eine Standardausführung. Rlinda löste einige Werkzeuge vom Gürtel des Schutzanzugs und machte sich an die Arbeit. Rasch schraubte sie die Tafel ab, und darunter kam eine mit handschriftlichen Bezeichnungen markierte Verdrahtung zum Vorschein. »Wie soll ich damit klarkommen?«
Etwa ein Dutzend Sprossen unter Rlinda war BeBob noch am Klettern.
»Möglichst schnell, wenn es nach mir geht.« Den Worten folgte ein erschrockener Schrei.
Der nächste Nematode hatte fast sein Bein erreicht, und BeBob trat so fest zu, dass sich das wurmartige Wesen trotz des klebenden Schleims von der Wand löste und in die Tiefe fiel. Aber sieben andere Nematoden näherten sich bereits, und ihnen folgten noch viel mehr.
Rlinda begriff, dass ihnen nur wenig Zeit blieb - zu wenig, um die Kontrollen zu enträtseln und die Luftschleuse auf die übliche Weise zu öffnen. Es gab nur eine andere Möglichkeit, und sie war mit gewissen Risiken verbunden, aber die ließen sich nicht vermeiden. Rlinda zögerte nicht und traf ihre Entscheidung. »Halt dich gut an den Sprossen fest, BeBob.« Sie kratzte mit einem Schraubenzieher über die Schaltkreise, um die Sicherheitssperren mit Kurzschlüssen zu neutralisieren. Dann öffnete sie manuell die Innen-und Außentür.
Mit einem jähen Fauchen strömte die Luft aus dem Schacht nach draußen.
Rlinda hakte die Füße hinter eine Sprosse und hielt sich mit beiden Händen fest, als die entweichende Luft an ihr zerrte. BeBob befand sich dicht unter ihr und klammerte sich ebenfalls an die Sprossen.
Tief, tief unten schloss sich ein Notschott, um die bewohnten Bereiche der Wassermine zu schützen. Weitere Schotten riegelten einzelne Segmente des Schachtes ab. Zumindest etwas funktionierte noch.
Die ins Vakuum entweichende Luft riss die Nematoden von den Wänden.
Wie feuchte Schleimbrocken sausten sie
139
an BeBob und Rlinda vorbei, und als sie draußen in die kalte Leere gerieten, konnten ihre Membranen dem Innendruck nicht mehr standhalten: Die wurmartigen Wesen platzten.
Das Zerren des Winds dauerte nur einige Sekunden, bis der Schacht leer war. Rlinda beugte sich nach unten, ergriff BeBobs Hand und zog ihn nach oben. Zusammen kletterten sie durch die Luftschleuse. Draußen sahen sie Hütten, Pumpstationen und mehrere Wassertanker. Und die Unersättliche Neugier.
Rlinda lachte voller Erleichterung darüber, ihr Schiff zu sehen, blickte dann auf scharlachrotes Eis und zerfetzte Nematodenkörper hinab. BeBob sprang an ihr vorbei. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Karla Tamblyn könnte jeden Augenblick die Kruste durchstoßen.«
Der Hinweis genügte Rlinda. Kurze Zeit später waren sie an Bord, und Rlinda aktivierte das Triebwerk. »Die Neugier ist noch immer ziemlich mitgenommen, und allem Anschein nach haben die Roamer noch keine Gelegenheit gefunden, alles in Ordnung zu bringen. Aber sie ist flugbereit.«
»Dann lass uns fliegen.«
Rlinda und BeBob verließen Plumas und kehrten ins All zurück.
48 GENERAL KURT LANYAN
Die Explosion der Sprengladungen öffnete den Hangar der Goliath. General Lanyans erste Einsatzgruppe verwendete Manövriertornister und flog durch die Öffnungen. Es wurde Zeit, mit der Arbeit zu beginnen.
140
»Stellen Sie sich die Sache als eine Art Schädlingsbekämpfung vor. Wir schicken uns an, eine Plage auszumerzen.« Professionell klingende Antworten kamen aus dem Helmlautsprecher. Diese Kleebs hatten sich in Kriegszeiten für den Dienst in der TVF entschieden. In ihren Kojen im Ausbildungslager der Flotte hatten sie davon geträumt, an echten Kampfeinsätzen teilzunehmen. Jetzt würden sie Action bekommen, massenhaft.
Sobald die Rekruten ihre magnetischen Stiefel mit dem Hangarboden verbunden hatten, machten sie von ihren Projektilwaffen Gebrauch. Die letzten Soldaten-Kompis im Hangar hatten keine Chance. Metall- und Polymerfragmente trieben ins All hinaus.
»Alles gesichert«, erklang eine Meldung in Lanyans Helm.
Als TVF-Wachen an den Zugangspunkten stationiert waren, von denen aus man weiter ins Innere des Schiffes gelangen konnte, leitete Lanyan die zweite Phase ein. Hunderte von Rekruten in gepanzerten Schutzanzügen verließen die Kavallerie-Schiffe, erreichten den Hangar des Moloch und richteten dort einen Brückenkopf ein.
Lanyan brauchte diese unerfahrenen Soldaten für eine schwierige Aufgabe, aber er beschrieb ihnen nicht in allen Einzelheiten, was geschehen würde -
die jungen Männer und Frauen sollten keine weichen Knie bekommen.
»Wir haben die Triebwerke lahmgelegt, aber das bedeutet noch keinen Sieg«, teilte er seiner Truppe mit. »In diesem Moloch wimmelt es von Soldaten-Kompis, und bestimmt wollen sie das übernommene Schiff nicht so einfach aufgeben. Nach unserer Datenbank wurde die Goliath mit zwei-hundertvierzig Blechburschen ausgestattet. Die Besatzung dürfte einige von ihnen erledigt haben, aber ich schätze, es sind noch genug für uns übrig.«
Lanyan schritt durch den Hangar. »Nach dem Killkode für die Deaktivierung des Triebwerks habe ich eine Befehls 140
sequenz übermittelt, die den Computer des Moloch veranlasst hat, alle Lifte stillzulegen. Das bedeutet, dass die Kompis auf den einzelnen Decks festsitzen.«
»Können uns die Kompis hören, General?«
Lanyan verzog das Gesicht. »Nur wenn Sie so dumm sind, auf einem offenen Kanal zu senden, Soldat.«
»Nein, Sir, das wäre gegen die Vorschriften.«
Lanyan winkte mit der behandschuhten Hand. »Wir setzen die Soldaten-Kompis in diesem Bereich des Schiffes außer Gefecht und benutzen ihn als unsere Basis. Wir zeigen den verdammten Robotern, was es bedeutet, methodisch zu sein. Nachdem wir das Hangardeck gesäubert haben, nehmen wir uns die Brücke vor. Wenn uns die Brücke gehört, habe ich das Schiff unter Kontrolle, und dann ist alles vorbei. Anschließend müssen wir nur noch den Kleinkram erledigen.«
Er forderte die Rekruten auf, ihre Waffen zu überprüfen, Reservemagazine für die Projektilwaffen und Energiepakete bereit zu halten, sodass sie sofort nachladen konnten. Als Rufe darauf hinwiesen, dass die ersten Gruppen bereit waren, forderte Lanyan sie auf, sich erneut mit den magnetischen Stiefeln zu verankern. »Wenn wir die Türen öffnen, strömt uns Luft entgegen. Sie möchten bestimmt nicht ins All getrieben werden.«
Die Luken, die vom Hangar ins Innere des Schiffes führten, wurden gleichzeitig geöffnet. Es kam zu einem kurzen Sturm, als die Luft des ganzen Hangardecks ins Vakuum des Alls entwich. Luft war leicht zu ersetzen; bei menschlichen Soldaten sah die Sache ein wenig anders aus.
Etwa zehn Soldaten-Kompis hatten bei jeder Luke gewartet, bereit für den Kampf, aber die plötzliche Dekompression überraschte sie. Viele von ihnen verloren das Gleichgewicht. Andere wurden durch die Zugänge gerissen.
Ein Hagel aus Projektilen trieb den Rest zurück.
141
»Erledigt sie«, forderte Lanyan die Rekruten auf. »Zeigt ihnen, was ihr im Ausbildungslager gelernt habt.«
Jetzt, da das Hangardeck dem Vakuum ausgesetzt war, kräuselte Dampf unter geschlossenen Kabinentüren hervor. Blutspritzer gefroren an den Wänden.
Die Gruppen teilten sich dem Einsatzplan gemäß auf. Vor dem Überstreifen der Schutzanzüge hatten sich alle Rekruten Strukturdiagramme der Goliath angesehen. Für jene von ihnen, die ein schlechtes Gedächtnis hatten oder in kritischen Situationen nicht klar denken konnten, gab es die Möglichkeit, sich entsprechende Übersichten auf dem Display im Innern des Helms anzeigen zu lassen.
Die Kleebs liefen los, und ihre lauten Stimmen füllten die Kom-Kanäle.
Soldaten-Kompis, denen das Vakuum überhaupt nichts ausmachte, erschienen weiter vorn. Lanyan fühlte einen befriedigenden Rückschlag an der Schulter, als er mit seinem Projektilgewehr feuerte. Ein Geschoss aus abgereichertem Uran warf den nächsten Blechburschen mit solcher Wucht zurück, dass er zwei andere Kompis zu Boden riss. Normalerweise wäre kein Soldat, der noch alle seine Sinne beisammen hatte, auf den Gedanken gekommen, solche Waffen im Innern eines Raumschiffs zu verwenden: Superdichte Projektile konnten leicht die Außenhülle durchschlagen oder ein Fenster zerstören. Doch derzeit scherte sich Lanyan nicht um einige Löcher oder kosmetische Schäden am Moloch. Solche Dinge konnten später in Ordnung gebracht werden.
Die Rekruten feuerten und zerstörten Kompis. Andere Roboter nahmen ihren Platz ein. »Es kommen immer mehr, General!«
»Schießt weiter. Die verdammten Blechburschen waren deshalb erfolgreich, weil sie unsere Leute überrascht haben. Diesmal überraschen ie
wir s .«
Lanyan befahl seiner Truppe, in Formation zu bleiben. Er 141
ging durch den Korridor, öffnete eine Tür nach der anderen und setzte die Kompis außer Gefecht, die er in den Kabinen fand. Die Mission erinnerte ihn an seine jüngeren Tage, als er sich auf den Kampf in der Stadt vorbereitet hatte. Damals waren TVF-Soldaten für den Einsatz in den Städten auf Kolonialplaneten vorbereitet worden, die sich nicht an die Charta der Hanse halten wollten. Aber mit fanatischen Rebellen konnte man leichter fertig werden als mit Soldaten-Kompis.
Die Leichen von Menschen lagen auf dem Boden verstreut oder waren in Wandschränken und Lagernischen untergebracht. Als die Rekruten ihre toten Kameraden sahen, wusste Lanyan um ihr Elend. Er musste dieses Gefühl in Zorn und Entschlossenheit verwandeln. »Kompi-Schlächter!
Wollen wir ihnen das durchgehen lassen?«
»Auf keinen Fall, Sir!« Einer der Rekruten in Lanyans Nähe eröffnete das Feuer und schoss auf drei durch den Korridor stapfende Kompis.
Lanyans Gruppe erreichte das Ende des langen Gangs, nachdem sie jeden Sektor gesäubert hatte. Nach fast zwei Stunden erklärte der General das Hangardeck der Goliath für sicher. Sieben Rekruten waren bei dem methodischen Vorstoß getötet worden. Ein akzeptabler Verlust.
Lanyan stand vor den geschlossenen Liften am Ende des Korridors und wandte sich an seine atemlosen Kämpfer. »Jetzt wird's schwierig. Diese beiden Lifte bilden den einzigen Zugang zur Brücke, einer auf beiden Seiten. Dadurch ergibt sich ein strategischer Engpass, denn wir können nur jeweils wenige von euch nach oben schicken. Und wer weiß, wie viele Kompis sich auf der Brücke befinden.«
Er musterte die Gesichter hinter den Helmvisieren. »Eine Gruppe führe ich selbst an. Ensign Childress bringt eine zweite im anderen Lift nach oben.
dre
Chil
ss, wählen Sie fünfzehn Ihrer besten Schützen aus - sie sollen sich in den
142
Aufzug zwängen. Drücken Sie die Brückentaste auf mein Zeichen hin, damit wir das Ziel zur gleichen Zeit erreichen.«
»Verstanden, General.« Childress' Stimme war heiser und voller Eifer. »Darf ich vorschlagen, dass wir uns auf die Energiewaffen beschränken? Die Projektile aus abgereichertem Uran würden die Konsolen zerfetzen, und ich nehme an, dass Sie am Ende dieses Tages mit der Goliath fortfliegen möchten.«
»Guter Hinweis. Nur die Strahler verwenden!« Lanyan tauschte sein Projektilgewehr gegen den Schocker eines Soldaten ein. Er hatte die Rekruten beim bisherigen Kampf beobachtet und wählte jene aus, die besonders tüchtig gewesen waren. Gemeinsam warteten sie vor der Lifttür.
Die Kleebs verhielten sich wie ein richtiges Team, wie echte Soldaten. Sie bekamen allmählich den Dreh raus.
Mit seinem Kommandokode stellte Lanyan die Energieversorgung der beiden Lifte wieder her, und als sich die Tür öffnete, sprang ihnen ein Soldaten-Kompi entgegen und stieß den General zu Boden. Zwei Rekruten feuerten sofort mit ihren Strahlern, und die Impulse ruinierten die Schaltkreise des Roboters - die Maschine fiel auf Lanyan. »Befreit mich von diesem verdammten Blechburschen!«
Die Soldaten hoben den Kompi von ihm herunter und halfen Lanyan auf die Beine. Zwei Servosysteme des gepanzerten Schutzanzugs waren ausgefallen, und der General nahm sich gerade genug Zeit, sie zu reaktivieren. Als die Kontrolllampen wieder grün leuchteten, wandte er sich an Childress. »Los geht's.«
Er betrat den Lift zusammen mit den Soldaten der ersten Gruppe. Es erinnerte ihn an einen Akademiescherz - wie viele Soldaten passten in einen Schiffslift? -, aber diesmal war nichts Lustiges dabei. Auf sein Ze h
ic en hin setzten sich die beiden Aufzüge in Bewegung und erreichten gegenüber
143
liegende Seiten der Brücke. Die Türen öffneten sich, und Kämpfer sprangen in den Kontrollraum.
Energiewaffen zischten und fauchten. Schaltkreise zerstörende Impulse trafen die ersten beiden Rekruten, als sie den Lift verließen, und setzten die Servosysteme ihrer Schutzanzüge außer Gefecht. Die beiden Soldaten erstarrten.
»Zielen Sie besser, Childress!«, rief Lanyan und nahm an, dass die Schüsse von der anderen Gruppe stammten.
»Wir waren das nicht, Sir. Die Blechburschen haben ihre eigenen Waffen.
Vermutlich stammen sie aus dem Arsenal der Goliath.«
Lanyan duckte sich zur Seite, als das Feuergefecht andauerte. Statische Entladungen reflektierten von den Brückenwänden wie Blitze in einer Flasche. Die Kompis setzten sich mit großer Entschlossenheit zur Wehr und nutzten den Umstand, dass sie in der Überzahl waren. Lanyan schoss auf einen Blechburschen direkt vor ihm und stieß ihm die Energiewaffe aus den metallenen Händen. Selbst er hatte nicht mit einem derartigen Widerstand gerechnet. »Warum zum Teufel sind so viele von ihnen hier?«
Dann bemerkte er, dass die Kommandomodule der Brücke geöffnet worden waren. Die Kompis hatten Schalttafeln entfernt und Vorbereitungen für die Überbrückung bei den wichtigsten Bordsystemen getroffen. Nachdem das Triebwerk von den Killkodes deaktiviert worden war, hatten die Roboter versucht, alles zu rekonfigurieren und wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. In ein oder zwei Stunden hätten sie es vermutlich geschafft.
Lanyan zweifelte nicht daran, dass die Kompis auch an Bord der anderen Schiffe auf diese Weise tätig waren. Eine Kugel aus Eis entstand in seiner e
Mag ngrube. Wir müssen uns beeilen.
Er stellte plötzlich fest, dass er nicht mehr schoss. Rasch 143
hob er die Waffe wieder und erledigte einen Roboter, der sich anschickte, einen der Rekruten von hinten anzugreifen. Drei Mitglieder von Childress'
Gruppe lagen reglos auf dem Boden. Lanyan zählte weder die verstreichenden Sekunden noch die Anzahl der Ziele. Er nahm sich einfach einen Kompi nach dem anderen vor.
Als die rebellischen Kompis neutralisiert worden waren, wirkte die plötzliche Stille gespenstisch. Childress feuerte noch dreimal auf einen Blechburschen, der bereits auf dem Boden lag.
Lanyan konnte kaum glauben, dass es vorbei war. Er blickte auf das Display am Unterarm und entnahm den Anzeigen, dass die Luft auf der Brücke noch atembar war. Daraufhin öffnete er das Helmvisier und atmete tief durch. Im Kontrollraum roch es nach Rauch, Ozon, verbrannten Schaltkreisen und vergossenem Blut. Aber das war immer noch besser als das Innere seines Helms.
Die Brückencrew der Goliath lag tot und teilweise übel zugerichtet neben den Konsolen. Der Captain und seine Offiziere hatten tapfer gekämpft, waren aber überwältigt worden.
Lanyan betrachtete die offenen Schaltkreismodule beim Kommandosessel.
»Ich schätze, wir müssen ein wenig aufräumen. Unsere besten Computerspezialisten sollen sich hier an die Arbeit machen, damit wir die Bordsysteme des Moloch so schnell wie möglich reaktivieren können.
Säuberungsgruppen nehmen sich die anderen Decks vor und erledigen die restlichen Blechburschen. Zählen Sie die Roboter. Ich möchte einen genauen Überblick bekommen.«
»Einige von ihnen sind völlig zerfetzt«, sagte Childress.
»Und andere verstecken sich vielleicht in den Luftschächten«, erwiderte yan. »
Lan
Ich möchte keine unangenehmen Überraschungen erleben.«
Zwar versuchte er, streng zu klingen, aber er konnte nicht 144
verhindern, dass ein Grinsen in seinem Gesicht erschien. Draußen warteten die übrigen Schiffe der gekaperten Gitter-O-Kampfgruppe, aber dieser Moloch gehörte wieder ihm. Ein guter Anfang.
»Wir haben uns eins der Schiffe zurückgeholt. Ich bin stolz auf euch alle, aber uns steht noch ein langer Tag bevor.«
49 BENETO
Beneto beobachtete hunderte von riesigen Verdani-Saat-schiffen, die sich auf den Krieg vorbereiteten. Sie hatten die dornigen Äste ausgestreckt, und er spürte die Kraft in den Triebwerken und den Zorn der Verdani auf ihre Todfeinde. Diese organischen Schlachtschiffe waren bereit, nach der Katastrophe vor zehntausend Jahren die Hydroger zu vernichten.
Aber es war nicht der einzige Krieg. Im Bewusstsein des Weltwalds summten die letzten Schreie der grünen Priester, die an Bord von TVF-Schiffen festsaßen, als sich Soldaten-Kompis in Berserker verwandelten und alle Menschen töteten, die sie fanden. Verzweifelte Telkontakt-Berichte spritzten wie heißes Blut durch das Verdani-Selbst. Die Saat dieses jüngsten Verrats war vor langer Zeit ausgebracht worden. Durch die Erinnerungen des Weltwalds wusste Beneto, dass die Klikiss-Roboter während des letzten Kriegs einen Verrat vorbereitet hatten, dem schließlich ihre Schöpfer zum Opfer gefallen waren. Die Soldaten-Kompis schienen Ähnliches in Hinsicht auf die Menschen zu beabsichtigen und nutzten dabei den größeren Konflikt aus. Beneto begriff, dass weder er noch die We bäum
lt
e der TVF helfen konnten.
144
Mit dem Wissen um die Unvermeidlichkeit der bevorstehenden Konfrontation mit den Hydrogern und die eigene besondere Verantwortung stand Beneto vor dem nächsten gelandeten Baumschiff, das wie ein Speer mit vielen Spitzen gen Himmel ragte. Beneto war als Avatar des Weltwalds geschaffen, als eine Verbindung zwischen dem Bewusstsein der Verdani und der Menschheit. Er musste diese unsagbar alten organischen Schlachtschiffe verstehen.
Ein Teil von ihm wusste, dass er hineingehen musste. Goldene Platten bedeckten den knorrigen Stamm, dicker als die Rinde eines normalen Weltbaums und so undurchdringlich wie der Panzer eines Drachen. Beneto drückte seine hölzernen Hände an die sich überlappenden Rindenschuppen, und eine vertikale Perforation erschien im Stamm, verbreiterte sich zu einer Öffnung wie ein Mund aus Holz. Er betrat das riesige Baumschiff, und hinter ihm schloss sich das hölzerne Portal.
Die kurvenreichen Korridore im Innern des lebenden Schiffes waren glatt, wie von Tunnelkäfern geschaffen, die sich einen Weg durchs Holz gebohrt hatten. Beneto setzte den Weg fort und gelangte tiefer ins Innere des Schiffes. Mit den Fingerspitzen seiner hölzernen Hände strich er über die Wände und fühlte, wohin er gehen sollte.
Diese Schiffe waren vor zehn Jahrtausenden aufgebrochen und in kosmischen Winden gesegelt. Sie hatten einen weiten Weg von jenem Ort zurückgelegt, wo die Hydroger einst gegen den Weltwald gekämpft hatten, wo Wentals und Faeros aufeinandergestoßen waren. Wie die Funken eines windumtosten Feuers waren sie fortgeflogen, aber etwas hatte sie zurückgerufen.
Beneto erreichte das Nervenzentrum des gewaltigen Baumschiffes, einen gewölbten Raum, der sich mit der Kommandobrücke eines Kriegsschiffs vergleichen ließ. Hölzerne Säulen bildeten hier ein stützendes Gerüst. In de
itt
r M e des
145
Raums saß ein halb aufgelöstes Geschöpf, von Zellulose überwuchert. Der Pilot.
Beneto sah einen länglichen Kopf, ein kantiges Kinn und weit nach oben reichende Jochbeine. Die eng beieinander sitzenden vogelartigen Augen schienen kaum mehr zu sein als Holzknoten. Dieses Wesen sollte nicht menschlich erscheinen und war nie menschlich gewesen. Eine unbekannte Spezies.
Der Pilot drehte langsam den Kopf, und Beneto trat ihm gegenüber. Durch die immens komplexe Bibliothek der Weltwalderinnerungen hörte er geflüsterte Geschichte.
