristen und Medien bestimmt war, aber die Arbeiter trugen diese Kleidung auch in den privaten Bereichen des Palastes.
»Wir haben noch kein Essen bestellt«, sagte er.
Die beiden Männer blinzelten. »Entschuldige Sie, Euer Majestät. Im Ostgarten beginnt gleich ein Bankett für zweihundert Funktionäre der Hanse. Wir haben befürchtet, dass die Palastküche Ihrer Bestellung nicht mit angemessenem Eifer nachkommen kann, und deshalb bringen wir Ihnen das Mittagessen schon jetzt.«
Die kostümierten Männer schienen einen Tadel des Königs zu fürchten, aber Peter wollte nur, dass sie gingen. »In Ordnung. Bitte lassen Sie uns jetzt allein. Die Königin und ich führen ein privates Gespräch.«
Die beiden Männer eilten fort. Die königlichen Wächter bezogen wieder Aufstellung, und Peter schloss vor ihnen die Tür.
Estarra sah auf die herrlich duftende Suppe und das frische Obst hinab, wählte dann eins der Sandwiches mit geräuchertem Fisch und Gemüse.
»Ich bin hungrig, aber zum Glück ist es nicht der Heißhunger auf etwas Besonderes.«
OX stand neben dem Tisch und wartete geduldig auf die Fortsetzung des Gespräches. Bevor Estarra einen ersten Bis
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sen nehmen konnte, wies Peter den Kompi an, die Speisen zu untersuchen.
OX sondierte das Sandwich und dann die übrigen Lebensmittel. Seine optischen Sensoren leuchteten etwas heller. »Ich entdecke kein Gift, König Peter. Aber es gibt eine unerwartete chemische Signatur, die offenbar von einem komplexen Pharmazeutikum stammt. Ich analysiere die molekulare Struktur und vergleiche sie mit meinen Aufzeichnungen.«
Peter nahm das Sandwich aus Estarras Hand, betrachtete es und war sicher, dass Basil die Speisen irgendwie manipuliert hatte. »Du solltest besser nichts davon anrühren.«
Wenige Sekunden später nannte OX das Ergebnis seiner Analyse. »Die Lebensmittel enthalten starke Dosen eines Abtreibungsmittels. Bei König Peter blieben vermutlich Symptome aus, aber bei der Königin käme es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Fehlgeburt.«
»Zu einer Fehlgeburt? Aber meine Schwangerschaft ist schon weit fortgeschritten.« Estarra sank in den Sessel, als hätte sie einen Schlag erhalten.
»Eine von diesem starken Mittel ausgelöste Fehlgeburt im sechsten Monat hätte ernste medizinische Folgen für die Mutter und könnte zum Tod führen.«
Peters Hände zitterten, und er hatte plötzlich Kopfschmerzen. »Der blutdürstige Mistkerl lässt einfach nicht locker.«
»Wie bei den Delfinen«, hauchte Estarra.
In Peter drängte alles danach, zum Balkon zu laufen, die Teller mit den Speisen auf den Hof zu werfen und Basil Wenzeslas dabei laut zu verfluchen. Aber er hielt sich zurück und wusste, dass es falsch gewesen wäre, auf diese Weise zu reagieren. Derzeit bestand ihr einziger Vorteil darin, dass sie die neueste Hinterlist des Vorsitzenden kannten. Wenn Basil glaubte, dass er damit erfolgreich war, unternahm er 217
wahrscheinlich nichts anderes. Vielleicht gewannen sie auf diese Weise einen zusätzlichen Tag.
Peter kochte innerlich, als er die Speisen zum Abfallrecycler trug.
Estarra wirkte elend. »Von jetzt an müssen wir alles untersuchen, was wir essen. Wenn du dies nicht rechtzeitig bemerkt hättest, OX ...«
»Ich kann Ihnen heimlich zu essen bringen, Königin Estarra«, bot sich der Kompi ein. »In kleinen, unauffälligen Päckchen.«
»Vielleicht ist auch Captain McCammon in der Lage, uns mit Nahrungsmitteln zu versorgen«, sagte Peter und fühlte, wie der Zorn noch heißer in ihm brannte.
Schließlich seufzte er. »Ich habe versucht, Frieden mit Basil zu schließen, mit ihm zusammenzuarbeiten. Wir hätten Partner sein können. Ich habe getan, was für die Hanse richtig war, so wie immer. Aber jetzt...« Peter sah Estarra an. »Jetzt ist mir klar: Wir müssen Basil töten, bevor er uns um-bringt.«
7 8 OSIRA'H
Als sich die zornigen Menschen der Tür näherten, rief Udru'h: »Osira'h, komm zu mir! Ich sorge dafür, dass du hier drin in Sicherheit bist.« Er begriff noch immer nicht, was das Mädchen getan hatte. Er verstand auch nicht die Situation, mit der er konfrontiert war.
Osira'h rührte sich nicht von der Stelle. »Mir droht nicht die geringste Gefahr.«
Plötzlich gingen alle Lampen aus - von einem Augenblick zum anderen herrschte Finsternis. Die Menschen hatten die
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Energieversorgung der Designierten-Residenz unterbrochen. Sie ließen ihrer aufgestauten Wut freien Lauf, stachelten sich gegenseitig an und drängten ins Gebäude.
»Er kann nicht fliehen«, erklang Osira'hs Stimme in der Dunkelheit.
Das Mädchen hörte, wie Udru'h fortlief und stolperte. Die Finsternis musste entsetzlich für ihn sein.
Osira'h erkannte Benn Stoners Stimme, als er sich an ihr vorbeischob.
»Folgt dem Designierten. Lasst ihn nicht entkommen.« Andere Stimmen wiederholten die Worte.
Osira'h fühlte sich seltsam, sowohl schwach als auch aufgeregt. Sie verdrängte den Gedanken daran, dass sie einst etwas für diesen Mann empfunden hatte, der seiner gerechten Strafe jetzt nicht mehr entkommen konnte.
Sie folgte den Rufen, den Geräuschen von hastigen Schritten und einem Handgemenge. Stoner und die anderen hatten den Designierten in einem der oberen Stockwerke in die Enge getrieben. Osira'h vertrieb die plötzlich in ihr aufsteigende Reue, indem sie sich auf die Erinnerungen ihrer Mutter besann. Das Leid, die ständigen Demütigungen, die Verzweiflung - Osira'h fühlte alles so, als hätte sie selbst es erlebt.
Als sie das obere Ende der Treppe erreichte, sahen ihre empfindlichen Augen den Designierten. Das Licht einiger weniger Glänzer in den Straßen und der flackernde Schein sich ausbreitender Feuer spiegelten sich in seinen Pupillen wider.
»Dein Zuchtplan hat all diesen Menschen das Leben gestohlen, und den Generationen vor ihnen!«, rief sie ihm zu.
»Osira'h ...« Udru'h klang verwirrt. »Du weißt, worum es dabei ging. Ich habe mein Volk gerettet!«
»Und du hast das meiner Mutter zum Untergang verurteilt.« Es klang wie ein Urteil.
Stoner und die anderen Menschen näherten sich dem in 218
der Falle sitzenden Designierten. Sie alle trugen landwirtschaftliche Werkzeuge, die ihnen Daro'h zugänglich gemacht hatte: Hacken, Schaufeln, Harken. Damit schlugen sie auf den Designierten ein.
Udru'h schrie nicht. Er setzte sich zur Wehr, gab dabei aber keinen Ton von sich. Osira'h hörte dumpfe Geräusche, als harte Gegenstände auf weiche ildiranische Haut trafen. Sie sah den Schmerz in Udru'hs Gesicht, und in einem unvergesslichen Echo der Erinnerungen ihrer Mutter entsann sie sich an einen anderen Gesichtsausdruck des Designierten, im Halbdunkel der Zuchtbaracken.
»Wartet!« Niras Stimme übertönte den Lärm. »Hört auf damit!«
Osira'h drehte sich um und sah die grüne Priesterin auf dem Treppenabsatz. Sie wirkte recht mitgenommen, als hätte es sie große Mühe gekostet, hierherzukommen. Und sie hatte ihre vier anderen Mischlingskinder mitgebracht. Mit großen Augen musterte Osira'h ihre Brüder und Schwestern, die dicht bei Nira blieben.
Die ehemaligen Gefangenen wurden still. Nira trat einen Schritt vor, und ihr Gesicht war sehr ernst. Osira'h hatte damit gerechnet, dass die aktuellen Ereignisse ihrer Mutter Genugtuung bereiteten, aber das schien nicht der Fall zu sein. »Tötet ihn nicht.«
»Aber Mutter, du weißt doch, was er dir und all diesen Leuten angetan hat.
Und mir.«
»Ich habe dir nichts angetan!« Udru'h blutete aus zahlreichen Wunden, war aber immer noch sehr lebendig. Er sprach zu Osira'h und fand die Kraft, seine verwirrten Angreifer beiseitezuschieben. »Du warst meine größte Hoffnung.«
Osira'h sah ihn voller Abscheu an. »Jede Berührung, jedes Wort, das du an ge
mich
richtet hast, war wie der Stacheldrahtzaun, der das Lager umgab.
Du hast mir auf die
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Schulter geklopft, um mir nach einer schwierigen Übung zu gratulieren, doch ich habe nur deine grausamen Hände gefühlt, die meine Mutter berührt haben.«
Nira sah erst ihre Tochter an und dann ihren Peiniger. »Designierter Udru'h«, sagte sie mit vibrierender Stimme, »ich habe dich nie hassen wollen. Jora'h und ich waren glücklich im Prismapalast, aber das hast du uns beiden genommen.«
Die Menschen waren zurückgewichen, aber noch immer voller Zorn.
Osira'h hatte sie auf Trab gebracht, und jetzt suchten sie nach einem Ventil für ihre Wut. »Ich habe den Schmerz und die Demütigung meiner Mutter gefühlt!«, schrie Osira'h den Designierten an. »Wie kann ich das aus meinem Kopf vertreiben? Als du sie vergewaltigt hast, hast du mich vergewaltigt.«
»Nein!« Udru'h schien von den Worten des Mädchens entsetzt zu sein.
»Sie ist meine Tochter«, wandte sich Nira an den Designierten. »Wir waren miteinander verbunden. Sie hat gewusst, was du mit mir angestellt hast.
Ich habe ihr alle meine Erinnerungen gegeben, in der Nacht, in der du deinen Wächtern befohlen hast, mich zu verprügeln ... als du allen anderen gesagt hast, ich sei tot.«
Osira'h hob die Hände zu den blutigen Wangen und der Stirn des früheren Designierten. Hitze sammelte sich in ihrem Innern, und zwischen ihren Schläfen pochte es. »Ich kann dafür sorgen, dass Udru'h versteht. Er hat viel zu lernen.«
Er blinzelte, sah sie überrascht und erleichtert an, als hoffte er, dass sie ihm verzieh. Aber das lag nicht in ihrer Absicht. »Osira'h, was...«
Ihre Hände berührten ihn, drückten fester zu, und sie konzentrierte sich.
