1_022_13828_Garcia.tifSweet Sixteen

11.2.

Lasst mich in Ruhe. Ihr alle. Es gibt nichts, was ihr für mich tun könnt!

Lenas Stimme weckte mich nach ein paar Stunden unruhigen Schlafes. Ich zog meine Jeans und ein graues T-Shirt an und dachte dabei nur an das eine: Tag eins. Jetzt mussten wir nicht länger warten und rätseln, was auf uns zukam.

Jetzt war das Ende da.

Nicht mit einem lauten Knall sondern mit einem leisen Wimmern nicht mit einem lauten Knall sondern mit einem leisen Wimmern nicht mit einem lauten Knall sondern mit einem leisen Wimmern.

Lena war am Ausflippen und dabei war die Sonne noch nicht einmal aufgegangen.

Das Buch. Verdammt, ich hatte es vergessen. Ich eilte zurück in mein Zimmer, nahm zwei Stufen auf einmal. Ich griff in das oberste Fach meines Kleiderschranks, wo ich es versteckt hatte, und machte mich auf den brennenden Schmerz gefasst, den ich immer verspürte, wenn man das Caster-Buch berührte.

Aber der Schmerz kam nicht. Denn es war nicht mehr da.

Das Buch der Monde, unser Buch, war weg. Wir brauchten das Buch, heute mehr als an irgendeinem anderen Tag. Lenas Stimme dröhnte in meinem Kopf.

So geht die Welt zu Ende nicht mit einem lauten Knall, sondern mit einem leisen Wimmern.

Wenn Lena T. S. Eliot zitierte, dann hatte das nichts Gutes zu bedeuten. Ich schnappte mir die Schlüssel des Volvo und rannte los.

Als ich die Dove Street entlangfuhr, ging gerade die Sonne auf. Greenbrier oder, wie alle anderen dazu sagten, das einzig unbebaute Feld in ganz Gatlin – was es nicht zuletzt zum Schauplatz der Schlacht von Honey Hill qualifizierte –, erwachte ebenfalls gerade zum Leben. Aber der Kanonendonner in meinem Kopf war so laut, dass ich den Kanonendonner draußen gar nicht hörte.

Als ich die Stufen zur Veranda von Ravenwood hinaufrannte, begrüßte mich Boo mit lautem Gebell. Larkin stand auf der Treppe, mit dem Rücken an eine der Säulen gelehnt. Er hatte seine Lederjacke an und spielte mit der Schlange, die sich an seinem Arm hinauf- und hinunterschlängelte. Einmal war es sein Arm, dann wieder eine Schlange. Er wechselte die Gestalt so geschickt, wie ein Spieler einen Stapel Karten mischt. Der Anblick lenkte mich eine Sekunde lang ab. Das und die Art und Weise, wie Boo bellte. Wenn ich es mir recht überlegte, konnte ich nicht genau sagen, ob Boo Larkin oder mich anbellte. Aber Boo gehörte Macon und Macon und ich waren bei unserem letzten Zusammentreffen nicht gerade freundschaftlich auseinandergegangen.

»Hey, Larkin.«

Er nickte mir gelangweilt zu. Es war kalt und ein Wölkchen Atemluft entströmte seinem Mund wie von einer nicht vorhandenen Zigarette. Aus dem Wölkchen wurde ein Ring, und aus dem Ring wurde eine kleine weiße Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss und sich auffraß, bis nichts mehr von ihr übrig war.

»An deiner Stelle würde ich da nicht reingehen. Deine Freundin ist ein wenig, wie soll man sagen, giftig?« Die andere Schlange legte sich der Länge nach um seinen Nacken und wurde zu seinem Jackenkragen.

Tante Del riss die Tür auf. »Endlich. Wir haben auf dich gewartet. Lena ist in ihrem Zimmer und lässt keinen von uns rein.« Ich sah Tante Del an, sie war völlig durcheinander, ihre Stola hing verkehrt herum von der Schulter, die Brille saß schräg auf der Nase, selbst ihr schief sitzender grauer Dutt war in Auflösung begriffen. Ich beugte mich vor, um sie mit einer Umarmung zu begrüßen. Sie roch, wie es in den alten Schränken der Schwestern roch, die vollgestopft waren mit Lavendelsäckchen und altem Leinzeug, das von einer Generation zur nächsten vererbt wurde. Reece und Ryan standen hinter ihr wie jammervolle Angehörige, die in einem trüben Krankenhausflur auf die schlimme Nachricht warten.

Auch heute schien Ravenwood mehr Lenas als Macons Stimmung widerzuspiegeln, aber vielleicht waren ja beide in der gleichen Stimmung. Doch Macon war nirgends zu sehen, deshalb war es schwierig zu sagen. Wenn der Zorn eine Farbe hatte, dann war sie über alle Wände hier verspritzt. Wut oder etwas, das ebenso zäh und brodelnd war, hing von jedem Lüster herab, Groll war zu dicken Teppichen verwoben, Hass flackerte unter jedem Lampenschirm hervor. Der Fußboden war in schleichende Schatten getaucht, in eine eigentümliche Art von Dunkelheit, die die Wände hinaufgekrochen war und gerade in diesem Augenblick über meine Converse schwappte, dass ich sie fast nicht mehr sehen konnte. Es war die absolute Finsternis.

Ich könnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wie der Raum in diesem Moment aussah. Ich war zu sehr damit beschäftigt wahrzunehmen, wie er sich anfühlte, und er fühlte sich ausgesprochen übel an. Zögernd ging ich auf die große frei schwebende Treppe zu. Hundertmal zuvor war ich diese Treppe hinaufgegangen, ich wusste genau, wohin sie führte. Aber irgendwie war heute alles anders. Tante Del blickte Reece und Ryan an, die hinter mir herkamen, als ginge ich ihnen auf unbekanntes Kriegsgebiet voraus.

Als ich meinen Fuß auf die zweite Stufe setzte, bebte das ganze Haus. Die tausend Kerzen des altmodischen Lüsters, der direkt über mir hing, wackelten, und Wachs tropfte mir ins Gesicht. Ich zuckte zusammen und wich zurück. Ohne jede Vorwarnung bäumte sich die Treppe unter meinen Füßen auf und schnappte zu; sie warf mich um, sodass ich rücklings über den polierten Boden durch die halbe Eingangshalle schlitterte. Reece und Tante Del schafften es gerade noch, mir aus dem Weg zu gehen, aber die arme Ryan riss ich mit wie eine Bowlingkugel die Kegel.

Ich stand auf und rief: »Lena Duchannes, wenn du diese Stufen noch einmal gegen mich aufhetzt, werde ich dich höchstpersönlich beim Disziplinarausschuss verpfeifen.«

Ich trat auf die erste Stufe, dann auf die zweite. Nichts geschah. »Ich werde Mr Hollingsworth anrufen und aussagen, dass du gemeingefährlich und wahnsinnig bist.« Jetzt nahm ich zwei Stufen auf einmal, bis ich oben auf dem Treppenabsatz stand. »Denn das bist du, wenn du das noch einmal mit mir machst, hörst du?«

Ihre Stimme in meinem Kopf war anfangs noch ganz leise.

Du verstehst gar nichts.

Ich weiß, dass du Angst hast, L, aber wenn du alle aussperrst, wird es auch nicht besser.

Geh weg.

Nein.

Ich meine es ernst, Ethan. Geh weg. Ich will nicht, dass dir etwas passiert.

Ich kann nicht.

Ich stand jetzt vor der Tür ihres Schlafzimmers, presste meine Wange gegen das kalte helle Holz der Wandtäfelung. Ich wollte bei ihr sein, ihr so nahe wie möglich sein, ohne wieder einen Herzanfall zu bekommen. Und wenn sie mich nicht näher als bis vor die Tür kommen ließ, dann reichte mir das, jedenfalls für den Augenblick.

Bist du da, Ethan?

Direkt vor deiner Tür.

Ich habe Angst.

Ich weiß, L.

Ich will nicht, dass dir etwas passiert.

Mir wird nichts passieren.

Ethan, ich möchte dich nicht verlassen.

Das wirst du nicht.

Und wenn doch?

Ich werde auf dich warten.

Sogar wenn ich auf die Dunkle Seite gehe?

Sogar wenn du auf die Allerdunkelste Seite gehst.