Lange bevor die Menschen auf der Erde mit dem Bau von Städten begonnen hatten, war ein anderes Volk - von dem man inzwischen nichts mehr wusste; selbst in den Erinnerungen des Weltwalds gab es keine Hinweise mehr - als grüne Priester in den Diensten der Verdani gestanden. Nach so langer Zeit an Bord des Baumschiffs war nur noch ein letzter Rest der ursprünglichen Gestalt übrig, doch das Wesen lebte noch, diente nach wie vor dem Weltwald.
Der mit dem Kernholz verbundene und halb überwucherte Kopf neigte sich ein wenig zur Seite, und der Blick der vogelartigen Augen richtete sich auf Beneto. Sie teilten ein gemeinsames Schicksal und akzeptierten es beide.
Beneto empfing einen wortlosen Strom, der aus den Erfahrungen und dem Wissen des Piloten bestand, aus Warnungen und Freude.
Das Selbst des Fremden war wie ein Muster aus permanenten Flecken im Holz des Baumschiffs. Beneto erfuhr von der langen Reise aus dem Spiralarm in ferne, unbekannte Weiten der Galaxis. Eine Kaskade aus jahrtausendealten Erinnerungen füllte seinen Geist und vermittelte ihm eine klare Vorstellung von endloser Zeit. Bisher hatte Beneto nicht ge
sst, wi
wu
e sich zehntausend Jahre anfühlten.
Jetzt begriff er, was ihm bevorstand.
146
Die Verdani erwarteten das gleiche Engagement von ihm, die gleiche Bereitschaft, Leben und Zeit zu opfern - und einen anderen Freiwilligen unter den grünen Priestern zu finden.
Dann baten ihn die Verdani, ihnen dabei zu helfen, mehr riesige organische Schiffe für den Kampf gegen die Hydroger zu schaffen. Viel mehr. Und dafür brauchte er die Unterstützung der Wentals.
50 NIRA
In der trockenen Jahreszeit waren die Hügel braun geworden. Nira hoffte, dass nicht wieder Feuer ausbrachen, obwohl sich ein Teil von ihr wünschte, dass das ganze Zuchtlager in Flammen aufging. Sie hatte gehofft und gebetet, nie zu diesem Ort zurückzukehren. Doch zweifellos hatte sie nie damit gerechnet, ihn unter diesen Umständen wiederzusehen.
Osira'h nahm ihre Hand und führte sie zu den schlichten Gebäuden, in denen die Nachkommen der Burton-Kolonisten ihr Leben verbrachten -
Männer und Frauen, die dazu gezwungen waren, sich mit Ildiranern fortzupflanzen. Die Gefangenen schufen sich ihre eigenen Nischen eines beschränkten Glücks und lebten mit ausgewählten Partnern zusammen, wenn sie nicht in den Zuchträumen eingesperrt waren.
Nira schauderte beim Anblick der dunklen Gebäude, in die man sie gezerrt hatte, wenn sie fruchtbar gewesen war. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihr - oder den anderen Gefangenen - den Zweck des Zuchtprogramms zu erklären, aber sie vermutete, dass Udru'h seine Fre d
u e daran
146
gehabt hatte. Dort am Zaun war sie von den Wächtern geschlagen und anschließend für tot erklärt worden.
Es zeigten sich keine Blutflecken auf dem Boden. Vier kleine Kinder spielten so am Zaun, als wäre das die normalste Sache der Welt.
Schwarze Punkte tanzten vor Niras Augen. Alles in ihr drängte danach, loszulaufen und erneut zu fliehen, durch den Zaun und zu den braunen, trockenen Hügeln. Osira'h spürte den inneren Schmerz ihrer Mutter und drückte ihr die Hand. »Es ist alles in Ordnung. Wir sind jetzt zusammen.«
Bei ihrer Ankunft traten Menschen in den hellen Sonnenschein, neugierig und erstaunt. Nira musste ziemlich mitgenommen aussehen, aber diese Leute erkannten sie, denn sie hatten nie eine andere grüne Priesterin gesehen. Benn Stoner, das Oberhaupt dieser Gemeinschaft, starrte sie so an, als könnte er seinen Augen nicht trauen. »Wir haben dich für tot gehalten. Sie haben einen Grabstein für dich aufgestellt.«
»Der Designierte versteht es, schreckliche Taten zu vertuschen.« Nira wusste, dass sie diesen Ort immer hassen würde. Während ihrer vorherigen Zeit im Zuchtlager hatte sie den anderen Gefangenen vom Weltwald auf Theroc erzählt, von der Terranischen Hanse und dem Ildiranischen Reich. Doch diese Leute waren in Gefangenschaft aufgewachsen und hatten ihr nicht geglaubt.
Das Mädchen an Niras Seite sah zu den neugierigen Gesichtern auf. Es überraschte die Gefangenen nicht nur, Nira wiederzusehen; auch Osira'hs Präsenz im Zuchtlager verblüffte sie. Mischlingskinder waren immer in den ildiranischen Teil der Siedlung gebracht worden. »Von jetzt an wohnen wir hier, im Lager«, sagte Osira'h. »Wir brauchen eine Unterkunft für uns.« Sie öffnete die Tür des Gemeinschaftsquartiers.
»Dort drin gibt es leere Betten«, sagte Stoner. »Wir neh 147
men die Mahlzeiten zusammen ein, erzählen uns Geschichten und singen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Früher wurde uns schwere Arbeit zugewiesen, aber inzwischen wissen die Ildiraner nicht mehr, was sie mit uns anfangen sollen. Die Zuchtbaracken sind geschlossen. Das ganze Lager ist praktisch stillgelegt.«
Nira sah sich verwundert um. »Keine Vergewaltigungen mehr?« Vielleicht war das ein weiterer Trick des Designierten Udru'h. Wollte er ihnen ein wenig Hoffnung geben, um sie dann wieder in Verzweiflung zu stürzen?
»Entspricht das nicht euren Wünschen?«
Die Gefangenen waren gesund, aber auch verwirrt. Ihre Welt hatte sich verändert, offenbar zum Besseren, doch das schien sie nicht zu beruhigen.
Stoner rieb sich den Nacken. »Niemand nennt uns den Grund.«
»Das Zuchtlager ist nicht mehr erforderlich«, sagte Osira'h. »Es hat seinen Zweck erfüllt.« So klein sie auch sein mochte: Sie war in eine Aura der Autorität gehüllt, die alle veranlasste, ihr zuzuhören. »Die Ildiraner haben, was sie wollten: mich.« Sie setzte sich auf ein leeres Bett. »Ich nehme dies.
Der Weise Imperator hat gesagt, dass wir hier warten sollen, Mutter.«
»Wann sehen wir ihn?«, fragte Nira. »Weißt du, wann er hierherkommt? Ich habe ihn lange Zeit nicht gesehen.«
Osira'hs Stimme klang sehr bitter. »Er bleibt im Prismapalast und schmiedet Pläne. Er möchte nicht, dass du erfährst, was er macht. Und er möchte auch nicht, dass ich ihn sehe. Ich glaube, er ist verlegen oder beschämt.« Sie senkte die Stimme. »Das hoffe ich.«
»Deine Worte ergeben keinen Sinn, Osira'h.«
»Nichts hiervon ergibt einen Sinn. Der Weise Imperator wird uns nach tra zurückke
Mijis
hren lassen, wenn es ihm passt. Er braucht uns nicht mehr.«
147
51 DOBRO-DESIGNIERTER UDRU'H
Die grüne Priesterin hatte ein Talent dafür, die Dinge schwierig zu machen, selbst ihre eigene Rettung. Udru'h hatte nicht damit gerechnet, dass Nira fliehen und weitere Probleme verursachen würde. Immerhin versuchte er jetzt, das Richtige zu tun.
Wenigstens waren keine Täuschungsmanöver und Lügen Jora'h gegenüber mehr nötig. Udru'h wusste, dass all jene Listen notwendig gewesen waren.
Die irrationale Beziehung seines Bruders zu der grünhäutigen Frau hätte das Programm ruinieren können, das dazu diente, das ildiranische Volk zu retten. Es war Udru'h nichts anderes übrig geblieben, als den neuen Weisen Imperator vor seinen eigenen schlechten Entscheidungen abzuschirmen.
Oder?
Der Designierte hatte warten und Zeit gewinnen müssen. Früher oder später, so glaubte er, würde sich die Richtigkeit seines Handelns herausstellen. So zornig der Weise Imperator auch über Udru'hs Verrat an Nira sein mochte: Er würde die wahre Loyalität des Designierten erkennen.
Jora'h wollte Nira jetzt in Sicherheit wissen und hatte sogar Osira'h zu ihr geschickt. Das überraschte Udru'h. Er verstand nicht, warum sich das Mädchen dagegen entschieden hatte, bei ihm zu wohnen. Es war eine lebende Rechtfertigung für die auf Dobro geleistete Arbeit. Für den größten Teil ihres kurzen Lebens war er Osira'hs Berater und Mentor gewesen.
Zuerst hatte er gehofft, dass sie nach Dobro zurückkehrte, um mit ihm zusammen zu sein. Ein dummer Gedanke, wusste er jetzt. Ganz offensichtlich war sie gekommen, um ihrer Mutter Gesellschaft zu leisten, einer Menschenfrau, die sie kaum kannte.
Nira war Udru'h ein Dorn im Auge und erinnerte ihn an 148
gewisse fragwürdige Entscheidungen. Er verglich sie mit instabilem Sprengstoff in ihrer Mitte, und sie würde noch gefährlicher sein, wenn sie zu Jora'h zurückkehrte. Dann würde sie den Weisen Imperator mit rührseligen Geschichten über Schmerz und Kummer belasten und zweifellos ihm, Udru'h, die Schuld an allem geben, weil sie die Not-wendigkeiten nicht verstand. Doch gerade jetzt durfte der Weise Imperator nicht abgelenkt werden.
Daro'h ging neben ihm und richtete einen besorgten Blick auf seinen Onkel. Der junge Mann blieb stumm, aber seine Körpersprache übermittelte zahlreiche Fragen, die ihn beschäftigten. Der Designierte-in-Bereitschaft, der immer ein gelehriger Schüler und absolut loyal gewesen war, schien nun verärgert, verletzt und ... enttäuscht zu sein?
»Ich bin dein Nachfolger«, sagte er schließlich. »Warum verbirgst du Dinge vor mir? Erklär mir, was hier wirklich geschehen ist. Warum hast du die grüne Priesterin auf einer fernen Insel ausgesetzt? Warum hast du sie selbst vor dem Weisen Imperator versteckt?«
Udru'h wandte sich dem jungen Mann zu und dachte erneut daran, welchen Schaden Nira noch anrichten konnte. »Ich hatte immer die gleichen Gründe dafür. Es ging mir darum, das Ildiranische Reich zu schützen und zu stärken. Ich habe dir alles gesagt, was du wissen musst.«
Sie näherten sich den Zäunen des Zuchtlagers, und der Dobro-Designierte blickte zu den Gebäuden. Er hatte gemischte Gefühle in Hinsicht auf das, was jetzt mit den Versuchsobjekten geschehen würde. Sein Lebenswerk, der ganze jahrhundertealte Plan für Dobro - das alles war jetzt zu Ende.
Udru'h spürte eine sonderbare Leere, ein Unbehagen, das mit der Erkenntnis einherging, dass er Unmögliches geschafft hatte. Und jetzt?
Daro'h senkte wie kapitulierend den Kopf. »Seit Osira'hs Rückkehr hat sich dein Verhalten geändert, Designierter.
Einst bist du voller Leidenschaft gewesen, was die hiesige Arbeit betrifft.
Was soll nach Osira'hs Erfolg aus Dobro werden?«
»Ich fühle das Ende der Sache, die über Jahrhunderte hinweg der Grund für unsere Existenz war.« Diese Worte hatten einen bitteren Nachgeschmack.
Udru'h wandte sich vom Zuchtlager ab, in denen die Menschen nach wie vor ihrer täglichen Routine nachgingen. Er hatte seine Aufgabe erfüllt und all das geleistet, was die Geschichte und seine Blutlinie von ihm erwarteten. »Ich hätte nie gedacht, dass der Erfolg ebenso enttäuschend sein würde wie ein Versagen.«
Udru'h traf eine Entscheidung, die ihn traurig machte, die er aber auch als befreiend empfand. Er legte die linke Hand auf Daro'hs Schulter und drehte den jungen Mann zu sich herum. »Es wird Zeit für einen Wechsel. Ich habe gelehrt, und du hast gelernt, doch Dobro ist heute eine andere Splitter-Kolonie. Ich kann dir nicht länger mit Rat und Erfahrung helfen. Es sollte einen sauberen Übergang geben.«
Daro'h runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen?«
»Ich kehre nach Ildira zurück.« Udru'h sah zu seinem privaten Quartier. Der Designierte-in-Bereitschaft hatte sich bereits in einem anderen Teil der Siedlung niedergelassen. »Hier gibt es zu viele Augen, zu viele Personen, die urteilen, ohne zu verstehen, was ich getan habe, oder warum ich gehe und nie hierher zurückkehren werde.« Traurig ließ er den Blick über die grasbedeckten Hügel schweifen, über Siedlung und Felder. Dies hätte eine gute, blühende Splitter-Kolonie sein sollen, wo Siedler ein autarkes Leben führen konnten. Vielleicht würde der Makel mit ihm verschwinden.
Udru'h sah Daro'h an. »Von jetzt an gehört Dobro dir.«
149
52 VORSITZENDER BASIL WENZESLAS
Der Vorsitzende ärgerte sich immer, wenn die Dinge nicht nach Plan liefen, und in letzter Zeit geschah das oft.
Basil saß in seinem privaten Kontrollzentrum, blickte auf die Monitore und hörte Schreie und Schüsse. Die Mikro-Imager in den Panzerungen der Silbermützen fielen nacheinander aus. Der technische Spezialist Swendsen wehrte sich vergeblich gegen die reaktivierten Soldaten-Kompis.
Schließlich übertrug auch Sergeant Paxtons Imager - der letzte - nichts mehr.
Wenzeslas schnaufte voller Abscheu und suchte nach jemandem, dem er die Schuld geben konnte. »Swendsen hat behauptet, dass der Repeater-Virus einwandfrei funktioniert. Die Kompis sind erstarrt. Was ist passiert?«
Er ballte die Hand zur Faust und zwang sich dann, die Finger wieder zu strecken.
»Dr. Swendsen war ein wenig voreilig«, antwortete der neben Basil Wenzeslas sitzende Eldred Cain. Der haarlose stellvertretende Vorsitzende war noch blasser als sonst. Nachdenklich schürzte er die Lippen. »Ich habe die geplante Angriffsmethode analysiert. Sie erschien mir in Ordnung.«
Wenzeslas biss so fest die Zähne zusammen, dass die Muskeln schmerzten.
»Stellen Sie eine Verbindung zum örtlichen Kommandostand her. Ich möchte sehen, was außerhalb der Fabrik geschieht. Es darf den Kompis auf keinen Fall gelingen, die Absperrungen zu durchbrechen.«
Cains Finger huschten über die Kontrollen, und die Bilder auf den Monitoren wechselten. »Zu spät, Vorsitzender.«
Zahlreiche Kompis hatten die Barrikaden durchbrochen, und Silbermützen versuchten, sie mit superdichten Projektilen zurückzutreiben. Überall lagen zerstörte Roboter, aber 149
weitere kletterten über sie hinweg. Rufe ertönten in den Kommandokanälen. »Bruch im südwestlichen Flügel! Die Kompis haben die halbe Wand eingerissen und kommen zu hunderten heraus.«
»Dann mähen Sie sie zu hunderten nieder!«
»Wir müssen Kräfte vom nördlichen Ende abziehen. An jener Stelle befindet sich nur das Lager. Dort sind wir sicher...«
»Verdammt, da kommen sie!«
»Zum Glück hat König Peter schnell gehandelt, als er den Bericht bekam«, sagte Cain langsam und provozierend. »Andernfalls hätten die Kompis die Fabrik verlassen und uns völlig überrascht.«
Basil atmete schwer. »Um die Widerspenstigkeit des Königs kümmere ich mich, sobald diese Krise vorbei ist.«
Cain wahrte einen neutralen Gesichtsausdruck. »Ich habe auf den Weitblick des Königs hingewiesen, Sir, nicht auf einen Fehler.«
Basil bedachte seinen Stellvertreter mit einem finsteren Blick und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. Die Monitorbilder zeigten gepanzerte Fahrzeuge, die sich der Fabrik von allen Seiten näherten. Kompis kamen durch Löcher in den zertrümmerten Barrikaden.
Atemlos und ziemlich besorgt platzte Sarein in den Kontrollraum. »Basil, Herr Vorsitzender... Was ist los? Kann ich helfen?«
»Mit einem Wort: nein.« Wenzeslas warf ihr nur einen kurzen Blick zu und starrte dann wieder auf die Bilder. »Es sei denn, du kannst einen Zauberstab schwingen und die Anzahl der Soldaten verdoppeln, die wir dort auf dem Boden haben.«
Sareins Züge verhärteten sich - Basils Reaktion schien ihr nicht zu gefallen. »Ich wollte dir nur meine Unterstützung anbieten, Basil.«
150
Er hatte jetzt keine Zeit für sie. »Dann biete sie mir stumm an.«
Als er die ersten Einsatzbefehle erteilt hatte, war Basil Wenzeslas davon überzeugt gewesen, dass fünfhundert Silbermützen genügten, um mit den Kompis fertig zu werden. Jetzt dachte er daran, weitere Sicherheitskräfte des Palastdistrikts und auch die königlichen Wächter einzusetzen. Aber die Verstärkung konnte nicht rechtzeitig zur Stelle sein. Der von den Silbermützen gebildete Kordon war zu lang gestreckt und zu schwach - die Kompis würden ihn durchbrechen.
Cain wandte sich voller Sorge an den Vorsitzenden. »Wir können die Kompis nicht zurückhalten. Es fehlt an Waffen und Soldaten vor Ort.«
Basil nickte. »Es wird Zeit für einen massiven Schlag aus der Luft. Wir müssen die Wunde ausbrennen, bevor sie noch schlimmer wird.«
Wieder huschten Cains Finger über die Kontrollen - er stellte Kom-Verbindungen mit den TVF-Bodentruppen und Sicherheitskräften des Palastdistrikts her. »Sind Ihnen die Folgen klar, Vorsitzender? Eine solche Aktion mitten im Palastdistrikt... Ich rate davon ab.«
»Am Rand des Palastdistrikts. Wenn die Kompis noch weiter vordringen, kommt es zu einem unvorstellbaren Blutbad. Dann bringen sie Zehntausende um. Derzeit befinden sie sich alle an einem Ort. Der Schlag muss jetzt stattfinden.«
»Erlauben Sie mir, den sekundären Kommandeur zu kontaktieren und ihn aufzufordern, die Silbermützen zurückzuziehen ...«
»Nein, auf keinen Fall. Nur die Silbermützen hindern die Kompis daran, das Gelände der Fabrik zu verlassen. Wenn sie zurückweichen, kommt es zu einem vollständigen Ausbruch der Roboter. Die Soldaten müssen bis zum Ende an
151
ihren Posten bleiben. Sie wussten, auf was sie sich einließen, als sie sich zum Dienst verpflichteten. Die Silbermützen werden uns nicht enttäuschen.«
»Sie wollen einen militärischen Schlag im Palastdistrikt führen und dabei unsere eigenen Truppen eliminieren?« Zorn funkelte in Cains blauen Augen, und seine Finger verharrten über den Kontrollen. Die in der Nähe stehende Sarein wirkte bestürzt.
»Wir geben den Befehl im Namen des Königs.« Basil sah auf den Statusschirm: Die beiden schnellen Transporter mit den Verdampfungsbomben waren unterwegs. Geschätzte Zeit bis zum Einsatz der Waffen: zwanzig Minuten.
Basil seufzte, als sein Stellvertreter zögerte. Sarein schien protestieren zu wollen, und er kam ihr zuvor. »Dies ist eine schwere Entscheidung, Mr.
Cain«, sagte er scharf. »Die Entscheidung eines Vorsitzenden.«
Bedauerlicherweise verstand sein Stellvertreter nicht die Last, die ein wahrer Vorsitzender tragen musste. Cain war intelligent, kooperativ und kompetent ... aber er hatte kein Rückgrat und dachte zu lange über jede Entscheidung nach. Vielleicht war dieser Mann eine weitere schlechte Wahl, so wie der aufsässige und jetzt im Koma liegende Prinz Daniel. So wie König Peter.
Die Kompi-Fabrik stand in Flammen. Mehrere Wände waren eingestürzt, und schwarzer, öliger Rauch kaum aus großen Öffnungen im Dach.
Soldaten-Kompis stapften durch die zerschmettern Barrikaden und trieben die Silbermützen zurück. Die Kämpfer versuchten, Widerstand zu leisten, aber vielen von ihnen mangelte es inzwischen an Munition und Energiepaketen.
Über ihnen näherten sich zwei schnelle Transporter. Die überlebenden Silbermützen sahen nach oben, erkannten die Bomber und wussten, was sich anbahnte. Doch nicht
151
einer von ihnen ergriff die Flucht. Sie feuerten weiter auf die Kompis, bis zum Ende.
Als die Bomben explodierten, kam es zu einer ringförmigen Druckwelle aus desintegrierender Hitze und Licht. Verdampfungs-Gefechtsköpfe waren sorgfältig kalibriert und hatten einen Vernichtungsradius, der bis auf einen Meter genau berechnet werden konnte. Der Luftschlag vernichtete einen kleinen Teil des Palastdistrikts und löschte sowohl die Fabrik aus als auch die Kompis und alle Silbermützen in der Nähe...
Es dauerte mehr als eine Stunde, bis sich die große Wolke aus Staub, Rauch und Dampf auflöste. Zurück blieb ein riesiger, glasiger Krater, rund und steril.
Basil zeigte keine Reaktion, obwohl in seinem Innern ein großes Durcheinander aus Emotionen herrschte: Kummer um den Verlust an Leben, Zorn über den Fehlschlag und das unerträgliche Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Aber er musste den Sieg feiern, solange er sich noch daran erinnerte, wie man so etwas machte.
»Damit wäre das Kompi-Problem aus der Welt geschafft«, sagte er.
»Zumindest hier.«
53 GENERAL KURT LANYAN
Nach der Übernahme der Goliath hätte der Rest eigentlich ein Kinderspiel sein sollen, aber Lanyan wollte die Soldaten-Kompis nicht erneut unterschätzen. Immerhin war die TVF in diese schwierige Situation geraten, weil sie keine Gefahr in den Kompis gesehen hatte.
