Greenbrier
12.9.
Nein, tu’s nicht.
Ich hörte ihre Stimme in meinem Kopf. Wenigstens glaubte ich das.
Das ist es nicht wert, Ethan.
Das war es doch wert.
Entschlossen stieß ich den Stuhl weg und rannte durch die Aula hinter ihr her. Mir war klar, was ich soeben getan hatte. Ich hatte Stellung bezogen. Ich würde Ärger bekommen, aber das störte mich nicht.
Es ging nicht nur um Lena. Sie war auch nicht die Erste. So hatten sie es schon immer gemacht, jedenfalls solange ich mich erinnern konnte. So hatten sie es mit Allison Birch gemacht, als ihr Hautausschlag so schlimm wurde, dass beim Mittagessen niemand neben ihr sitzen wollte, und mit dem armen Scooter Richman, der der schlechteste Trombone-Spieler gewesen war, der je im Orchester der Jackson High gespielt hatte.
Ich selbst hatte zwar nie einen Filzstift genommen und Loser quer über den Garderobenschrank geschrieben, aber ich war danebengestanden und hatte zugesehen, und das nicht nur einmal. Klar, es hatte mich immer geärgert. Aber doch nicht so sehr, dass ich den Raum verlassen hätte.
Aber irgendjemand musste etwas dagegen unternehmen. Eine Schule konnte einen Menschen nicht einfach so niedermachen. Eine Stadt konnte eine Familie nicht einfach so niedermachen. Außer dass sie das sehr wohl konnten, denn sie hatten es ja schon immer so gemacht. Vielleicht war das der Grund, weshalb Macon Ravenwood sein Haus seit einer halben Ewigkeit nicht mehr verlassen hatte.
Ich wusste also genau, worauf ich mich einließ.
Das weißt du nicht. Du denkst es bloß, aber du weißt es nicht.
Da war sie wieder, die Stimme in meinem Kopf.
Ich ahnte, was mir am nächsten Tag bevorstand, aber das war mir egal. Für mich zählte nur eines: Ich musste Lena finden. Dabei hätte ich gar nicht so genau sagen können, ob ich das meinetwegen oder ihretwegen tat. Es spielte keine Rolle, denn ich hatte keine andere Wahl.
Atemlos blieb ich vor dem Biosaal stehen. Ein kurzer Blick genügte, und Link warf mir seine Autoschlüssel zu, kopfschüttelnd und ohne lange zu fragen. Ich fing sie auf und rannte weiter. Ich war mir ziemlich sicher, wo ich sie finden würde. Wenn ich recht hatte, dann war sie da hingelaufen, wo alle hingelaufen wären. Wo ich hingelaufen wäre.
Sie war nach Hause gegangen. Selbst wenn das in ihrem Fall bedeutete, nach Ravenwood zu gehen, zu Gatlins Boo Radley.
Vor mir tauchte Ravenwood Manor auf. Wie eine Drohung erhob es sich auf dem Hügel. Ich konnte nicht behaupten, dass ich Angst hatte, denn das traf es nicht. Ich hatte Angst gehabt, als die Polizei an die Tür klopfte in jener Nacht, in der meine Mutter starb. Ich hatte Angst gehabt, als mein Dad sich in sein Arbeitszimmer verkroch und mir klar wurde, dass er niemals wieder richtig daraus hervorkommen würde. Ich hatte Angst gehabt, als ich noch klein war und Amma mit Geistern redete und ich herausfand, dass die Puppen, die sie machte, gar keine Spielzeuge waren.
Vor Ravenwood hatte ich keine Angst, selbst wenn es sich herausstellen sollte, dass das Haus tatsächlich so unheimlich war, wie man behauptete. Im Süden war das Unerklärliche eine Selbstverständlichkeit, in jeder Stadt gab es ein Spukhaus, und wenn man die Menschen fragte, dann schwor mindestens jeder Dritte Stein und Bein, er habe schon ein, zwei Geister in seinem Leben gesehen. Außerdem lebte ich mit Amma zusammen, die unter anderem daran glaubte, dass gespensterblau gestrichene Fensterläden die Geister abwehrten, und deren selbst angefertigte Amulette aus Pferdehaar und Dreck bestanden. Ich war an das Übernatürliche gewöhnt. Aber der alte Ravenwood – das war etwas ganz anderes.
Ich ging bis zum Tor und legte die Hand zögernd auf das verwitterte Eisen. Quietschend öffnete sich das Tor. Und dann passierte gar nichts. Kein Blitz, keine Stichflamme, kein Sturm. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber wenn ich inzwischen etwas von Lena gelernt hatte, dann war es, das Unerwartete zu erwarten und mit Vorsicht ans Werk zu gehen.