Sie machte die Tür auf und zog mich ins Zimmer. Musik dröhnte. Ich kannte den Song. Es war eine wilde Version, fast Heavy Metal, aber es war der Song, ich erkannte ihn sofort.

Sixteen moons, sixteen years

Sixteen of your deepest fears

Sixteen times you dreamed my tears

Falling, falling through the years

Sie sah aus, als hätte sie die Nacht durchgeweint. Wahrscheinlich hatte sie das auch. Als ich ihr übers Gesicht strich, merkte ich, dass es noch immer tränennass war. Ich nahm sie in die Arme, und wir wiegten uns, während die Musik weiterspielte:

Sixteen moons, sixteen years

Sound of thunder in your ears

Sixteen miles before she nears

Sixteen seeks what sixteen fears

Als ich über ihre Schulter blickte, sah ich, dass ihr Zimmer ein Trümmerhaufen war. Der Putz an den Wänden war rissig und bröckelte ab, ihr Kleiderschrank war umgestürzt, als wäre jemand eingebrochen. Die Fenster waren zersplittert; ohne Glas sahen die dünnen Metallrahmen aus wie die Gitterstäbe eines alten Burggefängnisses. Und die Gefangene klammerte sich an mich, während die Musik uns einhüllte.

Sixteen moons, sixteen years,

Sixteen times you dreamed my fears,

Sixteen will try to bind the spheres,

Sixteen screams but just one hears …

Als ich das letzte Mal hier gewesen war, war die Zimmerdecke mit Worten bedeckt gewesen, die Lenas geheimste Gedanken nach außen gekehrt hatten. Aber nun war jeder freie Fleck im Zimmer mit ihrer unverwechselbaren Handschrift bedeckt. Am Rand der Decke stand nun in schwarzer Farbe: Einsamkeit lässt den, den du liebst, nicht los / und du weißt, du hältst ihn vielleicht nie mehr in deinen Armen. An den Wänden: Sogar wenn ich in der Finsternis versunken bin / wird mein Herz dich finden. Am Türpfosten: Die Seele stirbt in der Hand dessen, der sie beschützt. Auf dem Spiegel: Wenn ich einen Ort wüsste, an den ich mich flüchten könnte / wo ich in Sicherheit geborgen wäre, heute noch wäre ich dort. Sogar der Kleiderschrank war mit Worten vollgeschrieben: Das finsterste Tageslicht findet mich hier, jene, die warten, sehen immer zu, und dort stand auch der eine Satz, der alles ausdrückte: Wie kann man vor sich selbst fliehen? In diesen Sätzen konnte ich ihre ganze Geschichte lesen und ich hörte sie auch in der Musik.

Sixteen moons, sixteen years,

The claiming moon, the hour nears,

In these pages Darkness clears,

Powers bind what fire sears …

Dann verebbten die Akkorde der E-Gitarre, und ich hörte eine neue Strophe, den Schluss des Liedes. Ich versuchte, die Traumbilder von Erde, Feuer, Wasser und Wind aus meinen Gedanken zu verscheuchen, während ich lauschte:

Sixteenth Moon, Sixteenth Year,

Now has come the day you fear,

Claim or be claimed,

Shed blood, shed tear,

Moon or Sun – destroy, revere.

Die Gitarre verklang und wir standen in völliger Stille. »Was denkst du …«

Sie drückte mir einen Finger auf die Lippen. Sie konnte nicht darüber sprechen. Sie war so verletzlich, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ein kalter Wind umwehte sie, hüllte sie ein und verströmte sich durch die offene Tür hinter mir. Ich wusste nicht, ob ihre Wangen von der Kälte oder von ihren Tränen gerötet waren, und ich fragte auch nicht danach. Wir ließen uns auf ihr Bett fallen und umschlangen uns, wurden zu einem Knäuel, bei dem man die einzelnen Glieder kaum noch auseinanderhalten konnte. Wir küssten uns nicht, aber wir waren uns so nahe, als küssten wir uns. Wir waren uns so nahe, wie ich nie gewusst hatte, dass sich zwei Menschen sein können.

So fühlte es sich also an, jemanden zu lieben und gleichzeitig zu spüren, dass man ihn schon wieder verloren hatte. Sogar wenn man ihn noch in den Armen hielt.

Lena zitterte. Ich spürte jede Rippe, jeden einzelnen Knochen in ihrem Leib; sie bebte am ganzen Körper und konnte nichts dagegen tun. Ich nahm den Arm von ihrem Hals, verrenkte mich, damit ich die Patchworkdecke auf dem Boden zu fassen bekam und sie über uns ziehen konnte. Lena vergrub sich an meiner Brust und ich zog die Decke noch höher. Jetzt war sie über unseren Köpfen und wir beide kauerten in unserer kleinen, düsteren Höhle.

In der Höhle wurde es warm von unserem Atem. Ich küsste ihre kalten Lippen und sie erwiderte meinen Kuss. Der Strom, der zwischen uns beiden floss, wurde stärker, und sie kuschelte sich in meiner Halsbeuge.

Glaubst du, wir können für immer so bleiben, Ethan?

Wir machen alles, was du willst. Heute ist dein Geburtstag.

Ich spürte, wie sie sich verkrampfte.

Erinnere mich nicht daran.

Aber ich habe dir ein Geschenk mitgebracht.

Sie hob die Decke an, um durch einen kleinen Spalt das Licht hereinzulassen. »Wirklich? Ich hab dir gesagt, das sollst du nicht.«

»Wann hätte ich je darauf gehört, was du mir sagst? Außerdem hat Link behauptet, wenn ein Mädchen sagt, sie möchte kein Geburtstagsgeschenk, dann heißt das, dass sie ein Geburtstagsgeschenk möchte, und wenn möglich Schmuck.«

»Das gilt nicht für alle Mädchen.«

»Natürlich. Vergiss es.«

Sie ließ die Decke fallen und schmiegte sich wieder in meine Arme.

Ist es das?

Was?

Schmuck.

Ich dachte, du wolltest kein Geschenk?

Bin nur neugierig.

Ich lächelte zufrieden und zog die Decke weg. Die kalte Luft traf uns beide und ich zog eilig ein kleines Schächtelchen aus der Tasche meiner Jeans und tauchte wieder in die Höhle ab. Dann hob ich die Decke an, gerade so weit, dass sie die Schachtel sehen konnte.

»Lass sie unten, es ist zu kalt.«

Ich ließ die Decke fallen, wieder hüllte uns die Dunkelheit ein. Die Schachtel begann, grünlich zu schimmern, und ich sah Lenas schlanke Finger, wie sie das silberne Band lösten. Das Schimmern wurde stärker, es leuchtete warm und hell, bis ihr Gesicht direkt vor meiner Nasenspitze in ein weiches Licht getaucht war.

»Das ist neu.« Ich lächelte sie in dem warmen grünen Licht an.

»Ich weiß. Seit ich heute Morgen aufgewacht bin, ist es so. Egal was ich denke, es passiert einfach.«

»Nicht schlecht.«

Sehnsüchtig blickte sie auf die Schachtel und zögerte den Moment hinaus, offenbar wollte sie mit dem Öffnen so lange warten, wie es nur ging. Ich überlegte, dass dies vielleicht das einzige Geschenk war, das Lena an diesem Tag bekommen würde. Abgesehen von der Überraschungsparty natürlich, von der ich ihr aber erst im letzten Moment erzählen wollte.

Überraschungsparty?

Ups.

Ich hoffe, du machst Witze.

Sag das mal Ridley und Link.

Ach ja? Ich vermute, die Überraschung dabei ist, dass es keine Überraschungsparty geben wird.

Mach die Schachtel auf.

Sie sah mich mit leuchtenden Augen an und öffnete die Schachtel, aus der noch mehr Licht quoll. Ihre Miene entspannte sich, und ich wusste, ich war aus dem Schneider, was die Party anging. Mädchen und Schmuck, das war irgendwie eine Sache für sich. Wer hätte das gedacht? Link hatte den richtigen Riecher gehabt.

Sie hielt eine zierliche, glänzende Halskette in die Höhe, an der ein Ring baumelte. Eigentlich war es ein geflochtener Kranz aus drei Goldsträngen, einer war roséfarben, einer gelb, der dritte weiß.

Ethan, ich liebe es.