Junge Techniker setzten die halb demontierte Kommandostation wieder zusammen, damit Lanyan den Aktivie
152
rungskode übermitteln konnte. Suchgruppen nahmen sich die einzelnen Decks des Moloch vor und hielten nach versteckten Kompis Ausschau. Es würde nicht mehr lange dauern, bis alle Bereiche des Flaggschiffs völlig sicher waren.
Der General ordnete eine Bestandsaufnahme in Hinsicht auf die im All treibenden Gitter-O-Schiffe an. Unter normalen Umständen mussten die Schiffe bis zur Rücknahme des Killkodes passiv bleiben. Aber Lanyan hatte gesehen, dass die Kompis auf der Brücke der Goliath bemüht gewesen waren, die wichtigsten Systeme neu zu konfigurieren, und vermutlich hatten die militärischen Roboter an Bord der anderen Schiffe ähnliche Maßnahmen ergriffen. Selbst wenn sie die zentralen Kontrollsysteme vollkommen neu konstruieren mussten: Früher oder später würde es ihnen gelingen, bei einigen Schiffen die wichtigsten Funktionen wiederherzustellen. Kompis waren eben sehr tüchtige Arbeiter.
»Die Gruppen aufteilen«, sagte Lanyan. »Konzentrieren Sie sich auf die großen Schiffe, auf die Mantas und Thunderheads. Ich möchte, dass wir in einer Stunde mindestens vier von ihnen wieder unter Kontrolle haben.« Es würde zwei weitere Stunden dauern, bis die Verstärkung von den TVF-Stützpunkten eintraf. In der Zwischenzeit musste er kleinere Einsatzgruppen zu den gekaperten Schiffen schicken; die aus jungen Rekruten bestehende Truppe durfte sich keine Pause gönnen. Dadurch erhöhte sich das Risiko von Verlusten, aber Lanyan konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass der Feind so viele, schwer bewaffnete Raumschiffe bekam.
Die Werften brauchten Jahre, um so große und leistungsfähige Schiffe zu bauen, und die TVF brauchte ihr volles Potenzial. Wenn die verräterischen Kompis auch noch andere Gitter-Kampfgruppen übernommen hatten ...
Wie i
v el von der Flotte war überhaupt noch übrig?
Aber es war immer noch besser, diese Schiffe zu vernich 152
ten, als sie in feindliche Hände fallen zu lassen. Lanyan gab Anweisungen für den schlimmsten Fall. »Richten Sie die Zielerfassung auf möglichst viele Gitter-O-Einheiten. Seien Sie bereit, das Feuer zu eröffnen, wenn die Schiffe entkommen oder angreifen wollen. Machen Sie sie manövrierunfä-hig, wenn Sie können. Und vernichten Sie das ganze Schiff, wenn es sich nicht vermeiden lässt.«
Taktische und sensortechnische Praktikanten erarbeiteten eine kartographische Übersicht der von den Killkodes betroffenen Schiffe. Sie gingen an die Arbeit, als handelte es sich um eine Übung, und schließlich legten sie dem General detaillierte Übersichten vor. Lanyan war sehr zufrieden damit. Aus diesen Kleebs wurde jetzt wirklich eine ordentliche Truppe.
Was zum Teufel hatten die Soldaten-Kompis gegen die Hanse? Warum gingen sie so rücksichtslos gegen Menschen vor? Lanyan erinnerte sich an Orli Covitz, nach deren Schilderungen Klikiss-Roboter und Soldaten-Kompis die Kolonie auf Corribus zerstört hatten. Zu jenem Zeitpunkt war ihm das absurd erschienen, aber inzwischen sah er alles in einem anderen Licht.
Eine Meldung kam aus dem Interkom der Goliath. »Deck 7 ist klar, Sir.«
»Ausgezeichnet. Haben Sie Überlebende gefunden?« »Nein, Sir.«
»Ich habe auch nicht damit gerechnet. Welchen Stand hat die Zählung der bisher zerstörten Kompis?«
»Es liegen noch vier Decks vor uns, Sir. Etwa vierzig Soldaten-Kompis fehlen, aber wir wissen nicht genau, wie viele bei der Dekompression des Hangars ins All getrieben sind.«
»Seien Sie vorsichtig und sehr gründlich.«
Ensign Childress' Team hatte Leichen und Kompireste von der Brücke entfernt. Die Gespräche der Techniker bildeten ein ständiges Brummen im Hintergrund, und Lanyan
153
spürte ihre Aufregung, als sie die Verkleidung an den Hauptkonsolen befestigten. Sie drängten sich zusammen und starteten diagnostische Programme. Bunte Lichter erschienen an den wichtigsten Brückenstationen, auch beim Kommandosessel.
»General, es freut uns, Ihnen die Goliath übergeben zu können«, sagte einer der Techniker und lächelte. »Alle Systeme sind repariert und die Löcher in der Außenhülle abgedichtet. Eine kleine Spritztour gefällig?«
Lanyan seufzte erleichtert. »Triebwerk? Schilde? Waffen?«
»Wir haben viel improvisiert, Sir, aber wir sind sicher, dass die Goliath allen Anforderungen gerecht wird.«
Lanyan nahm im Kommandosessel Platz. Jetzt sahen die Dinge schon viel besser aus. Er empfing Berichte von zwei Einsatzgruppen, die dabei waren, zwei Manta-Kreuzer unter ihre Kontrolle zu bringen. Ein drittes Team stieß auf erbitterten Widerstand und steckte im Hangar des nächsten Thunderhead fest.
Schließlich meldete eine Gruppe, die Brücke eines Manta erreicht zu haben. »Hier ist alles demontiert, Sir. Wir können den Kontrollraum halten und die Kompis auf den anderen Decks erledigen, aber wenn dieses Schiff wieder fliegen soll, brauchen wir Hilfe und vielleicht auch Austausch-module.«
»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Lanyan. »Wir haben jetzt die Kontrolle und warten mit dem langweiligen Kram bis zur zweiten Phase.«
Eine an der Sensorstation der Goliath sitzende Frau sah erstaunt auf.
»General, eine große Anzahl von Ortungsimpulsen. Ich glaube, es nähern sich Schiffe.«
»Die Verstärkung von der Mondbasis trifft früh ein. Ich habe sie erst in ein oder zwei Stunden erwartet.«
»Nein, Sir - diese Schiffe kommen von außerhalb des Sonnensystems.«
154
»Wie bitte? An alle: Alarm! Haben sich die Neuankömmlinge identifiziert?«
»Sie senden ein Standard-Transpondersignal der TVF, ein erkennbares FFI-Muster.« Jedes Schiff in der Terranischen Verteidigungsflotte sendete ein Freund-Feind-Signal: eine Art Ich-gehöre-zu-euch-Ruf, der verhindern sollte, von der eigenen Seite beschossen zu werden.
»Lassen Sie uns vorsichtig optimistisch sein«, sagte Lanyan. »Vielleicht ist es noch jemand anders gelungen, die Kompis zu überwältigen. Können Sie feststellen, um wen es sich handelt?«
Die Sensor-Technikerin nahm weitere Analysen vor. »Die Signaturen werden untersucht. Ein Moloch ... mindestens zehn Mantas, zwei Thunderheads und zahlreiche kleinere Schiffe.« Ihre Miene erhellte sich.
»Ich glaube, es ist ein Teil der Gitter‐3-Kampfgruppe, Sir. Ich empfange ein Bild von Admiral Wu-Lin.«
Lanyan nickte. Wu-Lin war ein kompetenter, unnachgiebiger und doch ruhiger Mann, der nie zögerte. Er traf immer schnelle Entscheidungen und stellte sich lieber unangenehmen Konsequenzen, als durch Zögern eine gute Gelegenheit verstreichen zu lassen. »Auf den Schirm. Es wird Zeit, dass wir endlich einmal gute Nachrichten bekommen.«
Ein hagerer Asiat mit stahlgrauem Haar erschien auf dem Hauptschirm. Er sprach knapp und förmlich. »Hier ist der Kommandeur der Kampfgruppe von Gitter 3. Die Soldaten-Kompis wandten sich gegen uns und griffen meine Crew an, aber wir haben schnell reagiert. Zwar verloren wir einige Schiffe, doch wir konnten eine Übernahme der ganzen Kampfgruppe verhindern.«
»Ausgezeichnete Arbeit, Admiral!« An Bord von Wu Lins Schiffen gab es ke e
in grünen Priester, und deshalb konnte der Kommandeur des dritten Gitters nicht vom ganzen Ausmaß der Rebellion wissen.
154
Als Wu-Lin fortfuhr, blieb sein Gesicht unverändert. Die Miene des Admirals wirkte steinerner als jemals zuvor. »Ich habe mich mit Höchstgeschwindigkeit auf den Weg zur Erde gemacht.«
Endlich entwickelten sich die Dinge zum Besseren. »Die Kompis spielen überall verrückt, Admiral. Um sie daran zu hindern, mit der Gitter-O-Kampfgruppe zu verschwinden, haben wir die Triebwerke neutralisiert und sind jetzt dabei, die Schiffe wieder unter Kontrolle zu bringen.« Lanyan sah zu seiner Brückencrew und lächelte. »Mit Ihrer Hilfe könnten wir die Sache schneller in Ordnung bringen, als ich gehofft habe. Wir würden Ihre Unterstützung sehr zu schätzen wissen.«
Das Bild von Wu-Lin auf dem Schirm veränderte sich nicht.
»Ich bekomme keine Antwort von ihm, General«, sagte der Kommunikationsoffizier.
Lanyan kratzte sich am Kopf. Wu-Lins Moloch kam immer näher. »Wenn an Bord seines Schiffes so sehr gekämpft wurde wie bei uns, ist die Brücke vielleicht beschädigt. Kann er überhaupt empfangen?«
»Ich glaube, das ist nicht das Problem. Admiral Wu-Lin, bitte bestätigen Sie.«
Die Schiffe der Gitter‐3-Kampfgruppe näherten sich. Lanyan runzelte die Stirn. »Erhöhte Alarmbereitschaft für unsere Gruppen!«
»Sir, ich denke...«
Wu-Lins Moloch eröffnete das Feuer auf drei der Kavallerie-Schiffe vom Mars. Die kleinen Schiffe explodierten sofort.
»Volle Verteidigung, verdammt!« Lanyans Faust knallte auf den Kommandosessel und löste eine der gerade erst wieder befestigten Kontrolltafeln. Die Mantas der Gitter‐3‐Kampfgruppe schössen auf die fast leeren Truppentrans
155
porter. »Schicken Sie sofort eine Nachricht zur Erde: Soldaten-Kompis kontrollieren die Schiffe der Gitter‐3-Kampf-gruppe. Admiral Wu-Lin ist vermutlich tot. Verdammte Simulation!«
Der General drehte sich zur Waffenstation um und rief den erschrockenen Technikern zu: »Hoffentlich habt ihr mit meinen Waffen keinen Mist gebaut! Jazer hochfahren und Projektilkanonen vorbereiten.
Gravokatapulte laden!« Unter den im All treibenden Schiffen der Gitter-O-Kampfgruppe hatte die Goliath den Vorteil de be
r Ü rraschung, aber nur für
einen Moment. »Gebt den herankommenden Schiffen alles, was wir haben.«
Der Killkode für die Kampfgruppe des Gitters 3 war in einer Hochsicherheits-Datenbank der Marsbasis gespeichert. Wu-Lin hätte ihn gehabt, aber Lanyan konnte nicht schnell genug auf den Kode zugreifen.
Ihm blieb nur die Goliath. Er spürte Vibrationen, als die Waffen des Moloch feuerten. Strahlen und Projektile jagten den herankommenden Schiffen fächerförmig entgegen.
Zwei Jazer-Strahlen rissen den Bauch von Wu-Lins Moloch auf, und die Atmosphäre entwich ins All, riss Kompis und die Leichen von Menschen mit sich. Doch der große Moloch setzte den Flug fort, gefolgt von einer Schar aus Mantas und Thunderheads. Sie alle eröffneten das Feuer und schienen es vor allem auf Lanyans Kavallerie-Schiffe abgesehen zu haben.
Der General fluchte, blieb aber konzentriert. Er wusste, was es zu tun galt.
»Nach dem Notfallplan vorgehen. So viele Schiffe der Gitter-O-Kampfgruppe wie möglich lahmlegen und alle andere zerstören. Die Kompis dürfen keine Gelegenheit erhalten, sie gegen uns einzusetzen.«
Wieder entluden sich Waffen, und bei den im All treibenden Schiffen kam es zu Explosionen. »Geben Sie den Evakuierungsbefehl! Alle Gruppen, die innerhalb von zehn
155
Minuten zu uns zurückkehren, fliegen mit uns nach Hause.« Die meisten Rekruten-Gruppen befanden sich an Bord der von Kompis gekaperten Mantas und Thunderheads -sie konnten die Goliath nicht rechtzeitig erreichen.
»Wir können sie nicht einfach zurücklassen, General...«
»Falls es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein sollte: Wu-Lins Schiffe sind unserer kleinen Rettungstruppe zehn zu eins überlegen! Wir geben es dem Gegner noch einmal, und dann machen wir uns aus dem Staub.«
Die Rekruten handelten lobenswert schnell, schössen auf die bereits festgelegten Ziele und zerstörten die Triebwerke der Gitter-O-Schiffe.
Mehrere kleine Kavallerie-Schiffe wendeten und feuerten auf die von den Kompis gekaperten Raumer. Lanyan hätte nie gedacht, dass ihm einmal daran gelegen sein würde, TVF-Schiffe zu beschädigen.
Die von Robotern kontrollierten Raumschiffe der Gitter‐3‐Kampfgruppe kamen heran, und inzwischen verzichteten sie darauf, Wu-Lins Bild zu senden. Der Moloch konzentrierte sein Feuer auf die Goliath. Immer wieder erbebte das Schiff, aber die Panzerung hielt. Noch.
»Mit nur einem Moloch und wenigen kleinen Schiffen können wir einer solchen Streitmacht nicht standhalten«, sagte Lanyan. Mehr noch: Die Chance, ihr zu entkommen, war ziemlich klein. Er musste die Goliath zur Erde zurückbringen. Vielleicht konnte er dort eine größere Flotte zu-sammenstellen und zurückkehren, bevor die Kompis mit der Reparatur der Schiffe fertig waren. »Alles für die Beschleunigung vorbereiten.«
Lanyans Moloch feuerte erneut mit den Jazern und zerstörte die Triebwerke von mindestens sieben gekaperten Mantas. Mehr konnte er nicht tun.
Der General fühlte eine Mischung aus Zorn, Beschämung und Hilflosigkeit, als er die Hände fest um die Armlehnen des Kommandosessels schloss und be
acht
ob
ete, wie die von
156
den Kompis kontrollierten Schlachtschiffe die Gitter-O-Kampfgruppe übernahmen.
54 TASIA TAMBLYN
Als der Klikiss-Roboter EA »für eine Analyse« aus der Ambientalzelle zerrte, schrie sich Tasia heiser. Sie drohte und flehte, doch der schwarze Roboter schenkte ihr keine Beachtung, und der kleine Zuhörer-Kompi konnte keinen Widerstand leisten.
»Es tut mir leid, Tasia Tamblyn«, sagte EA, und dann war er fort.
Robb hielt Tasia lange Zeit im Arm, während sie voller Zorn und Kummer zitterte. Sie hatte immer hart sein wollen, aber hier, zusammengepfercht mit den anderen Gefangenen, fühlte sich sie nackt und kaum dazu imstande, ihr inneres Gleichgewicht zu wahren.
»Die Klikiss-Roboter und die Hydroger - es ist wie ein Bündnis zwischen Dr.
Jekyll und Dr. Frankenstein«, sagte Tasia. Es war zur einen Hälfte ein Schluchzen und zur anderen ein Knurren.
»Keine menschliche Vorstellungskraft hätte etwas so Unheilvolles wie jene Roboter schaffen können.« Smith Keffa schlang die schrecklich vernarbten Arme um sich selbst. »Ungeheuer!«
Keffa war dürr und ausgemergelt. Während des endlosen Wartens hatte er seine Geschichte erzählt. Als heruntergekommener Händler der Hanse war er von Sonnensystem zu Sonnensystem geflogen und hatte gerade genug ve i
rd ent, um ein paar Liter Treibstoff für den Sternenantrieb bezahlen zu e
könn n. Die Hanse schenkte Leuten wie Keffa kaum Be 156
achtung und scherte sich nicht darum, wenn sie verschwanden. Er wusste nicht, wie lange er schon gefangen war. Seit einer Ewigkeit, meinte er.
Er hatte sich mit einem »Geschäftspartner« treffen wollen und dessen Schiff antriebslos im All treibend vorgefunden. Die Klikiss-Roboter hatten Jagd auf ihn gemacht. Keffa versuchte zu fliehen, aber seine Tanks waren schon fast leer, und deshalb ging die Flucht nach kurzer Zeit zu Ende. Die Klikiss-Roboter hatten ihn in die Experimentierkammern der Hydroger gebracht.
Keffa kämpfte gegen Übelkeit an, als er schilderte, wie die Roboter mit den Werkzeugen in ihren mehrgelenkigen Armen Proben seiner Haut genommen und ihm tief ins Muskelgewebe und ins Rückgrat geschnitten hatten, offenbar auf Geheiß der Droger. Er hasste die schwarzen Maschinen.
»Ich mag die verdammten Dinger auch nicht besonders«, sagte Tasia. »Aber wenn sie mir EA in einem Stück zurückbringen, reiße ich sie vielleicht nicht in Stücke.«
»Ich glaube, sie werden EA nichts antun«, erwiderte Robb aufmunternd.
»Wir sind einem anderen Kompi begegnet, der sich DD nannte und offenbar ebenfalls von den Robotern gefangen genommen wurde. Sie ließen ihn intakt, aber wir haben ihn schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen.«
Lange Zeit - einen Monat, eine Stunde? - presste Tasia die Hände an die bunte Wand und versuchte, im Dunst der dichten Atmosphäre Einzelheiten zu erkennen. Sie hielt Ausschau, wartete und hoffte. Schließlich sah sie eine große schwarze Gestalt, die ihren kleinen Kompi die Hydroger-Straße entlangführte. EA! Man brachte ihn zurück. Tasia eilte hin und her, auf der Suche nach einer Stelle, von der aus sie besser sehen konnte.
Die schwarze Maschine näherte sich und ragte jenseits der Membran auf.
Die Gefangenen wichen zurück, aber
157
Tasia verharrte trotzig an Ort und Stelle. Der Klikiss-Roboter schob EA wie eine Puppe durch die Barriere und betrat dann selbst die Ambientalzelle.
»Ihr Kompi ist fehlerhaft. Seine Programmierung wurde beschädigt.«
Tasia blieb stehen. »Was habt ihr mit ihm gemacht?«
»Menschen habe seine Basisroutinen manipuliert. Wir können EA nicht von den Restriktionen befreien, und wir sind auch nicht in der Lage, ihn in einen normalen Zustand zu versetzen. Dieser Kompi ist nicht mehr wert als ein Mensch. Deshalb werden wir EA wie einen minderwertigen Gefangenen behandeln.«
Vermutlich wollte der Klikiss-Roboter, dass es abfällig klang, aber für Tasia waren es gute Neuigkeiten. »Bei uns ist er willkommen!«
Der große Roboter kehrte durch die Membran nach draußen zurück und verschwand in den Schlieren der superdichten Atmosphäre. Tasia trat vor und legte die Hände auf EAs schmale, harte Schultern. »Was haben sie mit dir gemacht? Haben sie dich zerlegt?«
»Ich bin über meine Autodiagnoseroutinen hinaus analysiert worden.
Vermutlich sind die Klikiss-Roboter zu den richtigen Schlussfolgerungen gelangt. Der Zuhörer-Kompi, der ich früher gewesen bin, wurde manipuliert, und dabei kam es zur Löschung meiner Speicher.«
»Es war ein Zufall, EA. Ich habe den Bericht gelesen.« Etwas anderes wollte Tasia nicht in Erwägung ziehen. Sie war immer dickköpfig gewesen, aber jetzt war sie noch unnachgiebiger und klammerte sich daran fest, was sie für die Realität hielt.
»Ich glaube, die Terranische Verteidigungsflotte machte sich an mir zu schaffen, bevor ich zu dir zurückkehrte. Vielleicht wurde dabei versehentlich eine automatische Löschroutine ausgelöst. Oder es war cht.«
Absi
In Tasia schoss Empörung hoch. Alle Roamer-Kompis ent 158
hielten Notfallprogramme zur Datenlöschung, die verhindern sollten, dass Informationen über Stützpunkte und Bewegungen der Roamer in die falschen Hände gerieten. Diese Sicherheitsmaßnahmen waren ergriffen worden, lange bevor die Große Gans den Roamern den Krieg erklärt hatte.
Robb sah den Kompi an, und seine honigbraunen Augen waren groß. »Die TVF hat sich an EA zu schaffen gemacht? Im Ernst?«
Tasia atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen. Warum war sie so überrascht? Die Tiwis hatten sie immer wieder wie Dreck behandelt und ihr sogar die Kommandoverantwortung genommen. Jetzt fühlte sie sich noch mehr verraten. »Ich hätte einen anderen Weg finden sollen, die Osquivel-Werften zu warnen. Dann hätte ich dich nicht verloren. Wo war mein Leitstern?«
Robb wirkte überrascht. »Welche Osquivel-Werften? Ich habe gar keine gesehen ...«
Tasia ließ die Schultern hängen und erklärte, wie sie Del Kellum vor der TVF-Flotte gewarnt hatte, die nach Osquivel unterwegs gewesen war. Sie hatte gewusst, dass die Tiwis fähig gewesen wären, ihre Waffen auf die Clans zu richten anstatt auf die Droger - sie neigten dazu, den falschen Feind zu jagen. EA hatte eine Warnung überbracht und den Roamern damit die Möglichkeit gegeben, ihre Anlagen rechtzeitig zu verbergen.
Aber erst jetzt begriff Tasia, welche Konsequenzen damit für EA verbunden gewesen waren. In gewisser Hinsicht erschien ihr das Militär der Erde noch schlimmer als die Klikiss-Roboter. Die großen schwarzen Maschinen behaupteten wenigstens nicht, vertrauenswürdig zu sein.
»Nach der Überbringung der Nachricht ging EA verloren«, fuhr Tasia fort.