Wenn mir jemand vor einem Monat prophezeit hätte, dass ich eines Tages durch dieses Tor gehen, diesen Hügel hinaufsteigen und einen Fuß auf das Land des alten Ravenwood setzen würde, ich hätte ihn glatt für verrückt erklärt. In einer Stadt wie Gatlin, in der nie etwas Unvorhersehbares geschah, wie hätte ich da mit so etwas rechnen sollen? Beim letzten Mal war ich nur bis zum Tor gekommen. Je näher ich dem Haus kam, desto deutlicher wurde der Verfall. Das prächtige Ravenwood Manor sah genau so aus, wie sich die Menschen im Norden das Herrenhaus auf einer Plantage im Süden vorstellen, nachdem sie jahrelang Filme wie Vom Winde verweht gesehen haben.
Ravenwood Manor war immer noch beeindruckend, wenigstens was seine Größe anging. Eingerahmt von Palmen und Zypressen, hätte es einer jener Orte sein können, wo die Leute den ganzen Tag auf der Veranda sitzen, Mint Juleps trinken und Karten spielen. Wäre es nicht Ravenwood gewesen.
Das Haus war im klassizistischen Stil erbaut, was in Gatlin ungewöhnlich war. Überall in der Stadt standen Häuser im Südstaatenstil, Ravenwood in all seiner verfallenen Schönheit stach deshalb umso mehr hervor und war den Einheimischen ein Dorn im Auge. Große weiße dorische Säulen, von denen die Farbe abblätterte, weil sie jahrelang vernachlässigt worden waren, stützten ein Dach, das sich zu einer Seite neigte und dem Haus das Aussehen einer gebeugten, arthritischen alten Frau gab. Die überdachte Veranda zerfiel, sie löste sich vom Haus und drohte einzustürzen, falls man es wagte, auch nur einen Fuß auf sie zu setzen. Außen war das Haus so dicht mit Efeu überwuchert, dass man an manchen Stellen nicht einmal mehr die Fenster sah. Als ob der Grund das Haus langsam verschlingen wollte, um es in jene Erde hinabzuziehen, auf der es einst erbaut worden war.
Das Portal hatte einen überstehenden Türsturz, einen dicken Balken, wie man ihn nur noch bei wirklich alten Häusern findet. Er war mit Schnitzereien versehen. Irgendwelche Symbole. Sie sahen aus wie Kreise und Sicheln, vielleicht waren es die Mondphasen. Vorsichtig setzte ich einen Fuß auf die knarrende Treppe, um mir den Balken genauer anzusehen. Ich wusste ein bisschen was darüber. Meine Mutter war Geschichtsforscherin gewesen, sie hatte sich mit dem Bürgerkrieg beschäftigt und mir die Türstürze immer wieder gezeigt auf unseren ungezählten Pilgerfahrten zu allen historischen Stätten, die man an einem Tag von Gatlin aus erreichen konnte. Sie hatte gesagt, dass sie ganz typisch für alte Häuser und Burgen in England und Schottland waren. Und einige der Leute, die jetzt hier lebten, waren Engländer oder Schotten gewesen, bevor sie Hiesige wurden.
Aber ich hatte nie zuvor einen Türsturz mit Symbolen gesehen, sonst waren es immer nur Buchstaben gewesen. Die Zeichen sahen fast wie Hieroglyphen aus, die ein einzelnes Wort umrahmten, das aus einer mir unbekannten Sprache stammte. Wahrscheinlich hatten sie jenen Generationen, die hier lebten, ehe alles zerfiel, etwas bedeutet.
Ich holte tief Luft und ging, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Verandatreppe hinauf, nicht zuletzt weil ich mir ausrechnete, dass das Risiko durchzubrechen nur halb so groß war, wenn ich nur auf jede zweite Stufe trat. Ich griff nach dem Messingring, der aus einem Löwenmaul hing, und klopfte. Ich klopfte noch einmal und noch einmal. Sie war nicht zu Hause. Ich hatte mich getäuscht.
Aber dann hörte ich es, das vertraute Lied. Sixteen Moons. Irgendwo hier war sie.
Ich drückte die fleckige Türklinke. Sie ächzte, und ich hörte, wie sich auf der anderen Seite der Tür ein Riegel bewegte. Ich stellte mich darauf ein, Mr Macon Ravenwood gegenüberzustehen, den noch nie jemand in der Stadt gesehen hatte, wenigstens nicht zu meinen Lebzeiten. Aber die Tür ließ sich nicht öffnen.
Ich sah hoch zu dem Türsturz, und irgendetwas sagte mir: Probier’s einfach aus. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass sich die Tür nicht öffnen ließ. Ohne nachzudenken, griff ich nach oben und berührte das mittlere Zeichen, direkt über meinem Kopf. Der aufgehende Mond. Als ich darauf drückte, spürte ich, wie das Holz unter meinen Fingern nachgab. Es setzte einen Mechanismus in Gang.