Sie küsste mich hundertmal, und ich fing an zu sprechen, obwohl sie mich küsste. Ich hatte das Gefühl, ich müsste es ihr erklären, bevor sie mich danach fragte, bevor etwas passierte. »Es hat meiner Mutter gehört. Ich habe es aus ihrer alten Schmuckschachtel.«

»Bist du sicher, dass du mir das schenken willst?«, fragte sie.

Ich nickte. Ich konnte nicht so tun, als wäre das nichts Besonderes für mich. Lena wusste, wie sehr ich an meiner Mutter hing. Für mich war es etwas Besonderes, und ich war erleichtert, dass wir beide uns das eingestehen konnten. »Der Schmuck ist nichts Kostbares, kein Diamant oder so, aber mir bedeutet er sehr viel. Ich glaube, sie hätte nichts dagegen, dass ich ihn dir schenke, weil, na ja, du weißt schon …«

Was?

Ach.

»Soll ich’s dir etwa buchstabieren?« Meine Stimme klang seltsam, irgendwie zittrig.

»Ich sage es dir ja nur ungern, aber du bist nicht gerade der Größte, was das angeht.« Sie wusste genau, wie ich mich innerlich wand, aber sie wollte, dass ich es sagte. Mir war unsere stille Art der Unterhaltung lieber. Für jemanden wie mich machte es das Reden einfacher, das Reden über die wichtigen Dinge. Ich strich ihr Haar zur Seite, legte ihr das Halsband um und nestelte am Verschluss herum. Es glitzerte in dem zarten Licht und lag gleich über der langen Kette, die Lena nie abnahm. »Weil du etwas Besonderes für mich bist.«

Wie besonders?

Du trägst die Antwort darauf um den Hals.

Ich trage alles Mögliche um den Hals.

Ich strich mit den Fingern über ihre Kette mit den Glücksbringern. Alle sahen sie aus wie billiger Plunder und die meisten waren es wohl auch – aber es war der wichtigste Plunder auf der ganzen Welt. Und nun war es auch mein Plunder. Eine Münze mit eingestanztem Loch aus einem dieser Automaten im Selbstbedienungsrestaurant gegenüber vom Kino, in dem wir bei unserer ersten Verabredung waren. Ein Stück Faden von dem roten Pullover, den sie getragen hatte, als wir hinter dem Wasserturm geparkt hatten, was inzwischen ein Insider-Witz zwischen uns war. Der silberne Knopf, den ich ihr geschenkt hatte, als Glücksbringer für den Disziplinarausschuss. Den kleinen Weihnachtsstern, den meine Mutter aus einer Büroklammer gebastelt hatte.

Dann müsstest du die Antwort längst wissen.

Sie gab mir noch einen Kuss, einen richtigen Kuss. Einen Kuss, den man eigentlich gar nicht Kuss nennen durfte, es war die Art von Kuss, die Arme und Beine und Nacken und Haar mit einbezog, die Art, bei der schließlich die Decke zu Boden gleitet und, wie in unserem Fall, das Fenster wieder ganz wird, der Schreibtisch sich von selbst aufräumt, die Kleider auf die Bügel gleiten und das eiskalte Zimmer endlich warm wird. Ein Feuer flammte in dem kleinen offenen Kamin auf, aber das war nichts im Vergleich zu der Hitze, die durch meinen Körper strömte. Ich spürte die Spannung, sie war noch stärker als sonst, und mein Herz schlug schneller.

Völlig außer Atem, ließ ich Lena los. »Wo steckt eigentlich Ryan, wenn man sie braucht? Wir müssen uns was ausdenken, wenn das so weitergeht.«

»Keine Sorge. Sie ist unten.« Sie zog mich wieder an sich, und auf dem Ofenrost knisterte es noch lauter, der Kamin schien den Rauch und das Feuer kaum zu fassen.

Schmuck, mehr sage ich nicht. Schmuck ist das einzig Wahre. Und Liebe.

Und vielleicht Gefahr.

»Ich komme schon, Onkel Macon!« Lena sah mich an und seufzte. »Ich schätze, wir können es nicht länger vor uns herschieben. Wir müssen nach unten gehen und uns meiner Familie stellen.« Sie schaute zur Tür hin. Das Schloss sprang von selbst auf. Ich rieb ihren Rücken und schnitt eine Grimasse. Jetzt war es vorbei.

Als wir Lenas Zimmer verließen, dämmerte bereits der Abend. Ich hatte angenommen, dass wir schon zur Mittagszeit nach unten schleichen müssten, um der Küche einen Besuch abzustatten, aber Lena hatte einfach die Augen geschlossen, und sofort war ein Servierwägelchen durch die Tür ins Zimmer gerollt. Ich glaube, sogar die Küche bedauerte Lena heute. Oder aber sie konnte Lenas neu entdeckten Kräften genauso wenig widerstehen wie ich. Die Menge an Pfannkuchen mit Schokostreuseln und Schokosoße, die ich verdrückte, konnte man nur mit meinem Gewicht aufwiegen, und alles spülte ich mit Schokoladenmilch hinunter. Lena aß nur ein Sandwich und einen Apfel. Dann versank wieder alles um uns herum und wir küssten uns.

Ich glaube, wir beide wussten, dass es womöglich das letzte Mal war, dass wir so wie heute in ihrem Zimmer lagen. Es gab nichts, was wir dagegen tun konnten. Die Lage war, wie sie war, und wenn wir nur noch heute hatten, dann hatten wir wenigstens das hier gehabt.

In Wirklichkeit hatte mich nicht nur die Aufregung, sondern auch die Angst gepackt. Es war noch nicht einmal Zeit fürs Abendessen und doch war dies bereits der schönste und schlimmste Tag meines Lebens.

Als wir die Treppe hinuntergingen, nahm ich Lena bei der Hand. Sie war warm, und daran merkte ich, dass sich Lenas Stimmung gebessert hatte. Die Halskette blitzte an ihrem Nacken, silberne und goldene Kerzen schwebten in der Luft, wir schritten durch sie und unter ihnen hindurch die Stufen hinab. Ich war nicht daran gewöhnt, Ravenwood so festlich und lichtdurchflutet zu sehen, einen Augenblick lang konnte man sich wie auf einem richtigen Geburtstagsfest fühlen, bei dem die Gäste fröhlich und beschwingt feierten. Aber nur einen Augenblick lang.

Dann sah ich Macon und Tante Del. Beide hatten Kerzen in der Hand und hinter ihnen hüllte sich Ravenwood in Schatten und Düsternis. Im Hintergrund huschten auch andere schemenhafte Gestalten umher, die ebenfalls Kerzen in den Händen hielten. Zu allem Überfluss trugen Macon und Del lange schwarze Roben wie die Diener eines Geheimordens oder wie Druidenpriester und Priesterinnen. Nach einer Geburtstagsgesellschaft sah das nicht gerade aus, eher nach einer echt gruseligen Beerdigung.

Happy Sweet Sixteen. Alles Gute zum sechzehnten Geburtstag, Lena. Kein Wunder, dass du in deinem Zimmer bleiben wolltest.

Jetzt siehst du, was ich gemeint habe.

Als Lena auf der letzten Treppenstufe angekommen war, blieb sie stehen und drehte sich nach mir um. In ihrer alten Jeans und in meinem viel zu großen Kapuzenpullover von der Jackson High sah sie aus, als gehörte sie gar nicht hierher. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Lena zuvor schon mal so etwas getragen hatte. Ich glaube, sie wollte so lange es ging etwas von mir bei sich haben.

Keine Angst. Das ist nur der Bann, der bindet, der mich bis zum Aufgang des Mondes schützen soll. Die Berufung kann nicht erfolgen, solange der Mond nicht hoch am Himmel steht.

Ich habe keine Angst, L.

Ich weiß. Ich habe mit mir selbst geredet.

Lena ließ meine Hand los und schritt die letzte Stufe hinab. Als ihr Fuß den glänzend schwarzen Boden berührte, war sie von einem Moment auf den nächsten verwandelt. Sie trug nun das fließende schwarze Gewand für die bevorstehende Zeremonie. Das Schwarz ihrer Haare und das Schwarz der Robe verschmolzen zu einem Schatten, nur ihr Gesicht war bleich und fahl leuchtend wie der Mond. Sie berührte ihren Hals, den goldenen Ring meiner Mutter. Ich hoffte, er würde sie daran erinnern, dass ich hier war, dass ich bei ihr war. Genauso wie ich hoffte, dass es meine Mutter gewesen war, die uns in all der Zeit beigestanden hatte.