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lick durchbohrte
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Udru'h, der sich versteifte. »Ich bin eine Brücke che
zwis
n unterschiedlichen
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Spezies. Ich habe gelernt, mein Bewusstsein den Hydrogern zu öffnen.«
Osira'hs Gesichtsausdruck erschreckte den ehemaligen Designierten. »Du sollst teilhaben.«
Udru'h begann zu zittern und riss die Augen auf. »Genug!« Er hob schmerzerfüllt die Hände. »Es reicht.«
Osira'h ließ ihn los, und der verletzte Mann wankte. Seine Augen waren glasig. Das Mädchen wandte sich lächelnd an seine Mutter. »Ich habe ihm alle Erinnerungen gegeben. Das ganze Leid, in allen Einzelheiten. Er weiß jetzt, wie es dir ergangen ist, Mutter.«
Udru'h sah Nira mit einer neuen Art von Abscheu an.
Osira'h wölbte die Brauen. »Vielleicht hätten wir ihn einfach töten sollen.
Möchtest du das, Mutter? Würdest du dich dann befreit fühlen?«
Die anderen zornigen Menschen hoben ihre Werkzeuge und riefen, doch Nira schien allein zu ihren Kindern zu sprechen. »Nein. Du kennst meinen Hass auf ihn, aber du weißt nicht, was ich mir wünsche. Hass kann nicht befreien. Du hast mir deine Brüder und Schwestern gezeigt und mich dazu gebracht, sie so zu akzeptieren, wie sie sind, sie nicht wegen der Umstände ihrer Geburt abzulehnen. Denk an deinen Bruder Rod'h. Udru'h ist sein Vater. Willst du dies auch Rod'h antun? Verdient er es zu sehen, wie sein Vater zu Tode geprügelt wird?«
Osira'h war verwirrt und unsicher. »Aber ich habe dies für dich getan, Mutter! Was möchtest du?«
Nira schien bereits darüber nachgedacht zu haben. »Ich möchte Veränderungen für diese Menschen. Wir sind jetzt stark genug, um sie zu verlangen. Veränderungen, Osira'h. Keine Rache. Rache und Gewalt sind leicht, aber sie hinterlassen einen Makel, den man nie wieder loswird. Das möchte ich nicht für dich, für niemanden von uns.«
Sie zeigte auf den blutigen Udru'h, der auf dem Boden kauerte. »Fessel ihn, damit er nicht entkommen kann. An
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schließend bringen wir ihn zum neuen Designierten Daro'h. Er hat die Macht, dies alles zu beenden ... wenn er klug genug ist.«
7 9 NIRA
Vor der Residenz des früheren Designierten liefen zornige Menschen durch die Siedlung. Die Ildiraner - Angehörige des Linsen-Geschlechts, Arbeiter, Bedienstete und Wächter - saßen in überfüllten Gemeinschaftszentren fest und konnten den sich ausbreitenden Flammen nicht entkommen. Schreie kamen aus den brennenden Gebäuden.
Stoner und die anderen waren Nira zuerst vorausgeeilt und hatten damit begonnen, Nebengebäude, Lager und sogar ein medizinisches Untersuchungszentrum in Brand zu setzen. Ahnungslose Ildiraner waren daheim überrascht worden und verbrannten bei lebendigem Leib.
Entsetzen erfasste die früheren Gefangenen, als sie die Schreie jener hörten, die den Flammen zum Opfer fielen. So etwas hatten sie nicht gewollt. Männer und Frauen kamen zur Vernunft, eilten zu Türen und versuchten, in die brennenden Gebäude zu gelangen und hilflose Ildiraner zu retten.
Und dann waren die Wächter erschienen.
Die animalisch wirkenden Ildiraner hatten die Flammen und den Mob gesehen und waren mit kristallenen Schwertern über die Menschen hergefallen. Dutzende waren gestorben, die anderen in Panik geflohen. Nira e
hatt an ihre Mischlingskinder gedacht und war mit ihnen zur Residenz de
e
s D signierten Udru'h gelaufen, in der Hoffnung, dort sicher zu sein.
220
Sie war gerade rechtzeitig eingetroffen, um einen weiteren Mord zu verhindern. Vielleicht konnte sie jetzt dafür sorgen, dass sich dieser Wahnsinn nicht noch weiter ausbreitete.
Nira fühlte großen Kummer, als ihre Gruppe die Residenz des früheren Designierten verließ. Bei der Planung dieses Protests hatte sie nur daran gedacht, die Zuchtbaracken niederzubrennen und damit ein Zeichen zu setzen, um Daro'h mehr abzugewinnen als nur einige wenige Zugeständnisse. Die Zerstörung der ildiranischen Siedlung war nie ihre Absicht gewesen. Um sie herum setzte sich das Chaos fort. Die Flammen loderten höher, die Schreie wurden lauter - alles war vollkommen außer Kontrolle geraten. Und die ildiranischen Wächter töteten alle Menschen, denen sie begegneten.
Die Zuchtbaracken waren inzwischen eingestürzt, und Nira beobachtete, wie der Wind Funken aus den glühenden Aschehaufen über die Grenzen des Lagers hinaustrug - das Feuer erfasste auch das trockene Gras der Hügel. Die zornigen Menschen dachten nicht daran, das Inferno einzudäm-men, zogen zur separaten Residenz des neuen Designierten Daro'h und zerrten den verletzten Udru'h mit. Nira vermutete, dass er starke Schmerzen hatte, aber wenigstens war es ihr gelungen, sein Leben zu retten. Vorerst. Dank erwartete sie dafür nicht.
Ihre Kinder begleiteten sie und folgten Osira'h ebenso wie ihr. Sie waren dazu erzogen, alles für das Ildiranische Reich zu opfern. Mit einer seltsamen Mischung aus Furcht und Faszination beobachteten sie die Ereignisse.
Verzweifelte Ildiraner liefen aus den Gebäuden. Einige versuchten, das Feuer zu löschen, und andere bemühten sich, ihre in den Häusern gefangenen Artgenossen zu retten. Menschen hasteten hin und her. Für s kle
Nira
ine Gruppe gab es nur ein Ziel, und sie setzte den Weg e
chloss
nts
en durch das Durcheinander fort.
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Plötzlich griffen mit langen Kristallspeeren bewaffnete ildiranische Wächter an. Die Menschen setzten sich mit ihren landwirtschaftlichen Werkzeugen zur Wehr, mit Hacken und Spaten. Sie töteten zwei Wächter, doch den kristallenen Speeren fielen weitaus mehr zum Opfer. Nira drängte ihre Gruppe zur Eile und rief Daro'hs Namen.
Muskulöse Ildiraner bildeten einen Kordon vor der Residenz des neuen Designierten. Ihre Bewaffnung bestand aus Katanas - an Stäben befestigte scharfe Kristallklingen. Die Wächter holten gleichzeitig damit aus und warfen ihre Waffen mit tödlicher Präzision. Panik erfasste die Menschen, als sich Klingen in Brüste, Hälse und die Rücken jener bohrten, die sich zur Flucht wandten. Neue Schreie erklangen, kündeten von Schmerz und Tod.
Nira begriff, dass die Wächter ihnen keine Möglichkeit geben würden, Daro'hs Haus zu betreten. Ihre Gedanken rasten, und sie traf eine rasche Entscheidung. Sie wechselte einen Blick mit Osira'h, die sofort verstand.
Plötzlich standen das Mädchen und seine Mutter mit dem immer noch zitternden Udru'h vor den anderen und formten einen lebenden Schild.
»Wir müssen mit dem Designierten Daro'h sprechen!« Niras Stimme übertönte die Schreie und das Prasseln des Feuers. »Bringt ihn her!«
Die Wächter traten vor und hoben ihre Waffen. Nira sah, dass Blut an vielen Klingen klebte.
»Ich bin die Tochter des Weisen Imperators!«, rief Osira'h. »Dies ist der frühere Designierte Udru'h. Ihr kennt uns. Meine Mutter war die Gefährtin des Erstdesignierten Jora'h. Hat er euch nicht befohlen, sie zu schützen?«
Die anderen Mischlingskinder traten zu ihrer Mutter und der Schwester, die sie verehrten. Rod'h richtete einen besorgten Blick auf den verletzten Udru'h, sah dann nach vorn.
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Ildiranische Soldaten befolgten Befehle, ohne sie infrage zu stellen, aber komplexe Situationen verunsicherten sie. Schließlich brachte Udru'h zwischen blutigen Lippen hervor: »Macht keine Dummheiten und bringt Daro'h her!!«
Im oberen Stock der Residenz öffneten sich Fenster. Daro'h hatte von dort aus das Geschehen beobachtet und sich mit überfürsorglichen Wächtern gestritten. »Lasst die Waffen sinken! Schluss mit dem Töten!«
Die ildiranischen Wächter erstarrten, hielten ihre Kristallspeere aber weiterhin bereit. Aufgebrachte Menschen drängten brummend nach vorn.
Nira und Osira'h standen neben dem früheren Designierten, vor allen anderen.
»Warum macht ihr dies?«, fragte Daro'h bestürzt. »Ich habe euch die Freiheit gegeben und die Zäune niedergerissen.«
»Du hast ihnen nie von den Hydrogern erzählt!«, rief Osira'h. »Und auch nicht davon, dass der Weise Imperator vor ihnen kapitulierte.«
»Wenn die Hydroger uns alle umbringen ...«, erklang Benn Stoners Stimme von hinten. »Warum sollten wir dann nicht vorher euch töten?«
Nira trat vor die Menge. »Entweder bringen wir dies hier zu Ende - oder wir sterben alle.« Mit einem Blick über die Schulter fügte sie hinzu:
»Unterschätzen Sie nicht die Kraft dieser Leute. Sie haben nichts zu verlieren.« Noch immer erklangen Schreie, und von den lodernden Flammen kam ein dumpfes Donnern. »Wir helfen Ihnen, diesen Wahnsinn unter Kontrolle zu bringen. Bitte lassen Sie uns helfen - es bleibt nicht mehr viel Zeit. Nachher können Sie ihnen die Wahrheit sagen.«
Udru'h schwankte und sank auf die Knie. Osira'h wich von ihm fort. »Tut, was sie sagt«, ächzte er.
Das Feuer breitete sich an den Hügeln und in der ildiranischen Siedlung aus. Daro'h befahl den Wächtern, die An
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griffe einzustellen und stattdessen zusammen mit den Menschen die Ildiraner aus den brennenden Gebäuden zu retten. »Sonst sind wir alle tot, noch bevor die Hydroger kommen.«
80 VORSITZENDER BASIL WENZESLAS
Wenn Basil seinen Stellvertreter zu sich bestellte, kam Cain jedes Mal mit einem optimistischen Bericht an, um den er nicht gebeten hatte. Cain schien unangenehme Dinge fernhalten zu wollen, indem er sich mit Unwichtigem schützte. Oder steckte mehr dahinter, ein größerer Plan?