Geräuschlos öffnete sich die Tür. Ich trat über die Schwelle. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Licht flutete durch die Fenster, was geradezu unglaublich war, wo doch die Scheiben von außen völlig mit Weinlaub und Schmutz bedeckt waren. Aber im Inneren war alles hell, strahlend und brandneu. Keine antiken Möbel oder Ölgemälde von den Vorfahren des alten Ravenwood, keine Erbstücke aus der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg. Dieses Haus hätte ebenso gut in einem Möbelhauskatalog abgebildet sein können. Keine plüschigen Sofas und Sessel, keine Tischchen mit Glasplatte, auf denen sich dekorative Bildbände stapelten. Alles war so modern, so neu. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn vor der Tür noch der Möbelwagen gestanden hätte.
»Lena?«
Die Wendeltreppe schien direkt bis ins Dachgeschoss zu führen; sie schraubte sich höher und höher, über den Treppenabsatz des ersten Stocks hinaus, ich konnte nicht sehen, wo sie endete.
»Mr Ravenwood?« Meine Stimme hallte von der hohen Decke wider. Niemand da, zumindest niemand, der mit mir reden wollte. Ich hörte ein Geräusch hinter mir und schreckte hoch, dabei wäre ich fast über einen Ledersessel gestolpert.
Es war ein pechschwarzer Hund, vielleicht sogar ein Wolf. Ein Furcht einflößendes Haustier mit einem dicken Lederhalsband um den Hals, von dem ein silberner Mond baumelte. Es starrte mich an, als plane es schon seinen Sprung. Seine Augen waren unheimlich, sie waren viel zu rund, viel zu menschlich.
Der Wolfshund knurrte mich an und fletschte die Zähne. Das Knurren wurde immer lauter und fast schrill, es klang wie ein Schrei.
Ich tat, was alle an meiner Stelle getan hätten.
Ich rannte.
Noch ehe sich meine Augen wieder ans Tageslicht gewöhnen konnten, stolperte ich bereits die Stufen hinunter. Ich lief und lief den Kiesweg entlang, weg von Ravenwood Manor, weg von dem fürchterlichen Haustier, den seltsamen Zeichen und der unheimlichen Tür, zurück in das sichere, matte Licht eines ganz normalen Nachmittags. Ein Pfad schlängelte sich zwischen verwahrlosten Feldern und verwilderten Wäldchen hindurch, die mit Dornensträuchern und Gestrüpp zugewachsen waren. Ich achtete nicht darauf, wohin der Weg mich führte, solange ich nur fort von dem Haus kam.
Schließlich blieb ich stehen. Ich beugte mich vor, stützte mich mit den Händen auf die Knie. Meine Brust war am Zerspringen, meine Beine waren weich wie Gummi. Als ich den Kopf hob, sah ich, dass ich mich vor einer bröckelnden Mauer befand. Sie war so hoch, dass gerade noch die Baumkronen hervorspitzten.
Ein vertrauter Duft wehte mir entgegen. Es roch nach Zitronen. Sie war hier.
Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht kommen.
Ich weiß.
Wir unterhielten uns, nur dass wir kein einziges Wort sprachen. Wie schon in der Schule hörte ich sie in meinem Kopf, als stünde sie neben mir und flüsterte mir ins Ohr.
Ich spürte, dass ich ihr näher kam. Hier war ein umfriedeter Garten, vielleicht sogar ein geheimer Garten, der aus einem der Bücher stammen könnte, die meine Mutter gelesen hatte, als sie in Savannah aufwuchs. Dieser Ort war schon sehr alt. An manchen Stellen war die Steinmauer brüchig, an anderen bereits eingefallen. Während ich mir einen Weg durch die dichten Ranken bahnte, die den alten Durchgang aus morschem Holz verbargen, hörte ich leises Weinen. Ich sah mich zwischen den Büschen und Bäumen um, aber ich fand sie immer noch nicht.
»Lena?« Niemand antwortete. Meine Stimme klang fremd, als sie von dem Gemäuer widerhallte. Ich riss einen Zweig von dem Strauch neben mir ab. Rosmarin. Natürlich. Und in dem Baum direkt über meinem Kopf sah ich sie: eine glatte gelbe Zitrone, perfekt gewachsen, wie aus dem Bilderbuch.
»Ich bin’s, Ethan.« Als das erstickte Schluchzen lauter wurde, wusste ich, dass ich die richtige Richtung eingeschlagen hatte.
»Ich hab dir doch gesagt, geh weg.« Sie klang dumpf, so als wäre sie erkältet; wahrscheinlich weinte sie schon, seit sie aus dem Klassenzimmer gelaufen war.
»Ich weiß, ich habe dich gehört.« Es stimmte, auch wenn ich es nicht erklären konnte. Langsam ging ich um den wilden Rosmarin herum und stolperte dabei über dicke Wurzeln.
»Wirklich?« Sie klang neugierig und war für einen Augenblick abgelenkt.
»Wirklich.« Es war wie in meinen Träumen, ich hörte ihre Stimme, nur dass Lena diesmal irgendwo in diesem verwahrlosten Garten weinte und nicht hilflos meinen Händen entglitt.