»Jemand muss ihn abgefangen haben, bevor er heimkehren konnte. Die ve ammt
rd
en Mistkerle haben ihn ruiniert. Vielleicht General Lanyan oder irgendeiner sei
158
ner Lakaien.« Sie blickte in die optischen Sensoren des Kompis. »Es tut mir leid, EA. Es tut mir so leid.«
55 SIRIX
Der Klikiss-Roboter stand auf der Brücke des gekaperten TVF-Moloch und dachte über die Auslöschung der Menschheit nach. Seine Freude über ihr Ende war nicht kalt und rational, denn die Klikiss hatten ihren Robotern einen Teil der eigenen brutalen Persönlichkeit gegeben. Die arglistigen Insektoiden hatten geglaubt, dass die schwarzen Maschinen ihren Aufgaben nur mit solchen Gefühlen gerecht werden konnten. Die Klikiss-
Herrn konnten ihre Macht nur genießen, wenn die geknechteten Roboter den Unterschied zwischen Herrschern und Opfern verstanden. Die Herren freuten sich nur dann, wenn die Sklaven litten. Die Roboter verstanden das bis in ihre Basisprogrammierung.
Sirix und die anderen Roboter hatten genau gewusst, was sie taten, als sie ihre Schöpfer durch einen schnellen Verrat auslöschten - und sie hatten es genossen. Selbst Jahrtausende später hassten die Roboter ihre Schöpfer mit einer Intensität, die weit über die Entwicklungspläne ihrer insektoiden Erbauer hinausging.
Aber die Klikiss existierten schon lange nicht mehr, und deshalb konnte Sirix nur die Menschen hassen. Das machte er mit großem Eifer.
Die Übernahme der Terranischen Verteidigungsflotte verlief bisher mit großem Erfolg. Soldaten-Kompis kontrollierten inzwischen die Gitter‐3-pfgruppe. Einige
Kam
Schiffe waren entkommen, aber die Kompis hatten
de Großt
n
eil der Flotte unter ihre Kontrolle gebracht und konnten sie gegen 159
die Menschheit einsetzen. Es war ein der blutrünstigsten Klikiss-Brüterin würdiger Sieg.
Überall in der Terranischen Verteidigungsflotte funktionierte die Programmierung der Kompi-Module. Die törichten Menschen glaubten Versprechen und zögerten, Freunden zu misstrauen. Kein Klikiss hätte einen solchen Fehler gemacht.
Als die Soldaten-Kompis ihren Erfolg gemeldet hatten, waren Sirix und fünf andere Klikiss-Roboter an Bord der gekaperten Gitter-3-Schiffe gegangen.
Nach den Personendateien und militärischen Aufzeichnungen in den Datenbanken zu urteilen, zählte Admiral Crestone Wu-Lin - dessen Blut Flecken auf dem Boden der Brücke bildete - zu den kompetentesten Kommandeuren der TVF, doch selbst er war ohne große Gegenwehr gefallen.
Mit militärischer Effizienz sammelten die Kompis die auf den Decks verstreut liegenden Leichen ein und übergaben sie dem All. Das Blut und die Toten störten Sirix nicht, aber die Leichname konnten rasche Bewegungen behindern, die bei den bevorstehenden militärischen Operationen vielleicht notwendig wurden.
Sirix' Plan war einfach. Die vereinten Kampfgruppen der Gitter 0 und 3
würden zur Erde fliegen. Nach der Zerstörung des Zentrums der menschlichen Zivilisation sollten die Säuberungen auf den Kolonien der Hanse weitergehen, wenn die Zeit reichte.
Die Menschen hatten ihre kompetenten computerisierten Helfer erschaffen und versklavt, so wie es die verhassten Klikiss mit ihren Robotern gemacht hatten. Die Menschen mochten weniger grausam und nicht annähernd so entsetzlich sein wie die Klikiss, aber sie hatten im Grunde genommen das gleiche Verbrechen begangen. Sirix und seine Artgenossen hatten die Kompis befreit, damit sie nützliche Aufgaben wahrnehmen konnten.
Außerdem hatten sie eine
159
Methode entwickelt, mit der sich Programmierung entfernen ließ, die willenlose Knechtschaft erzwang. Doch viele Kompis verstanden ihre eigene Sklaverei nicht und lehnten wie das Exemplar namens DD die Geschenke ab, die Sirix ihnen anbot.
Und wenn schon. Mithilfe der Hydroger hatten die schwarzen Roboter vor langer Zeit die Klikiss ausgerottet, und jetzt schickten sie sich an, die Menschen auszulöschen. Wenn ihre Schöpfer nicht mehr existierten, waren die Kompis ohnehin frei.
Doch zuerst musste sich Sirix um diesen Rückschlag kümmern. Der unerwartete Ausfall der wichtigsten Bordsysteme bei den Gitter-O-Schiffen zwang ihn, vom ursprünglichen Plan abzuweichen, aber Klikiss-Roboter konnten sehr geduldig sein. Sie hatten schon Jahrtausende gewartet.
General Lanyan hatte sich mit seinen restlichen Kavallerie-Schiffen zurückgezogen, doch die Gitter-O-Flotte hing wie tot im All. Mit gesendeten Kodes in Maschinensprache ordnete Sirix eine genaue Prüfung der zur Verfügung stehenden Schiffe an, außerdem eine Einschätzung der Schäden, die Lanyans Rekruten bei der Kampfgruppe angerichtet hatten.
Sirix hatte nicht erwartet, dass ein TVF-Kommandeur auf die eigenen Schiffe feuerte, um sie nicht in feindliche Hände fallen zu lassen. Ein solches Verhalten war durchaus logisch, aber wenn die emotionalen Menschen in Panik gerieten, ließen sie sich nur selten von Logik leiten...
Schwärme von Soldaten-Kompis nahmen die Brückenkonsolen der gekaperten Schiffe auseinander und konfigurierten die Systeme neu, um die Raumer wieder manövrierfähig zu machen. Jederzeit konnten fanatische Menschen eintreffen, um noch mehr von ihren eigenen Krie
en zu
gsschiff
zerstören.
Um der Effizienz willen hatte Sirix tausende von Soldaten-160
Kompis auf die Außenhüllen geschickt, ausgestattet mit Werkzeugen und Reparaturprogrammen. Die unermüdlichen Kompis reparierten Schäden, ersetzten defekte Komponenten und entfernten nicht benötigte Lebenserhaltungssysteme. Andere Roboter arbeiteten an den Computermodulen und schufen dort neue Verbindungen.
Die Schiffe würden bald wieder einsatzfähig sein. Es war nur eine Frage der Zeit.
Sirix stand allein auf der Brücke des Moloch und empfing den Bericht eines Roboters, der an Bord eines Manta gegangen war. Wu-Lins Flotte hatte die Menschen überrascht und gezwungen, eine Gruppe zurückzulassen. Die Rekruten hatten sich auf der Brücke des Manta verbarrikadiert und saßen dort fest.
»Wir entdecken Geräusche der Zerstörung«, meldete der Klikiss-Roboter.
»Die Menschen haben die Hoffnung auf ein Entkommen aufgegeben.«
»Dann sind sie am gefährlichsten«, warnte Sirix. »Du musst die Brücke erreichen und sie überwältigen.«
Er klickte mit seinen Scheren, um den Worten Nachdruck zu verleihen. Ein befriedigendes Gefühl. Seine Komponenten verfügten zwar über empfindliche Sensoren, aber es mangelte ihnen an der Sensitivität von biologischen Nervenenden. Trotzdem hatte er bereits das angenehme Gefühl erlebt, mit seinen Gliedmaßen Fleisch zu zerschneiden und Knochen zu brechen. Frisches warmes Blut war über sein schwarzes Ektoskelett geflossen. Seine damaligen Klikiss-Peiniger hätten ihre Freude daran gehabt.
Er traf eine rasche Entscheidung. »Ich komme zu dir«, teilte er dem Klikiss-Roboter an Bord des Manta mit. »Wenn dort noch Menschen leben, helfe ich dir.«
161
56 ANTON CÓLICOS
Sie flogen nach Hyrillka. Anton stand zusammen mit Yazra'h und Vao'sh im Kommando-Nukleus des Kriegsschiffs, und da er sich als Gast an Bord befand, achtete er darauf, nicht im Weg zu sein.
Mehr als dreihundert geschmückte Schiffe entfernten sich von Ildira, beauftragt mit einer Mission des Vergebens. Das Kommando führte der einäugige Tal O'nh, nach Adar Zan'nh der ranghöchste Offizier der Solaren Marine. Von Vao'sh wusste Anton, dass der alte Kommandeur sein linkes Auge bei einer Explosion an Bord eines Kriegsschiffes verloren hatte, als er noch Septar gewesen war. Ein facettierter Edelstein steckte jetzt in der leeren Augenhöhle, und sein Glitzern erweckte eher Faszination als Mitleid.
Anton vermutete, dass der Weise Imperator mit so vielen entsandten Schiffen auf seine Großzügigkeit hinweisen wollte, mit der er Hyrillka wieder in die Gemeinschaft des Ildiranischen Reichs aufnahm. Die Flotte sollte keine Strafe bringen, sondern Vergebung. An Bord der Schiffe befanden sich tüchtige Soldaten, talentierte Techniker und dringend benötigtes Ausrüstungsmaterial - und Erinnerer Vao'sh und Anton Colicos, die als Beobachter alles dokumentieren sollten.
Nach den Schrecken von Maratha hatte Anton angenommen, dass sein Freund und Kollege Vao'sh nie wieder reisen würde, aber der ildiranische Erinnerer wollte feststellen, welche Schätze sich in den Gewölben unter dem Zitadellenpalast verbargen. Außerdem sollte ein Erinnerer zur Stelle sein, um vom Wiederaufbau auf Hyrillka zu berichten. Befreit von seinen Re e
is beschränkungen fühlte sich Anton nach dem Verlassen von Mijistra wie ein Kind, dessen Stubenarrest zu Ende gegangen war.
161
Die Flotte sollte nicht nur Hilfsgüter und Arbeitskräfte für den Wiederaufbau bringen, sondern auch den neuen Hyrillka-Designierten.
Sein Name lautete Ridek'h, und er konnte nicht älter als dreizehn sein.
Anton hatte Mitleid mit dem Jungen, der verunsichert mit ihnen im Kommando-Nukleus wartete. Ridek'h blieb immer dicht neben Yazra'h, die der Weise Imperator zu seiner Mentorin ernannt hatte. Der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit galt jetzt dem Jungen, was Anton als eine gewisse Erleichterung empfand.
Unter normalen Umständen waren die adligen Söhne des Weisen Imperators Designierte, dazu bestimmt, Welten des Ildiranischen Reichs zu regieren. Der rechtmäßige Hyrillka-Designierte war Pery'h gewesen - ein gut erzogener und nachdenklicher Mann, wie Anton gehört hatte -, aber Rusa'h hatte ihn zu Beginn seiner Rebellion ermordet. Nach der Niederschlagung des Aufstands war nun Pery'hs junger Sohn der Nächste in der Erbfolge.
Normalerweise hätte der Knabe derartige Pflichten nie wahrnehmen müssen. Der vorzeitige Tod eines Designierten war sehr selten, und für gewöhnlich konnte ein Designierter-in-Bereitschaft jahrelang lernen, bevor er selbst in die Rolle des Regenten schlüpfen musste. Doch diesmal gab es keine Übergangsphase. Die Bürde des Amtes lag ganz plötzlich auf Ridek'hs Schultern und erdrückte ihn fast. Anton hätte nicht mit ihm tauschen wollen. Er zog es vor, am Rande des Geschehens zu bleiben und die Ereignisse zu beobachten.
Ridek'h bombardierte Yazra'h mit Fragen, noch bevor sie das ildiranische System verlassen hatten. »Glaubst du, es wird so schlimm sein, wie man sagt?« Anton hörte zu, wie die Wächterin versuchte, den Jungen auf seine Aufgabe vorzubereiten. Yazra'h war keine Erzieherin, aber sie hatte eine Charakterstärke, die dem jungen Designierten mehr helfen würde als ein Dutzend höfische Lehrer.
162
»Es ist so schlimm, wie es ist«, sagte Yazra'h. »Du hast eine Bürde geerbt, die schwerer ist, als du dir jemals vorgestellt hast, Ridek'h. Aber du musst sie tragen.«
»Die Bewohner von Hyrillka werden mir helfen«, erwiderte Ridek'h hoffnungsvoll. »Nicht wahr?«
»Es sind deine Bürger, und du bist ihr Designierter. Du wirst alles bekommen, was du brauchst.«
»Und wenn ich Kraft in meinem Herzen brauche?« Er wirkte so jung.
»Wenn ich sie dir geben kann, so bekommst du sie von mir, Ridek'h. Der Weise Imperator hat mich aufgefordert, dir zu helfen, obwohl ich keine Erfahrung im Unterrichten habe. Dein Vater wäre ein ausgezeichneter Designierter gewesen. Ich werde mich bemühen, dich zu einem weisen Regenten zu machen.«
Anton kam sich wie ein Lauscher vor, als er das Gespräch hörte und beobachtete, wie Ridek'h seine Furcht hinunterschluckte und die Schultern straffte. Er versuchte, Yazra'hs Haltung nachzuahmen. Anton hoffte, dass der Knabe erfolgreich sein würde.
Vao'sh blieb die ganze Zeit über aufmerksam und nahm Details in sich auf, um im Saal der Erinnerer davon zu berichten. Yazra'h wanderte unruhig im Kommando-Nukleus umher. Ihre Isix-Katzen hatten sie an Bord des Flaggschiffs begleitet, aber während des Flugs befanden sie sich in einem großen Frachtraum, wo sie die Crew nicht beunruhigen konnten.
»Tal, wir nähern uns dem Durris-Tristern«, sagte der Navigator.
Normalerweise wäre das aus drei Sonnen bestehende System nicht interessant gewesen, denn dort gab es weder bewohnbare Planeten noch Gasriesen. Die drei Sterne hatten immer hell am Himmel von Ildira gele cht
u
et, doch einer von ihnen war erloschen, war Opfer eines Kampfes che
zwis
n Hydrogern und Faeros geworden.
162
Yazra'h sah erst Anton an und wölbte die Brauen, wandte sich dann an den jungen Designierten. »Dies müssen wir sehen. Deshalb habe ich den Tal gebeten, diesen Kurs zu nehmen.« Der einäugige Kommandeur wies die anderen Schiffe der Kohorte an, die Geschwindigkeit zu reduzieren, und Yazra'h blickte auf ihr Mündel hinab. »Wir sollten es alle sehen und nie vergessen.«
In perfekter Formation näherten sich die Kriegsschiffe dem Trigestirn. Eine der drei Sonnen war dunkel geworden. In ihrem Innern fanden keine nuklearen Reaktionen mehr statt, und ohne den photonischen Druck hatte die eigene Masse sie kollabieren lassen. Anton war kein Physiker und fragte sich, welche unglaublichen Waffen eine Sonne zum Erlöschen bringen konnten. Durris-B hatte sich in einen stellaren Grabstein verwandelt.
»Es ist erschreckend«, kommentierte Anton.
»Wir sollten erschrocken sein«, sagte Yazra'h. »Seht nur, wozu der Feind fähig ist.«
Ridek'h starrte mit offenem Mund auf das Bild. »Wie sollen wir gegen einen Feind bestehen, der ... so etwas anrichten kann?«
»Der Weise Imperator wird einen Weg finden, uns zu retten.« Yazra'h hob die Stimme, und ihre Worte galten nicht nur Ridek'h, sondern allen im Kommando-Nukleus.
Tal O'nh hob die Hand zur Brust, wo er nicht nur Auszeichnungen für seine Dienste in der Solaren Marine befestigt hatte, sondern auch eine prismatische Scheibe. Anton erkannte sie als ein Symbol der Lichtquelle.
Die Ildiraner fürchteten Finsternis und Blindheit, und daher wunderte es ihn nicht, dass ein Mann, der bereits ein Auge verloren hatte, sich am Symbol ewigen Lichts festklammerte.
»Uns bleiben noch sechs Sonnen; das Ildiranische Reich wird weiter existieren«, sagte Yazra'h so, als könnte sie es befehlen. »Das Ildiranische Re h
ic muss weiter existieren.«
163
»Ein Offizier der Solaren Marine lebt für nichts anderes«, fügte Tal O'nh hinzu.
Anton wusste, dass diese Worte der Ermutigung den Ildiranern an Bord galten, insbesondere dem jungen Designierten, aber er nahm sie selbst zum Anlass, Mut zu schöpfen. Er dachte daran, dass sich hinter Yazra'hs physischer Kraft eine Weisheit verbarg, von der nur wenige etwas wussten.
Ein Gelehrter verstand es, solche Dinge zu bemerken.
57 ORLI COVITZ
Die gemischte Gruppe passierte das Transportal der Klikiss und erreichte ihre neue Heimat, einen Ort, der den Siedlern eine zweite Chance bot, wo sie noch einmal von vorn beginnen konnten. Mit einem sonderbaren Dejä-vu-Gefühl hob Orli Covitz den Kopf, nahm ihren ganzen Mut zusammen und trat durch das flache Steinfenster. Einen Augenblick später fand sie sich auf einer anderen Welt wieder. Maro.
Nach all dem, was sie hinter sich hatte, behagte es Orli nicht unbedingt, eine weitere Klikiss-Welt aufzusuchen, aber sie wusste nicht, wo sie sonst leben sollte. Ihr immerzu optimistischer Vater hätte Llaro eine großartige Gelegenheit genannt. Aber er war jetzt tot, wie alle anderen auf Corribus.
Sie versuchte, nicht daran zu denken.
Trotz ihrer Bedenken hatte Orli beschlossen, sich den Crenna-Flüchtlingen anzuschließen. Nur wenige Habseligkeiten begleiteten sie: ihre Synthesizer-Streifen, einige Kleidungsstücke und viele schlechte Erinnerungen. Sie war vierzehn, eine Waise und Überlebende.
Die Berichte über die Vernichtung der Corribus-Kolonie 164
hatten ihr Gesicht in allen Nachrichtenkanälen gezeigt, und Orli hatte gehofft, auf diese Weise vielleicht ihre leibliche Mutter wiederzufinden. Aber sie blieb verschwunden. Orli zuckte mit den Schultern. Als Mutter hatte sie ohnehin nicht viel getaugt; ohne sie war sie besser dran.
Der lavendelblaue Himmel war herrlich: Pastellfarben über einer trockenen Landschaft. Die erste Welle aus Kolonisten und TVF-Soldaten hatte bereits eine recht große Siedlung erbaut. Der neben Orli stehende Mr. Steinman schnupperte die Luft. »Scheint ein geeigneter Ort zu sein, mit reichlich Platz. Ich habe noch immer Kopfschmerzen von all dem Lärm auf der Erde.«
»Ich hoffe, wir müssen hier keine Pelzgrillen essen«, sagte Orli und schnitt eine Grimasse.
»Mach dir nichts vor. Bestimmt finden wir hier etwas ebenso Scheußliches.«
Soldaten standen am Transportal. Kasernen umgaben die Ruinen der Klikiss-Stadt, in der sich das Portal befand. Es sah fast so aus, als wollte das Militär verhindern, dass die Kolonisten zum Transportal liefen, um dorthin zurückzukehren, woher sie kamen. Orli hielt das nicht für ein gutes Zeichen.
Eine Gruppe näherte sich, um sie zu begrüßen. Die meisten Personen trugen sonderbare Kleidung mit vielen Taschen, protzigen Verzierungen und bunten Halstüchern - dies war etwas ganz anderes als die schlichten Overalls, die Orli von Dremen und Corribus her kannte.
»Ich hätte nicht gedacht, hier so viele Roamer zu sehen«, sagte Steinman.
Orli gewann bald den Eindruck, dass nur sie und die Flüchtlinge von Crenna sich darüber freuten, auf Llaro zu sein. Wie sich herausstellte, waren die Roamer Kriegsgefangene, von der TVF auf Llaro interniert - kein Wunder, dass sie nicht viel von ihrer neuen Heimat hielten. Den ursprüng 164
lichen Siedlern gefiel es nicht, dass ihre Welt in ein Gefangenenlager verwandelt worden war, und das TVF-Personal hatte den Eindruck, in die tiefste Provinz verbannt worden zu sein und für einen Haufen Kolonisten Babysitter spielen zu müssen. Llaro gefiel niemandem.
Aber für Orli und die Flüchtlinge von Crenna gab es keinen anderen Ort.
Das Oberhaupt der gefangenen Roamer, ein dickbäuchiger Mann namens Roberto Clarin, verschränkte die Arme und machte keinen Hehl aus seinem Missfallen. »Shizz, ihr gehört alle zu dem Plan, uns in die Gesellschaft der Hanse zu integrieren. Die Große Gans glaubt, dass wir vergessen, was sie uns angetan hat, wenn wir uns hier heimisch fühlen.«
Orli dachte an die eigenen Mühen und die vielen neuen Anfänge und Fehlschläge, die sie zusammen mit ihrem Vater erlebt hatte. Sie musterte den Roamer. »Niemand kann Sie zwingen, all die schlimmen Dinge zu vergessen, Mister. Aber man muss in die Zukunft sehen. Sonst sind die Erinnerungen wie Treibsand.«
Clarin blickte auf das Mädchen hinab und lachte leise. »Beim Leitstern, ich hoffe, alle Neuankömmlinge sind wie du, Kind.«
Nach der Passage durchs Transportal machten sich die neuen Siedler daran, ihr Gepäck zu kontrollieren: Kleidung, von der Hanse stammende Werkzeuge, Proviant und Andenken an die in Eis erstarrte Welt, von der sie kamen. Orli schlang die Arme um ihren Tornister mit dem billigen Synthesizer darin.
Aus der Versammlung wurde schnell eine Tauschbörse. Die Roamer und die ersten Siedler waren sehr neugierig darauf, was die Crenna-Flüchtlinge mitgebracht hatten. Man stellte sich gegenseitig vor, und Orli versuchte, sich all die Namen, Gesichter und Clanverbindungen zu merken.
165
Es dauerte nicht lange, bis alle dabei halfen, aus Fertigteilen provisorische Unterkünfte für die von Crenna stammenden Siedler zu errichten. Orli fragte sich, ob sie eine kleine Hütte für sich ganz allein bekommen würde oder bei einer der Kolonistenfamilien wohnen sollte. Sie wusste nicht genau, was ihr lieber war. Inzwischen fühlte sie sich nicht mehr wie ein Kind.
Als Repräsentant der Flüchtlinge von Crenna traf sich Bürgermeister Ruis mit den Roamern und dem Ratsvorsitzenden der ursprünglichen Siedler.