Basil fragte sich, was er diesmal vortragen würde.
Er hatte ihn zum Dachgarten der Stufenpyramide gerufen. Die sorgfältig gepflegten Büsche, Zwergbäume und herrlich duftenden Blumen waren mit einer geometrischen Präzision angeordnet, die sich Basil auch für sein Volk wünschte. Es erfüllte ihn mit Zufriedenheit zu sehen, dass die Pflanzen gut gediehen und doch exakt ihren Platz wahrten.
Cain hob einen Datenschirm. »Die Forscher, die das kleine Kugelschiff der Hydroger untersuchen, haben einen neuen Erfolg erzielt. Diesmal geht es um die exotische Wand, die einem Transportal der Klikiss ähnelt. Es gelang, die Energiequelle zu aktivieren. Wir gehen davon aus, dass dies zahlreiche neue Entwicklungen ermöglicht.«
Basil schürzte die Lippen. Es klang tatsächlich interessant. »Wir können das Portal also in Betrieb nehmen, gut. Wie lange dauert es, bis wir in der Lage sind, ein Kugelschiff zu deaktivieren! Es gibt Berichte, nach denen die Roamer
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bei Theroc eine wirkungsvolle Waffe gegen die Hydroger eingesetzt haben.
Wenn die verdammten Roamer so etwas entwickeln konnten, sollte die Hanse zu Besserem fähig sein.«
»Wenn wir feststellen, wie das Hydroger-Schiff funktioniert, finden wir bestimmt einen Weg, es zu beschädigen, Vorsitzender Wenzeslas. Für gewöhnlich ist es leichter, irgendetwas zu ramponieren.«
Basil schnitt eine finstere Miene. »Ja, mit ramponierten Dingen bin ich vertraut. Da wir gerade dabei sind: Ich habe beschlossen, ein weiteres kleines Rettungsschiff nach Qronha 3 zu schicken. Dort soll es nach den vermissten Rammschiffen suchen. Nur für den Fall. Sie müssen irgendwo dort draußen sein. Vielleicht können wir einige von ihnen sicher zurückbringen.«
»Ich dachte, die Soldaten-Kompis hätten sich mit den Rammschiffen auf und davon gemacht«, sagte Cain verwirrt.
»Wahrscheinlich. Aber Stromos grüner Priester erwähnte eine sonderbare Sendung, die empfangen werden konnte. Wir hatten einen Überwachungskompi unter den Rammschiff-Crews. Wenn eine Anpeilung der Signale gelingt, finden wir vielleicht die verschwundenen Schiffe.«
»Interessant.«
Basil biss kurz die Zähne zusammen. »Und dann können die Wichtigtuer von den Medien endlich mal über etwas Wichtiges reden. Sie fragen immer wieder nach dem König und der Königin und wollen wissen, wann ihr Kind geboren wird. Es werden Forderungen nach häufigerem öffentlichen Auftreten des königlichen Paars laut. In den letzten Sendungen war davon die Rede, dass Peter und Estarra im Königlichen Flügel unter Hausarrest ste e
h n. >Wie aus gut unterrichteten Kreisen verlautet ...«< Basil schnaubte ve rg
rä ert. »Ich habe Sie beauftragt, die Person
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zu finden, die mit den Reportern redet und Informationen aus dem Flüsterpalast durchsickern lässt. Ich verlasse mich auf Sie, Cain.«
»Ich gebe mir alle Mühe, Sir. Allerdings fehlen mir Anhaltspunkte. Wer auch immer dahintersteckt: Die betreffende Person scheint sehr vorsichtig und ausgesprochen clever zu sein.«
Basil seufzte voller Abscheu und beschloss, nicht noch mehr Zeit mit unnützem Geschwätz zu verlieren. »Ich habe eine Aufgabe für Sie. Ich möchte, dass Sie einen sehr wichtigen Brief schreiben.«
»Einen Brief an wen?«, fragte Cain neugierig.
»An alle, die es angeht - oder wie auch immer Sie es ausdrücken. Der Autor heißt Estarra. Wissen Sie, unsere arme Königin wird schrecklich bestürzt sein. Wir können uns kaum vorstellen, wie grauenhaft es für eine Frau sein muss, ihr ungeborenes Kind zu verlieren.«
Cain sah den Vorsitzenden verblüfft an. »Die Königin hat ihr Kind verloren?
Wann geschah das?«
»Sie wird es bald verlieren, und es wird zu medizinischen Komplikationen kommen. Wenn sie die Fehlgeburt überlebt, brauchen wir Ihren Brief.«
Basil kniff die grauen Augen zusammen. »Er muss perfekt sein, denn eine Zeit lang werden die Medien über nichts anderes berichten.«
Cain wirkte besorgt. »Ich muss genau wissen, was Sie von mir erwarten, Vorsitzender Wenzeslas.«
»Seien Sie nicht schwer von Begriff. Sie sollen dafür sorgen, dass die Königin nach der Fehlgeburt angemessen verzweifelt klingt, sogar selbstmordgefährdet. Sie wird mit dem Verlust ihres Kinds einfach nicht fertig. Das Leben hat keinen Sinn mehr für sie und so weiter. Bestimmt findet sie eine Möglichkeit, sauber und schmerzlos Selbstmord zu be-gehen.«
Rote Flecken erschienen auf den Wangen des blassen 224
Cain. Er atmete tief durch. »Es ist sehr gefährlich - und meiner Ansicht nach auch nicht klug -, die Königin zu töten.«
»Die Königin wird sich selbst töten, Mr. Cain ... wenn das notwendig sein sollte. Und damit rechne ich.«
Cain schwieg eine Weile. Er bewegte sich nicht, stand völlig reglos da und blickte dem Vorsitzenden nur in die Augen. »Bedenken Sie die Konsequenzen. Die Bevölkerung hat gejubelt, als sie von der Schwangerschaft der Königin erfuhr. Die Fehlgeburt dürfte auch für die Bürger ein harter Schlag sein, und wenn die Königin anschließend Selbstmord begeht, wird es noch schlimmer. Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, die öffentliche Moral ganz bewusst zu untergraben. Die Leute sind der Verzweiflung nahe, und dies könnte zu viel für sie sein. Ich halte es für verkehrt, ein derartiges Risiko einzugehen.«
Basil winkte ab. »Die Moral des Volkes wird sich für eine Weile verschlechtern, aber bestimmt finden wir Möglichkeiten, sie wieder zu verbessern. In tragischen Zeiten greifen die Leute nach jedem Strohhalm.«
Er beugte sich vor und schnupperte an einer weißen Blüte. »Übrigens, Prinz Daniel macht sich erstaunlich gut. Seit wir ihm einen Schrecken eingejagt haben, ist er sehr kooperativ. Nun, vor Funktionären und Bediensteten spielt er sich ein wenig auf, aber nie vor mir.«
Cain war ganz offensichtlich nicht zufrieden. »Er lässt seinen Frust an anderen aus. Das ist keine wünschenswerte Eigenschaft für einen König, Sir. Wir sollten versuchen, dies auszumerzen, solange er noch formbar ist.
Sonst könnte er uns später Probleme bereiten.«
»Ganz im Gegenteil, ich sehe darin ein gesundes Selbstwertgefühl. Das cht je
brau
der König - solange er meine Anweisungen befolgt.«
Cain rang mit seinem Ärger, und es freute Basil, ein wenig 224
Rückgrat bei seinem Stellvertreter zu sehen. »Darf ich ganz offen sprechen, Sir?«
»Wenn es mir um Speichelleckerei ginge, hätte ich jemand anderen zu meinem Stellvertreter gemacht.«
»Ihre Feindseligkeit König Peter gegenüber ist inzwischen zu einer persönlichen Vendetta geworden. Ich fürchte, sie beeinträchtigt Ihre Rationalität.«
»Ich habe nie die allgemeine Situation aus dem Auge verloren, Mr. Cain.
Peter hat zu oft gegen die Regeln verstoßen. Leider hat nicht nur er mich enttäuscht, sondern auch gewisse andere Personen, von denen ich glaubte, dass ich mich auf sie verlassen könnte. Ich stelle die Ordnung wieder her, Stück für Stück, Zug um Zug. Und dafür brauche ich genug Bewegungsspielraum, um alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Ich habe meine eigene Methode.«
Cain blieb besorgt, aber für Basil war das Gespräch beendet. »Gehen Sie und schreiben Sie den ersten Entwurf des Briefes. Vielleicht müssen wir nie Gebrauch davon machen, doch ich halte mir gern alle Möglichkeiten offen.«
81 ANTON COLICOS
Anton und Vao'sh besuchten den müden Designierten Ridek'h im Zitadellenpalast, um ihm von einer der neuen Geschichten zu berichten, die sie in den Archiven von Hyrillka gefunden hatten. Sie hatten bereits eine Auswahl der besten, aufregendsten Geschichten getroffen, aber leider noch immer keine Lösung für die Probleme des Weisen Imperators gefunden.
Die Augen des jungen Designierten waren blutunterlaufen, und er wirkte sehr erschöpft. Doch Anton fand, dass er
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entschlossener und zuversichtlicher aussah als noch an Bord des Kriegsschiffs. Mit Yazra'hs und Tal O'nhs Hilfe beaufsichtigte Ridek'h so viele Wiederaufbauprojekte, dass ihm einfach nicht mehr genug Zeit blieb, an sich selbst zu zweifeln.
Yazra'h nahm an der Begegnung in den privaten Gemächern des Designierten teil, denn sie war neugierig auf die Entdeckungen der Historiker. Die schöne Kriegerin setzte sich neben Anton, obwohl er ihr kaum Platz gelassen hatte. Sie roch sauber, nach einem frischen Bad, war aber nicht parfümiert. Die Isix-Katzen wanderten zweimal durch den Raum, legte sich dann vor Antons Füßen auf den Boden.
Ridek'h richtete einen erwartungsvollen Blick auf den alten Erinnerer. »Ist es eine gute Geschichte? Über Hyrillka?« Er saß in einem Sessel, der viel zu groß für ihn zu sein schien.
»Dies ist die Geschichte der Schattenflotte, der Reisenden in Dunkelheit, die für immer jenseits des Lichts gefangen waren.« Anton hatte die Erzählungen ebenfalls gelesen, aber entschieden, Vao'sh davon berichten zu lassen. Sein Freund und Kollege war ein meisterhafter Erzähler.