Was haben sie jetzt mit dir vor? Das wird doch nicht etwa ein verrücktes, heidnisches Sex-Ritual?

Lena lachte auf. Tante Del sah sie entsetzt an, Reece strich sich mit überlegener Miene die Robe glatt und Ryan fing an zu kichern.

»Reiß dich zusammen«, zischte Macon. Larkin, der es schaffte, in seiner schwarzen Robe genauso cool auszusehen wie in seiner Lederjacke, lachte glucksend. Lena erstickte ein Kichern in den Falten ihres Gewands.

Im Flackerschein der Kerzen erkannte ich die Gesichter, die mir am nächsten waren: Macon, Del, Lena, Larkin, Reece, Ryan und Barclay. Es gab auch ein paar Gesichter, die mir nicht so vertraut waren. Arelia, Macons Mutter, und eine ältere Person, runzelig und braun gebrannt. Aber selbst aus einiger Entfernung sah die Frau ihrer Enkelin so ähnlich, dass ich sofort wusste, wer sie war.

Lena erspähte sie zur gleichen Zeit wie ich. »Gramma!«

»Alles Gute zum Geburtstag, mein Liebling!« Der Kreis wurde für einen Moment durchbrochen, als Lena zu der weißhaarigen Frau rannte und sie umarmte.

»Ich dachte nicht, dass du kommen würdest!«

»Natürlich bin ich gekommen. Ich wollte dich überraschen. Barbados ist doch nur einen Katzensprung entfernt. Ich war im Nu hier.«

Das meint sie wortwörtlich, oder? Was ist sie? Auch eine Reisende, auch ein Inkubus wie Macon?

Eine Vielfliegerin, Ethan. Mit United Airlines.

Ich spürte Lenas momentane Erleichterung, auch wenn ich selbst mir immer merkwürdiger vorkam. Zugegeben, mein Vater war unzurechnungsfähig, meine Mutter tot, auch wenn sie irgendwie noch da war, und die Frau, die mich großgezogen hatte, wusste ein, zwei Dinge über Voodoo. Damit hatte ich keine Probleme. Aber hier mitten unter diesen waschechten, Kerzen tragenden, in schwarze Umhänge gehüllten Castern hatte ich das untrügliche Gefühl, ich müsste noch viel, viel mehr wissen als das, worauf mich mein Leben mit Amma vorbereitet hatte. Und zwar bevor sie mit dem ganzen Latein und den Zaubersprüchen anfingen.

Macon trat in den Kreis. Zu spät. Er streckte seine Kerze in die Höhe. »Cur luna hac vinctum convenimus?«

Tante Del trat neben ihn. Ihre Kerze flackerte, als sie sie hochhielt und übersetzte: »Weshalb kommen wir an diesem Mond zusammen, um zu binden?«

Alle im Kreis hielten ihre Kerzen hoch und riefen im Chor: »Sextusdecima luna, sextusdecimo anno, illa capietur.«

Lena antwortete ihnen. Die Flamme ihrer Kerze loderte auf, bis sie fast ihr Gesicht versengte. »Am sechzehnten Mond, im sechzehnten Jahr wird sie berufen werden.« Mit hoch erhobenem Kopf stand sie in der Mitte des Kreises. Aus allen Richtungen fiel der Kerzenschein auf ihr Gesicht. Ihre eigene Kerze erglühte in einem seltsam grünen Licht.

Was geht hier vor, L?

Mach dir keine Sorgen. Das ist nur Teil des Banns, der bindet.

Wenn das hier nur der Bann war, dann wollte ich gar nicht so genau wissen, wie es bei der Berufung zuging.

Macon fing an zu skandieren, wie er es auch schon an Halloween getan hatte. Wie hatten sie das damals noch gleich genannt?

»Sanguis sanguinis mei, tutela tua est.

Sanguis sanguinis mei, tutela tua est.

Sanguis sanguinis mei, tutela tua est.

Blut von meinem Blut, es gewähre dir Schutz.«

Lena wurde blass. Ein Sanguinis-Kreis, das war es. Sie hielt die Kerze hoch über ihren Kopf und schloss die Augen. Die grüne Flamme schoss empor und wurde zu einer mächtigen orangeroten Flamme, die mit einem lauten Knall von ihrer Kerze auf alle anderen Kerzen in dem Kreis übersprang und sie ebenfalls entzündete.

»Lena!«, rief ich, aber sie gab mir keine Antwort. In der Dunkelheit loderte die Flamme hoch hinauf, und ich vermutete, dass es in dieser Nacht in Ravenwood wohl keine Zimmerdecken gab, ja, nicht einmal ein Dach. Ich hielt mir den Arm vors Gesicht, als das Feuer immer heißer und greller wurde. Ich musste an Halloween denken. Was, wenn sich das, was damals geschehen war, jetzt wiederholte? Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was sie in jener Nacht getan hatten, um Sarafine abzuwehren. Was hatten sie im Chor gesungen? Wie hatte Macons Mutter dazu gesagt?

Der Sanguinis-Spruch. Aber mir fielen die Worte nicht mehr ein, ich konnte kein Latein, und zum ersten Mal wünschte ich mir, ich hätte den Kurs für alte Sprachen belegt.

An der Eingangstür klopfte es laut und schlagartig erloschen alle Flammen. Die Roben, das Feuer, die Kerzen, die Dunkelheit, das Licht, alles war verschwunden, hatte sich einfach in Nichts aufgelöst. Im selben Moment war aus Lenas Verwandtschaft eine ganz normale Familie geworden, die um eine ganz normale Geburtstagstorte stand und sang.

Was zum Teufel …?

»… Happy birthday to you!« Die letzten Töne verklangen, während draußen weiter an die Tür getrommelt wurde. Eine riesige Geburtstagstorte mit drei Schichten, rot, weiß und silbern, stand auf dem mit weißem Leinen gedeckten Kaffeetisch in der Mitte des Wohnzimmers, daneben ein festliches Teeservice. Lena blies die Kerzen aus und wedelte den Qualm vor ihrem Gesicht weg. Die Familie klatschte laut Beifall. Jetzt wieder in ihren Jeans und in meinem Jackson-High-Pullover, sah sie aus wie jede andere Sechzehnjährige auch.

»Unser Mädchen!« Gramma legte ihr Strickzeug beiseite und fing an, die Torte aufzuschneiden, während Tante Del herumhuschte und Tee einschenkte. Reece und Ryan trugen einen riesigen Berg Geschenke herein, derweilen Macon in seinem viktorianischen Schaukelstuhl saß und sich und Barclay einen Scotch einschenkte.

Was ist los, L? Was war das gerade?

Jemand ist draußen vor der Tür. Sie sind einfach vorsichtig.

Was deine Familie angeht, komme ich einfach nicht mehr mit.

Nimm ein Stück Kuchen. Das soll eine Geburtstagsfeier sein, weißt du noch?

Das Hämmern an der Tür hörte nicht auf. Larkin sah von einem riesigen saftig roten Stück Torte auf, Lenas Lieblingskuchen. »Will nicht jemand zur Tür gehen und nachsehen?«

Macon wischte einen Krümel von seinem Kaschmirjackett und blickte gelassen zu Larkin. »Sieh doch bitte mal nach, wer es ist, Larkin.«

Macon sah Lena an und schüttelte den Kopf. Sie würde heute bestimmt niemandem die Tür öffnen. Lena nickte und blieb neben Gramma sitzen. Sie lächelte über ihre Torte hinweg und war ganz und gar die liebende Enkelin. Einladend klopfte sie auf das Kissen neben ihr. Na toll. Jetzt war ich an der Reihe, der Großmutter vorgestellt zu werden.

Dann vernahm ich eine vertraute Stimme, und ich wusste nur eines: Jede Großmutter auf der Welt wäre mir jetzt lieber gewesen als das, was uns vor der Tür erwartete. Denn es waren Ridley und Link, Savannah und Emily und Eden und Charlotte mit dem Rest ihres Fanclubs, dazu das gesamte Basketballteam der Jackson High. Niemand trug die Uniform, die sie sonst tagtäglich trugen: das Jackson-Angels-T-Shirt. Dann fiel mir wieder ein, weshalb. Emily hatte einen schmutzigen Fleck an der Wange. Die Schlacht von Honey Hill. Lena und ich hatten den größten Teil davon schon versäumt und jetzt würden wir in Geschichte durchfallen. Inzwischen war alles vorbei, nur das letzte Scharmützel am Abend und das Feuerwerk standen noch auf dem Plan. Komisch war es schon: An jedem anderen Tag hätten wir uns über eine glatte Sechs ganz schön aufgeregt.