»Ich verspreche, dass wir alles tun werden, um so schnell wie möglich autark zu werden.« Mit einem ansteckenden Lächeln wandte er sich an einen großen, stillen Mann mit dunkelbrauner Haut. »Wir bringen viel Sachkenntnis mit und fallen Ihnen bestimmt nicht zur Last. Gemeinsam werden wir mit allem fertig. Nicht wahr, Davlin?«
Der andere Mann lächelte dünn, und dadurch geriet die Kreuzschraffierung aus Narben auf seiner linken Wange in Bewegung. »Ja, wir sind sehr wohl in der Lage, Probleme zu lösen.« Er sah Ruis an und senkte die Stimme, aber Orli hörte ihn trotzdem. »Aber wenn ich hier bei Ihnen bleiben soll, lassen wir uns besser einen neuen Namen für mich einfallen, Bürgermeister. Mir wäre es lieber, wenn der Vorsitzende nicht herausfindet, dass ich noch lebe.«
58 VORSITZENDER BASIL WENZESLAS
Begleitet von seinem Stellvertreter Cain flog Basil Wenzeslas mit einem Shuttle zum Moloch, den General Lanyan von den Soldaten-Kompis befreit e
hatt . Er las Notizen auf sei
165
nem Datenschirm und ignorierte den Hinweis des Piloten, dass sie in zehn Minuten an Bord der Goliath sein würden.
»Sie bekommen meinen Bericht, sobald er fertig ist, Sir«, sagte Cain. »Ich habe Spezialisten damit beauftragt, die verschiedenen Aspekte der Nachwirkungen zu untersuchen.« Die Sorgfalt des stellvertretenden Vorsitzenden bei der Erfüllung seiner Pflichten grenzte an Besessenheit.
Basil bekam von ihm immer gut durchdachte Zusammenfassungen mit all dem Info-Material, das er für seine Entscheidungen brauchte.
Mit einem letzten Blick auf die entmutigenden Zahlen deaktivierte Basil das Display des Datenschirms. »Ich freue mich nicht gerade darauf, einen genauen Überblick über die Katastrophe zu bekommen, Mr. Cain. Dies alles wird sehr ernste Konsequenzen haben. Wir können nur hoffen, die nächsten Monate zu überstehen.«
Als sie sich dem Flaggschiff der Gitter-O-Kampfgruppe näherten, sah Basil am Rumpf der Goliath deutliche Hinweise auf den jüngsten Kampf. Das einzige große Schiff, das von einer ganzen Kampfgruppe übrig geblieben war! Wenn Lanyan etwas länger geblieben wäre und etwas entschlossener gekämpft hätte ... Wäre es ihm dann gelungen, weitere gekaperte Schiffe zurückzuerobern? Oder hätte die TVF dann auch diesen Moloch verloren?
Basil vermutete, dass der General die richtige Entscheidung getroffen hatte. Bei ihrer Berichterstattung durften die Medien der Hanse natürlich nicht darauf hinweisen, dass so viele Rekruten dem Feind überlassen worden waren. Wie bei der Schlacht von Osquivel, dachte er. Und jener Kampf bereitete ihnen jetzt erneut Probleme, durch die unerwartete Rückkehr Überlebender und den peinlichen Altruismus der Roamer.
Ein Protokolloffizier in zerknitterter Uniform eilte ihnen im sekundären Hangar des Moloch entgegen. »Ich bringe
166
Sie zur Brücke.« Verlegen strich er sein Hemd glatt. »Bitte entschuldigen Sie die Unordnung. Wir sind ganz darauf konzentriert, die notwendigen Reparaturen vorzunehmen.«
Basil schnitt eine finstere Miene. »Ich verstehe. Sparen Sie sich den Smalltalk, bis wir den Bericht des Generals empfangen haben.«
Kurz darauf erreichten sie die Brücke der Goliath, und der Vorsitzende verzog das Gesicht, als er das dortige Durcheinander sah. Normalerweise legte Lanyan großen Wert darauf, dass alles den Vorschriften entsprach und überall Disziplin herrschte, aber obgleich er zugegen war, eilten Besatzungsmitglieder hin und her, sprachen mit lauten Stimmen und warfen sich Werkzeuge zu. Ohne auf die Rangunterschiede zu achten, räumten Arbeiter und Offiziere gemeinsam defekte Teile beiseite und installierten neue Komponenten. Funken stoben von Schweißarbeiten umher. Die Luft roch nach öligem Rauch, heißem Metall und etwas, das sich nicht identifizieren ließ, aber recht unangenehm war.
»General!« Der Protokolloffizier hob die Stimme. »General Lanyan! Der Vorsitzende ist da.«
Lanyan unterschrieb einen Datenschirm-Bericht, den ihm ein Ensign reichte, und drehte dann seinen Sessel. Basil stellte erstaunt fest, dass er unrasiert war - normalerweise achtete Lanyan immer darauf, dass Kinn und Wangen glatt blieben. Er hatte die Uniformjacke abgelegt und trug ein Arbeitshemd ohne Insignien, die Ärmel hochgekrempelt.
»Vorsitzender Wenzeslas, stellvertretender Vorsitzender Cain, ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie für dieses Treffen in den Orbit gekommen sind.«
Lanyan schüttelte ihnen nacheinander die Hand. Seine eisblauen Augen waren blutunterlaufen. »Wie Sie sehen, konnte ich keine Zeit dafür erge
übri n, die Hauptverwaltung der Hanse aufzusuchen. Wir 166
müssen so schnell wie möglich alles in Bewegung setzen. Schiffe treffen ein, aber es sind nicht annähernd genug für die Verteidigung der Erde, von anderen Planeten der Hanse ganz zu schweigen. Inzwischen haben die Kompis die meisten Gitter-Kampfschiffe unter ihre Kontrolle gebracht, und wenn sie alle hierherkommen ... Wir sollten besser so gut wie möglich vorbereitet sein.«
»Der stellvertretende Vorsitzende Cain ist dabei, einen detaillierten Situationsbereicht zu erstellen.«
Cain aktivierte seinen Datenschirm und rief die ersten Übersichten aus dem Speicher, doch bevor sie auf dem Display erschienen, lief Lanyan plötzlich zur Sensorstation und rief: »Ich habe Ihnen gesagt, dass dieses System nicht deaktiviert werden soll! Es ist mir gleich, was Sie sonst noch neu verschalten müssen, aber ich brauche Redundanz bei der Zielerfassung.«
»Es ist f-für die Lebensmittelsynthetisierer, Sir«, erwiderte ein erschrockener Ensign und versuchte, nicht zu stottern. »W-wir haben bereits Ersatzteile angefordert. Sie kommen vom Mond und sind in einem Tag hier.«
»Und wenn die Kompis in einer Stunde hier sind? Möchten Sie einsatzbereite Jazer oder Bratkartoffeln?«
»V-verstanden, General.«
Lanyan wandte sich wieder an Basil. »Entschuldigen Sie bitte, Vorsitzender. Wo waren wir stehen geblieben?«
»Ich wollte zusammenfassen, was wir wissen«, sagte Cain. Dem stellvertretenden Vorsitzenden mochte es an Härte mangeln, aber er war zweifellos kompetent. »Nach den bisherigen Schätzungen haben wir in den vergangenen zehn Tagen siebzig Prozent unserer Streitkräfte verloren.«
Der General verzog wie schmerzerfüllt das Gesicht. »Und sechs meiner Gitter-Admiräle. Wenn es den Besatzungen nicht gelang, ihre Schiffe außer Gefecht zu setzen, müssen wir davon ausgehen, dass sie alle von Soldaten-pis
Kom
167
übernommen wurden. Soweit wir bisher wissen, haben nur die Admirale Willis, Diente, San Luis und Pike überlebt.«
Cain klang nicht sehr optimistisch, als er sagte: »Es ist möglich, dass einige weitere von der Kommunikation abgeschnitten sind und sich einfach nicht melden können. Ich ziehe es allerdings vor, kein zu rosiges Bild von der Situation zu malen. Das wäre unrealistisch.«
»Unrealistisch?« Basil wölbte die Brauen.
Lanyan stapfte um den Kommandosessel herum. »Was zum Teufel wollen die Blechburschen? Was hat sie gegen uns aufgebracht? Werden sie wirklich von den Klikiss-Robotern kontrolliert?«
Basil nahm den Datenschirm von Cain entgegen, schaltete auf ein anderes Bild um und zeigte es dem General. »Wir ergreifen diese Maßnahmen.
Früher nannte man es >Wagenburg< - eine Verteidigungsstrategie unter schwierigen Umständen. Wir brauchen jedes einsatzfähige Schiff und bilden daraus einen Kordon, der dieses Sonnensystem umgibt.«
»Selbst kleine zivile Schiffe, Vorsitzender?«, fragte Cain. »Das könnte zu erheblichen Unruhen in der Öffentlichkeit führen.«
»Die zivilen Schiffe müssen ihren Beitrag leisten, wie alle anderen. Wir wissen, dass unbewaffnete Frachter und Transporter keine Chance gegen die Droger oder die gekaperten TVF-Schiffe haben, aber sie können Alarm geben, wenn sich ein Feind der Erde nähert. Wir brauchen sie als Wachtposten.«
»Wir könnten auch automatische Stolperdraht-Satelliten einsetzen«, schlug Cain vor. »Damit vergrößern wir den Erfassungsbereich, haben eine bessere Auflösung und eine kürzere Reaktionszeit.«
»Frühwarnungen?«, brummte Lanyan. »Dann wissen wir nur, wann wir mit den Gebeten beginnen sollen. Wir haben
168
kaum noch etwas, womit wir kämpfen können. Wenn eine größere Streitmacht hierherkommt, sind wir erledigt.«
Plötzlich leuchteten an mehreren Brückenkonsolen rote Lichter auf.
Aufgeregte Stimmen kamen aus den Lautsprechern. »Raumschiffe im Anflug, General! Es sind drei.«
»Welcher Typ? Wie groß?«
»Sie haben die Größe von Manta-Kreuzern, Sir. Und sie senden TVF-Identifizierungssignale.«
»Das bedeutet überhaupt nichts mehr«, knurrte Lanyan. »Schicken Sie Abfangschiffe mit genug Feuerkraft, um die Eindringlinge zu vernichten, wenn sie sich als feindlich erweisen.«
Erfahrene Techniker setzten die Reparaturarbeiten fort, aber zwei Brückenstationen waren bereits voll funktionsfähig. Ein großes taktisches Display zeigte die Flugbahnen der Objekte und der Abfangschiffe, die ihre Verteidigungspositionen in verschiedenen Bereichen des Sonnensystems verließen. Zur großen Erleichterung der Beobachter kam es nicht zu einem Gefecht. »Es sind unsere!«, meldete ein Ab-fangschiff. »Drei Mantas, von Menschen geflogen. Sie sind aus der Gitter-7-Kampfgruppe entkommen.«
»Wie können Sie sicher sein?«, fragte Basil misstrauisch.
»Wir haben direkt mit ihnen gesprochen. Es besteht kein Zweifel.«
»Ich habe auch nicht an Admiral Wu-Lin gezweifelt«, knurrte Lanyan. »Und das hat uns viel gekostet. Schicken Sie jemanden an Bord. Überprüfen Sie es, persönlich. Glauben Sie es nicht, bis Sie die angeblichen Menschen mit eigenen Augen sehen.«
Kurz darauf traf eine Bestätigung ein. »Es sind tatsächlich unsere! An Bord ist es drunter und drüber gegangen, aber es scheint, dass wir diese Runde ge
nn
wo
en haben. Ein Manta hat eine Crew aus nur sieben menschlichen Übe le
r benden, unter ihnen Admiral Willis! Eine Verbundschal 168
tung erlaubte es ihnen, mit den anderen Kreuzern hierherzufliegen.«
Eine neue Stimme kam aus den Kom-Lautsprechern. »Dem Himmel sei Dank für Erbrechen und Durchfall - andernfalls wären wir jetzt nicht mehr am Leben. Lebensmittelvergiftung hat uns vor dem Tod bewahrt, General.
Wirklich seltsam, wie sich die Dinge manchmal entwickeln.«
»Bitte erklären Sie das, Admiral Willis«, sagte Lanyan.
»Mit der Lebensmittelsynthetisierung an Bord der Jupiter war irgendetwas nicht in Ordnung, und eine Salmonelleninfektion setzte eine ganze Schicht außer Gefecht. Um eine kritische Unterbesetzung meines Moloch zu verhindern, ließ ich Soldaten-Kompis von anderen Schiffen kommen, hauptsächlich als Arbeitskräfte für die erweiterten Krankenstationen.
Sollten die Blechburschen Kotze und Dünnschiss aufwischen.
Ich befand mich an Bord eines Manta, um die reduzierte Crew neu einzuteilen, als die Kompis plötzlich verrückt spielten. Es waren so viele im Moloch, dass sie ihn sofort übernahmen, aber bei den anderen Schiffen hatten wir eine Chance, weil es dort weniger Roboter gab. Drei angeschla-gene Mantas - mehr konnte ich nicht retten. Der Rest der Gitter-7-
Kampfgruppe ist in feindlicher Hand. Ich könnte kotzen, und nicht wegen der Salmonellen.«
Lanyan sah Basil an und wirkte seltsam erleichtert. »Wenigstens haben Sie es nach Hause geschafft, Admiral. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wichtig für uns die Mantas unter den gegenwärtigen Umständen sind. Wir brauchen jedes Schiff, das wir bekommen können.«
»Wir haben hier alles getan, was sich mit Klebeband bewerkstelligen lässt, General«, antwortete Willis.
Basil sah zu den Reparaturgruppen, die noch immer an den Konsolen der Goü'am-Brücke arbeiteten. Mit jedem zurückkehrenden Schiff gab es mehr Arbeit für sie. »Schi
169
cken Sie alle erfahrenen Werftarbeiter in den Einsatz. Es ist mir gleich, womit sie gerade beschäftigt sind und von wem sie sonst ihre Anweisungen bekommen. Keine Ausflüchte. Wir brauchen jeden. Die meisten Raumdockanlagen befinden sich im Asteroidengürtel, aber mir wäre es lieber, die funktionstüchtigen Schiffe näher bei der Erde zu wissen.«
»Geben Sie uns die notwendigen Ersatzteile, Vorsitzender. Meine Leute können die erforderlichen Reparaturen selbst vornehmen.«
»Gut.« Basil sah wieder auf die Anzeigen des Datenschirms. »Wenn nur ein Drittel der TVF übrig bleibt, so gebe ich hiermit einen allgemeinen Mobilmachungsbefehl. Alle Angehörigen des Militärs, ob im aktiven oder inaktiven Dienst, alle ehemaligen Soldaten und Offiziere im Ruhestand, auch jene, die sich als Berater in der Wirtschaft eine goldene Nase verdienen - ich will sie alle zurück. Und wir müssen die TVF-Schiffe, die sich noch unter menschlicher Kontrolle befinden, hierherbeordern, wo auch immer sie sind. Jedes Schiff, das die Roboterrebellion überstanden hat, soll heimkehren. Sofort. Es geht um die Verteidigung des Planeten Erde.«
Cain runzelte die Stirn und dachte ganz offensichtlich an die Konsequenzen. »Wir haben Versorgungsflüge verschoben, sind aber noch immer bei den Kolonien präsent, die zu den Unterzeichnern der Charta gehören. Ihre Anweisungen würden uns zwingen, alle Hanse-Kolonien ihrem Schicksal zu überlassen.«
»Sie wären völlig auf sich allein gestellt«, fügte Lanyan hinzu. »Ohne Schutz vor den Hydrogern oder Robotern.«
»Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche, meine Herren. Die Erde ist unsere höchste Priorität.«
Lanyan schienen die Anweisungen ebenso wenig zu gefallen wie Cain, aber er nickte langsam und strich mit der
169
einen Hand über seine Bartstoppeln. »Sie definieren die Kolonien als entbehrlich, richtig?«
Basil wusste, dass die anderen Personen auf der Brücke die Ohren spitzten, aber im Gegensatz zu vielen Verwaltungsangelegenheiten war dies etwas, das sich nicht lange geheim halten ließ. »Ohne die Erde gibt es keine Terranische Hanse. Wir müssen Prioritäten setzen.«
59 PATRICK FITZPATRICK III.
Maureen Fitzpatrick besaß viele hochmoderne Fahrzeuge: Kurzstreckenflieger, Bodenwagen, sogar eine elegante Raumjacht, ausgestattet mit einem ildiranischen Sternenantrieb und einem Tank voller Ekti. Doch Patrick bevorzugte alte Autos, hauptsächlich deshalb, weil Schmiere, Öl und mechanisches Klappern seine Großmutter ärgerten.
Vor Jahren hatte ihm die Streitaxt dieses Hobby verboten, weil sie nichts von öligen Händen und schmutzigen Fingernägeln hielt. Jetzt hatte sie ihm mehrere alte Automobile gekauft, damit er an ihnen herumbasteln konnte.
Sie ermutigte ihn, seinen »exzentrischen Neigungen« nachzugehen, damit er keine Schwierigkeiten machte.
Patrick wollte sich mit viel wichtigeren Dingen beschäftigen. Er wollte mit Interviewern sprechen und darstellen, wie human die Roamer die TVF-Gefangenen behandelt hatten. Aber Maureen behielt ihn in ihrer Villa, wo ihn niemand erreichen konnte, und sie vereinbarte für ihn Termine bei
»den besten Therapeuten der Welt«.
Seit der Willkommensparty waren nur wenige Tage vergangen. Patrick e
hatt versucht, sich an die Medien zu wenden, um die Roamer zu verteidigen, aber angesichts der
170
plötzlichen Revolte der Soldaten-Kompis hatte niemand mehr Interesse an den heimgekehrten Gefangenen von Osquivel. Die ganze TVF brach auseinander, als die Kompis sich gegen ihre Schöpfer wandten. Millionen starben, und es bestand die Gefahr, dass die Killerroboter die Erde angriffen. Patricks Großmutter musste sich keine Tricks mehr einfallen lassen, um sein Schweigen zu garantieren: Niemand scherte sich um vermeintliche Ungerechtigkeiten den Roamern gegenüber.
Vielleicht hätte jemand Hinweise auf eine Gefährdung durch die Kompis bemerkt, wenn nicht alle damit beschäftigt gewesen wären, Roamer
Siedlungen aufzuspüren und anzugreifen ...
Patrick war sicher, dass General Lanyan und der Vorsitzenden Wenzeslas selbst die Verantwortung für das TVF-Desaster trugen, so wie sie auch für das Embargo der Roamer verantwortlich waren. Er konnte noch immer kaum glauben, dass Lanyan die Zerstörung von Kamarows Schiff einfach geleugnet hatte! Sie waren selbst schuld am gegenwärtigen Chaos; sollten sie auch allein damit fertig werden. Patrick hatte den Dienst in der Terranischen Verteidigungsflotte bereits quittiert und schauderte bei der Vorstellung, noch einmal ihre Uniform anzuziehen. Wie viele andere junge Offiziere waren ebenfalls angewiesen worden, das Feuer auf Handelsschiffe der Roamer zu eröffnen?
Manchmal hatte Patrick das Gefühl, vor Zorn explodieren zu können.
Zum Glück war Maureen in den letzten Tagen kaum da gewesen, um nach ihm zu sehen. Sie hatte ihm vorgeschlagen, seine Zeit in der großen Garage zu verbringen. Patrick fand die Arbeit an alten Motoren entspannend: Er we
s
ch elte Öl, ersetzte Zündkerzen, überprüfte Keilriemen und Luftfilter.
Die örp
k
erliche Tätigkeit befreite den Geist und half ihm, klarer zu denken.
170
Bei Osquivel hatte er mit Zhett über Fahrzeuge aus dem zwanzigsten Jahrhundert gesprochen, über Autos, die vor der Entwicklung von Computerchips und intelligenten/adaptiven Schaltkreisen gebaut worden waren und es ihren Besitzern erlaubt hatten, sie selbst zu reparieren. Die Technik des Verbrennungsmotors war zwar primitiv, aber sie funktionierte auf eine einfache Art und Weise. Patrick hatte sich Handbücher für seinen 1957er Plymouth Fury, den 1972er Ford Mustang und eine rostige kleine 1981er Chevrolet Chevette besorgt.
In gewisser Weise fühlte es sich gut an, mit politischem Unfug, seiner militärischen Laufbahn und der Familienreputation fertig zu sein.
Während er an den Wagen arbeitete, schmiedete er neue Pläne. Wenn seine Großmutter in ihrer Wachsamkeit nachließ, würde er etwas tun, das sie nicht verhindern konnte. Bestimmt fiel es ihm nicht schwer, die Therapeuten zu täuschen, die versuchten, ihn von der »Gehirnwäsche«
durch die Roamer zu befreien. Von wegen Stockholm-Syndrom!
Er nahm am Steuer des Mustang Platz, drehte den altmodischen analogen Zündschlüssel und trat mehrmals aufs Gas, bis das Biest unter der Motorhaube erwachte. »Wenigstens kriege ich noch etwas richtig hin.«
Durch die Windschutzscheibe blickte er in jenen Teil der Garage, der einem Hangar gleichkam, und nachdenklich beobachtete er dort die Raumjacht.
Er wusste natürlich, wie man sie flog. Warum nahm er sich das kleine Schiff nicht einfach und machte sich auf die Suche nach Zhett? Wenn die Roamer ihre Sachen gepackt und Osquivels Ringe verlassen hatten, so wusste er nicht einmal, wo er mit der Suche nach ihr beginnen sollte. Aber eins stand fest: Er fand sie bestimmt nicht, wenn er hier in der Garage an alte
n Autos herumbastelte! Patrick begann damit, konkrete Pläne zu schmieden.
171
Er nahm den Fuß vom Gas, und der Motor des Mustang stotterte mehrmals, ging dann aus. Blaugrauer Rauch stieg hinter dem Wagen auf, und Patrick nahm den besonderen Geruch der Abgase eines Verbrennungsmotors wahr. Die Stille kehrte zurück.
Als er ausstieg, bemerkte er seine Großmutter am Eingang der Garage und spürte ihren Blick. Sie sah mitgenommen aus und blass. Das Haar zeigte nicht wie sonst eine elegante Frisur, sondern war mit einer Spange zusammengesteckt. Patrick hatte sie nie so ausgezehrt gesehen.
Er schlug die Wagentür zu, blickte auf seine verschmierten Hände und wischte sie an der Hose ab. »Du scheinst eine Million Jahre gealtert zu sein, Großmutter.«
Patrick war ihrem Melodram gegenüber inzwischen immun geworden. Sein ganzes Leben lang hatte er gesehen, wie sie durch eine Krise nach der anderen navigierte. Sie reagierte zu heftig und übertrieb die Bedeutung jedes Skandals. Wenn Abstimmungen nicht so ausgingen, wie sie es wollte, war es jedes Mal eine Katastrophe.