»Orryx ... ein Name, an den man sich kaum mehr erinnert, ein Ort, den man nicht mehr besucht. Es war die erste unserer Splitter-Kolonien, die dem schwarzen Schatten der Shana Rei zum Opfer fielen.« Die Stimme des alten Historikers wurde kräftiger, und seine Hautlappen zeigten unterschiedliche Farben. »Shana Rei. Die Geschöpfe der Finsternis kamen aus ihren schwarzen Nebeln und verschlangen unsere Forschungsflotte. Von ihren Crews blieben nur blasse Geister übrig, getötet durch die völlige Abwesenheit von Licht!« Vao'sh schnappte nach Luft und erschreckte damit den jungen Designierten.
»Doch die Ildiraner kannten noch nicht das Wesen ihres schrecklichen neuen Feinds. Die Shana Rei kamen aus den
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dunklen Nebeln: lebende Schatten, die Licht und Leben fraßen. Orryx war die erste Welt auf ihrem Pfad der Finsternis, ein Ort der Blumen und Felder, der Familien und Lieder. Die Bewohner ahnten nichts, bis die Shana Rei Dunkelheit über das Land legten, wie eine Decke, die das ganze Licht aufnahm, den armen Leuten Augen und Herzen verband.«
Draußen war Hyrillkas primäre Sonne untergegangen, und die zweite, orangefarbene Sonne gab dem Licht die Farbe von verbranntem Kupfer. Als der Erinnerer seine Erzählung fortsetzte, schien es im Zimmer düster zu werden.
Vao'sh hob einen Finger. »Der Weise Imperator fühlte die Not seiner Untertanen auf Orryx und schickte eine Septa, um ihnen zu helfen. Sieben Kriegsschiffe mit unseren besten Waffen und den tapfersten Soldaten an Bord. Sie alle verschwanden in der Dunkelheit.
Der Weise Imperator spürte die Echos des Entsetzens im Thism und wies seine Techniker und Wissenschaftler an, neue Waffen aus der Lichtquelle zu entwickeln. Es dauerte nicht lange, bis der wackere Tal Bria'nh mit einer Kohorte zur sterbenden Kolonie flog. Er brachte hundert neue Sonnenbomben - Satelliten, die ebenso viel reinigende Helligkeit produzieren konnten wie ein Stern. Tal Bria'nh und seine Soldaten kamen voller Zuversicht und mit der Absicht, sich für den grundlosen Angriff zu rächen.
Als die Sonnenbomben gezündet wurden, verbrannte ihr Licht die Shana Rei wie Säure. Ein Blitz und ein Regenbogen, helles Licht, um Ildiranern Freude zu bringen - und den Kreaturen der Dunkelheit den Tod. Die schwarze Decke der Shana Rei begann sich aufzulösen, doch schließlich schwand das Licht der hundert Sonnenbomben. Und dann griffen die Shana Rei erneut an, ohne Gnade. Tal Bria'nh sah sich einer neuen Barriere aus Dunkelheit gegenüber und wusste, dass er nicht siegen konnte. Er schickte Kurierschiffe mit Berichten über den Angriff nach Ildira und blieb
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selbst an Bord seines Flaggschiffs. Hilfe konnte unmöglich rechtzeitig eintreffen.«
Vao'sh atmete tief durch und legte eine wohlüberlegte Pause ein. Eine der Isix-Katzen bewegte sich und berührte Antons Fuß. »Als schließlich Verstärkung kam, sah Orryx aus, als hätte jemand den ganzen Planeten schwarz angestrichen. Die Shana Rei waren erfolgreich gewesen und hatten das gesamte Leben jener Welt ausgelöscht. Bis zum heutigen Tag wächst dort nichts.«
Vao'sh sah den jungen Designierten an. »Und wissen Sie, was mit den Kriegsschiffen des tapferen Tal Bria'nh passiert ist?« Als Ridek'h den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Sie befanden sich noch im Orbit, aber jedes von ihnen war in einen für Licht absolut undurchlässigen Kokon aus Finsternis gehüllt. Tal Bria'nh und seine Soldaten waren regelrecht in Dunkelheit erstickt!«
Anton stellte sich vor, wie jemand einen schwarzen Sack um die Kriegsschiffe stülpte.
»Die Rettungsmannschaften schnitten mit Lasern durch die Schwärze und suchten an Bord der Kriegsschiffe nach Überlebenden. Aber alle waren tot.
Wie hätten sie auch überleben können, in dem Wissen, dass es kein Licht mehr gab, keine Wärme?« Vao'sh schauderte, und Anton glaubte nicht, dass diese Reaktion Teil der Vorstellung war. »Ihre letzten Momente müssen schrecklich gewesen sein.«
»Wie konnten die Shana Rei jemals besiegt werden?«, fragte Ridek'h. »In den Geschichten, meine ich.«
Vao'sh lächelte. »Ich weiß nur, dass der Weise Imperator ein neues Bündnis schuf und >ein Großes Licht hervorbrachten Aus den Aufzeichnungen, die wir hier gefunden haben, geht hervor, dass das Große Licht personifiziertes Feuer war. Damit wurden die Geschöpfe der Finsternis vertrieben: Feuer gegen Nacht.«
»Das klingt nach den Faeros«, sagte Yazra'h.
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»Vielleicht haben uns die Faeros schon einmal geholfen!«, stieß Ridek'h aufgeregt hervor. »So etwas solltet ihr für den Weisen Imperator finden, nicht wahr?«
Plötzlich sprangen die Isix-Katzen auf, und Yazra'h reagierte nur einen Sekundenbruchteil später. Anton blickte zur Tür und sah, wie der einäugige Tal O'nh atemlos hereinkam.
»Designierter, drei Kugelschiffe der Hydroger sind nach Hyrillka unterwegs.«
»Hydroger! Was machen wir jetzt?« Ridek'h riss die Augen auf und wandte sich an Yazra'h. »Kämpfen wir? Uns stehen Kriegsschiffe zur Verfügung ...«
Tal O'nh berührte das prismatische Lichtquellen-Medaillon an seiner Brust und sprach in einem ruhigen, sachlichen Ton. »Meine Kriegsschiffe können die Hydroger-Kugeln rammen. Zum Glück sind sie fast leer, denn die meisten Besatzungsmitglieder befinden sich auf dem Planeten. Aber ich hoffe, dass solche Maßnahmen nicht notwendig werden. Vor einiger Zeit kamen hunderte von Kugelschiffen nach Ildira und flogen wieder fort, ohne anzugreifen. Vielleicht geschieht das auch hier.«
»Wir sollten den Hydrogern die Initiative überlassen, Designierter«, sagte Yazra'h.
Sie eilten zum offenen Balkon und blickten zum orangefarbenen Abendhimmel von Hyrillka empor. Mithilfe der Kommunikationsspange am Kragen empfing O'nh knappe Berichte von seinen Schiffen im Orbit. Anton sah nach oben. Yazra'h stand dicht neben ihm, und seltsamerweise fühlte er sich in ihrer Nähe sicherer.
Sie entdeckte die Hydroger zuerst und hob den Arm. Drei wie Diamanten funkelnde Kugelschiffe näherten sich und flogen über Hyrillkas Landschaft hinweg, als wollten die Fremden einen Eindruck von den Schäden ge nn
wi
en. Schließlich verharrten sie direkt über dem Zitadellenpalast. Die oge
Hydr
r
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schickten weder Warnungen noch ein Ultimatum, aber ihre Präsenz war Drohung genug.
»Soll ich den Palast verlassen?« Ridek'h sah erst den einäugigen Offizier an, dann Yazra'h. »Tal O'nh, wäre ich an Bord eines Ihrer Kriegsschiffe sicherer?«
Yazra'h musterte ihren jungen Neffen und runzelte die Stirn. »Der Designierte muss hier bleiben. Wenn du sterben musst, so musst du sterben - aber stirb nicht als Feigling. Dein Vater blieb tapfer, als ihn Rusa'hs Anhänger erstachen. Du bist jetzt für Hyrillka verantwortlich. Zeig den Bewohnern dieser Welt, wie sich ein Designierter benimmt. Vielleicht haben sie das nach den jüngsten Ereignissen vergessen.«
Ridek'h nahm erneut allen Mut zusammen und befolgte Yazra'hs Rat.
Anton sah zum Himmel hoch und hoffte, dass er selbst nicht in das Epos eingehen würde.
82 THOR'H
Die Dunkelheit war absolut. Schwärze, endlose Schwärze schien sich von einer Seite des Universums zur anderen zu erstrecken. Keine Qual konnte schlimmer sein.
Über lange Zeit hinweg waren Thor'hs Träume erst leer gewesen und dann seltsam. Als die Wirkung des Schiing nachließ, wurden die Albträume intensiver, wie kleine spitze Zähne, die an seinem Bewusstsein nagten.
Langsam kehrten Erinnerungen an Hyrillka zurück, und er entsann sich daran, wie er an der Seite des Imperators Rusa'h, seines eigenen Vaters, ge
mpft hatt
kä
e. Aber sie hatten versagt. Thor'h erinnerte sich daran, mit seinen Kriegs
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schiffen geflogen zu sein, in der Erwartung zu sterben ... Doch dann war er gefangen genommen, gefesselt und gedemütigt worden. Vor dem inneren Auge sah er das grausame Lächeln des Designierten Udru'h, seine gefühllose Weigerung, auf Thor'hs Bitten zu hören.
Später hatte es Schiing gegeben ... zu viel Schiing.
Und dann Glückseligkeit.
Und dann nichts.
Und jetzt Dunkelheit. Völlige Dunkelheit.
Er wusste nicht, wo er war. Die Wände waren dick, und er fand keinen Weg hinaus. Wie aus weiter Ferne glaubte er, das Geräusch eiliger Schritte zu hören, aber niemand kam zu ihm.
Er sah nichts und fühlte kein Licht auf seiner empfindlichen Haut. Die Hände waren nicht gefesselt, und er berührte das Gesicht mit ihnen, schlug dann nach einer Wand. Die Schwärze um ihn herum war wie ein kalter Ozean, der ihm Mund, Nase und Augen füllte.
Er schrie immer wieder und hämmerte so lange an die Wände, bis seine Fingerknöchel blutig waren. Vergeblich suchte er nach einer Tür. Die Finsternis schien sich in ein schweres Gewicht zu verwandeln, das ihn langsam zermalmte.
Und es trieb ihn in den Wahnsinn.
Thor'h heulte, schlug an die schwarzen Wände seines Kerkers und kreischte sich heiser. Anschließend stöhnte er in völliger Hoffnungslosigkeit, als sein Selbst zerfaserte.
Niemand hörte ihn.
Niemand wusste, dass er da war.
Und es blieb finster.
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83 JESS TAMBLYN
Achtzig Arbeiter auf Plumas hatten die Katastrophe überlebt. Doch die Wasserminen, seit Generationen im Besitz des Tamblyn-Clans, waren zerstört.