Ich schob ein Gewirr von Zweigen beiseite. Da war sie. Sie hatte sich im hohen Gras zusammengerollt und starrte in den Himmel. Einen Arm hatte sie über die Stirn gelegt, mit der anderen Hand hielt sie sich am Gras fest, als fürchtete sie wegzufliegen, sobald sie losließ. Ihr graues Kleid bauschte sich um ihren Körper, ihr Gesicht war tränenüberströmt.
»Warum hast du es dann nicht gemacht?«
»Was?«
»Warum bist du nicht weggegangen?«
»Ich wollte sehen, wie’s dir geht.« Ich setzte mich neben sie. Die Erde war unerwartet hart. Ich tastete den Boden unter mir ab und stellte fest, dass ich auf einer glatten Steinplatte saß, die in den feuchten Untergrund gesunken und völlig überwuchert war.
Als ich mich auf den Rücken legen wollte, setzte sie sich auf. Ich richtete mich auf und sie ließ sich wieder auf den Rücken fallen. Ungeschickt von mir. Aber in ihrer Gegenwart war ich das ja immer.
Jetzt lagen wir beide auf dem Rücken und schauten in den blauen Himmel. Er wechselte langsam ins Grau, die übliche Farbe hier in Gatlin während der Hurrikan-Saison.
»Alle hassen mich.«
»Nicht alle. Ich nicht. Und Link auch nicht, mein bester Freund.«
Schweigen.
»Du kennst mich doch gar nicht. Warte eine Weile, dann hasst du mich bestimmt auch.«
»Ich hätte dich beinahe überfahren, weißt du nicht mehr? Ich muss doch nett zu dir sein, damit du mich nicht einsperren lässt.«
Es war ein lahmer Witz. Aber da war es: das flüchtigste Lächeln, das ich je gesehen hatte.
»Das steht ganz oben auf meiner Liste. Ich werde dich bei dem fetten Kerl anzeigen, der den ganzen Tag vor dem Supermarkt herumlungert.« Sie blickte wieder zum Himmel hoch. Ich nicht, ich betrachtete sie.
»Gib ihnen eine Chance. Sie sind nicht alle so gemein. Zugegeben, im Moment sind sie es schon. Sie sind einfach neidisch. Das weißt du, oder?«
»Ja, sicher doch.«
»Sie sind neidisch, ganz bestimmt. Ich bin es auch.«
Sie schüttelte den Kopf. »Dann bist du verrückt. Es gibt nichts, worum man mich beneiden müsste, es sei denn, du bist scharf darauf, beim Essen immer alleine zu sitzen.«
»Du bist schon überall gewesen.«
Ihr Blick war ausdruckslos. »Na und? Du bist wahrscheinlich immer in dieselbe Schule gegangen und hast dein ganzes Leben lang im selben Haus gewohnt.«
»Genau. Und das ist mein Problem.«
»Glaub mir, das ist kein Problem. Mit Problemen kenne ich mich nämlich aus.«
»Du bist weit herumgekommen, hast viel gesehen. Ich würde wer weiß was dafür geben.«
»Ja, aber ich war immer allein. Du hast einen besten Freund. Ich habe einen Hund.«
»Aber du fürchtest dich vor niemandem. Du machst, was du willst, und du sagst, was du willst. Alle anderen hier haben Angst, sie selbst zu sein.«
Lena kratzte an dem schwarzen Nagellack an ihrem Zeigefinger. »Manchmal wünschte ich, ich wäre so wie alle anderen. Aber ich kann nicht aus meiner Haut. Ich hab’s versucht, aber ich ziehe nie die richtigen Klamotten an und sage immer das Falsche, irgendwas geht immer schief. Ich wünschte mir, ich könnte so sein, wie ich bin, und trotzdem Freunde haben, denen es nicht gleichgültig ist, ob ich in die Schule gehe oder nicht.«
»Glaub mir, es ist ihnen nicht gleichgültig. Heute war es ihnen jedenfalls alles andere als das.«
Sie lachte beinahe – aber nur beinahe. »Ich meine damit, dass es ihnen nicht egal ist, ob ich in der Schule bin oder nicht.«
Ich drehte den Kopf zur Seite. Mir ist es nicht egal.
Was?
Ob du in die Schule gehst oder nicht.
»Dann bist du tatsächlich verrückt.« Aber es klang, als lächle sie dabei, während sie dies sagte.
Ich brauchte sie nur anzusehen, und schon war es nicht mehr wichtig, ob ich noch einen Tisch hatte, an den ich mich mittags setzen konnte. Ich konnte nicht sagen, warum, aber sie und dieses überwältigende Gefühl waren wichtiger als alles andere. Ich hätte nicht tatenlos dasitzen und zusehen können, wie sie versuchten, sie fertigzumachen. Nicht sie.