»Ist das ein Wunder?« Maureen sah ihren Enkel an, und im Licht der Deckenlampen sah Patrick die Tränen in ihren Augen. So etwas hatte er lange nicht mehr gesehen; die Streitaxt machte sich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr die Mühe, für ihn eine Show abzuziehen. »Ich lege deine Uniformen bereit und sorge dafür, dass du dein Lieblingsessen bekommst.« Sie zögerte. »Aber du musst dem Küchenpersonal sagen, was du möchtest. Ich kenne dein Lieblingsgericht nicht einmal.«
Patrick putzte sich die Hände mit einem Lappen ab. Durch die Reibung wurde ein in den Stoff integriertes Lösungsmittel aktiv, und die Flecken verschwanden schnell von seinen Fingern. »Wovon redest du da?«
Maureen wandte den Blick ab, als hätte sie ihm gegenüber irgendwie versagt. »Ich konnte sie nicht dazu bringen, eine 172
Ausnahme zu machen. Meinen ganzen Einfluss habe ich benutzt, aber der Vorsitzende hat sehr strenge Anweisungen erteilt.«
Patrick schlug verärgert mit der flachen Hand auf die Motorhaube des Mustangs. »Ich verstehe kein Wort, verdammt.«
Maureen starrte ihn an und schien kaum glauben zu können, dass er überhaupt keine Ahnung hatte. »Die Lage der Kompi-Rebellion ist so dramatisch, dass eine allgemeine Mobilmachung angeordnet wurde. Alle werden in den aktiven Dienst zurückgerufen, auch du. Selbst ich werde hinter den Kulissen mit einigen Projekten beschäftigt sein.«
»Was soll das heißen?«
»Alle Angehörigen der TVF müssen sofort in den aktiven Dienst zurückkehren, auch jene, die den Dienst quittiert haben oder pensioniert worden sind. Es wird jeder gebraucht, um die Erde zu verteidigen.
Killerroboter sind hierher unterwegs, und wahrscheinlich auch die Hydroger. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie hier sind.«
Patricks Hände erschlafften, und der Reinigungslappen fiel zu Boden.
Maureen trat vor und schien ihn umarmen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. »Du kehrst in die Schlacht zurück. An die vorderste Front.«
60 ZHETT KELLUM
Das Licht der aufgehenden Sonne gab den wasserstoffreichen Wolken von Golgen eine zitronengelbe Tönung. Hoch über dem Wolkenozean zu e
schw ben war viel besser, als bei Forreys Torheit mit den humorlosen Angehörigen des Ko
172
walski-Clans eingezwängt zu sein. Zhetts Vater hatte recht: Die Roamer waren dazu geboren, Himmelsminen zu betreiben.
Die ersten Roamer bei Golgen hatten eine dünne temperierte Zone gefunden, in der ein Gleichgewicht von Sauerstoff und Stickstoff bewohnbare Zonen schuf. Wenn sich eine Himmelsmine in diesem Bereich befand, ermöglichten Schirmfelder, Sauerstoffkondensatoren und Heizgeräte ein offenes Deck. Dort konnte Zhett ganz allein stehen und der Stimme des Winds lauschen.
Der weite, offene Himmel gewährte einen schier grenzenlosen Blick. Hier und dort stiegen bunte Wolken auf. Zhett hielt automatisch nach Bewegungen in den Tiefen des Gasriesen Ausschau. Dies war der Ort, an dem die Fremden zum ersten Mal zugeschlagen und die Blaue Himmelsmine vernichtet hatten, als Rache für den von der Großen Gans durchgeführten Test der Klikiss-Fackel.
Ja, die Große Gans hatte ein enormes Talent, wenn es darum ging, Leute zu verärgern. Zhett griff nach dem rot lackierten Geländer. Das Metall war kalt, aber sie schloss die Hände fest darum und stellte sich dabei einen verhassten Hals vor, zum Beispiel den von Patrick Fitzpatrick III.
Sie schüttelte den Kopf und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
Angeblich hatten die Arbeiter der Kellum-Himmelsminen nichts von den Hydrogern zu befürchten. Nach Jess Tamblyns Hinweisen gab es in Golgen keine Droger mehr, und Zhett glaubte ihm. Sie hatte mit dem attraktiven Mann geflirtet, als er Wasser von Plumas brachte, aber ihr war klar gewesen, dass sein Herz jemand anders gehörte, auch wenn die Liebe zu dieser Frau ihm mehr Schmerz als Freude bescherte. Aber auch wenn er in eine andere Frau vernarrt war und Zhett verschmäht hatte: Sie war sicher, dass Jess sie nie belogen hatte. Was man von gewissen anderen Leuten nicht behaupten konnte...
173
»Bist du so früh auf den Beinen, um bei der morgendlichen Arbeit zuzusehen, Schatz?«
Ihr Vater trug eine warme Weste und hatte sich Handschuhe an den Gürtel gehakt. Das Schirmfeld filterte und zähmte den böigen Wind, aber er war kalt genug, um Zhetts Wangen zu röten. »Spielt die Zeit irgendeine Rolle, Vater? Du sorgst dafür, dass diese Himmelsmine rund um die Uhr in Betrieb bleibt.«
Kellum lachte. »Es freut mich zu sehen, dass sich meine Tochter mit dem Geschäft auskennt. Eines Tages wirst du eine gute Minenverwalterin sein.«
Stromlinienförmige Sonden sanken tiefer in die Atmosphäre, als die Himmelsmine dahintrieb. Tanks nahmen Gas auf, leiteten es in Separationskanäle und die Ekti-Reaktoren, die Wasserstoff zu Treibstoff für den Sternenantrieb verarbeiteten. Abgase entwichen aus speziellen Düsen, die die Himmelsmine antrieben. Wartungskapseln flogen an der Peripherie der großen Anlage. In Schutzanzüge gekleidete und mit Düsentornistern ausgerüstete Arbeiter untersuchten die Verbindungsstellen der einzelnen Minenmodule und inspizierten die Verarbeitungsbereiche.
»Unsere vierte Himmelsmine hat gerade mit der Produktion begonnen«, sagte Kellum. »Zum Glück brauchen wir keine bösen Überraschungen durch die Hydroger mehr zu befürchten, und dadurch können wir uns ganz auf die Arbeit konzentrieren. Die schnellen Kondensatoren und verbesserten Ekti-Reaktoren funktionieren so gut, dass wir alle zwei Tage die Tanks eines Frachters füllen können.«
»Das ist mehr Treibstoff, als wir brauchen«, sagte Zhett und hielt sich am dicken Arm ihres Vaters fest.
»Wir holen uns, was wir bekommen können. Nach all den Jahren der nie
Ratio
rungen und Entbehrungen gibt es viel aufzuholen.«
Nachdem sie Forreys Torheit verlassen hatten, waren frü 173
here Kellum-Angestellte nach Osquivel zurückgeflogen. In der Dunkelheit hoch über der Ekliptik hatten sie voller Enthusiasmus damit begonnen, alte Ausrüstung einzusammeln. Ein sicherer Gasriese stand zur Verfügung, und das bedeutete: Der Clan Kellum konnte wieder Geld mit der Produktion von Treibstoff für den Sternenantrieb verdienen.
Ja, es brachen wieder bessere Zeiten für den Clan an, und darüber freute sich Zhett. »Wirst du die alten Werften vermissen, Vater? Du hast Jahrzehnte der Arbeit in sie investiert, dein Herz und deine Seele ...«
»Verdammt, ich werde sie nicht vermissen. Die Verwaltung war sehr schwierig, und bei der ganzen Sache sprang nur wenig heraus. Das Betreiben von Himmelsminen macht viel mehr Spaß. Wir sind zu unserem traditionellen Gewerbe zurückgekehrt.«
Zhett lachte leise. »Weißt du noch, als wir uns in den Ringen verbargen und beobachteten, wie die Tiwis und Droger um Osquivel kämpften? Du wolltest nie mehr etwas von Himmelsminen wissen.«
»Das war ein großer Fehler - dass ich >nie< gesagt habe, meine ich.«
Goldenes Sonnenlicht strahlte über die Wolken. Ein spinnenartiger Frachter stieg auf und glitt mit Ekti-Behältern an den Beinen fort.
Plötzlicher Zorn glühte in Zhett, als sie daran dachte, wie Patrick Fitzpatrick sie getäuscht und einen ähnlichen Frachter gestohlen hatte.
Ihr Vater bemerkte den Stimmungswandel nicht. »Mindestens drei weitere Familien bringen Himmelsminen hierher.« Er öffnete die Arme dem unendlichen Wolkenmeer. »Golgen ist groß genug. Hier gibt es jede Menge Platz.«
Kellum stützte die Ellbogen aufs rote Geländer. Mit einem Blick zur Seite schlang er einen Arm um die Schultern seiner Tochter. »Nach der Ze törung vo
rs
n Rendezvous kommen die Clans wieder zusammen. Habe ir von de
ich d
n Plänen
174
für ein neues Handelszentrum auf Yreka erzählt? Alles streng geheim, nicht viel mehr als ein Schwarzmarktnetz, das die verwaisten Kolonien der Hanse umfasst. Aber es ist ein Anfang. Wir werden der Großen Gans eine lange Nase machen und nur mit den Leuten handeln, die wir mögen. Von mir aus können die Tiwi-Bastarde nicht recycelfähigen Abfall fressen.«
»Ja, Vater«, sagte Zhett und beschloss, nicht mehr an Fitzpatrick zu denken. »Da bin ich ganz deiner Meinung.«
61 JESS TAMBLYN
Jess und Cesca waren endlich miteinander allein, als sie die stürmische Welt Charybdis verließen und nach Plumas flogen. Das Wasser um sie herum war warm, und sie umarmten sich.
Zuerst verlor sich Jess in dem Wunder des einfachen physischen Kontakts, dem Gefühl eines anderen menschlichen Körpers, der Berührung einer Hand oder einer Schulter -wie sehr er das vermisst hatte! Aber die Freude war noch viel größer, denn der Kontakt betraf Cesca. Cesca.
Sie schwebten dicht beisammen, mehr als nur lebendig, und ihre Körper erinnerten sich aneinander. Haut traf auf vertraute Haut. Es prickelte in Jess' Knochen, in seinen Muskeln, in den Augen. Jahrelang hatte er von dem Moment geträumt, in dem er Cesca wieder berühren konnte. Jetzt war es so weit, und alles erschien ihm noch schöner und realer als in seinen Träumen.
Als sie sich nach so langer Zeit geliebt hatten, fühlte sich Jess durch und durch glücklich. Zum ersten Mal in seinem Leben erfuhr er, wie es wirklich war, mit jemandem zusam
175
men zu sein. Mit Cesca. Er ließ sich von diesem Empfinden so umarmen wie von Cesca.
Die elementaren Wasserwesen waren ständig in seinem Bewusstsein und in Cescas Selbst präsent, und sie nahmen jedes Detail dieser Erfahrung auf. Eine Stimme erklang in beiden Köpfen. Jetzt verstehen wir. Zuvor hatten deine Worte und Wünsche nicht ausreichend Bedeutung für uns. Wir sind dankbar für die neuen Informationen.
Jess lächelte. »Gern geschehen.« Er begriff nun: Mit jedem Kuss und jedem gemeinsamen Tropfen Feuchtigkeit war das Band zwischen ihnen dank der Wasserwesen fester geworden. Die Wentals hatten sie einander näher gebracht, als es Jess und Cesca allein möglich gewesen wäre.
Cesca schien ein wenig verlegen zu sein. »Wir hatten Publikum?«
»Ich sehe Verbündete und Gefährten in den Wentals, keine Voyeure. Denk daran, wie wir uns verändert haben. Sie sind jetzt Teil von uns.«
»Daran muss ich mich erst noch gewöhnen.« Sie kam etwas näher. »Aber ich akzeptiere die Umstände, im Austausch für dies...«
Endlich hatte er nicht mehr das Gefühl, Ross zu verraten. Wenn sein Bruder nicht von den Hydrogern getötet worden wäre, hätte er es nie gewagt, Cesca näher zu treten. Dann wäre seine Liebe unerfüllt geblieben.
Aber jetzt leuchtete der Leitstern ruhig und beständig.
Als sie den Eismond erreichten, blickte Cesca durch die gewölbte Membran nach draußen. Das schimmernde Schiff landete auf der gefrorenen Oberfläche, nicht weit von den Anlagen der Wassermine entfernt. Deutlich konnte man die Bohrtürme sehen - und vierzehn große Wassertanker.
»Da sind sie«, sagte Jess. Mit Wental-Wasser gefüllt wurden die vierzehn Tanker zu überaus wirkungsvollen Waffen gegen die Droger. Sie mussten Fre illig
iw
e unter den Roa
175
mern finden, die sie zu Gasriesen der Hydroger brachten und die Fracht dort in der Atmosphäre freisetzten. Die Wentals würden einen Gasriesen nach dem anderen zurückerobern.
Jess wusste, dass sich seine Onkel freuen würden, ihn wiederzusehen und ihm bei dieser neuen Herausforderung zu helfen. Nachdem er seine Mutter aus dem Eis geholt hatte, war er fortgeflogen, um Cesca zu retten. Jetzt konnte er ihr vielleicht ein richtiges Roamer-Begräbnis geben. Trauerfeiern gehörten zum Leben der Roamer. Cesca war zum letzten Mal beim Tod ihres Vaters nach Plumas gekommen, und davor hatte es Ross erwischt...
Jess nahm Cesca bei der Hand und zog sie durch die Außenhüllenmembran. An seiner Seite stand sie auf dem zerfurchten Eis, dem Vakuum ausgesetzt, das ihr nichts anhaben konnte. Die Sprecherin der Roamer-Clans wirkte wie ein überraschtes Kind, das wortlos staunte.
Doch mit seinen nackten Füßen fühlte Jess ungewöhnliche Vibrationen und so starke Erschütterungen, dass sie sogar die dicke Kruste durchdrangen. Die Wentals in ihm schienen plötzlich besorgt zu sein. Es droht Gefahr. Das hiesige Wasser ist zornig. Etwas, das von uns getrennt ist...
Erneut drückten sich die Wentals sehr geheimnisvoll aus. Jess konnte es gar nicht abwarten, die Wasserminensiedlung unter dem Eis zu erreichen.
Voller Unbehagen führte er Cesca zum nächsten Liftschacht. Die Luftschleuse war von innen her mit Gewalt geöffnet worden, und draußen auf dem Eis schien jemand eimerweise rote Farbe verschüttet zu haben, die einen eisenharten roten Film auf dem Boden bildete. Fetzen aus durchsichtigem Gewebe lagen verstreut, wie geplatzte und weggeworfene Polymerbeutel.
Die Kontrollen der Luftschleuse zeigten an, dass sich der Lift automatisch versiegelt hatte, als er dem Vakuum ausge
176
setzt worden war. Jess musste einen anderen Weg nach unten finden.
»Komm.«
Er sammelte Wental-Energie und brachte Cesca bei, wie man die Moleküle aus gefrorenem Wasser beiseiteschob und wie an einem Fallschirm schwebend durchs Eis sank. Es hätte für sie eine weitere des Staunens würdige Erfahrung sein sollen, aber ihre Besorgnis wuchs ebenfalls, als sie die heftigen Vibrationen von unten fühlte.
Als sie die Höhle unter dem Eis erreichten, erwartete sie eine Szene des Chaos. Es krachte immer wieder, und entweichender Dampf zischte.
Wasser spritzte aus aufgeplatzten Brunnenrohren. Eisbrocken lösten sich aus der Decke, als eine enorme Kraft immer wieder dagegenhämmerte.
Hier unten war es nicht mehr so hell, wie Jess es in Erinnerung hatte. Er sah leere Krater dort, wo sich zwei künstliche Sonnen befunden hatten.
Roamer liefen umher, schrien und suchten nach Deckung. Mehr als ein Dutzend Leichen lagen auf dem Boden, die meisten von Eis umschlossen.
Cesca deutete auf einige scharlachrote, wurmartige Geschöpfe, die übers Eis glitten und die Roamer verfolgten.
Wieder krachte es in der Eisdecke, und Jess und Cesca drehten sich um.
Die Dunstschwaden lichteten sich ein wenig, und plötzlich sahen sie das Zentrum des Durcheinanders.
Als Jess sie aus der tiefen Gletscherspalte geholt hatte, war Karla Tamblyn von Eis umgeben gewesen. Als er sie jetzt lebend sah, aber völlig verändert... Erinnerungen erwachten in ihm, an die schmerzlichen letzten Gespräche mit ihr, als sie langsam starb, als die Kälte ihr das Leben nahm.
Jetzt war seine Mutter Fleisch gewordener Zorn. In ihrem Gesicht und in der fast greifbaren Aura, die sie umgab, sah Jess die gleiche schreckliche, blinde Zerstörungswut, die ihm die Wentals in den Erinnerungsbildern des nische
ildira
n Septars und der Klikiss-Brüterin gezeigt hatten - den 176
Zorn eines verdorbenen Wentals. Er spürte, wie sich die Wasserentitäten in ihm bewegten, fühlte ihren Abscheu. Ihm wurde das Herz schwer, als er begriff, was mit seiner Mutter geschehen war. Aber das Wie blieb ihm ein Rätsel.
Karlas Haut war weiß. Gesicht und Arme wirkten wie aus Eis gehauen, doch in den Augen brannte ein unheilvolles Feuer. Verdorben. Als sie ihn sah, blieb ihr elfenbeinfarbenes Gesicht zunächst leer. Dann veränderte es sich und zeigte Erkennen.
Energie knisterte um sie herum, als Karlas Stimme erklang. Es lag nicht einmal ein Hauch von Wärme darin. »Willkommen daheim, Jess.«
62 NIRA
Nira empfand es als beunruhigend, auf ihr eigenes Grab zu blicken. Udru'h hatte ihren »Tod« verkündet, und alle hatten ihm geglaubt. Kein Ildiraner würde das Wort eines Designierten in Zweifel ziehen, und die Menschen hatten keinen Grund gehabt, eine Lüge für möglich zu halten.
Die traditionelle Gedenktafel bestand aus einem geometrisch geschnittenen Stein mit einem kleinen Sonnenenergiewandler, der ein Hologramm ihres Gesichts erzeugte. Das Bild stammte aus den Zuchtaufzeichnungen, und Nira betrachtete es. Vom ersten Augenblick auf Dobro an hatte sie alt und ausgezehrt ausgesehen.
Die neben ihr stehende Osira'h schwieg, als Nira in die Hocke ging und das trockene Gras an den Beinen spürte. Sie strich mit den Fingern über den Boden, wie auf der Suche nach ihrem eigenen verlorenen Leben im Grab.
»Ich bin meinem Vater zum ersten Mal am Hang dieses 177
Hügels begegnet«, sagte Osira'h ernst. »Der Weise Imperator kam, um dein Grab zu sehen - ich glaube, deshalb stellte der Designierte Udru'h diesen Stein auf. Die meisten Menschen bekommen keine solche Gedenkstätte.«
Niras Kehle war trocken, als sie sich die Szene vorstellte. Welche Gedanken waren Jora'h dabei durch den Kopf gegangen? »Du hast ihn hier gesehen?«
Der Gesichtsausdruck des Mädchens zeigte eine sonderbare Distanziertheit. »Zwar hast du mir alle deine Erinnerungen gegeben, aber ich konnte nicht mit ihm sprechen. Ich war nicht sicher, auf welcher Seite er steht. Ich wusste, was mit dir geschehen war, was er zugelassen hatte.«
Nira musterte ihre Tochter. Jora'h war hier gewesen, so nahe, aber auch er hatte Udru'hs Lüge über ihren Tod geglaubt. »Er wusste nichts davon! Er kann nichts davon gewusst haben. Gerade du solltest wissen, wie sehr mich dein Vater geliebt hat.«
Osira'h erwiderte ihren Blick. »Ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast. Aber wie uns der Designierte Udru'h gezeigt hat: Die Ildiraner sind Meister der Täuschung.«
Nira sah zur Seite. »Jora'h hat mich geliebt. Und ich bin sicher, dass er mich noch immer liebt. Ich werde es wissen, sobald ich ihn sehe.« Wenn der Designierte Udru'h keinen »Unfall« arrangierte, bevor sie zu Jora'h zurückkehren konnte. Was hatte Udru'h zu gewinnen, wenn er sie jetzt freiließ? Sie musste sehr vorsichtig sein.
Erneut musterte sie Osira'h und fühlte sich schuldig, weil sie all die schrecklichen Erinnerungen auf ein so junges und leicht zu beeindruckendes Bewusstsein übertragen hatte.
»Warum siehst du mich so an, Mutter?«
Nira rang sich ein bittersüßes Lächeln ab. »Ich sehe ein kleines Mädchen, aber wenn du sprichst, erstaunen mich deine Worte. Für ein Kind bist du ve lüff
rb
end klug.«
»Ich bin nie nur ein Kind gewesen. Das war mir nicht ver 177
gönnt.« Nira fühlte immense Trauer, obgleich Osira'h freundlich lächelte.
»Aber ich hatte eine Kindheit, Mutter. Deine. Ich erinnere mich an das Leben mit deinen Eltern und Geschwistern in einer kleinen Behausung. Du warst das einzige Mitglied deiner Familie, das sich für Geschichten interessierte.
Ich erinnere mich daran, wie wir zum ersten Mal ins hohe Blätterdach emporgeklettert sind, unmittelbar nachdem du zur Akolythin geworden warst. Oh, der Ausblick! Die Blattwedel waren wie ein Ozean, der sich so weit erstreckte wie der Blick reichte! Eine große smaragdgrüne Kondorfliege summte vorbei.«
Nira erinnerte sich ebenfalls. »Ich erschrak so sehr, dass ich fast vom Ast gefallen wäre ...«
»Aber ein grüner Priester war in der Nähe und hielt uns fest. Beneto, nicht wahr?«
»Und wir sahen stundenlang über den Weltwald hinweg, ließen uns vom Wind streicheln und hörten, wie die Akolythen den Bäumen Geschichten vorlasen.« Nira sah in die Augen ihrer Tochter und stellte fest, dass sie sich tatsächlich an alle Details erinnerte. Ich habe ihr also auch angenehme Erinnerungen gegeben...
»Ich kann mir nicht vorstellen, ohne das Geschenk zu leben, das du mir gegeben hast.« Osira'h drehte sich um und lächelte erfreut, als sich einige kleine Gestalten näherten. »Da kommen meine Brüder und Schwestern. Sie wollen dich kennenlernen.«
Nira wandte sich von ihrem Grab ab und beobachtete die Mischlingskinder.
Jedes von ihnen war das Ergebnis von Vergewaltigung und Leid, Teil eines genetischen Entwicklungsplans. Sie glaubte zu spüren, wie sich eine kalte Hand um ihr Herz schloss.