Kalter Dampf zischte aus den Verarbeitungsanlagen. Die Generatoren der Lebenserhaltungssysteme funktionierten nicht mehr, und in der großen Höhle unter dem Eis wurde es immer kälter. An der Decke leuchtete nur noch eine künstliche Sonne.
Ein weiterer Verlust. Jess sah zur instabil gewordenen Eisdecke hoch, ließ den Blick dann über die Verwüstungen und die vielen in der Kälte erstarrten Toten schweifen. Dies war der Zufluchtsort seiner Familie gewesen, für viele Jahre ihr Traum. Er hatte Plumas damals verlassen, um Abstand zu Cesca und seiner Liebe für sie zu gewinnen, und später war er als ein anderer zurückgekehrt, mit guten Absichten und gefährlichen Selbsttäuschungen.
Der verdorbene Wental in seiner Mutter hatte dieses Chaos angerichtet, aber die Verantwortung lag auch bei ihm. Cesca spürte seinen Kummer und trat zu ihm. Ihre Berührung, die ihm so lange verwehrt geblieben war, gab ihm neue Kraft.
Der alte Caleb klatschte laut in die Hände und rief den Überlebenden zu:
»Also los. Es wartet Arbeit auf uns.« Die Arbeiter der Wasserminen machten sich daran, den Verletzten erste Hilfe zu leisten. Die erschöpften und untröstlichen Tamblyn-Brüder stützten nur teilweise zerstörte Gebäude ab und verwandelten sie in provisorische Unterkünfte.
Ein großer Eisbrocken löste sich aus der Decke und stürzte ins metallgraue Mee . »C
r
esca, wir müssen diesen Ort schützen, bis wir alle in Sicherheit ge
brin n können«, sagte
229
Jess plötzlich. »Viele von ihnen sind verletzt.« Er ergriff ihre prickelnde Hand. »Ich zeige es dir.«
Jess schob Kummer und Ungewissheit beiseite, konzentrierte sich auf die Schäden und zeigte Cesca, wie sie ihre neue Kraft nutzen konnte, um die größten Risse in der Decke zu schließen. Mit hoher Konzentration und gelegentlichen Handbewegungen ließ Jess Haufen aus herabgefallenem Eis verdampfen.
Er konnte keine andere lebende Person berühren und machte sich deshalb daran, die Leichen zum Rand des jetzt wieder ruhigen Meeres zu bringen.
Bevor er sie anfasste, zögerte er und fragte: »Könnte ich sie mit einem verdorbenen Wental infizieren?« Nach dem, was mit seiner Mutter geschehen war, wollte er vorsichtig sein.
Das wird hier nicht geschehen, hörte er die Stimme der Wentals in seinem Kopf. Es wird nicht noch einmal passieren.
Jess blickte auf einen bleichen, zusammengekrümmt daliegenden Mann hinab, der Dutzende von Fleischwunden erlitten hatte und verblutet war.
Die Kälte hatte sein Blut in dunkles Eis verwandelt. Jess erinnerte sich vage an ihn, einen Arbeiter bei den Wasserstoff-Separatoren. Sie hatten sich jeden Tag gegrüßt und einige Worte gewechselt, als er noch auf Plumas gewohnt hatte. Sie waren nur Bekannte gewesen. Jess kannte nicht einmal seinen Namen. Und jetzt lag der Mann tot vor ihm.
In Schutzanzüge gekleidete Roamer kamen aus dem Tunnel, der bis zur Oberfläche führte. Sie erstatteten Caleb Bericht. »Durch die Verschiebungen der Eiskruste haben sich die Bohrschächte verzogen. Die Pumpanlagen sind hinüber, die Konvertierungstanks und zahlreiche Rohrleitungen geplatzt.«
Caleb klang sehr niedergeschlagen, als er erwiderte: »Ein Lift funktioniert noch, aber seine Kontrolllampen flackern
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seltsam. Jess, selbst wenn du zusammen mit Cesca die Decke flickst - ich weiß nicht, ob wir diesen Ort retten können. Andrew ist tot...« Er atmete tief durch. »Du kannst uns nicht ständig helfen, und das bedeutet, dass wir mit diesen Dingen irgendwie allein fertig werden müssen.«
»Uns bleibt nichts anderes übrig, als Plumas aufzugeben, wenigstens vorübergehend«, sagte Jess. Die Worte bereiteten ihm tiefen Schmerz, aber seine Onkel wussten ebenso gut wie er, dass diese Entscheidung getroffen werden musste. »Es sind zu viele Systeme beschädigt. Unter den derzeitigen Umständen gibt es hier keine Sicherheit mehr.«
Die Überlebenden hatten noch immer nicht ganz begriffen, was geschehen war. Wynn schüttelte den Kopf. »Wir können nicht einfach gehen, Jess.
Sieh nur, was alles getan werden muss!«
»Wie soll der Clan Tamblyn all die Kosten bewältigen?«, stöhnte Torin.
»Andrew hat sich um unsere Finanzen gekümmert. Wie sollen wir ohne ihn zurechtkommen?«
»Der Tamblyn-Clan hat reichlich Geld auf den Konten, macht euch deshalb keine Sorgen«, knurrte Caleb. »Aber woher nehmen wie das schwere Gerät, das nötig ist, um neue Schächte zu bohren und die beschädigten Anlagen zu reparieren? Ich bekomme schon jetzt Kopfschmerzen. Beim Leitstern, es wird Jahre dauern!«
Jess fühlte, wie die Wentals sangen. Dies war der richtige Zeitpunkt. Cesca und er mussten vor allem an ihre primäre Mission denken. »Es wartet andere Arbeit auf euch, auf euch alle. Etwas, das noch dringender ist. Wir brauchen eure Hilfe. Die Hilfe aller Roamer und Menschen.«
Caleb blinzelte. »Sieh dich um, Jess! Wir sind wohl kaum in der Lage, bei irgendetwas zu helfen.«
»Das stimmt nicht ganz«, widersprach Cesca. »Rufen Sie die Überlebenden zusammen. Alle sollen dies hören.«
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Caleb zuckte mit den Schultern. »Wir können eine Pause gebrauchen - und ein wenig Hoffnung.«
Sehr mitgenommen wirkende Männer und Frauen versammelten sich vor den Ruinen der Koloniegebäude. Unsicher und voller Unbehagen standen die Arbeiter von Plumas da. Sie hatten Jess und Cesca beim Kampf gegen das Wesen gesehen, das einst Jess' Mutter gewesen war, und sie fürchteten das mächtige Paar.
Die Wentals sorgten dafür, dass Jess' Stimme durch die ganze Höhle hallte.
»Wir sind aus einem bestimmten Grund nach Plumas gekommen. Ihr habt bereits gegen die Tiwis und die Droger gekämpft. Mit zäher Entschlossenheit versucht ihr zu überleben, auch wenn man euch immer wieder die Lebensgrundlage entzieht. Doch der Krieg ist noch nicht zu Ende. Noch lange nicht. Die größte Schlacht steht bevor, und die Wentals brauchen unsere Unterstützung.«
»Mir scheint, deine Wentals haben uns ziemlich viel Kummer bereitet«, brummte Torin.
»Ein verdorbener Wental«, korrigierte Jess. »Die anderen haben euch gerettet. Die Wentals können alle Clans und den Rest der Menschheit retten. Dazu müssen wir abertausende von ihnen auf den Planeten der Hydroger freisetzen.«
»Nur wir kommen dafür infrage«, sagte Cesca. »Die Ildiraner und Tiwis haben keine Waffen, mit denen sich etwas gegen die Droger ausrichten lässt.«
»Die Tiwis waren mächtig genug, Rendezvous zu vernichten«, gab Caleb zu bedenken. »Warum sollten wir ihnen helfen?«
Ein Schatten huschte über Cescas Gesicht, und sie kniff die Augen zusammen. »Nicht alle Menschen sind wie die Tiwis«, sagte sie ruhig.
»Daran sollten die Roamer denken.«
Caleb wölbte die Brauen. »Wenn wir die Droger besiegen ... Sollen wir be
glau n, dass die Tiwis dann damit aufhören, die Einrichtungen der Clans gre
anzu
ifen? Dass sie
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dann nicht mehr unsere Treibstoffdepots und Gewächshausasteroiden überfallen? Und dass sie die Roamer freilassen, die sie gefangen genommen haben? Shizz, glaubt ihr vielleicht, sie bauen dann auch Rendezvous wieder auf? Jess, Sprecherin Peroni - ihr solltet es eigentlich besser wissen.«
»Was wir wissen und woran jeder von uns denken sollte, ist dies: Die Droger sind der wahre Feind. Unter Menschen wird es immer Konflikte geben.
Möchtet ihr vielleicht, dass die Hydroger uns alle ausrotten?«
Caleb wirkte nicht sonderlich überzeugt, aber er nickte langsam. Die Tamblyn-Brüder standen beieinander, nahmen noch einmal das Bild der Zerstörung in sich auf und dachten daran, wie viel Mühe der Wiederaufbau kosten würde. »Na schön. Wir sind einverstanden. Sagen Sie uns, was wir tun sollen, Sprecherin Peroni.«
Die überlebenden Arbeiter waren froh, dass es nach dem Chaos wieder etwas gab, woran sie sich orientieren konnten. Jess sah ihre Entschlossenheit, dem Feind einen empfindlichen Schlag zu versetzen -
vorausgesetzt, sie bekamen eine geeignete Waffe.
Zusammen mit Cesca erklärte er, wie sie die Wassertanker einsetzen wollten, um die Wentals zu verbreiten und ihnen Gelegenheit zu geben, simultan zahlreiche Gasriesen der Droger anzugreifen. »Die vierzehn zur Verfügung stehenden Tanker bieten euch allen genug Platz«, sagte Jess.
»Teilt die Arbeit ganz nach Belieben unter euch auf. Wir sagen euch, wo ihr die Tanker füllen könnt.«
»Nikko Chan Tylar rekrutiert bereits so viele Roamer wie möglich für den Kampf«, fügte Cesca hinzu. »Die anderen Wasserträger sind überall im Spiralarm auf die gleiche Weise tätig und schicken die Roamer zu den ze ral
nt
en Wen-tal-Welten. Wenn wir alle Droger-Planeten gleichzeitig angre e
if n wollen, brauchen wir jeden Clan, von Avila bis Zoltan.«
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»Wenn ihr viele Roamer finden wollt, so fliegt nach Yreka«, sagte Caleb. »Das ist seit einiger Zeit ein Haupttreffpunkt. Denn und ich haben dort einen Stützpunkt eingerichtet.« Die Tamblyn-Brüder beschrieben das neue Handelszentrum, das den im Stich gelassenen Hanse-Kolonien Gelegenheit gab, insgeheim mit den Roamern zusammenzuarbeiten. Es freute Cesca zu hören, dass vielleicht ihr Vater dort war.
