1_022_13828_Garcia.tifDie Zusammenkunft

9.10.

Nachdem wir im Cineplex gewesen waren, dauerte es nicht lange. Die Nachricht, dass sich die Nichte des alten Ravenwood mit Ethan Wate traf, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Wenn ich nicht Ethan Wate gewesen wäre, »dessen Mutter erst vor einem Jahr gestorben ist«, dann wäre es wahrscheinlich noch schneller und mit mehr Häme zugegangen. Sogar die Jungs vom Basketballteam zerrissen sich die Mäuler. Sie brauchten nur ein wenig länger, bis sie etwas zu mir sagten, weil ich ihnen nicht gleich eine Gelegenheit dazu gab.

Ich war jemand, der mindestens dreimal am Tag essen musste, wollte er nicht verhungern – und trotzdem hatte ich seit dem Cineplex die Hälfte der Schulmahlzeiten ausgelassen, zumindest hatte ich nicht zusammen mit der Mannschaft gegessen. Aber ich konnte nicht ewig nur mit einem halben Sandwich auskommen, das ich hastig auf der Tribüne verdrückte, und die Zahl der Orte, an denen man sich verstecken konnte, war begrenzt.

Denn genau genommen konnte man sich nirgends verstecken. Die Jackson High war Gatlin im Westentaschenformat: Man konnte nirgendwohin gehen. Die Jungs hatten natürlich bemerkt, dass ich mich rar gemacht hatte. Wie gesagt, man musste zum Zählappell erscheinen. Wenn dabei ein Mädchen in die Quere kam, und erst recht dann, wenn dieses Mädchen nicht auf der Liste derer stand, die dazugehörten – und das wiederum bestimmten Savannah und Emily –, dann wurde es kompliziert.

Und wenn dieses Mädchen eine Ravenwood war, dann war die Sache nicht nur kompliziert, sondern so gut wie unmöglich.

Ich musste mich dem stellen. Es wurde Zeit, zum Angriff auf die Cafeteria überzugehen. Es spielte keine Rolle, dass wir eigentlich gar kein Paar waren. Wenn man in Jackson gemeinsam zu Mittag aß, konnte man ebenso gut auch gleich hinter dem Wasserturm parken. Alle dachten sofort das Schlimmste, oder besser gesagt, das Schärfste. Als Lena und ich zum ersten Mal gemeinsam die Cafeteria betraten, hätte sie fast an der Tür wieder kehrtgemacht. Ich musste sie an den Schultergurten ihres Rucksacks zurückhalten.

Sei nicht dumm. Es ist doch nur ein Mittagessen.

»Ich glaube, ich habe etwas in meinem Spind vergessen.« Sie drehte sich um, aber ich ließ ihren Rucksack nicht los.

Freunde essen nun mal gemeinsam zu Mittag.

Tun sie nicht. Wir tun’s nicht. Ich meine, jedenfalls nicht hier.

Ich nahm zwei orangefarbene Plastiktabletts. »Hier, das ist deines.« Ich hielt ein Tablett vor sie und legte eine kleine Pizzaecke darauf.

Jetzt tun wir’s aber doch, Angsthase.

Glaubst du nicht, dass ich das schon früher probiert hätte?

Aber nicht mit mir. Ich dachte, du wolltest, dass es nicht mehr so ist wie an deiner alten Schule.

Lena sah sich zweifelnd um. Sie holte tief Luft, dann stellte sie einen Teller mit Karotten und Sellerie auf mein Tablett.

Wenn du das isst, setze ich mich überallhin, wo du willst.

Ich starrte auf die Karotten, dann sah ich mich in der Cafeteria um. Die Jungs saßen schon an unserem üblichen Tisch.

Überall?

Wäre das Ganze ein Film gewesen, dann hätten wir uns an den Tisch zu den Jungs gesetzt, und die Jungs hätten eine wertvolle Lektion gelernt, zum Beispiel, dass man Menschen nicht nach ihrem Aussehen beurteilen soll, oder dass es nichts ausmacht, wenn jemand anders ist als die anderen. Und Lena hätte gelernt, dass nicht alle Sportskanonen dumm und hohl sind. In den Filmen klappte so etwas immer, aber dies war kein Film. Dies war Gatlin und in Gatlin waren die Möglichkeiten beschränkt. Als ich auf den Tisch zugehen wollte, fing ich Links Blick auf. Er schüttelte den Kopf, als wollte er mir sagen: auf gar keinen Fall, Mann. Lena ging ein paar Schritte hinter mir, bereit, jeden Augenblick wegzurennen. Langsam dämmerte mir, worauf es hinauslaufen würde; jedenfalls würde ganz bestimmt niemand etwas Wertvolles dabei lernen. Ich wollte gerade wieder kehrtmachen, da sah Earl zu mir herüber.