Ȇberraschung

Überraschung beschrieb das, was sie im Schilde führten, nicht einmal annähernd. Wieder einmal war ich daran schuld, dass Chaos und Gefahr in Ravenwood Einzug hielten. Alle drängelten sich in der großen Eingangshalle. Gramma winkte vom Sofa aus und Macon nippte an seinem Scotch, gelassen wie immer. Wenn man ihn kannte, wusste man allerdings, dass er sich nur mit allergrößter Mühe beherrschte.

Warum um alles in der Welt hatte Larkin sie überhaupt hereingelassen?

Das darf nicht wahr sein.

Die Überraschungsparty. Die hab ich völlig vergessen.

Emily drängte sich vor. »Wo ist das Geburtstagskind?« Sie hatte die Arme erwartungsvoll ausgebreitet, wohl um Lena ganz fest an sich drücken. Lena zuckte zurück, aber so leicht ließ sich Emily nicht abschrecken.

Emily hakte sich bei Lena unter, als wären sie zwei Freundinnen, die sich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatten. »Die ganze Woche lang haben wir diese Party geplant. Es gibt Livemusik, und Charlotte hat diese Außenbeleuchtung gemietet, damit alle etwas sehen können. Rund um Ravenwood ist es doch so dunkel.« Emily senkte verschwörerisch die Stimme, als wollte sie Schmuggelware auf dem Schwarzmarkt verkaufen. »Und wir haben auch Pfirsichschnaps.«

»Das musst du dir anschauen«, mischte sich Charlotte ein, sie schnappte praktisch bei jedem Wort nach Luft, weil ihre Jeans so eng waren. »Wir haben auch einen Showlaser. Ein Rave in Ravenwood, ist das nicht cool? Das wird so wie bei den College-Partys drüben in Summerville.«

Ein Rave? Ridley hatte offensichtlich alle Register gezogen. Emily und Savannah schmissen eine Party für Lena und tanzten um sie herum, als wäre sie ihre Schneekönigin. Das musste schwieriger gewesen sein, als sie zu überreden, von einer Klippe zu springen.

»Los, jetzt gehen wir rauf in dein Zimmer und hübschen dich auf, Geburtstagskind!« Charlotte hörte sich noch mehr an wie ein Cheerleader als sonst, immer am Überkompensieren.

Lena sah grün im Gesicht aus. In ihr Zimmer gehen? Die Hälfte dessen, was dort an den Wänden stand, handelte vermutlich von diesen Mädchen.

»Was redest du da, Charlotte? Sie sieht doch fabelhaft aus. Meinst du nicht auch, Savannah?« Emily drückte Lena leicht am Arm und warf Charlotte einen tadelnden Blick zu, wie um zu sagen: Vielleicht solltest du nicht so viel Pastete in dich reinstopfen und dir stattdessen lieber ein bisschen Mühe geben, genauso fabelhaft auszusehen.

»Machst du Witze? Für diese Haare würde ich sterben«, seufzte Savannah und wickelte sich eine von Lenas Locken um die Finger. »Sie sind so … erstaunlich schwarz.«

»Im letzten Jahr hatte ich auch schwarze Haare, wenigstens teilweise«, protestierte Eden. Eden hatte sich im vergangenen Jahr bei einem ihrer misslungenen Profilierungsversuche den Haaransatz schwarz gefärbt, die Deckhaare aber blond gelassen. Savannah und Emily hatten sie deshalb gnadenlos aufgezogen, bis sie einen Tag später alles wieder rückgängig gemacht hatte.

»Du hast ausgesehen wie ein Stinktier.« Savannah lächelte Lena wohlwollend an. »Lena hingegen sieht aus wie eine Italienerin.«

»Gehen wir. Alle warten schon auf dich«, sagte Emily und packte Lena am Arm. Lena riss sich los.

Das muss irgendein Trick sein.

Klar ist das ein Trick, aber nicht so, wie du denkst. Wahrscheinlich ist eine Sirene mit Lolli daran schuld.

Ridley. Ich hätte es wissen müssen.

Lena sah Tante Del und Onkel Macon an. Beide waren entsetzt, da schien alles Latein der Welt nicht mehr weiterzuhelfen. Gramma lächelte, aber sie kannte diese Sorte Engel ja nicht. »Wozu diese Eile? Möchtet ihr Kinder nicht auf eine Tasse Tee hereinkommen?«

»Hi, Gramma«, rief Ridley von der Tür aus, wo sie auf der Veranda herumhing und mit Hingabe an ihrem roten Lolli lutschte. Wenn sie damit aufhörte, würde das hier vermutlich wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Diesmal benutzte sie mich nicht, um über die Türschwelle zu gelangen. Sie stand nur eine Handbreit von Larkin entfernt, der zwar belustigt wirkte, sich aber direkt vor sie gestellt hatte. Ridley hatte sich in ein eng geschnürtes Mieder gezwängt, das aussah wie eine Kreuzung aus Dessous und diesen Fummeln, die Covergirls auf Automagazinen zur Schau stellten, dazu trug sie einen verboten knappen Jeansrock.

Ridley lehnte sich gegen den Türpfosten. »Überraschung. Überraschung!«

Gramma setzte ihre Teetasse ab und nahm ihr Strickzeug wieder zur Hand. »Ridley. Was für eine Freude, dich wiederzusehen, meine Liebe! Dein neuer Look steht dir gut. Ich bin sicher, du hast sehr viele Freier.« Gramma warf Ridley ein unschuldiges Lächeln zu, aber ihre Augen lächelten nicht dabei.

Ridley zog eine Schnute, aber sie nahm ihren Lolli nicht aus dem Mund. Ich ging zu ihr hinüber. »Wie lange musstest du dafür lutschen, Rid?«

»Wofür? Keine Ahnung, was du meinst, Streichholz.«

»Um Savannah Snow und Emily Asher so weit zu bringen, dass sie eine Party für Lena geben?«

»Mehr als du ahnst, Boyfriend.« Sie streckte die Zunge heraus, sie war rot und violett gestreift. Bei dem Anblick wurde mir schwindelig.

Larkin seufzte und sah an mir vorbei. »Dort draußen auf dem Feld sind an die hundert Kids. Eine Bühne und Lautsprecher haben sie auch aufgebaut und die ganze Straße ist mit Autos zugeparkt.«

»Tatsächlich?« Lena sah aus dem Fenster. »Die Bühne steht ja zwischen den Magnolienbäumen.«

»Meinen Magnolien?«, rief Macon und sprang auf.

Ich wusste, das Ganze war ein Affentheater, das Ridley mit ihrem betörenden Lutschen angezettelt hatte, und Lena wusste das natürlich auch. Aber ich las es in ihren Augen. Im Grunde wollte sie hinausgehen.

Eine Überraschungsparty, zu der die ganze Schule aufgetaucht war. Bestimmt hatte so etwas Ähnliches auch auf Lenas Normale-Highschool-Mädchen-Liste gestanden. Sie hatte sich damit abgefunden, eine Caster zu sein. Aber sie hatte es satt, immer ein Outcast, ein Außenseiter, zu sein.

Larkin warf Macon einen Blick zu. »Du wirst sie nicht dazu bringen, dass sie abhauen. Wir müssen uns damit abfinden. Ich werde die ganze Zeit bei Lena bleiben, ich oder Ethan.«

Link kämpfte sich durch die Menge nach vorn. »Hey, Leute, los geht’s. Meine Band, die Holy Rollers, geben ihre erste Vorstellung für die Jackson High. Das wird der Wahnsinn, sag ich euch.« Link war so glücklich, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Misstrauisch sah ich zu Ridley hinüber. Sie zuckte die Schultern und lutschte weiter an ihrem Lolli.

»Wir gehen nirgendwohin. Nicht heute Abend.« Ich konnte es nicht fassen, dass Link hier war. Seine Mutter würde glatt einen Herzanfall bekommen, wenn sie das jemals herausfand.

Larkin sah Macon an, der sehr ungehalten war, und Tante Del, die sich in heller Aufregung befand. Keiner von ihnen wollte Lena ausgerechnet in dieser Nacht aus den Augen lassen. »Nein.« Macon verschwendete keinerlei Gedanken an diese Möglichkeit.