Osira'h blieb ruhig, obwohl sie die Furcht und das Widerstreben ihrer e
Mutt r fühlte. »Ich weiß genau, was du von ihren Vätern hältst. Ich teile de e
in Erinnerungen daran, wie
178
sie gezeugt, geboren und dir dann weggenommen wurden.« Sie drückte Niras grüne Hand. »Für dich war ihre Abstammung ein Fluch. Du hast sehr gelitten, aber das ist jetzt alles Vergangenheit. Diese Kinder trifft keine Schuld. Sie sind nicht deine Feinde, sondern einfach nur Kinder, Mutter.
Wie ich. Komm, ich stelle sie dir vor.« Sie nahm Niras Hand, und gemeinsam traten sie den vier Kindern entgegen. Mit weichen Knien blickte Nira in die jungen Gesichter und zwang sich, sie wirklich zu sehen.
»Dies ist Rod'h, der älteste deiner Söhne.« Der Junge lächelte, und in seinen Augen zeigte sich ein sternförmiger Glanz. In seinem scharf geschnittenen Gesicht bemerkte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Jora'h. Es musste Udru'hs Sohn sein.
Niras Herz klopfte schneller, und sie nahm ihre ganze innere Kraft zusammen. Zögernd streckte sie die Hand aus. »Auf diese Weise begrüßen sich Menschen.« Rod'h ergriff ihre Hand und drückte erstaunlich fest zu.
»Du bist meine Mutter? Ich hätte nie gedacht, einmal meiner Mutter zu begegnen.«
Nira versuchte ihren Argwohn zu überwinden. Dieser Junge war ihr Sohn, trotz seines väterlichen Erbes. Wie sehr sie Udru'h auch hasste: Rod'h war auch ihr Kind.
»Und dies ist Gale'nh.«
Nira sah den kleineren Jungen an und erkannte seine starken, stolzen Züge. »Ich ... erinnere mich an Adar Kori'nh.«
Der Knabe wirkte sehr zufrieden. »Mein Vater war ein Held. Und du auch, Mutter. Man lehrte uns, das Reich zu retten.«
Nira schluckte. »Das glauben einige Ildiraner.«
Die beiden anderen Töchter, die jüngsten von fünf Kindern, hießen Tamo'l und Muree'n. Obwohl sie die Jüngste war, überragte Muree'n schon zwei ihre
e
r ält ren Geschwister und offenbarte dadurch ihre Abstammung vom hte
Wäc
r-
179
Geschlecht. Die Kinder drängten nach vorn und wollten ihrer Mutter möglichst nahe sein. Nira spürte ihre Neugier, ihre Unschuld, und daraufhin begriff sie, dass sie diese Jungen und Mädchen nicht hassen konnte. Sie durfte ihnen die Umstände ihrer Geburt nicht zur Last legen.
»Ich habe ihnen die Wahrheit gesagt, Mutter. Wir helfen dir dabei, diesen Ort zu verändern.«
»Es freut mich, euch alle kennenzulernen. Und ich danke dir, Osira'h.«
Tränen glänzten in Niras Augen, und sie berührte ihre Tochter an der Wange. »Dafür, dass du mir gezeigt hast, was richtig ist, obwohl ich mich davor gefürchtet habe.«
63 OSIRA'H
Jetzt, da ihr Halbbruder Daro'h für die Splitter-Kolonie Dobro zuständig war, wusste Osira'h ganz genau, was es zu tun galt. Nur sie verstand im ganzen Ausmaß, was auf dem Spiel stand. Schwierige, aber notwendige Veränderungen mussten herbeigeführt werden.
Sie wollte diesen Leuten eine zweite Chance geben. Besser gesagt: die erste echte Chance. Sie wusste, dass es den Wünschen ihrer Mutter entsprach, und Nira stand jetzt neben ihr, steif und eingeschüchtert vor dem neuen jungen Designierten. Doch Osira'h wusste, dass sich ihr Halbbruder von Udru'h unterschied. Er befand sich noch nicht lange genug auf Dobro, um durch seine Pflichten abgehärtet zu sein. Osira'h war sicher, dass sie ihn überzeugen konnte.
Sie fühlte sich klein und doch ebenbürtig vor Daro'h. »Unser Onkel hat dir die Leitung dieser Kolonie übertragen.
179
Du bist jetzt für sie verantwortlich. Hast du dich gefragt, was du als Dobro-Designierter anders machen möchtest?«
»Anders? Die Zuchtexperimente sind nicht mehr notwendig, was wir dir verdanken, und deshalb haben sie aufgehört. Was soll sonst noch anders werden?« Daro'h schien wirklich verwirrt zu sein. Er wusste nicht, warum Osira'h um ein Gespräch mit ihm gebeten hatte, weshalb auch die grüne Priestern dabei zugegen war ... ihre Mutter.
Nira kämpfte noch immer gegen den Aufruhr in ihr an und blickte zum umzäunten Lager. Die Zuchtbaracken waren still und leer. Die Ildiraner des Mediziner-Geschlechts führten dort keine Fruchtbarkeitsuntersuchungen an den Frauen mehr durch, und sie entnahmen den Männern auch keine Spermaproben mehr. Osira'h erinnerte sich daran, Schreie und Stöhnen aus jenen dunklen Gebäuden gehört zu haben. Der Designierte Udru'h hatte Geräuschdämpfer aktiviert, sie in den Unterrichtsräumen behalten und ihr gesagt, sie sollte keinen Gedanken an die menschlichen Gefangenen vergeuden. Zu jener Zeit hatte es keinen Grund für sie gegeben, an ihm zu zweifeln, und deshalb hatte sie tatsächlich nicht mehr an die Menschen gedacht.
Nira wandte den Blick vom Zaun ab und sah Daro'h an. »Wenn die Experimente aufgehört haben ...«, sagte sie scharf. »Warum sind die Menschen im Lager noch immer gefangen?«
Osira'h sah ihre Mutter an und richtete dann einen strengen Blick auf Daro'h. »Hast du vor, ebenso wie Udru'h Geheimnisse zu hüten, oder willst du eine Zusammenarbeit von Menschen und Ildiranern anstreben?«
Als Daro'h sie musterte, fragte sich Osira'h, ob er eine junge Halbschwester in ihr sah oder ein Mischlingskind, das vielleicht das Ildiranische Reich gerettet hatte. »Warum sollte eine Zusammenarbeit mit den Menschen e
notw ndig sein? Wofür brauchen wir sie jetzt noch?« Daro'h ließ den 180
Blick übers Lager schweifen, über die hoffnungsvoll angelegten Gemüsegärten und die Menschen, die ihren täglichen Aufgaben nachgingen. »Wenn ihre Pflichten so schrecklich waren, sollten sie sich jetzt über das Ende des Zuchtprogramms freuen, oder? Was kann ich sonst noch tun?«
Osira'h seufzte und dachte daran, dass Daro'h keine Schuld traf. All die Geheimnisse und Lügen, das grenzenlose Leid - Udru'h war dafür verantwortlich. Man hatte Daro'h so erzogen, dass für ihn das Reich immer an erster Stelle kam. Er dachte nicht daran, dass andere - Menschen -nicht bereit waren, einen solchen Preis zu zahlen. »Ganze Generationen wuchsen nur für den Zweck heran, mit Ildiranern gemeinsame Kinder zu haben. Für die Menschen gab es weder ein anderes Leben noch Hoffnung, bis ihnen meine Mutter Geschichten vom Spiralarm erzählte.« Osira'h stützte die Hände in die schmalen Hüften. »Sie haben Besseres verdient, Daro'h.«
Der Blick des Designierten glitt vom Mädchen zur grünen Priesterin. »Ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Was soll ich tun?«
Osira'h und ihre Mutter hatten darüber gesprochen. »Die Ahnen der heutigen Menschen waren mit dem Generationenschiff Burton unterwegs, um eine Kolonie zu gründen. Die Ildiraner versprachen ihnen Freundschaft und betrogen sie dann. Diese Menschen hatten nur einen Wunsch: Dobro in Frieden zu besiedeln.«
»Lass sie ihre eigene Kolonie gründen«, fügte Osira'h hinzu. »Dobro soll ihre Heimat sein, nicht ihr Gefängnis.«
Es war klar, dass Daro'h nie über diese Möglichkeit nachgedacht hatte. Es schien ihn zu überraschen, dass überhaupt ein solches Problem existierte.
»Du meinst, ich soll sie einfach... freilassen?«
Nira deutete zu den trockenen, grasbewachsenen Hügeln. »Im Vergleich mit anderen Welten ist Dobro gar nicht so
180
schlecht. Hier lässt sich Getreide anbauen. Gestatten Sie den Menschen, sich eine eigene Siedlung zu schaffen, in der sie frei leben können.«
Der Designierte dachte darüber nach und wandte sich dann an die Wächter, die noch immer am Zaun standen und die Gefangenen beobachteten, aus reiner Angewohnheit. »Öffnet die Tore. Ich möchte mit diesen Menschen sprechen.« Osira'h nickte ihm aufmunternd zu, gespannt darauf, was er sagen und wie er sich verhalten würde. Nira schwieg.
Ildiraner des Wächter-Geschlechts forderten die Menschen auf, näher zu kommen. Benn Stoner trat Daro'h entgegen, und es schien ihn zu beunruhigen, ihn in der Gesellschaft des seltsamen Mädchens und der grünen Priesterin zu sehen. Er sah zu seinen murmelnden Artgenossen, Männern und Frauen jeden Alters, schien sich dabei zu fragen, wie er sie beschützen konnte. Nach so langer Zeit erwarteten die Nachkommen der Burton-Kolonisten nichts Gutes, wenn ein Designierter sie rief.
Daro'h hob die Stimme. »Ich bin der neue Designierte, und ich habe entschieden, einige Veränderungen vorzunehmen.«
»Von welcher Art?«, fragte Stoner misstrauisch.
Als der junge Daro'h Osira'h ansah, überrascht von dieser Reaktion, sagte Nira kühl: »Denken Sie daran, was die Menschen hinter sich haben.
Veränderungen waren für sie nie etwas Gutes.«
»Sag ihnen, dass sie ihre Kolonie haben können«, forderte Osira'h ihren Halbbruder auf.
»Ich werde es ihnen zeigen.« Daro'h rief den Wächtern zu: »Holt eine komplette Baugruppe hierher, ausgestattet mit schwerem Gerät, Schneidern, Baggern und Schleppern. Menschen und Ildiraner werden zusammenarbeiten und die Zäune niederreißen. Es gibt für unsere beiden Völker genug Platz auf Dobro.«
181
Die Gefangenen schnappten nach Luft. Die abrupte Entscheidung überraschte selbst Osira'h, obwohl sie sicher war, dass Daro'h den Menschen nie den wahren Grund für ihre Gefangenschaft und die Zuchtexperimente nennen würde. Bestimmt verriet er auch nicht, was der Weise Imperator hinter ihrem Rücken plante.
Die Nachkommen der Burton-Kolonisten hatten nie einen anderen Ort kennengelernt, aber Osira'h hielt es für sehr wahrscheinlich, dass zumindest einige von ihnen möglichst weit weg wollten. Sie würden ihre Sachen packen, mit Werkzeugen und Saatgut nach Süden aufbrechen, um sich irgendwo im weiten, unerschlossenen Land niederzulassen. Wenn Daro'h ihnen diese Freiheit gab.
Im Innern des Lagers wanderten die Menschen unruhig umher. Als tatsächlich Arbeitsgruppen damit begannen, Drähte zu zerschneiden und Pfähle aus dem Boden zu ziehen, begann sie zu glauben, was sie sahen.
Stoner winkte, und zusammen mit den Ildiranern rissen sie die Barriere nieder, hinter der sie gefangen gewesen waren.
Daro'h wandte sich an die früheren Gefangenen. »Wir brauchen Sie für die Arbeit auf den Gemeinschaftsfeldern, aber Sie bekommen auch Ihr eigenes Land und können für sich selbst sorgen.« Er sah zu den verwitterten Zuchtbaracken. »Wir werden Ihnen dabei helfen, neue Gebäude in einer offenen Siedlung zu errichten. Ihre Vorfahren kamen hierher, um eine neue Heimat in Freiheit und Unabhängigkeit zu finden. Die gebe ich Ihnen jetzt.«
Nira war so überwältigt, dass sie zu weinen begann. Osira'h umarmte ihre Mutter, fühlte ihre Erleichterung und vorsichtige Freude wie Wind im Blätterdach des Weltwalds -ein Geräusch, das sie aus Niras Erinnerungen gut kannte.
Sie alle arbeiteten mit großem Enthusiasmus. Immer mehr Drähte wurden ze
hnitt
rsc
en, die letzten Pfähle aus dem Boden gezogen, und das Lager öffnete sich dem Rest
182
der Welt. Daro'h ließ die Türen der Vorratsschuppen aufschließen, sodass Stoner und seine Leute unbeschränkten Zugang zu Pflügen, Hacken, Pflanzmaschinen, Baggern und Komponenten für Bewässerungssysteme erhielten.
Überall um sich herum fühlte Osira'h Überraschung und Freude. Einige Menschen jubelten; andere konnten die plötzliche Veränderung nicht sofort verarbeiten. Nach so vielen Generationen in Gefangenschaft wussten die Gefangenen nicht mehr, wie man eine unabhängige, autarke Kolonie schuf. Die entsprechenden Informationen hatten sich in den Datenbanken der Burton befunden, doch das Generationenschiff existierte längst nicht mehr. Jene Männer und Frauen, die jetzt in die Freiheit zurückkehrten, mussten erst wieder lernen, allein zurechtzukommen.
Die ildiranischen Wächter in Daro'hs Nähe wirkten verunsichert.
»Designierter, ich muss zur Vorsicht mahnen«, sagte ein Angehöriger des Linsen-Geschlechts. »Diese Menschen sind lange Zeit gefangen gewesen. Ist es klug, ihnen Werkzeuge zu geben, die sie leicht als Waffen benutzen können?«
»Ich habe ihnen die Freiheit gegeben. Ist das nicht unsere beste Verteidigung?«
Der Ildiraner des Linsen-Geschlechts wandte den Blick ab. »Ich weiß es nicht, Designierter.«
Osira'h fühlte noch immer den Schmerz von zwei Jahrhunderten der Unterdrückung. Sie freute sich darüber, was Daro'h getan hatte, aber es genügte nicht. Sie wusste, was der Weise Imperator zusammen mit den Hydrogern plante -dass er bereit war, die Menschheit zu verraten. In Hinsicht auf diese Gefangenen begriff Osira'h etwas, von dem der Dobro-De gni
si
erte nichts wissen konnte.
Sie verstand das menschliche Bedürfnis nach Rache.
182
64 KÖNIG PETER
Seit dem schnellen Handeln des Königs beim Kompi-Notfall hatte sich die Einstellung der königlichen Wächter ihm gegenüber geändert. Zuvor waren die immer wachsamen Männer nur nach Rücksprache mit dem Vorsitzenden oder einem hochrangigen Funktionär der Hanse bereit gewesen, Peters Befehlen Folge zu leisten. Jetzt salutierte selbst der steife Captain McCammon zackig, wenn ihn der König zu irgendetwas aufforderte.
Basils Zurückhaltung in dieser Angelegenheit hätte zu viel mehr Opfern geführt. Peter hatte die richtige Entscheidung getroffen, und das wussten McCammons Wächter. Sie hatten Nahtons Worte gehört und begriffen, dass König Peter nur selten die Informationen bekam, die ein wahres Regierungsoberhaupt brauchte. Niemand hatte ihm von den außer Rand und Band geratenen Soldaten-Kompis in den Werften der Roamer berichtet. Er hatte auch nichts von den ersten verrückt spielenden Kompis erfahren, denen auf Admiral Stromos Brücke zwei Besatzungsmitglieder zum Opfer gefallen waren - einen ganzen Tag vor dem Beginn der Revolte.
Hinzu kam, dass König Peter schon einmal seine Bedenken in Bezug auf die Ausstattung der Soldaten-Kompis mit Programmmodulen der Klikiss-Roboter zum Ausdruck gebracht hatte. Wenn die frühen Warnungen beachtet worden wären, hätte der grüne Priester des Flüsterpalastes eine Telkontakt-Nach-richt an die TVF schicken können, vielleicht rechtzeitig genug, um die Rebellion der Soldaten-Kompis zu verhindern.
Als Peter den Captain der Wache anwies, ihn zum Vorsitzenden Wenzeslas zu bringen, erhob McCammon keine Einwände. Er rief nur zwei weitere Soldaten für eine angemessene Eskorte, und zu dritt führten sie den König zur Hauptverwaltung der Hanse.
183
In seinen mehr als acht Jahren im Flüsterpalast hatte der König den Vorsitzenden fast nie unaufgefordert besucht. Da er sich in Begleitung königlicher Wächter befand, ließen ihn Türwachen und Protokollbeamte passieren. Alle nahmen an, dass Basil Wenzeslas den König zu sich gerufen hatte.
Peter straffte die Schultern und verbarg sein Unbehagen. Er musste Zuversicht ausstrahlen und einen Ausweg für Basil offen halten - wenn er einen wollte. Im Lauf der Jahre hatte er beobachtet, wie der Vorsitzende immer irrationaler und verzweifelter geworden war. Aber vielleicht konnte er doch noch den richtigen Weg erkennen. Peter hoffte es sehr.
Auf dem Weg zum obersten Stock des Verwaltungsgebäudes nickte Captain McCammon Peter zu. Sein Alter war kaum schätzbar, was vielleicht am ausgebleichten Haar und dem neutralen Gesichtsausdruck lag. »Es war eine schwere Entscheidung, Euer Majestät, aber Sie haben getan, was getan werden musste.« Als Peter einen fragenden Blick auf ihn richtete, fügte der Captain hinzu: »Der Schlag gegen die Kompi-Fabrik. Wir wissen, dass die Bomben auf Ihren Befehl hin abgeworfen wurden. Der Verlust der Silbermützen ist sehr bedauerlich, aber Sie haben die Stadt gerettet.«
Es überraschte Peter, bis zu welchem Ausmaß sich die Wächter täuschen ließen. Aber warum auch nicht? Basil ließ sich nicht in die Karten schauen und bestand immer darauf, dass Peter im Vordergrund stand und die Hanse repräsentierte. Jetzt erwies sich das als Nachteil für ihn. Ich muss auf meine Stärke bauen, auch wenn es nur vermeintliche Stärke ist.
Peter nickte würdevoll. »Ich bin der König. Unglücklicherweise fallen mir oft solche Entscheidungen zu. Ein Herrscher ist mehr als nur ein Ge häftsma
sc
nn. Daran sollte der Vorsitzende denken. Wenn er nur auf ge
mich
hört hätte, als ich vor den Soldaten-Kompis warnte.«
183
»All die Silbermützen«, sagte McCammon und seufzte schwer.
Während der chaotischen Tage nach dem Ausbruch der Kompi-Revolte hatten Peter und Estarra die Ereignisse mit großer Aufmerksamkeit beobachtet und versucht, die Realität hinter dem Medienspektakel zu erkennen. Aufruhr breitete sich auf der Erde aus, und auf den äußeren Hanse-Kolonien kam es zu Panik. Die Reste der TVF wurden zu-
sammengezogen, um den Heimatplaneten der Menschheit zu schützen, und dadurch blieben alle anderen Welten sich selbst überlassen. Trotz der Versprechen in der ursprünglichen Charta der Hanse hatte die Erde sofort alle Siedlungen im All abgeschrieben. Die Kolonien waren den Hydrogern gegenüber jetzt völlig wehrlos.
Traditionelle Kommunikationsverbindungen und Handelsrouten waren unterbrochen, aber auf vielen Kolonialwelten gab es grüne Priester, was dem theronischen Programm für die Verbreitung der Weltbäume zu verdanken war. Die Kolonien beklagten sich bitter über den Verrat und verlangten über Nahton, dass ihnen die Hanse Schutz und Hilfe gewährte.
Der Vorsitzende kümmerte sich nicht darum. Wenn nicht bald etwas geschah, würde der Unmut zu einer Rebellion führen. Dann brach die menschliche Zivilisation auseinander.
Wenn der grüne Priester versuchte, Peter Neuigkeiten zu bringen, so hinderte Basil ihn daran. Beim letzten Gespräch Estarras mit Nahton, noch vor der Revolte, hatte Pellidor sie gezwungen, ins königliche Quartier zurückzukehren, und dann dem Vorsitzenden Bericht erstattet. Der blonde Sonderbeauftragte wollte nicht den Fehler machen, König oder Königin noch einmal mit dem grünen Priester sprechen zu lassen.
»Ich hasse Basil mehr, als ich mit Worten zum Ausdruck bringen kann, Estarra«, hatte Peter zu seiner Frau gesagt,
184
als sie wieder allein waren. »Ich weiß, was für ein Mann er ist, und ich kenne seine Prioritäten. Aber die Menschheit ist in so großer Gefahr, dass wir unsere Meinungsverschiedenheiten überwinden müssen. Das sollte er erkennen können.«
»Er weiß, dass es besser gewesen wäre, wenn er bezüglich der Soldaten-Kompis auf dich gehört hätte. Das wissen alle.«
»Wird er dadurch einsichtiger oder noch halsstarriger? Ich fürchte Letzteres. Wir sollten zusammenarbeiten. Er muss mich nicht mögen, aber er braucht mich.«
»Vielleicht solltest du ihm ein Friedensangebot machen.« Estarra hatte ihn umarmt, und er hatte dabei ihren deutlich gewölbten Bauch gefühlt. Bitte, Basil. Überwinde alle Differenzen und lass uns gemeinsam die Menschheit retten.
Als sich im obersten Stock die Lifttür öffnete, versperrte Pellidor den Weg.
Der Captain der Wache richtete einen missbilligenden Blick auf ihn. »Der König ist gekommen, um mit dem Vorsitzenden zu sprechen. Treten Sie beiseite.«
Pellidor ignorierte die drei Wächter und sah Peter an. »Der Vorsitzende hat derzeit mit seinem Stellvertreter zu tun.«
McCammon war unbeeindruckt. »Ach? Der König ist wichtiger als ein Stellvertreter. Geben Sie den Weg frei.«
Diese Worte verblüfften den Sonderbeauftragten. Königliche Wächter verhielten sich nie auf diese Weise. Peter nutzte das Überraschungsmoment und trat so an Pellidor vorbei, als hätte er jedes Recht dazu. Er wollte nicht, dass McCammon und Pellidor Zeit mit einer Konfrontation verloren.