»Weißt du, so ist es immer.« Sie redete zum Himmel. Eine Wolke schob sich vor das düster werdende Graublau.
»So bewölkt?«
»In der Schule. Für mich ist es immer so.« Sie machte eine leichte Handbewegung. Die Wolke schien in die Richtung zu verschwinden, in die sie gezeigt hatte. Sie fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen.
»Es ist mir eigentlich egal, ob sie mich mögen oder nicht. Ich möchte nur nicht, dass sie mich grundlos hassen.« Jetzt hatte die Wolke die Form eines Kreises angenommen.
»Diese Idioten? In ein paar Monaten bekommt Emily ein neues Auto, und Savannah wird die Ballkönigin und Eden wird ihr Haar wieder färben, und Charlotte wird, ach, ich weiß nicht was, vielleicht ein Baby kriegen oder ein Tattoo oder etwas anderes, und heute wird dann längst Geschichte sein.« Ich log und sie wusste das. Lena wedelte wieder mit der Hand. Nun sah die Wolke aus wie ein eingedellter Kreis und dann fast wie eine Mondsichel.
»Ich weiß selbst, dass sie Idioten sind. Natürlich sind sie das. Allein diese blond gefärbten Haare und diese dämlichen metallicfarbenen Täschchen.«
»Genau. Sie sind dämlich. Aber wen stört das schon?«
»Mich stört es. Sie ärgern mich. Und deshalb bin ich auch dämlich. Deshalb bin ich noch viel dämlicher als dämlich. Ich bin so dämlich, wie man nur dämlich sein kann.« Sie winkte mit der Hand. Der Mond zerstob im Wind.
»Das ist das Dämlichste, was ich je gehört habe.« Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie versuchte, ernst zu bleiben und nicht zu lächeln. Wir lagen eine Minute lang so da.
»Weißt du, was dämlich ist? Ich habe Bücher unter meinem Bett.« Ich sagte das einfach so, als hätte ich es schon oft gesagt.
»Welche denn?«
»Romane. Tolstoi. Salinger. Vonnegut. Und ich hab sie alle gelesen. Und zwar einfach, weil ich sie lesen wollte.«
Sie drehte sich auf den Bauch und stützte den Kopf auf den Ellenbogen. »Tatsächlich? Und was sagen deine Sportsfreunde dazu?«
»Na ja, ich behalte es für mich und kümmere mich dort nur um gute Würfe.«
»Ja, klar. In der Schule stehst du aber eher auf Comics.« Sie versuchte, es beiläufig klingen zu lassen. »Silver Surfer. Das hast du doch gelesen. Kurz bevor es passierte.«
Du hast das bemerkt?
Schon möglich.
Ich weiß nicht, ob wir wirklich miteinander sprachen oder ob ich mir das alles nur einbildete. Aber so verrückt war ich nun auch wieder nicht – noch nicht.
Sie wechselte das Thema, oder um genau zu sein, sie kam auf unser früheres Thema zurück. »Ich lese auch viel. Hauptsächlich Gedichte.«
Ich sah sie vor mir, wie sie ausgestreckt auf ihrem Bett lag und Gedichte las. Was ich mir weniger gut vorstellen konnte, war, dass das Bett in Ravenwood Manor stand. »Tatsächlich? Ich hab was von diesem Bukowski gelesen.« Was tatsächlich stimmte, wenn es auch nur zwei Gedichte waren.
»Ich habe alle Bücher von ihm.«
Ich wusste, dass sie über das, was geschehen war, nicht sprechen wollte, aber ich hielt es nicht mehr aus. Ich musste es wissen. »Erzählst du’s mir?«
»Was soll ich dir erzählen?«
»Was vorhin in der Schule passiert ist.«
Sie schwieg lange. Sie setzte sich auf, zupfte an den Grashalmen. Dann drehte sie sich wieder auf den Bauch und blickte mir in die Augen. Sie war nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Ich lag da wie erstarrt und versuchte, mich nur auf das zu konzentrieren, was sie sagte.
»Ich weiß nicht, solche Sachen stoßen mir einfach zu, manchmal jedenfalls. Ich habe keinen Einfluss darauf.«
»Wie in den Träumen.« Ich ließ sie nicht aus den Augen, forschte in ihrem Gesicht nach dem kleinsten Anzeichen des Erkennens.
»Ja, wie in den Träumen.« Sie sagte es, ohne darüber nachzudenken, dann zuckte sie zurück und sah mich erschrocken an. Ich hatte ins Schwarze getroffen.
»Du erinnerst dich an die Träume?«
Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen.
Ich setzte mich auf. »Ich wusste, dass du es warst, und du wusstest, dass ich es war. Du hast die ganze Zeit über gewusst, wovon ich rede.« Ich zog die Hände von ihrem Gesicht, es fühlte sich an, als liefe ein Stromschlag über meine Arme.
Du bist das Mädchen.
»Warum hast du gestern Abend nichts gesagt?«
Ich wollte nicht, dass du es weißt.