Später ließen sich die Überlebenden vom einen noch funktionierenden Lift zur Oberfläche bringen und fuhren mit Bodenwagen zu den Tankern, die an Transferstellen bereit standen. Dort zwängten sie sich in die engen Passagierabteile.
Jess stand draußen in der öden Landschaft, und in der Nähe schimmerte sein Wental-Schiff. Er fragte sich, ob die Wasserminen von Plumas jemals wieder ein blühender Außenposten sein würden. Oder war dies ihr Ende?
Cesca umarmte ihn. »Eine friedliche und glückliche Zukunft ist nicht mehr weit entfernt«, sagte sie. »Aber zuerst müssen wir diesen Kampf gewinnen.
Um bei allen Gasriesen gleichzeitig und wirkungsvoll zuzuschlagen, müssen wir alles sorgfältig koordinieren, damit die Droger keine Chance haben.«
»Ein administratives Problem«, erwiderte Jess.
»Mit solchen Dingen kenne ich mich aus. Diese Leute brauchen ihre Sprecherin.« Sie schenkte ihm ein erleichtertes Lächeln. Hier draußen im Freien, im Licht der Sterne, fand Jess sie wunderschön.
Er zögerte, doch sie wussten beide um den Plan der Wentals. »Wir haben lange gebraucht, um zueinanderzufinden, aber jetzt müssen wir uns wieder trennen. Du fliegst nach Yreka und ich nach Theroc.«
»Ich weiß«, sagte Cesca. »Auch ich habe gehört, wie die Weltbäume nach den Wentals riefen.«
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Die Verdani hatten geschworen, mit ihnen zu kämpfen -Weltbäume und Wentals hatten ein Bündnis geschmiedet, noch fester als das vor zehntausend Jahren. Jess küsste Cesca, und die Trauer des Abschieds machte ihre Lippen noch süßer. »Beim Leitstern, wenn dies alles vorbei ist, bleiben wir für immer zusammen.«
84 KOTTO OKIAH
Kotto waren fast die Ideen ausgegangen - eine ganz neue Erfahrung für ihn.
Bei der Untersuchung der Ruinen auf Jonah 12 entdeckte er hohe Radioaktivität, was auf eine fatale Kernschmelze des Reaktors hindeutete.
(So etwas sollte eigentlich unmöglich sein, aber die Daten ließen keinen anderen Schluss zu.) Er fand keine Schiffe in der Nähe, kein Anzeichen von Leben und keine Antworten.
Er machte sich auf die Suche. Nachdem er sich in drei anderen Sonnensystemen umgesehen hatte, fand er eine kleine Roamer-Siedlung, die ausgerechnet Sonnenschein hieß. Ein heißer Photonensturm fegte über die Oberfläche des Planetoiden hinweg. Der Tomara-Clan hatte Tunnel in die Kraterwände gegraben und sich im Innern des kleinen Himmelskörpers niedergelassen. Sonnenkollektoren versorgten ihn mit Energie. Während der langen, kalten Nächte auf Sonnenschein arbeiteten die Roamer auf der Oberfläche.
Die Kolonie war fast leer. Kotto fragte, wohin alle verschwunden waren. »Sie sind nach Yreka geflogen«, antwortete ein einarmiger Alter, der die rolle
Kont
n einer Tunnelbaumaschine bediente - sie war fast fünfmal so wie
groß
er. »Meine Gruppe kann die Arbeit hier auch allein erledigen, 232
und deshalb haben sich alle anderen aufgemacht, um Handel zu treiben.«
»Yreka? Was gibt es auf Yreka?« Die beiden Kompis KR und GU begannen sofort damit, die statistischen Daten der Hanse-Kolonie zu nennen, aber Kotto brachte sie mit einem Wink zum Schweigen.
»Die größte Tauschbörse im Spiralarm«, sagte der Einarmige. »Fast so etwas wie freier Handel.«
»Das sehe ich mir an.« Vielleicht fand er dort seine Mutter oder Sprecherin Peroni. Kotto dankte dem Mann, nahm seine beiden Kompis und verließ Sonnenschein.
Sofort entdeckte er Denn Peronis Srure Beharrlichkeit auf Yrekas Landefeld. Die Einheimischen hatten ein lukratives Geschäft aus ihrem neuen Marktplatz gemacht - es gab Restaurants und Imbissbuden für die vielen Besucher. Von Golgen kam beständiger Ekti-Nachschub, und das ermöglichte wieder regelmäßigen Flugverkehr zwischen den Kolonien.
Als Kotto sein Schiff verließ, befand sich Denn Peroni unter den Leuten, die ihn begrüßten. Sprecherin Peronis Vater lachte, als er das Gesicht des Ingenieurs sah. »Nie zuvor habe ich ein solches Grinsen gesehen! Man könnte meinen, Sie hätten gerade einen vergrabenen Schatz gefunden.«
»Noch besser - ich habe Menschen gefunden. Dort draußen wurde es ziemlich einsam.«
Umgeben von einer kunterbunten Mischung aus Raumschiffen und einem lauten Stimmengewirr wanderten Kotto und Denn zwischen den Verkaufsständen. Kotto sah ungewöhnliche Musikinstrumente, kunstvolle Skulpturen und farbenprächtig bestickte Kleidung, die kaum praktischen Zwecken diente. Denn lachte. »Es ist ein gutes Zeichen für eine gesunde Wirtschaft, wenn Leute völlig nutzlose Dinge kaufen.«
233
Er stellte Kotto der Großgouverneurin von Yreka vor. Dünne silbergraue Strähnen zeigten sich in ihrem langen dunklen Haar, das bis zur Hüfte reichte. Sie freute sich ganz offensichtlich über die jüngsten wirtschaftlichen Entwicklungen. »Ich habe viel von Ihnen gehört, Kotto Okiah. Sie sind der Einstein der Roamer.«
Er errötete. »Das erscheint mir übertrieben, wenn ich an all die Fehler denke, die ich in den vergangenen Jahren gemacht habe. Ich wollte die Basis auf Jonah 12 besuchen, aber sie wurde vernichtet. Kernschmelze des Reaktors, oder etwas in der Art. Ich habe keine Überlebenden gefunden und hoffe
s sie
, das
sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.«
»Jonah 12?«, wiederholte Denn besorgt. »Dort versteckte sich Cesca nach der Zerstörung von Rendezvous.«
Daran hatte Kotto nicht gedacht. »Aber warum sollte Sprecherin Peroni einen solchen Ort aufsuchen?«
»Um sich vor den Tiwis zu verbergen. Wie wir alle.« Denn war ganz offensichtlich beunruhigt, strich mit der einen Hand über sein langes braunes Haar und versuchte, die Neuigkeiten zu verarbeiten.
Kotto schluckte. »Äh... haben Sie irgendetwas von meiner Mutter gehört?«
»Ich dachte, sie ist bei Cesca, um ihr zu helfen.« Denn rieb sich die Schläfen.
»Shizz, wenn wir doch nur anständige Kommunikation hätten! Niemand weiß etwas von unseren Leuten.«
Die Großgouverneurin musterte sie beide. »So wie Ihr rolk verstreut ist, dürfte Yreka der beste Ort sein, um Informationen zu bekommen. Dauernd kommen Besucher mit neuen Nachrichten.«
Wie um ihre Worte zu unterstreichen, landeten zwei weitere Roamer-Schiffe
- die Kommandanten schienen es eilig zu haben, ihre Handelswaren fe
bi
ilzu eten.
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Eine untersetze Frau trat vor, gekleidet in eine nicht passende Kombination aus alter Arbeitskleidung und einem prächtigen neuen Halstuch. Yrekas provisorische Handelsministerin reichte der Großgouverneurin einen Datenschirm. »Eine Liste der jüngsten Neuzugänge, Sarhi. Wenn Sie etwas kaufen möchten, so sollten Sie sich beeilen. Es gibt reichlich Käufer.«
»Die Versteigerungen sollen ruhig weitergehen. Ich habe derzeit genug.«
Fröhliche Leute boten lauthals ihre Waren an - es war wie in guten alten Zeiten. Doch Kotto konnte sich nicht recht freuen. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Tiwis? Wenn sie dies herausfinden, ergreifen sie sofort Gegenmaßnahmen. Sie halten nicht viel von den Roamern.«
»Die Tiwis können mich mal«, brummte Denn zornig. »Ich habe keine Angst vor ihnen.«
Die Großgouverneurin reagierte ruhiger. »Wir haben genug von der Terranischen Verteidigungsflotte. Sie verhängte ein Embargo über diesen Planeten, weil wir ein wenig Ekti für eigene Zwecke zurückbehielten, und als wir sie um Hilfe riefen, reagierte sie nicht. Jetzt hat man uns praktisch abgeschrieben und alle Schlachtschiffe zur Erde zurückbeordert. Dort hat man zu große Angst vor den Hydrogern.«
Denn sah zu den Frachtern der Roamer und beobachtete die Kunden.
»Dadurch steht uns der Spiralarm offen«, sagte er kühn. »Die Clans können die neue Situation nutzen.«
Ein Windstoß erfasste das Haar der Großgouverneurin, und sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Die Waffen der TVF wirken nicht gegen die Hydroger. Die Schlachtschiffe wären ohnehin kein Schutz für uns gewesen.«
Kotto lächelte und erinnerte sich plötzlich daran, warum er nach Yreka gekommen war. »Ich kenne etwas, das gegen die Droger funktioniert.«
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Denn rollte mit den Augen. »Was geht Ihnen jetzt schon wieder durch den Kopf?«
»Oh, es ist eine einfache kleine Sache. Die Konstruktionsunterlagen befinden sich an Bord meines Schiffes. KR, GU, holt sie.« Die beiden analytischen Kompis machten sich sofort auf den Weg, und Kotto erklärte, wie seine Türklingeln die Luken der Hydroger-Schiffe öffneten, wodurch die unter hohem Druck stehende Atmosphäre entwich. Kurze Zeit später kehrten GU und KR mit den Unterlagen zurück. Jeder von ihnen trug einen Teil der Konstruktionspläne - ein Kompi hätte völlig ausgereicht.