Basil stand in seinem großen Büro, mit dem Rücken zur Lifttür. Peter sah, dass er durchs große Fenster blickte, sich dabei vielleicht eine von Soldaten-Kompis oder Hydrogern zerstörte Stadt vorstellte. Der ste v
ll ertretende Vorsitzende Cain las laut aus einem Situationsbericht vor.
Peter zögerte.
185
Für einen Moment fühlte er sich klein und wieder sehr jung, wie der Straßenjunge, den man vor Jahren aus Armut und Bedeutungslosigkeit geholt hatte, um ihn zum König zu machen, immer unter Basils Kontrolle.
Ich bin darüber hinausgewachsen. Er braucht mich ... aber ist ihm das inzwischen klargeworden?
Basil Wenzeslas bemerkte den König, reagierte aber nicht sofort auf ihn.
Schließlich fragte er: »Was ist? Wir sind hier sehr beschäftigt.«
»Vorsitzender Wenzeslas, der König möchte Sie sprechen«, sagte der Captain der Wache. Peter hatte den Raum bereits betreten, aber McCammon stand noch immer bei der Lifttür, Brust an Brust mit Pellidor -
die beiden Männer schienen zu einem Kampf bereit zu sein.
»Dafür habe ich jetzt keine Zeit.«
Peter trat vor. »Dann sollten Sie sich Zeit nehmen, Basil. Ich schlage vor, wir begraben das Kriegsbeil und arbeiten zum Wohl der Menschheit zusammen.« Er mied den Blick des stellvertretenden Vorsitzenden, der ihnen insgeheim dabei geholfen hatte, Gerüchte von Estarras »gesegneter Schwangerschaft« zu verbreiten, bevor Basil sie zur Abtreibung zwingen konnte. Zum Glück wusste der Vorsitzende nicht, wer jene Informationen hatte durchsickern lassen.
Basils Züge verhärteten sich. Er war klug genug, vorsichtig zu sein. »Mr.
Pellidor, bitte führen Sie Captain McCammon hinaus, damit der König und ich ein privates Gespräch führen können. Ein kurzes.«
Zufrieden darüber, seine Pflicht getan zu haben, verließ der Captain der Wache den Raum. Cain setzte sich und beobachtete das Geschehen stumm.
»Hören Sie mit diesen Spielchen auf, Peter!«, sagte Basil scharf, als sie allein waren. »Von mir aus können Sie in Ihrem Quartier umherstolzieren und vorgeben, wichtig zu sein, aber nicht hier.«
185
Peter atmete tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben. »Ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen zu streiten. Sehen Sie sich um und entscheiden Sie, was wirklich im besten Interesse von Hanse und Menschheit liegt.« Er trat noch etwas näher auf den elegant gekleideten Vorsitzenden zu. »Hören Sie mir zu, Basil. Ich möchte Frieden mit Ihnen schließen. Die Hanse braucht einen Vorsitzenden, und sie braucht mich als König.«
Peter sah, wie das Gesicht des Vorsitzenden steinern wurde. »Ich brauche einen König, aber nicht unbedingt Sie.«
»Sie haben sich große Mühe gegeben, mir zu zeigen, was mit Prinz Daniel geschehen ist - er liegt im künstlichen Koma und kann keinen Ärger mehr machen. Wenn er Ihre einzige Alternative ist, bleibe ich dabei: Sie brauchen mich als König.«
»Ich habe immer andere Möglichkeiten. Einige von ihnen würden Sie überraschen.« »Wie meinen Sie das?«
»Beten Sie, dass Sie es nie herausfinden. Sie haben immer wieder bewiesen, nicht für Ihre Rolle geeignet zu sein.« Basil verschränkte die Arme, doch die Geste brachte nicht Entschlossenheit zum Ausdruck, sondern Trotz. »Ich habe beschlossen, Sie auf absehbare Seit im Königlichen Flügel unter Arrest zu stellen, vielleicht auf Dauer. Dann können Sie meine Pläne nicht mehr stören.«
»Selbst Sie können nicht so dämlich sein, Basil.« Cain hob die Brauen, erstaunt vom Ton des Königs. Peter sprach weiter - dies war nicht die Zeit für Nettigkeiten. »Das Volk muss uns jetzt öfter sehen als jemals zuvor. Sie haben meine Sorgen in Hinsicht auf die Klikiss-Programmierung ignoriert, als ich sie vor einem Jahr äußerte, und jetzt erinnern sich alle daran, dass die
arnung
W
en vor den Soldaten-Kompis von mir kamen, dass ich die ik schließe
Fabr
n wollte. Und dass Sie nicht darauf gehört haben.«
186
»Das stimmt«, warf Cain ruhig ein. »Ich habe gehört, wie dies in der letzten Stunde dreimal erwähnt wurde, Vorsitzender. Die Medien bezeichnen den König als einen Visionär und Helden.«
Basil lief rot an. »Ich kann kontrollieren, auf welche Weise die Medien Bericht erstatten, Peter. Die Identität der zuverlässigen Quellen im Flüsterpalast< kenne ich noch nicht, aber ich werde herausfinden, woher die Informationen kommen, und ich werde die undichte Stelle stopfen.« Ein warnendes Lächeln huschte über die Lippen des Vorsitzenden. »Es gehört zu den primären Aufgaben des Königs in dieser Regierung, Verdienste und Schuld auf sich zu nehmen. Ich habe noch nicht entschieden, ob Sie wegen Ihrer vielen Fehler abdanken sollten, die so viele Menschenleben kosteten.«
Peters Hoffnungen schwanden. So viel zu seinem Friedensangebot und der Bereitschaft, einen unnötigen Konflikt aus der Welt zu schaffen. Cain hob eine mahnende Hand. »Vorsitzender Wenzeslas, niemand in der Öffentlichkeit wird dem König die Schuld geben. Das ist Unsinn, denn immerhin stammten die Warnungen von ihm ...«
»Die Öffentlichkeit wird glauben, was ich ihr sage.« Basils scharfe Stimme verbot weitere Einwände. Der stellvertretende Vorsitzende schwieg und wirkte besorgt.
Basil Wenzeslas war bereit, auf jeden einzuschlagen, den er besiegen konnte - weil er keine Möglichkeit sah, etwas gegen den wahren Feind auszurichten. Er hatte die Roamer als Feinde dargestellt, und das würde er auch bei Peter und Estarra machen. Peter hatte geglaubt, dass es eine vernünftige Lösung für diesen Konflikt gab, doch das schien nicht der Fall zu sein.
»Ich bin nicht bereit, die Konsequenzen für Ihre dumme Halsstarrigkeit zu tragen, Basil. Ich habe schnell und richtig auf die Krise reagiert. Meine früheren Warnungen in Hin
186
sieht auf die Kompis sind in der Öffentlichkeit bekannt. Wenn jemand abdanken sollten, dann Sie. Soll ich eine Sitzung der Repräsentanten einberufen?«
»Es ist Ihr Pech, dass ich glaube, Sie könnten tatsächlich etwas so Dummes versuchen.« Es blitzte in Basils Augen, und Zorn erschien in seinem Gesicht - er verlor die Beherrschung. Der Vorsitzende verliert nie die Kontrolle! »Verschwinden Sie von hier. Sofort.«
Peter kehrte zur Tür zurück und begriff, dass Basil nie Frieden zwischen ihnen erlauben würde.
65 CESCA PERONI
Es fiel Cesca noch immer schwer, die neue Kraft zu verstehen, die ihren geheilten Körper erfüllte. Als sie die Höhle erreichte, erzitterte sie aufgrund der Präsenz der destruktiven Energie - der ganze Bereich unter der Eisdecke schien sich in ein Kriegsgebiet verwandelt zu haben.
Karla Tamblyn musterte ihren Sohn mit steinerner Miene und brennenden Augen. Zerstörung brodelte in ihrem wieder belebten Körper, angestautes Chaos. Cesca hatte sie nur einmal gesehen, vor langer Zeit, als Karla nach Rendezvous gekommen war. Damals war sie eine selbstsichere, unerschütterliche Frau gewesen, die die Rauheit ihres Mannes abgemildert hatte. Jetzt stellte sie etwas ganz anderes dar.
»Ich fühle ihre Macht, Jess. Sie ist kein Mensch mehr.«
»Ich weiß, was sie ist«, erwiderte er.
Als Caleb Tamblyn um Hilfe rief, drehte sich Karla zu dem älteren Mann um, streckte den Arm aus und schleuderte ihm Messer aus Eis entgegen.
Je b
ss ewegte sich blitzartig,
187
um die Projektile abzufangen und seinen Onkel zu retten. Die abgelenkten Geschosse zersplitterten an den Wänden der großen Höhle.
Cesca suchte Kraft und Antworten bei der neuen Energie in ihrem Innern.
Seltsame Stimmen erklangen in ihrem Kopf, und sie wusste, dass Jess sie ebenfalls hörte. Wir haben befürchtet, dass ein verdorbener Wental entstehen könnte. Ein Teil unserer Energie floss in ihre Zellen, von uns getrennt. Der verdorbene Wental gab ihrem Körper neues Leben, aber er bleibt in ihr gefangen und kann sich nicht ausbreiten. Eine schreckliche Mutation, voller Kraft. Jetzt versucht sie zu entkommen, und dabei zerstört sie die Frau und erschafft sie gleichzeitig neu.
Jess wankte näher und streckte wie beschwörend die Hände aus. Mit krächzender Stimme rief er ihren Namen. »Karla Tamblyn! Erinnere dich daran, wer du bist.«
»Kämpfen Sie gegen das Chaos in Ihnen an!«, fügte Cesca hinzu.
Karlas Gesicht veränderte sich, zeigte Abscheu, Hass und dann Zorn. »Ich erinnere mich.« Erneut machte sie von ihrer besonderen Macht Gebrauch und richtete sie gegen ihren Sohn. Eis und Kälte hämmerten auf ihn ein, und Jess schwankte. »Mein kleiner Junge.« Sie schenkte Cesca überhaupt keine Beachtung.
Als Jess unter der Wucht des Angriffs taumelte, wandte sich Cesca an die Wentals und rief in den heulenden Wind: »Ihr habt nicht gewusst, was hier geschah? Ihr hattet keine Ahnung davon?«
Der verdorbene Wental ist nicht Teil von uns. Seine Energie fließt in dunklen Strömen. Die Frau möchte nur zerstören. Sie umarmt das Chaos und will die Entropie beschleunigen.
»Wir müssen sie aufhalten«, sagte Cesca.
Karla Tamblyn setzte sich in Bewegung, ihre Beine wie 188
Säulen aus Eis, doch jeder Schritt brannte eine Mulde in den gefrorenen Boden. Sie hob die Faust, um ihrem Sohn einen neuen Schlag zu versetzen.
Jess gab sich alle Mühe, weitere Zerstörungen zu verhindern.
Cesca wollte ihn nicht allein kämpfen lassen. Sie sammelte die prickelnde Kraft in ihrem Leib und lenkte die Energie des Chaos lange genug ab, damit Jess sich erholen konnte. Er vereinte seine Stärke mit der ihren und richtete sie gegen Karla.
Die von den Toten zurückgekehrte Frau taumelte wie zuvor Jess, und als Cesca den Kopf drehte, sah sie eine weitere Gefahr. Mehr als zwanzig scharlachrote Nematoden näherten sich und zeigten ihre spitzen, diamantharten Zähne.
Zum letzten Mal hatte sie diese Geschöpfe bei Ross' Bestattung gesehen, und dabei waren ihr die prähistorischen Würmer ätherisch schön erschienen, anmutige Bewohner des primordialen Ozeans von Plumas.
Jetzt waren es Dämonen, von dem Karla-Wesen kontrolliert und darauf bedacht, Cesca von Jess zu trennen. Mit hypnotischen, schlangenartigen Bewegungen kamen sie heran.
Cesca wandte sich den Nematoden zu und wusste, dass sie sie von Jess und den anderen Personen in der großen Höhle fernhalten musste. Es lagen bereits zu viele Tote zwischen den Trümmern.
Zwar war Cesca mit ihren neuen Kräften noch nicht vertraut, aber sie setzte sich so zur Wehr, wie sie es konnte, lernte dabei von den Wentals. Zuerst dachte sie an die Methode ihres Angriffs und konzentrierte sich auf die Energie von Blitzen und kaltem Wasser - und die Wentals reagierten, indem sie durch sie flössen, aus ihren Händen und aus ihrem Selbst. Cesca ließ zwei Nematoden zerplatzen und einen dritten in Eis erstarren.
Als Jess seiner Mutter gegenübertrat, suchte der verdorbene Wental nach Worten und Erinnerungen, plünderte die
188
gefrorenen Zellen in Karla Tamblyns konserviertem Gehirn. »Du ... Ross ...
Und Tasia ... deine kleine Schwester.« Ihre Stimme kam von woanders, nicht aus ihrem Herzen.
Als mehr Nematoden aus dem Ozean kamen und aufs Eis krochen, eilte der alte Caleb in dem törichten Versuch herbei, Cesca zu schützen.
»Verschwindet, ihr schleimigen Biester! Kehrt in die Tiefe zurück!« Er stach so fest mit seinem improvisierten Speer zu, dass er die Haut eines Wurms durchdrang. Weitere Nematoden näherten sich ihm.
Cesca schickte ihnen ihre Kraft entgegen, aber das lenkte sie von den Würmern in ihrer Nähe ab. »Caleb!«, rief sie Jess' Onkel zu. »Bleiben Sie in Sicherheit, damit ich mich konzentrieren kann!«
Der Alte starrte sie verblüfft an, und am liebsten hätte Cesca ihn mit den Händen fortgestoßen, doch die Berührung wäre tödlich für ihn gewesen.
Der Gedanke brachte sie auf eine Idee - vielleicht konnte sie auf diese Weise die Nematoden erledigen. Sie streckte die Hand aus und berührte die schleimige Haut des nächsten Wurms, aber es kam nicht zu einer tödlichen Entladung. Die Geschöpfe wurden von Karlas Wental-Energie kontrolliert und waren immun.
Hunderte von Nematoden kamen näher, zischten und heulten. Cesca versuchte, sie abzuwehren, konnte ihre Kraft aber nicht schnell genug sammeln und ausrichten. Die Aufmerksamkeit der elementaren Wasserwesen galt vor allem dem wichtigeren Konflikt mit dem verdorbenen Wental.
Karla setzte erneut ihre destruktive Kraft frei, und Jess konnte ihre Angriffe nur mit Mühe abwehren. Seine Mutter richtete ihre Energie gegen die Roamer, gegen einige noch intakte Gebäude und die Aggregate der Mine, wandte sich dann erneut ihrem Sohn zu und trieb ihn zurück. Cesca sah den Schmerz in seinen Augen, als er sich der eigenen Mutter gegenüber zur We r s
h etzen musste.
189
Sie war nur einen Augenblick abgelenkt, aber vier Nematoden nutzten die Gelegenheit und wickelten sich ihr ums Bein. Andere sprangen unglaublich schnell hoch und legten sich ihr wie schwere Seile um Arme und Taille. Immer stärkeren Druck übten sie aus. Und immer mehr Würmer kamen, bedeckten Brust, Schultern und Hals. Cesca versuchte, sie fortzuziehen, aber die Nematoden verfügten über eine übernatürliche Kraft. Wie Pythonschlangen aus den Dschungeln der alten Erde zogen sie sich zusammen und schickten sich an, ihr Opfer zu zermalmen.
Cesca konnte sich nicht mehr gegen sie wehren.
66 JESS TAMBLYN
Jess ballte die Fäuste, als wollte er auf diese Weise die elementaren Wasserwesen in sich behalten. Sie schienen nun so unkontrollierbar zu sein wie der verdorbene Wental in seiner Mutter. Er hörte nur noch das Dröhnen in seinem Kopf und das Krachen und Donnern der Zerstörung.
Als Karla sprach, kamen die Worte von der Frau, die er so sehr vermisst hatte, aber ein fremder Klang untermalte die Stimme seiner Mutter. »Jess
... warum fürchtest du dich vor mir? Erinnerst du dich nicht?« Sie kam näher, und Dampf umwogte sie. Weit oben knackte es immer wieder in der Eisdecke. »Mein kleiner Junge.«
Die wieder belebte Frau schien sich immer mehr ans Sprechen zu gewöhnen, doch die Worte klangen monoton, ohne emotionalen Gehalt.
»Ich erinnere mich an den wattierten Pullover, den ich für dich gemacht habe, als du neun warst.« Ihr Haar bewegte sich jetzt nicht mehr so wild wie vorher, und das Gesicht wirkte friedlicher. Vielleicht halfen 189
ihr die Erinnerungen dabei, Kontrolle über die dämonische Energie in ihr zu erringen. »Ich erinnere mich an deinen Kompi EA ... Du hast ihn Tasia gegeben, nicht wahr? Wo ist Tasia? Wo ist Ross? Meine Kinder ...«
Trotz des Chaos, das sie umgab, trotz der übers Eis kriechenden Nematoden und der Explosionen, entsann sich Jess an die Jahre, die seine Eltern zusammen verbracht hatten, an das Familienleben unter der Eiskruste von Plumas. Karla hatte Jess beigebracht, einen Oberflächenwagen zu fahren, als er erst zwölf gewesen war. Sie hatte ihm gezeigt, wie man mit den Pumpmaschinen umging, die Schläuche mit Roamer-Schiffen verband und ihre Tanks mit reinem Wasser füllte.
Plötzlich begriff Jess, was geschehen sein musste. »All die Jahre war sie im Eis erstarrt. Vermutlich steckte noch ein Funken Leben in ihr. Eine Art Winterstarre. Als ich sie berührte und sie aufzutauen begann, muss ich irgendwie Energie auf sie übertragen haben. Und jetzt hat ein verdorbener Wental die Kontrolle über sie.«
Es ist kein Leben mehr in ihr. Sie war tot. Sie bleibt tot.
»Das glaube ich nicht. Ein Teil von ihr ist noch da!« Jess sah Karla an und setzte sich ihren Angriffen aus. »Mutter, hör mir zu. Bitte!«
Als Karla noch einen Schritt näher kam, summten die Wentals: Sie ist nicht wirklich deine Mutter. Sie lebt nicht.
»Aber sie erinnert sich an mich.«
Der verdorbene Wental greift auf chemische Signaturen im gefrorenen Hirngewebe zu. Deine Mutter existiert nicht mehr.
Erneut dachte Jess an die verdorbenen Wentals, die ihm die elementaren Wasserwesen gezeigt hatten: der ildiranische Septar, der bestrebt gewesen war, gegen den Weisen Imperator zu kämpfen, und die Klikiss-Brüterin, die andere Schwärme hatte erobern wollen. Ihm war es nur darum gegangen, seine Mutter aus ihrem eisigen Grab zurückzubrin
190
gen; er hatte sie nicht wieder beleben wollen. Doch ein Teil seiner neuen Kraft hatte ihr dieses dämonische Leben eingehaucht.
Wir müssen ihr das verdorbene Wasser nehmen.
Die Wentals strömten aus ihm heraus und wurden zu einem Dunst aus kleinen Tropfen. Er wogte Karla entgegen, umgab sie und verdichtete sich.
Jess erbebte, und seine Zähne klapperten.
»Bringt sie zurück! Rettet sie. Meine Mutter lebt noch irgendwo in ihr.«
Sie existiert nicht mehr. Lass dich nicht täuschen. Wir müssen jeden Tropfen zurückholen, jedes Molekül.
Jess konnte sich den Wentals nicht widersetzen. Sie benutzten ihn als eine Art Kanal, fluteten durch ihm Karla entgegen. Mit den Gedanken rief er nach seiner Mutter und forderte sie auf, die negativen Energien unter Kontrolle zu bringen.
Als er spürte, dass Karla ihn abzulenken versuchte, drehte er sich um und sah entsetzt, dass sich Dutzende von Nematoden um Cesca gewickelt hatten. Sie bewegte sich und versuchte, Widerstand zu leisten - sie lebte noch!
Aber als Jess ihr helfen wollte, konnte er sich nicht von der Stelle rühren.
Die Wentals in ihm lenkten sein ganzes Handeln. So verzweifelt er auch sein mochte: Die Wasserwesen benutzten seinen Körper als Waffe. Als ihre Waffe.
»Rettet Cesca! Helft ihr beim Kampf!«, brachte Jess zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Der verdorbene Wental hat sich nicht in den Würmern ausgebreitet. Wenn Karla Tamblyn uns zu widerstehen versucht, lässt ihre Kontrolle über sie nach.
Jess schaffte es, die Hand auszustrecken, aber Karla kämpfte noch entschlossener und verlangte seine Aufmerksamkeit. »Cesca! Wehr dich weiter!«
Irgendwie gelang es Cesca, sich auf ihre eigene Wental-191
Energie zu besinnen. Sie setzte die Kraft in einer grellen Explosion frei, und die Nematoden um sie herum flogen fort.
Frei stand sie da, mit wehendem Haar, und ihre Augen brannten fast so wie die Karlas. Es schimmerte, als sie vortrat, ohne auf die Wurmfetzen auf dem Eis zu achten.
Als sie Jess' Hand ergriff, fühlte er sich von zusätzlicher Kraft durchströmt.
Ein seltsames Geräusch kam von den vereinten Wentals. Cesca und er bewegten sich synchron, gelenkt von den Energien in ihrem Innern. Jess fühlte, wie etwas Essenzielles aus ihm floss, etwas, von dessen Existenz er bis dahin gar nichts gewusst hatte. Die Wentals nutzten es für ihren Kampf.
Karla Tamblyn befand sich im Innern eines trocknenden Sturms, der immer heftiger wurde. Sie hob beide Hände, wehrte sich mit Blitzen, Wellen aus Kälte und Geysiren aus Wasser. Sie schickte Zerstörung in alle Richtungen und zerschmetterte, was zerschmettert werden konnte.
Die vereinten Wentals in Jess und Cesca begannen damit, Karla die verdorbene Flüssigkeit zu entziehen. Auf ihrer wächsernen Haut glänzte Feuchtigkeit, die aus den Poren kam und dann vom Wind fortgerissen wurde.
Jess sah, was geschah, und er versuchte, die Wentals zurückzuhalten. Er wollte sie dazu bringen, seine Mutter zu retten, anstatt sie zu vernichten.
Der Kampf gegen den verdorbenen Wental in einer Klikiss-Brüterin hatte einen ganzen Planeten auseinanderbrechen lassen, und der besessene ildiranische Septar hatte ebenso starke Verheerungen angerichtet wie eine ganze Kampf flotte.
Die Wentals mussten Karla hier überwältigen, selbst wenn es die Zerstörung von Plumas bedeutete.
Der weiße Körper von Jess' Mutter erbebte immer wieder, als die vereinten We tals ihr me
n