Larkin versuchte es erneut. »Nur fünf Minuten.«

»Kommt nicht infrage.«

»Wann, glaubst du, wird die Schulmeute wohl das nächste Mal eine Party für Lena auf die Beine stellen?«

Wie aus der Pistole geschossen antwortete Macon: »Hoffentlich nie.«

Lena machte ein langes Gesicht. Ich hatte recht gehabt. Sie wollte dabei sein, selbst wenn alles nur Schein war. So wie damals auf dem Ball oder beim Basketballspiel. Das war der eigentliche Grund, weshalb sie gern zur Schule ging, egal wie schrecklich man sie dort auch behandelte. Deshalb kam sie Tag für Tag wieder, auch wenn sie auf der Tribüne essen und im Niemandsland sitzen musste. Sie war sechzehn, Caster hin oder her. Nur eine Nacht lang ein normales Mädchen sein – mehr wollte sie nicht.

Es gab nur noch eine Person, die genauso stur war wie Macon. Und so wie ich Lena kannte, hatte ihr Onkel nicht die geringste Chance gegen sie, nicht heute Abend.

Sie ging zu Macon und hakte sich bei ihm unter. »Ich weiß, es klingt verrückt, Onkel M, aber darf ich zu der Party gehen, nur für ein paar Minuten? Nur um Links Band zu hören?«

Ich wartete darauf, dass sich ihr Haar kräuselte, wartete auf die Caster-Brise. Aber es tat sich nichts. Da war keinerlei Magie im Spiel. Es war etwas völlig anderes. Lena konnte sich nicht aus Macons Obhut wegwünschen. Sie musste auf einen viel älteren, viel mächtigeren Zauber zurückgreifen, einen Zauber, der seine Wirkung auf Macon noch nie verfehlt hatte, seit sie nach Ravenwood gezogen war. Auf die gute alte Liebe.

»Warum willst du zu diesen Leuten gehen, nach allem, was sie dir angetan haben?« Seine Stimme wurde sanft.

»Ich habe meine Meinung nicht geändert, Onkel. Ich will nichts mit diesen Mädchen zu tun haben. Aber ich möchte trotzdem auf die Party gehen.«

»Das ist doch Unsinn«, sagte Macon entnervt.

»Ja. Und ich weiß, es ist dumm, aber ich möchte wenigstens einmal ein ganz normales Mädchen sein. Ich möchte einmal auf eine Party gehen, ohne gleich das ganze Fest platzen zu lassen. Ich möchte einmal zu einer Party gehen, zu der ich tatsächlich auch eingeladen bin. Ich weiß, dass Ridley dahintersteckt, aber was ist denn Schlimmes dabei, wenn mir das egal ist?« Sie sah zu ihm hoch und kaute auf ihrer Unterlippe.

»Ich kann es dir nicht erlauben, selbst wenn ich wollte. Es ist viel zu gefährlich.«

Ihre Blicke kreuzten sich. »Ethan und ich haben es nicht einmal bis zum ersten Tanz geschafft, Onkel M. Das hast du selbst gesagt.«

Einen Augenblick lang schien es, als würde Macon nachgeben, aber nur einen Augenblick lang. »Was ich nicht gesagt habe, ist dies: Gewöhne dich daran. Ich bin keinen einzigen Tag lang in eine Schule gegangen, geschweige denn am Sonntagnachmittag durch die Stadt spaziert. Wir alle haben Entbehrungen hinnehmen müssen.«

Lena spielte die Trumpfkarte. »Heute ist doch mein Geburtstag. Heute könnte alles Mögliche passieren. Es ist vielleicht die letzte Gelegenheit, um …« Der Rest des Satzes blieb unausgesprochen.

Um mit meinem Freund zu tanzen. Um ich selbst zu sein. Um glücklich zu sein. Sie musste es nicht aussprechen. Wir wussten es alle.

»Lena, ich kann verstehen, wie dir zumute ist, aber ich bin für deine Sicherheit verantwortlich. Heute Abend musst du hier bei mir bleiben. Die Sterblichen bringen dich in Gefahr oder fügen dir Leid zu. Du kannst kein Mädchen sein wie jedes andere. Du bist nicht dafür geschaffen, zu sein wie gewöhnliche Menschen.« So hatte Macon noch nie mit Lena gesprochen. Und ich wusste nicht genau, ob er damit die Party meinte oder mich.

Lenas Augen schimmerten feucht, aber sie weinte nicht. »Warum nicht? Was ist so falsch daran, wenn ich mir wünsche, was alle anderen auch haben? Ist dir schon jemals der Gedanke gekommen, dass sie womöglich recht haben?«

»Und wenn schon? Was spielt das für eine Rolle? Du bist eine Naturgeborene. Eines Tages wirst du an einen Ort gehen, wohin dir Ethan niemals folgen kann. Und jede Minute, die ihr jetzt gemeinsam verbringt, wird dann zu einer Last werden, die du dein ganzes Leben lang tragen musst.«

»Er ist keine Last.«

»Oh, doch, das ist er. Er macht dich schwach und das macht ihn gefährlich.«

»Er macht mich stark und das ist eine Gefahr für dich.«

Ich trat zwischen die beiden. »Mr Ravenwood, bitte. Tun Sie ihr das heute Abend nicht an.«

Aber es war zu spät, Lena kochte vor Wut. »Was weißt du schon davon? Dich hat nie eine Beziehung zu einem anderen Menschen belastet, du hattest ja nie Freunde. Du verstehst rein gar nichts. Wie auch? Du schläfst den ganzen Tag in deinem Zimmer und in der Nacht bläst du Trübsal in der Bibliothek. Du hasst alle, und du glaubst, du bist allen überlegen. Du hast nie jemanden wirklich geliebt, woher willst du also wissen, wie mir zumute ist?«

Sie kehrte Macon, kehrte uns allen den Rücken zu und rannte die Treppe hinauf. Boo trottete hinter ihr her. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer fiel krachend ins Schloss, das Geräusch hallte bis zu uns herunter. Boo ließ sich vor ihrer Tür nieder.

Macon starrte ihr nach, obwohl sie schon längst verschwunden war. Langsam drehte er sich zu mir um. »Ich konnte es ihr nicht erlauben. Ich bin sicher, du verstehst das.« Ich wusste, dass diese Nacht wahrscheinlich die gefährlichste in Lenas Leben war, aber ich wusste ebenfalls, dass heute vielleicht die letzte Gelegenheit für sie war, das Mädchen zu sein, das wir alle so liebten. Ja, ich hatte verstanden. Ich wollte jetzt nur nicht mit ihm im selben Zimmer sein.

Link drängte sich durch den Pulk der Wartenden nach vorn. »Feiern wir jetzt ’ne Party oder nicht?«

Larkin fasste ihn an der Jacke. »Die Party läuft doch schon längst. Lasst uns rausgehen. Wir feiern für Lena.«

Emily drängelte sich neben Larkin und alle folgten ihm nach draußen. Ridley stand immer noch in der Tür. Sie sah mich an und zuckte die Schultern. »Ich hab’s zumindest versucht.«

An der Tür wartete Link auf mich. »Ethan, komm schon, Mann. Gehen wir.«

Ich sah zurück zur Treppe. Lena?

»Nein, Link, ich bleibe hier.«

Gramma legte ihr Strickzeug beiseite. »Ich weiß nicht, ob sie so bald wiederkommt, Ethan. Warum gehst du nicht mit deinen Freunden und siehst in ein paar Minuten wieder nach ihr?« Aber ich wollte nicht gehen. Dies war vielleicht die letzte Nacht, die wir gemeinsam verbringen konnten. Und selbst wenn wir diese Nacht eingesperrt in Lenas Zimmer verbringen mussten, ich wollte einfach bei ihr sein.

»Hör dir wenigstens meinen neuen Song an, Mann. Dann kannst du ja wieder reingehen und warten, bis sie runterkommt.« Link hatte seine Drumsticks schon in der Hand.

»Ich glaube, das wäre das Beste.« Macon schenkte sich noch einen Scotch ein. »Du kannst nach einer kleinen Weile wieder zurückkommen, aber in der Zwischenzeit müssen wir hier noch ein paar Dinge besprechen.« Das war unmissverständlich. Er warf mich hinaus.