Sie sah mich nicht an.
»Warum?« Die Frage breitete sich durch den stillen Garten aus.
Als sie mich anblickte, war ihr Gesicht fahl, und sie sah anders aus, voller Angst. Ihre Augen waren wie das Meer vor einem Sturm an der Küste von Carolina.
»Ich habe nicht geglaubt, dass es dich wirklich gibt, Ethan. Ich dachte, es seien nur Träume. Ich wusste nicht, dass du ein Mensch aus Fleisch und Blut bist.«
»Aber als du es dann wusstest, warum hast du da nichts gesagt?«
»Mein Leben ist kompliziert. Ich wollte nicht, dass du – ich wollte nicht, dass irgendjemand mit hineingezogen wird.«
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprach. Ich hielt noch immer ihre Hand fest und nahm diese Berührung mit jeder Faser wahr. Ich spürte die harte Steinplatte unter uns und tastete nach der Kante, um mich abzustützen. Meine Hand umschloss etwas Kleines, Rundes, das daneben im Boden steckte. Ein Käfer, vielleicht war es auch ein Stein. Es löste sich und ich hielt es in der Hand.
Dann traf es uns wie eine Schockwelle. Ich spürte, wie Lena meine Hand fest umklammerte.
Was ist los, Ethan?
Ich weiß es nicht.
Alles um mich herum veränderte sich, ich schien plötzlich an einem anderen Ort zu sein. Ich war hier in diesem Garten, aber auch wieder nicht. Und der Geruch nach Zitronen verwandelte sich in Brandgeruch …
Es war Mitternacht, aber der Himmel brannte. Die Flammen schlugen hoch hinauf, trieben riesige Rauchwolken vor sich her, verschlangen alles, was sich ihnen in den Weg stellte, sogar den Mond. Die Erde hatte sich in ein Sumpfgebiet verwandelt; verbrannte Asche war auf einen Boden gefallen, den die Wolkenbrüche aufgeweicht hatten, die dem Feuer vorausgegangen waren. Wenn es doch nur heute auch geregnet hätte. Genevieve hustete und verschluckte sich. Der Rauch brannte in ihrer Kehle, jeder Atemzug tat weh. Schlamm klebte am Saum ihres Kleides, sie stolperte alle paar Schritte über den weiten Faltenwurf, aber sie zwang sich weiterzugehen.
Es war das Ende der Welt. Das Ende ihrer Welt.
Sie hörte die Schreie, dazwischen die Schüsse und das erbarmungslose Brüllen der Feuersbrunst. Sie hörte, wie die Soldaten die Befehle zum Töten gaben.
»Brennt die Häuser nieder. Die Rebellen sollen das ganze Ausmaß ihrer Niederlage spüren. Brennt alles nieder!«
Die Soldaten der Union hatten die Herrenhäuser auf den Plantagen in Brand gesteckt, eines nach dem anderen, mit ihren eigenen kerosingetränkten Bettlaken und Vorhängen. Genevieve musste mit ansehen, wie die Häuser ihrer Nachbarn, Freunde und Verwandten ein Raub der Flammen wurden. Und wenn es besonders schlimm kam, fielen auch die Menschen den Flammen zum Opfer, verbrannten bei lebendigem Leibe in den Häusern, in denen sie einst zur Welt gekommen waren.
Das war der Grund, weshalb sie rannte, durch den dichten Rauch, hinein in die Flammen, geradewegs auf den Schlund der Hölle zu. Sie musste Greenbrier noch vor den Soldaten erreichen. Und ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Die Männer gingen planvoll vor, entlang des Santee brannten sie ein Haus nach dem anderen nieder. Blackwell hatten sie schon eingeäschert, als Nächstes war Doves Crossing dran, dann Greenbrier und Ravenwood. General Sherman hatte mit dem Brandschatzen begonnen, als er noch Hunderte Meilen von Gatlin entfernt war. Sie hatten Columbia bis auf die Grundmauern niedergebrannt, von dort aus waren sie nach Osten marschiert und sengten alles nieder, was auf ihrem Weg lag. Als sie das Gebiet um Gatlin erreichten, wehte hier noch die Fahne der Konföderierten, und das war, als würde man zusätzlich Öl ins Feuer gießen.
Der Geruch sagte ihr, dass sie zu spät kam. Zitronen. Der zarte Geruch nach Zitronen, gemischt mit dem Geruch von Asche. Sie brannten schon die Zitronenbäume nieder.