»Sie haben uns aufgefordert, die Konstruktionsunterlagen gemeinsam zu holen«, sagte KR. »Es erschien uns recht ineffizient«, fügte GU hinzu. Kotto zeigte die Pläne. »Bei Theroc haben wir mit einigen zivilen Schiffen ebenso viele Hydroger-Kugeln erledigt wie die Tiwis seit Beginn des ganzen Krieges.«
Denn blickte auf das einfache Diagramme hinab. »Mir fallen mindestens fünf oder zehn Industrieanlagen der Roamer ein, die solche Türklingeln innerhalb kurzer Zeit und in großer Zahl herstellen können.«
Die Großgouverneurin lächelte. »Wir statten alle im Stich gelassenen Hanse-Kolonien damit aus. Wenn die Hydroger angreifen, werfen wir ihnen solche Türklingeln wie Konfetti entgegen.«
Denn lachte. »Ein wenig Unabhängigkeit kann nicht schaden, wie es bei uns Roamern heißt.«
Kotto legte die Hände auf die Polymerschultern seiner Kompis. »Glaubt ihr, ann hie
ich k
r bleiben und helfen, vielleicht die Leitung des Projekts übe n
r ehmen? Ich habe nach einer anspruchsvollen Aufgabe gesucht.«
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85 ZHETT KELLUM
Blitze zuckten am Nachthimmel von Golgen. In der Troposphäre blinkten die hellen Lichter neuer Himmelsminen und signalisierten sich gegenseitig ihre Positionen. Die Triebwerkstrahlen von Frachtern und Shuttles, die Passagiere von einer Wolkenstadt zur nächsten brachten, hinterließen Rauchfahnen in der Atmosphäre. Zum ersten Mal seit Jahren erledigten Roamer wieder die Arbeit, für die sie geboren waren.
Zhett saß auf einem Stuhl des Beobachtungsdecks, die Füße aufs Geländer gestützt, und der Wind spielte mit ihrem dunklen Haar. Zwar lauschte sie, gab sich aber lässig und ungezwungen, als sich Arbeiter und Clanoberhäupter versammelten, um die Neuigkeiten zu hören, die Nikko Chan Tylar mitgebracht hatte.
Der junge Nikko sprach voller Begeisterung über seine Aufgabe. Er hatte Golgen am vergangenen Nachmittag mit seiner exotisch veränderten Aquarius erreicht und aufgeregt darum gebeten, zu den Repräsentanten aller Himmelsminen sprechen zu dürfen. Zhetts Vater hatte die gute Gelegenheit genutzt, um eine Party auf dem Beobachtungsdeck zu veranstalten.
Die Partygäste tranken Pfefferblumentee oder selbst gebrannte alkoholische Spezialitäten, während sie Nikko zuhörten. »Dies ist unsere Chance - wir haben tatsächlich die Möglichkeit, die Droger zu besiegen. Die Wentals sind genauso mächtig wie die Hydroger, aber sie brauchen uns, um sich auszubreiten. Wir Roamer - wir Menschen müssen sie unterstützen.«
»Ach, wir haben uns hier gerade eingerichtet«, sagte Boris Goff. Seine Himmelsmine war vor vier Tagen eingetroffen, und seitdem schien er nicht me r g
h
eschlafen zu haben.
235
»Geben Sie uns einige Wochen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Beim Leitstern, ist Ihnen klar, wie lange es her ist, seit Roamer genug Ekti produziert haben, um den Treibstoff zu verkaufen?«
Nikko deutete übers Geländer des Beobachtungsdecks hinweg. Seine Geste galt dem friedlichen Wolkenmeer. »Sie verdanken es den Wentals, dass Sie hier eine neue Chance bekommen haben. Jess Tamblyn hat sie in der Atmosphäre dieses Gasriesen freigesetzt. Sie haben die Droger von Golgen vertrieben.«
»Komm zur Sache, Junge«, sagte Bing Palmer, der eine gemeinsame Himmelsmine der Palmer- und Sandoval-Clans verwaltete. »Was erwartest du von uns? Sollen wir weitere Wasserplaneten suchen, auf denen die Wentals leben und wachsen können?«
Nikko schüttelte den Kopf. »Nein, das haben wir bereits erledigt, die anderen Wasserträger und ich. Jetzt ist es an der Zeit, die Wentals in den Kampf zu schicken. Roamer-Schiffe müssen Wental-Wasser aufnehmen und damit eine große Offensive beginnen. Überall gleichzeitig. Nur auf diese Weise können wir diesen Krieg beenden.«
»Verdammt, das klingt nach einem ziemlich großen Unternehmen«, sagte Kellum. »Und nach einem logistischen Albtraum.«
»Seit wann scheust du vor einer großen Sache zurück, Vater?« Zhett lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und faltete die Hände hinterm Kopf. »Hier ist alles in Ordnung. Jede Stunde bringen Frachter Ekti fort und liefern den Treibstoff schneller, als wir Rechnungen für unsere Kunden schreiben können.«
»Die Hydroger wissen jetzt, dass die Wentals zurückgekehrt sind, und das bedeutet, dass eine kritische Phase des Krieges unmittelbar bevorsteht.«
o sprach
Nikk
mit eindringlicher Stimme. »Wenn wir die Hydroger nicht besi en
eg
, ver
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schwindet unsere traditionelle Lebensweise in einem bodenlosen Gravitationsschacht. Die Wentals brauchen uns, und wir brauchen sie!«
»Die verdammten Tiwis werden die Droger wohl kaum besiegen«, brummte ein neuer Himmelsminenchef, den Zhett nicht kannte. »Bei den bisherigen Konfrontationen haben die Droger ihnen jedes Mal eine gehörige Abreibung verpasst.«
Boris Goff lachte grollend. »Ha, es wäre wohl ziemlich peinlich für die Tiwis, wenn wir Roamer die Menschheit retten, was?«
»Warum sollten wir ihnen oder der Großen Gans helfen, verdammt?«, fragte Kellum scharf. »Denkt daran, was sie mit uns gemacht haben.«
Zhett stand auf. »Wenn ich mich recht entsinne, hast du einmal davon gesprochen, dass man anderen zu Hilfe kommen sollte, Vater.«
»Das war etwas ganz anderes, Schatz.« Kellum kratzte sich am Bart und überlegte. Die Lichter der weit entfernten Himmelsminen blinkten noch immer - sie waren wie einsame Wächter über den Wolken. Abgaswolken wirkten wie in der kalten Luft kondensierter geisterhafter Atem.
»Glaubt mir, ich halte nichts von den Tiwis«, sagte Nikko. »Sie haben die Gewächshausasteroiden meiner Familie zerstört. Meine Eltern sind vermutlich Kriegsgefangene in irgendeinem Arbeitslager. Doch die Hydroger stellen ein größeres Problem dar. Ich bitte euch nur darum, einige Schiffe für den Transport von Wental-Wasser zur Verfügung zu stellen.«
Der junge Mann lächelte und sah Zhett an, die sich an die Clanoberhäupter wandte. »Was ist los mit euch? Wollt ihr die größte Schlacht versäumen, die jemals im Spiralarm stattgefunden hat?«
»Das soll mich überzeugen?«, erwiderte Goff. »Nach dem, was wir bereits durchgemacht haben?«
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Bing Palmer schnaufte. »Shizz, Boris, jahrelang haben Sie sich damit gebrüstet, eine Himmelsmine innerhalb eines mondgroßen Orkans über Franconia betrieben zu haben. Es wird Zeit, dass Sie sich neue Geschichten zulegen, wenn Sie möchten, dass jemand Ihnen einen Drink ausgibt.«
»Folgt eurem Leitstern«, sagte Nikko. »Es wird Zeit, weitere Gasriesen von den Hydrogern zu befreien, so wie Golgen. Denkt daran, wie viele Roamer in der hiesigen Blauen Himmelsmine gestorben sind. Und in all den anderen.«
»Die verdammten Droger haben meine Shareen über Welyr getötet«, stieß Kellum hervor. »Verdammt, ich gebe Ihnen meine Stimme, Nikko. Wir haben genug Schläge in die Magengrube bekommen, und ich hab's satt, mich zusammenzukrümmen. Am liebsten würde ich dem Vorsitzenden der Hanse für das, was er mit Rendezvous gemacht hat, den Hals umdrehen, aber ich gebe mich auch damit zufrieden, die Droger auszulöschen.
Vorerst.«
Nikko lächelte erleichtert. »Ich nenne Ihnen die Koordinaten eines Planeten namens Charybdis - die erste Welt, zu der Jess Tamblyn die neuen Wentals brachte. Nehmen Sie dort so viel Wental-Wasser wie möglich auf. Wir haben Flugpläne erstellt, damit wir, die anderen Wasserträger und deren Helfer dafür sorgen können, dass alles glatt läuft.«
Überall wurden Stimmen laut, als die versammelten Roamer über Raumschiffe und Ausrüstungen sprachen, darüber, wann sie den Ozeanplaneten erreichen würden und wer sonst noch an diesem Unternehmen teilnehmen konnte. Nikko ging auf dem Beobachtungsdeck umher, und Zhett bemerkte, dass er sie immer wieder ansah. Sie achtete nicht auf ihn, trat zum Geländer und blickte übers Wolkenmeer hinweg.
Nikko war ein attraktiver junger Mann, wenn auch ein wenig flatterhaft. Sie e
hatt beobachtet, wie er den Osquivel-Werften Lieferungen gebracht hatte, dabei entweder zu spät oder zu früh eingetroffen war, nie pünktlich. An 237
einem Flirt mit ihm lag ihr nichts. Sie litt noch immer an den schlechten Erfahrungen mit Patrick Fitzpatrick.
Irgendwann brach der Pilot auf, um seine Botschaft anderen Roamer-Siedlungen zu bringen. Zhett sah, wie sein sonderbares, halb überwuchertes Schiff vom unteren Landedeck abhob und aufstieg, und plötzlich bedauerte sie, sich nicht von ihm verabschiedet zu haben.
Sie war des prahlerischen Geredes und der Großtuerei auf dem Beobachtungsdeck überdrüssig und dachte an kleinere Dinge. Angesichts so wichtiger Ereignisse erschien es ihr seltsam, sich mit persönlichen Gefühlen zu befassen. Aber nachdem sie die Werften von Osquivel verlassen hatte, fühlte sie sich einsam. Sie verabscheute die Art und Weise, wie Fitzpatrick sie verraten hatte - und sie verabscheute sich selbst, weil sie ihn vermisste.
86 PATRICK FITZPATRICK III.
»Keine Ausnahmen«, wiederholte seine Großmutter und ärgerte sich vor allem über ihr eigenes Versagen. Die Trauer wegen des Abschieds von ihrem Enkel kam an zweiter Stelle. »Es tut mir leid, Patrick. Es ist Jahrzehnte her, seit ich Vorsitzende der Hanse gewesen bin, und die Gefallen, die mir gewisse Leute schulden, zählen heute nicht mehr viel.«
Spät am Abend machte er eine Runde durch die Küche, sah sich den Inhalt von Speisekammer und Kühlschrank an und genehmigte sich einen schnellen Imbiss. Er hatte Maureen nicht darum gebeten, ihre Be e
zi hungen für ihn spielen zu lassen, aber er wusste, dass sie nichts unversucht ließ, wenn sie glaubte, dass es zu »seinem Besten« war.
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»Du hast dir bestimmt alle Mühe gegeben«, sagte Patrick und ging in Gedanken seine Möglichkeiten durch. »Niemand macht dir Vorwürfe.« Er konnte nicht in den Dienst der Terranischen Verteidigungsflotte zurückkehren. Der Grund war nicht etwa ein erlittenes Trauma, sondern die Dinge, für die das terranische Militär stand, und wozu es ihn gezwungen ' hatte. Immer wieder träumte er von Kamarows Schiff, von dem Befehl, das Feuer zu eröffnen, von der Explosion. Der Roamer war völlig wehrlos gewesen.