»Nur für einen Song. Dann warte ich vor dem Haus.« Ich sah Macon an. »Aber nur eine kleine Weile.«

Das Feld hinter Ravenwood wimmelte von Menschen. An einer Seite war eine provisorische Bühne aufgebaut worden, mit den tragbaren Scheinwerfern, die sie auch für die Nachtvorführung der Schlacht von Honey Hill benutzten. Die Musik dröhnte aus den Lautsprechern und vermischte sich mit dem Kanonendonner aus der Ferne.

Ich folgte Link zur Bühne, wo die Holy Rollers sich gerade bereit machten. Sie waren zu dritt und sie sahen aus wie dreißig. Der Typ, der gerade an seinem Gitarrenverstärker herumdrehte, hatte Tattoos an beiden Armen, und um seinen Hals hing etwas, das wie eine Fahrradkette aussah. Der Bassist hatte eine schwarz gefärbte Igelfrisur, die zu dem schwarzen Make-up um seine Augen passte. Der Dritte hatte so viele Piercings, dass es einem schon wehtat, wenn man ihn nur anschaute. Ridley sprang mit einem Satz auf die Bühne, setzte sich vorne an die Kante und winkte Link zu.

»Warte nur, bis wir spielen. Das fetzt. Ich wünschte nur, Lena wäre hier.«

»Wenn das so ist, dann will ich euch nicht enttäuschen.«

Lena stand plötzlich hinter uns und schlang die Arme um meine Taille. Ihre Augen waren rot geweint und noch voller Tränen, aber in der Dunkelheit sah sie aus wie all die anderen hier.

»Was ist los? Hat dein Onkel seine Meinung geändert?«

»Nicht direkt. Aber was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß, und selbst wenn, es macht mir nichts aus. Er ist einfach unausstehlich heute Abend.«

Ich sagte nichts dazu. Ich würde die Beziehung zwischen ihr und Macon genauso wenig verstehen, wie sie die Beziehung zwischen Amma und mir verstand. Aber ich wusste, sie würde sich elend fühlen, wenn dies alles hier vorüber war. Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand etwas Böses über ihren Onkel sagte, nicht einmal ich durfte das. Dass nun ausgerechnet sie schlecht vom ihm sprach, machte die Sache nur noch schlimmer.

»Bist du ausgebüxt?«

»Ja, Larkin hat mir dabei geholfen.« Larkin kam auf uns zu, in der Hand einen Plastikbecher. »Man wird schließlich nur einmal sechzehn.«

Das war keine gute Idee, L.

Ich möchte ein einziges Mal tanzen. Dann gehen wir wieder zurück.

Link stapfte Richtung Bühne. »Ich habe dir zu deinem Geburtstag einen Song geschrieben, Lena. Er wird dir gefallen.«

»Wie heißt er denn?«, fragte ich misstrauisch.

»Sixteen Moons. Erinnerst du dich? Dieser verrückte Song, den du nie auf deinem iPod finden konntest. Letzte Woche kam er mir auf einmal wieder in den Sinn, alle Strophen waren plötzlich da. Na ja, um ehrlich zu sein, Ridley hat ein bisschen geholfen.« Er grinste. »Man könnte auch sagen: Ich hatte eine Muse.«

Mir verschlug es die Sprache. Aber Lena nahm mich bei der Hand, und Link schnappte sich das Mikrofon, es gab nichts, was ihn jetzt noch aufhalten konnte. Er richtete sein Mikro so ein, dass es sich direkt vor seinem Mund befand. Genauer gesagt war es eher in seinem Mund und es sah ziemlich widerlich aus. Offenbar hatte Link bei Earl zu viel MTV geschaut. Eines musste man ihm lassen, Mut hatte er – besonders in Anbetracht dessen, dass er in Kürze von der Bühne gebuht werden würde, egal wie »heilig« sie waren oder auch nicht. Alles in allem schlug er sich sehr tapfer.

Er schloss die Augen, setzte sich hinter sein Schlagzeug und verharrte reglos mit den Sticks in der Hand. »Eins, zwei, drei.«

Der Lead-Gitarrist, der mürrische Typ mit der Fahrradkette, schlug einen Ton auf der Gitarre an. Es klang fürchterlich und die Verstärker auf beiden Seiten der Bühne jaulten auf. Ich zuckte zusammen, das würde ganz sicher kein Vergnügen werden. Dann spielte er noch einen Ton und noch einen.

»Meine Damen und Herren – falls hier überhaupt welche anwesend sind.« Link zog die Augenbrauen hoch und ein Lachen ging durch die Menge. »Zuerst einmal: Happy Birthday, Lena! Und jetzt klatscht alle mit, dann das ist die Weltpremiere meiner neuen Band, den Holy Rollers.«

Link zwinkerte Ridley zu. Hielt er sich für Mick Jagger oder was? Er konnte einem fast leidtun. Ich nahm Lena bei der Hand. Es fühlte sich an, als hätte ich meine Hand in einen See getaucht, im Winter, wenn die Sonne die Wasseroberfläche erwärmt und ein paar Zentimeter darunter das blanke Eis beginnt. Ich fröstelte, aber ich ließ ihre Hand nicht los. »Ich hoffe, du stehst das durch. Er geht gleich mit Pauken und Trompeten unter. In fünf Minuten sind wir wieder in deinem Zimmer, da kannst du Gift drauf nehmen.«

Sie betrachtete Link gedankenverloren. »Da bin ich mir nicht so sicher.«

Ridley setzte sich am Rand der Bühne zurecht, lächelte und winkte wie ein Groupie. Ihr Haar kräuselte sich im Wind, pinkfarbene und blonde Strähnchen flatterten über ihren Schultern.

Dann hörte ich die vertraute Melodie, Sixteen Moons dröhnte aus den Lautsprechern. Nur diesmal hörte es sich nicht wie die typischen Songs von Links Demo-Bändern an. Sie spielten gut, richtig gut. Das Publikum raste, so als würde nun endlich die ausgefallene Fete der Jackson High nachgeholt werden, nur eben auf einer Wiese, mitten auf Ravenwood, der berüchtigtsten und gefürchtetsten Plantage in ganz Gatlin und Umgebung. Es war total verrückt, was da abging, die Stimmung kochte über. Alle tanzten, und viele sangen mit, was irre war, denn niemand hatte den Song zuvor gehört. Es entlockte Lena ein Lächeln, und wir bewegten uns im Takt mit den anderen, so mitreißend war es.

»Sie spielen unser Lied.« Sie suchte meine Hand.

»Ich habe gerade das Gleiche gedacht.«

»Ich weiß.« Sie schlang ihre Finger in meine und sofort liefen Schauer über meinen Körper. »Sie sind wirklich gut«, rief sie laut über die Menge hinweg.

»Gut? Sie sind großartig! Großartig wie der großartigste Tag in Links Leben.« Das Ganze war total abgefahren, die Holy Rollers, Link, die Party, nicht zu vergessen Lenas Cousine, die am Rand der Bühne herumhüpfte und dabei an ihrem Ridleypop lutschte. Es war zwar nicht das Verrückteste, was ich heute gesehen hatte, aber immerhin.

Später tanzten Lena und ich. Es wurden fünf Minuten, fünfundzwanzig, dann fünfundfünfzig und keiner von uns beiden scherte sich darum, wir bemerkten es nicht mal. Wir ließen die Zeit stillstehen – jedenfalls kam es uns so vor. Wir tanzten nur einen Tanz, aber wir wollten, dass er so lange wie möglich dauerte, falls er alles war, was uns beiden blieb.

Larkin hatte ebenfalls keine Eile. Er stand in der Nähe eines der Feuer, die irgendjemand in ein paar alten Abfalltonnen angezündet hatte, und fummelte an Emily herum. Emily hatte Larkins Jacke angezogen und ab und zu schob er die Jacke über ihre Schulter zurück und leckte ihr über den Hals oder sonst irgendetwas Widerliches. Er war wirklich eine Schlange.

»Larkin! Sie ist sechzehn, vergiss das nicht«, rief Lena. Larkin streckte ihr die Zunge raus, die tatsächlich viel länger war als die Zunge jedes Sterblichen.

Emily schien nichts davon zu bemerken. Sie riss sich von Larkin los und winkte Savannah zu sich, die hinter ihr zusammen mit Charlotte und Eden tanzte. »Kommt mal her. Jetzt geben wir Lena das Geschenk.«

Savannah griff in ihre kleine Silbertasche und holte ein kleines silbernes Päckchen mit einem silbernen Bändchen hervor. »Es ist nur eine Kleinigkeit«, sagte sie und hielt es Lena hin.