Genevieves Mutter liebte Zitronen. Als ihr Vater eine Pflanzung in Georgia besucht hatte, damals war sie selbst noch ein kleines Mädchen gewesen, hatte er ihrer Mutter zwei Zitronenbäumchen mitgebracht. Alle sagten, sie würden verdorren und die kalten Winternächte in South Carolina nicht überleben. Aber Genevieves Mutter hörte nicht auf sie. Sie pflanzte die Bäumchen direkt vor das Baumwollfeld und kümmerte sich selbst um sie. In den kalten Winternächten deckte sie die Bäumchen mit Wolldecken zu und schützte sie am Rand mit Erde, damit die Feuchtigkeit von den Pflanzen ferngehalten wurde. Und tatsächlich gediehen sie. Sie gediehen so gut, dass Genevieves Vater im Lauf der Jahre noch achtundzwanzig weitere Bäume kaufte. Auch andere Frauen in der Stadt baten ihre Ehemänner darum, ihnen Zitronenbäume zu kaufen, und ein paar von ihnen bekamen tatsächlich ein, zwei Bäumchen. Aber keiner gelang es, sie am Leben zu erhalten. Nur in Greenbrier schienen diese Bäume zu gedeihen, unter der sorgsamen Hand ihrer Mutter.
Nichts hatte diese Bäume je zerstören können. Bis heute.
»Was war das? Was ist passiert?« Ich spürte, wie mir Lena ihre Hand entzog, und schlug die Augen auf. Sie zitterte. Ich öffnete die Finger, um den Gegenstand zu betrachten, den ich gedankenverloren unter dem Stein hervorgezogen hatte.
»Ich glaube, es hat etwas damit zu tun.« Ich hielt eine Kamee in der Hand, einen abgewetzten, alten Schmuckstein, er war schwarz und oval, darin eingelassen das Gesicht einer Frau in Elfenbein und Perlmutt. Die Oberseite war sorgfältig und fein gearbeitet. An der Seite bemerkte ich eine kleine Erhebung. »Sieh mal, das ist wohl ein Medaillon.«
Ich drückte auf die Feder, der Deckel des Schmuckstücks sprang auf und eine kleine Inschrift kam zum Vorschein. »Hier steht nur GREENBRIER. Und ein Datum.«
Sie setzte sich aufrecht hin. »Greenbrier?«
»Ich denke, wir sind hier auf Greenbrier. Dieser Grund und Boden gehört nicht mehr zu Ravenwood. Greenbrier ist die nächste Plantage nach Ravenwood.«
»Und diese Vision, das Feuer, hast du sie auch gesehen?«
Ich nickte. Es war fast zu schrecklich, um darüber zu sprechen. »Das hier muss Greenbrier sein oder zumindest das, was davon übrig geblieben ist.«
»Zeig mir das Medaillon.«
Ich reichte es ihr vorsichtig. Es sah aus, als hätte es schon so einiges mitgemacht, vielleicht sogar eine Feuersbrunst, wie wir sie gesehen hatten. Lena wendete es nach allen Seiten. »11. Februar 1865.« Sie ließ das Medaillon fallen und wurde blass.
»Was hast du denn?«
»Der 11. Februar ist mein Geburtstag.«
»So ein Zufall. Dann ist es ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk.«
»Nichts in meinem Leben ist ein Zufall«, sagte sie.
Ich hob das Medaillon auf und drehte es um. Auf der Rückseite waren Initialen eingraviert. »ECW & GKD. Einem von beiden muss dieses Medaillon gehört haben …« Ich hielt inne. »Das ist komisch. Meine Anfangsbuchstaben sind ELW.«
»Erst mein Geburtstag, jetzt auch noch deine Initialen. Meinst du nicht, dass dies ein bisschen mehr ist als nur Zufall?«
Vielleicht hatte sie recht. Und dennoch …
»Wir sollten es noch mal versuchen, vielleicht finden wir mehr heraus.« Es war wie ein Juckreiz, bei dem man sich kratzen musste.
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist es ja gefährlich. Ich hatte wirklich das Gefühl, mittendrin zu sein. Meine Augen brennen immer noch vom Rauch.«
Sie hatte recht. Wir hatten den Garten nicht verlassen, aber uns beiden war es so vorgekommen, als wären wir mitten zwischen den brennenden Häusern. Ich hatte selbst noch Rauch in den Lungen, aber das war mir jetzt egal. Ich musste Klarheit haben.
Ich hielt das Medaillon hoch und streckte die Hand aus. »Komm schon, du bist doch sonst so mutig.« Ich forderte sie heraus. Sie verdrehte die Augen, aber sie berührte das Medaillon. Ihre Finger stießen an meine Fingerspitzen, und ich spürte, wie die Wärme ihrer Hand auf meine Hand ausstrahlte. Es war wie eine elektrische Gänsehaut – oder wie sonst sollte man es beschreiben, dieses absolut unglaubliche Gefühl?
Ich schloss die Augen und wartete. Nichts passierte. Ich schlug die Augen wieder auf. »Vielleicht haben wir uns das alles auch nur eingebildet. Vielleicht ist die Batterie leer.«
Lena sah mich an, als wäre ich Earl Petty im Wiederholerkurs Algebra. »Vielleicht kann man einem Ding wie diesem nicht vorschreiben, wie und wann es etwas tun soll.« Sie stand auf und klopfte sich den Schmutz von den Kleidern. »Ich muss jetzt gehen.« Sie hielt inne und sah mich an. »Ich muss zugeben, du bist ganz anders, als ich dachte.« Dann drehte sie sich um und bahnte sich ihren Weg zwischen den Zitronenbäumen hindurch zum Rand des Gartens.