»Nein, Mr. Fitzpatrick. An derartige Dinge erinnere ich mich nicht. Und Sie auch nicht.«
Wie konnte er einem Mann wie General Lanyan dienen? Patrick hatte auf seine Anweisung hin gehandelt, glaubte aber, dass auch er selbst Strafe verdiente. In gewisser Weise hatte er büßen wollen, indem er die Öffentlichkeit darauf hinwies, welche Ungerechtigkeit den Roamern widerfahren war. Er dachte an Zhett. Vielleicht konnte er irgendwo einen Hinweis darauf finden, wo sie sich befand ...
Maureen runzelte die Stirn. »Hörst du mir zu, Patrick? Ich ;ann Wanda beauftragen, dir etwas zu kochen. Das dürfte besser sein als...«
»Dies genügt mir völlig.« Die große Küche bot eine enorme Auswahl: Fleisch und exotisches Gemüse, zahlreiche Süßspeisen, Käse von fünf verschiedenen Welten. Patrick war an derartigen Luxus nicht mehr gewöhnt und fand ihn beunruhigend, sogar anstößig.
In der TVF hatte er gegessen, was in der Messe angeboten wurde, und nach einigen Monaten der Anpassung war er damit zufrieden gewesen. Die Speisen der Roamer bei Osquivel waren ungewöhnlich gewürzt gewesen, aber schließlich hatte er sie gemocht. Dies war einfach zu viel. Er holte sich ein Glas Wasser und schenkte den vielen Säften, Energiedrinks und Likören seiner Großmutter keine Beachtung.
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»Die TVF wird dich einem guten Schiff zuweisen«, fuhr Maureen fort.
»Vielleicht kommst du sogar zu General Lanyan. Er hatte immer eine Schwäche für dich. Bei ihm bist du in Sicherheit.«
Patrick warf ihr einen zynischen Blick zu. »Der General ist nicht unbedingt an der Sicherheit anderer interessiert.«
»Wie dem auch sei ...« Die Stationierung ihres Enkels schien Maureen weniger zu beschäftigen als die Möglichkeit, dass sie die Situation falsch eingeschätzt hatte. »Ich verspreche dir, dass ich dich sofort nach Hause hole, wenn die Krise vorbei ist.«
Patrick lachte, aber es klang recht bitter. »Welchen Teil der >Krise< meinst du? Wenn wir den Sieg über die Hydroger errungen haben? Oder sobald es uns gelungen ist, jene Schiffe zurückzuholen, die die Soldaten-Kompis unter ihre Kontrolle gebracht haben? Sprechen wir hier auch von einem vollständigen Sieg über alle Roamer-Clans?«
»Sprich nicht in einem solchen Ton mit mir. Ich versuche zu helfen.«
Patrick zog einige Scheiben Käse aus einem Päckchen und aß sie mit den Fingern. »Und ich versuche, realistisch zu sein, Großmutter. Ich bin bereits im Kampf gewesen.« Jähe Panik schnürte ihm den Hals zu, als er sich an das Massaker von Osquivel erinnerte: Die Hydroger-Kugeln zerstörten die TVF-Schiffe schneller, als man zählen konnte ... Er entsann sich daran, wie er das Wrack seines Mantas aufgab und durch die Fenster der Rettungskapsel beobachtete, wie der Rest der TVF-Flotte floh, ohne sich um eventuelle Überlebende zu kümmern. »Die Hydroger werden keine Mühe haben, uns zu erledigen.«
Maureen sammelte Verpackungsmaterial ein und räumte die Küche auf, noch bevor ihr Enkel mit dem Imbiss fertig war. Verärgert betrachtete sie die l
F ecken, die Patrick auf der Arbeitsplatte hinterlassen hatte, aber sie ver 239
suchte, aufmunternd zu klingen. »Wenn die Hydroger oder die Soldaten-Kompis versuchen, die Erde zu zerstören, hast du fernab dieser Welt vielleicht größere Überlebenschancen.«
Er sah sie stumm an. Als die schwere Stille andauerte, wuchs Maureens Unbehagen. Sie war daran gewöhnt, Bediensteten und Untergebenen Befehle zu erteilen, in dem Wissen, dass sie alles tun würden, ihren Wünschen zu entsprechen. Sie wusste nicht, wie sie mit ihrem Enkel fertig werden konnte. Schließlich entschied sie, sich zurückzuziehen. »Ich wollte dir nur sagen, dass ich alles versucht habe. Ich überlasse dich jetzt deinem
... Imbiss. Wir können dieses Gespräch morgen früh fortsetzen.«
Patrick aß den Käse, obwohl er den Appetit verloren hatte. Sein Entschluss stand bereits fest.
Er erinnerte sich an die seltsam befriedigende Arbeit, die er in den Werften von Osquivel geleistet hatte. Hier auf der »zivilisierten« Erde hatte er immer wieder gehört, dass die Weltraumzigeuner ehrlos und gemein waren.
Niemand in der Hanse hatte jemals die Leistungen der Roamer gewürdigt.
Stattdessen hatte man sie immer wieder beleidigt, sie als einfallslose Hochstapler dargestellt, die keinen Respekt verdienten.
Aber Patrick hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Roamer-Familien zusammenarbeiteten und Wunder vollbrachten. Und er war gern mit Zhett Kellum zusammen gewesen. Er bedauerte noch immer, sie hintergangen zu haben, um zu fliehen, und er hoffte, es eines Tages wiedergutmachen zu können.
Er hatte seinen Dienst beim irdischen Militär geleistet, für General Lanyan gearbeitet und gesehen, auf welche launische und unfaire Art politische Entscheidungen getroffen wurden. Inzwischen war Patrick davon übe z
r eugt, dass die TVF und die Hanse ihre Probleme selbst verursacht hatten.
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Aber aus ihrer Position konnte Maureen die Fehler nicht erkennen.
Patrick betrat sein geradezu absurd großes Zimmer, obwohl er nicht müde war - zum Glück, denn ihm stand eine lange Nacht bevor. Von jetzt an gab es kein Zurück mehr.
Er streifte praktische Kleidung über, packte dann saubere Sachen, Bargeld und aus der Küche stammenden Proviant ein. Bei der TVF hatte er gelernt, mit leichtem Gepäck zu reisen, schnelle Entscheidungen zu treffen und entschlossen zu handeln. Als er fertig war, ging er auf leisen Sohlen durch die Villa, deaktivierte sowohl die Alarmanlage für das Haus als auch die Grundstücksüberwachung. Dann begab er sich in die Garage, wo seine alten Wagen nach Wachs und Motoröl rochen.
In der hangarartigen Erweiterung auf der anderen Seite stand Maureens Raumjacht, ein kleines Raumschiff, das eine sehr reiche Person in einer Zeit des Wohlstands gekauft hatte. Patrick fragte sich, ob die alte Streitaxt das Schiff aus eigener Tasche bezahlt hatte, oder ob es sich um ein »Ge-schenk« politischer Freunde handelte, als Gegenleistung für einen lukrativen Vertrag. Er plante, sich die Jacht auszuleihen und für einen wichtigen Zweck zu verwenden. Er wollte nach Stützpunkten der Roamer suchen, zu den von der Hanse im Stich gelassenen Kolonien fliegen und seine Geschichte allen erzählen, die bereit waren, ihm zuzuhören.
Bestimmt fand er irgendwo ein verständnisvolles Ohr. Eine Person mit seiner Abstammung und einem relativ hohen Rang in der Terranischen Verteidigungsflotte hatte genug Glaubwürdigkeit, um selbst Skeptiker nachdenklich werden zu lassen. Es wurde höchste Zeit, den Namen Fitzpatrick für etwas Sinnvolles einzusetzen.
Maureen hatte immer sein Leben kontrolliert. Patrick Fitzpatrick III. war e
imm r gezwungen gewesen, das zu tun, was sie gewünscht hatte. Und er hatte bereits ein halbes
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Leben der TVF gewidmet. »Jetzt wähle ich meinen Weg selbst.«
Leise öffnete er das Hangartor, kletterte in die Jacht und stellte fest, dass die Cockpitkontrollen weniger kompliziert waren als die eines Remora.
Dieses Schiff war für jemanden bestimmt, der sich nicht mit den Nuancen des Raumflugs auskannte, von schnellen Ausweichmanövern während eines Kampfes ganz zu schweigen.
Die Ekti-Tanks waren voll. Patrick schnaufte voller Abscheu. Es herrschte allseits Mangel, und viele Kolonien brauchten dringend Nachschub und Lebensmittel - doch Maureen Fitzpatrick nahm sich das Recht, einen privaten Treibstoffvorrat zu horten. Ihr Enkel beschloss, ihn gut zu nutzen.
Patrick aktivierte das Triebwerk, fühlte die Vibrationen des Schiffes und hörte das Fauchen der Düsen. Zwar waren die Alarmanlagen der Villa ausgeschaltet, aber das Triebwerksgeräusch würde bestimmt jemanden wecken. Seine Großmutter hatte immer einen leichten Schlaf gehabt, vielleicht wegen ihres schlechten Gewissens.
Patrick blickte nicht zurück, hinterließ keine Mitteilung zum Abschied.
Natürlich verzichtete er darauf, um Starterlaubnis zu fragen oder einen Flugplan zu übermitteln. Er gab Schub, und die Jacht stieg am Nachthimmel auf, ließ die zerklüfteten Berge von Colorado unter sich zurück und strebte den Sternen entgegen.
Irgendwo dort draußen würde er die Roamer finden. Und Zhett.
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87 DESIGNIERTER DARO'H
Der Zorn des menschlichen Mobs ließ nach, als die lange Nacht zu Ende ging. Das Feuer hatte bereits das alte Zuchtlager vernichtet und sich dann, vom Wind angefacht, in der Hauptsiedlung ausgebreitet. Menschen und Ildiraner kämpften bis zum Morgengrauen ums Überleben.
Viele Personen waren gestorben. Daro'h hatte ihre Qualen im Thism gefühlt, als sie entweder von den Aufständischen oder vom Feuer getötet wurden.
Irgendwie war es der grünen Priesterin gelungen, den Mob daran zu hindern, Udru'h umzubringen. Der inzwischen bewusstlose frühere Designierte hatte mehrere Knochenbrüche, eine Gehirnerschütterung und innere Blutungen erlitten. Er befand sich nun in der Obhut der Ärzte, die sich derzeit um zahlreiche Patienten kümmern mussten. Daro'h fragte sich, was Udru'h mehr schadete: die Verletzungen oder der mentale Schock angesichts des Transfers grässlicher Erinnerungen.