»So was braucht jedes Mädchen«, nuschelte Emily.

»Metallic passt zu allem.« Eden hätte am liebsten selbst das Papier aufgerissen.

»Gerade groß genug für dein Handy und deinen Lipgloss«, sagte Charlotte und drückte es Lena in die Hand. »Komm schon. Mach’s auf.«

Lena nahm das Päckchen und lächelte. »Savannah, Emily, Eden, Charlotte. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viel mir das bedeutet.« Lenas Ironie perlte vollkommen an den vieren ab. Ich wusste genau, was in dem Päckchen war und was es für Lena bedeutete.

Dümmer geht’s ja wohl kaum noch.

Lena konnte mir nicht in die Augen sehen, sonst hätten wir beide vor Lachen losgeprustet. Als wir uns wieder unter die Tanzenden gemischt hatten, warf Lena das silberne Päckchen ins Feuer. Die orangeroten Flammen fraßen sich durch die Verpackung, bis das metallicfarbene Täschchen sich in Rauch und Asche aufgelöst hatte.

Die Holy Rollers machten eine Pause, und Link kam zu uns herüber, um sich im Glanz seines musikalischen Debüts zu sonnen. »Ich hab euch ja gesagt, dass wir gut sind. Wir stehen ganz kurz vor einem Plattenvertrag.« Link stieß mir den Ellbogen in die Seite, ganz wie in alten Zeiten.

»Du hast recht gehabt, Mann. Ihr seid fantastisch.« Ich musste ihm das einfach sagen, auch wenn der Lolli einen wesentlichen Anteil an dem Erfolg hatte.

Savannah pirschte sich heran, vermutlich um Link die gute Laune zu verderben. »Hey, Link.« Sie klimperte mit den Wimpern.

»Hey, Savannah.«

»Meinst du, du könntest einen Tanz für mich freihalten?« Es war unglaublich. Sie stand da und himmelte ihn an wie einen Rockstar. »Ich weiß gar nicht, wie ich das verkraften soll, wenn du mich abweist.« Sie schenkte ihm ein strahlendes Eisköniginnenlächeln. Ich kam mir vor, als sei ich aus Versehen in einem von Links Träumen gelandet – oder einem von Ridleys.

Wenn man vom Teufel sprach. »Hände weg, Ballkönigin. Das ist mein heißes Eisen.« Ridley schlang ihren Arm und ein paar andere wichtige Körperteile um Link, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

»Tut mir leid, Savannah. Vielleicht ein andermal.« Link steckte seine Drumsticks in die hintere Hosentasche und ging auf die Tanzfläche, zurück zu Ridley und ihrem nicht jugendfreien Tanz. Dies war sicher der größte Augenblick in seinem ganzen Leben. Man hätte meinen können, heute sei sein Geburtstag.

Als der Song zu Ende war, sprang er wieder auf die Bühne. »Wir haben noch ein Lied, das eine gute Freundin von mir geschrieben hat, es ist ein paar ganz besonderen Leuten von der Jackson High gewidmet. Ihr wisst selbst, wer gemeint ist.« Auf der Bühne wurde es dunkel. Link zog den Reißverschluss seines Kapuzensweatshirts auf und mit einem Gitarrenakkord gingen die Lichter wieder an. Er präsentierte sich in einem Jackson-Angels-T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln; er sah damit genauso lächerlich aus, wie er beabsichtigt hatte. Wenn seine Mutter ihn jetzt sehen könnte.

Er beugte sich zum Mikrofon und wirkte einen Zauber ganz eigener Art.

»Fallin’ angels all around me

Misery spreads misery

Your broken arrows are killin’ me.

Why can’t you see?

The thing you hate becomes your fate

Your destiny, Fallen Angel.«

Es war Lenas Song – das Lied, das sie für Link geschrieben hatte.

Als die Musik immer lauter wurde, bewegten sich alle rachezürnenden Engel zu den Tönen der Hymne, die sich gegen sie richtete. Vielleicht war Ridley an allem schuld, vielleicht auch nicht. Aber als der Song zu Ende war und Link sein geflügeltes T-Shirt ins Feuer warf, kam es mir so vor, als gingen mit dem T-Shirt auch noch ein paar andere Dinge in Flammen auf. Alles, was so schwer war, was wir für unüberwindlich gehalten hatten, schien sich ebenfalls in Rauch aufzulösen. Lange nachdem die Holy Rollers aufgehört hatten zu spielen, als Ridley und Link wie vom Erdboden verschluckt schienen, als Savannah und Emily immer noch nett zu Lena waren und plötzlich alle von der Basketballmannschaft wieder mit mir sprachen, sah ich mich suchend nach einem Zeichen um, einem Lolli, irgendwas. Nach dem einen verräterischen losen Faden, an dem sich der ganze Pullover aufdröseln konnte.

Aber da war nichts. Nur der Mond, die Sterne, die Musik, die Lichter und die Leute. Lena und ich tanzten nicht mehr, wir hielten uns einfach eng umschlungen, wiegten uns vor und zurück. Hitze und Kälte, Spannung und Angst strömten gleichzeitig durch meine Adern. Solange noch Musik spielte, waren wir in unserer eigenen kleinen Welt geborgen. Wir waren zwar nicht allein in unserer Höhle unter Lenas Bettdecke, aber es war immer noch perfekt.

Lena zog sich sanft zurück, so wie sie es immer machte, wenn sie über etwas nachdachte, und schaute zu mir hoch. Sie starrte mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal.

»Was ist los?«

»Nichts. Ich …« Sie kaute nervös auf der Unterlippe, dann holte sie tief Luft. »Es ist nur … es gibt etwas, das ich dir sagen möchte.«

Ich versuchte, ihre Gedanken zu lesen, ihren Gesichtsausdruck, was auch immer. Ich fing nämlich an, mich wie damals in der Woche vor den Weihnachtsferien zu fühlen, als wir in der großen Halle der Jackson High standen und nicht hier auf dem Feld in Greenbrier. Ich hatte meine Arme immer noch um Lenas Taille geschlungen und musste mich beherrschen, sie nicht noch fester an mich zu ziehen, damit sie nur ja nicht davonlaufen konnte.

»Was ist? Du kannst mir alles sagen.«

Sie legte die Hände auf meine Brust. »Falls heute Nacht etwas passiert, dann möchte ich, dass du weißt …«

Sie sah mir in die Augen, und ich hörte es so deutlich, als hätte sie es mir ins Ohr gesagt. Nur dass es so noch viel mehr bedeutete, als wenn sie es laut ausgesprochen hätte. Sie sagte es auf die einzige Art und Weise, die für uns je wichtig gewesen war. So hatten wir uns am Anfang gefunden und so waren wir immer wieder zueinander zurückgekehrt.

Ich liebe dich, Ethan.

Einen Augenblick lang wusste ich nicht, was ich sagen sollte, mir schien es nicht zu reichen, einfach nur mit »Ich liebe dich« zu antworten. Natürlich sagte ich nichts von dem, was ich ihr eigentlich sagen wollte – nämlich dass sie mich vor dieser Stadt gerettet hatte, vor meinem Leben, vor meinem Vater, vor mir selbst. Können drei Worte das alles ausdrücken? Sie können es nicht, aber ich sagte sie trotzdem, denn es war die Wahrheit.

Ich liebe dich auch, L. Ich glaube, ich habe dich schon immer geliebt.

Sie schmiegte sich wieder an mich, lehnte den Kopf gegen meine Schulter und ich spürte die Wärme ihres Haares auf meiner Haut. Und ich fühlte noch etwas anderes. Da war dieser Teil von ihr, von dem ich geglaubt hatte, ich würde ihn nie erreichen, der Teil, den sie vor der ganzen Welt verschlossen hielt. Ich spürte, wie dieser Teil sich öffnete, gerade so lange, um mich hineinzulassen. Sie schenkte mir dieses Stück von sich selbst, das Einzige, was wirklich ihr gehörte. Ich wollte dieses Gefühl festhalten, diesen Augenblick, wie einen Schnappschuss, den ich jederzeit hervorholen konnte.

Ich wollte, dass es immer so bliebe.

Immer hieß, wie sich herausstellte, genau fünf Minuten.