»Warte!«, rief ich ihr nach, aber sie ging einfach weiter. Ich wollte sie einholen und stolperte ungeschickt über das Wurzelwerk.
Als sie den letzten Zitronenbaum erreicht hatte, blieb sie stehen.
»Tu’s nicht.«
»Was soll ich nicht tun?«
Sie sah mich nicht an. »Lass mich in Ruhe, solange noch alles in Ordnung ist.«
»Ich versteh nicht, wovon du redest. Ganz im Ernst. Und dabei strenge ich mich wirklich an.«
»Vergiss das Ganze.«
»Du hältst dich wohl für den einzigen komplizierten Menschen auf der weiten Welt, was?«
»Nein. Aber es ist so etwas wie eine Spezialität von mir.« Sie wollte gehen. Ich zögerte einen Augenblick, dann legte ich die Hand auf ihre Schulter, die noch warm war von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Ich fühlte das Schlüsselbein unter ihrem T-Shirt, und in diesem Moment kam sie mir genauso zerbrechlich vor, wie sie in meinen Träumen gewesen war. Was merkwürdig war, denn wenn sie mich ansah, wirkte sie stark und unbeugsam. Vielleicht hatte es etwas mit diesen Augen zu tun.
Einen Moment lang standen wir nur da, bis sie schließlich nachgab und sich zu mir drehte. Ich wagte einen zweiten Versuch. »Schau, irgendetwas geht hier vor sich. Die Träume, das Lied, der Geruch und jetzt das Medaillon. Es ist, als müssten wir einfach Freunde sein.«
»Hast du gerade etwas von dem Geruch gesagt?« Sie sah mich verdattert an. »Im selben Satz, in dem du gesagt hast, wir müssten Freunde sein?«
»Na ja, genau genommen waren es zwei Sätze.«
Sie starrte auf meine Hand und ich nahm sie von ihrer Schulter. Aber ich konnte jetzt nicht lockerlassen. Ich sah ihr in die Augen, sah ihr ganz fest in die Augen, vielleicht zum ersten Mal überhaupt. Der grüne Abgrund schien viel zu tief zu sein, um ihn jemals zu überwinden, selbst wenn ich es ein ganzes Leben lang versuchte. Ich fragte mich, was Amma dazu sagen würde, die ja immer behauptete, die Augen seien die Fenster zur Seele.
Es ist schon zu spät, Lena. Du bist bereits meine Freundin.
Das darf aber nicht sein.
Wir stecken beide in dieser Sache drin.
Bitte, glaub mir, das tun wir nicht!
Sie wandte den Blick von mir ab und lehnte den Kopf an den Zitronenbaum. Sie sah elend aus. »Ich weiß, du bist nicht so wie die anderen. Aber es gibt Dinge, die mich betreffen, die du einfach nicht begreifen kannst. Ich weiß nicht, warum wir uns auf diese Weise verstehen. Ich weiß nicht, warum wir dieselben Träume haben, ich weiß es genauso wenig wie du.«
»Aber ich möchte wissen, was hier vor sich geht.«
»In fünf Monaten werde ich sechzehn.« Sie hielt die Hand mit der 151 hoch. »In hunderteinundfünfzig Tagen.« Es ging um ihren Geburtstag. Die wechselnden Ziffern auf ihrer Hand – sie zählten die Tage bis zu ihrem Geburtstag.
»Du weißt nicht, was das bedeutet, Ethan. Du weißt gar nichts. Nach diesem Tag bin ich vielleicht gar nicht mehr hier.«
»Jetzt bist du hier.«
Sie sah an mir vorbei nach Ravenwood hinauf. Auch als sie schließlich sprach, blickte sie mich nicht an. »Magst du Bukowski?«
»Ja«, antwortete ich verwirrt.
»Versuch es nicht.«
»Was meinst du damit?«
»Dieser Satz steht auf Bukowskis Grabstein.«
Sie schlüpfte durch ein Loch in der Mauer und war verschwunden. Fünf Monate. Ich wusste nicht, wovon sie sprach, aber ich kannte das Gefühl, das sich in meinem Inneren breitmachte. Man nannte es Panik.
Als ich es endlich bis zur Gartentür geschafft hatte, war Lena wie vom Erdboden verschwunden, nur der Duft nach Zitronen und Rosmarin lag noch in der Luft und erinnerte an sie. Das Merkwürdige daran war: Je öfter sie wegrannte, desto entschlossener war ich, ihr zu folgen.
Versuch es nicht.
Ich war mir ziemlich sicher, dass auf meinem Grabstein etwas anderes stehen würde.