Dieser eine Blick sagte alles. Er sagte, wenn du sie hierherbringst, dann bist du erledigt.

Lena muss den Blick ebenfalls gesehen haben, denn als ich mich zu ihr umdrehte, war sie verschwunden.

Tags darauf wurde Earl dazu auserkoren, nach dem Training mit mir zu reden, was ziemlich komisch war, denn Reden war noch nie sein Ding gewesen. Er setzte sich auf die Bank vor meinem Spind in der Turnhalle. Mir war sofort klar, dass es eine abgekartete Sache war, denn er war allein, und Earl Petty war so gut wie nie allein. Er kam ohne Umschweife zur Sache. »Lass es sein, Wate.«

»Ich tu doch gar nichts.« Ich blickte nicht von meinem Spind auf.

»Krieg dich wieder ein. Das bist nicht du.«

»Ach ja? Und wenn doch?« Ich zog mein Transformers-T-Shirt über.

»Den Jungs gefällt das nicht. Wenn du diesen Weg gehst, gibt’s kein Zurück.«

Wäre Lena in der Cafeteria nicht geflüchtet, hätte Earl längst begriffen, dass es mir völlig gleichgültig war, was die anderen dachten. Dass es mir schon seit einer ganzen Weile gleichgültig war. Ich knallte die Spindtür zu, und er ging weg, ehe ich ihm sagen konnte, was ich von ihm und seinem kein Zurück mehr hielt.

Ich nahm an, dies war die letzte Warnung. Dabei konnte ich es Earl nicht mal verübeln. Denn in einem Punkt war ich seiner Meinung. Die Jungs hatten den einen Weg eingeschlagen, ich hatte den anderen gewählt. Was gab es da noch zu diskutieren?

Einzig und allein Link hielt noch unerschütterlich zu mir. Ich ging weiter zum Training und die Jungs warfen mir sogar Bälle zu. Ich spielte besser als je zuvor, egal was sie zu mir sagten, oder – wie immer öfter in der Umkleidekabine – nicht sagten. Wenn ich mit den Jungs zusammen war, versuchte ich, mir nicht anmerken zu lassen, dass ein Riss durch meine Welt ging, dass sogar der Himmel jetzt anders aussah für mich, dass es mich nicht interessierte, ob wir es bis in die Endspiele der Landesmeisterschaft schafften. Lena ging mir nicht mehr aus dem Kopf, egal wo ich war, egal mit wem ich zusammen war.

Natürlich verlor ich beim Training kein Wort darüber, auch heute nicht, als Link und ich auf unserem Nachhauseweg beim Stop & Steal vorbeifuhren, um zu tanken. Die Jungs vom Team waren auch da, und um Link einen Gefallen zu tun, versuchte ich, mich so zu benehmen wie alle anderen auch. Ich hatte den Mund voller Donuts mit Puderzucker, an denen ich fast erstickt wäre, als ich durch die Schiebetür wieder ins Freie trat.

Und da stand sie. Das zweithübscheste Mädchen, das ich je gesehen hatte.

Sie war vermutlich ein bisschen älter als ich, denn obwohl sie mir irgendwie bekannt vorkam, war sie nie an der Jackson High gewesen, jedenfalls nicht, seit ich dort war. Was das anging, war ich mir sicher. Sie gehörte ganz eindeutig zu den Mädchen, an die sich ein Junge erinnert. Aus ihrem Autoradio dröhnte eine Musik, die ich nie zuvor gehört hatte, und sie lümmelte hinter dem Lenkrad ihres schwarz-weißen Mini Cooper Cabrios, das so abenteuerlich geparkt war, dass es gleich zwei Parkplätze in Beschlag nahm. Anscheinend hatte sie die Begrenzungslinien nicht gesehen oder es war ihr egal. Sie saugte an einem Lolli, als wäre es eine Zigarette, und seine kirschrote Farbe ließ ihren Schmollmund noch röter erscheinen.

Sie musterte uns und drehte die Musik noch lauter auf. Blitzschnell schwang sie ihre Beine über die Tür, und dann stand sie vor uns, den Lolli immer noch im Mund. »Frank Zappa. Drowning Witch. War ein bisschen vor eurer Zeit, Jungs.« Sie kam langsam näher, so als wollte sie uns genügend Zeit geben, sie von Kopf bis Fuß zu mustern, was wir, wie ich zugeben muss, auch taten.

Sie hatte langes blondes Haar. Auf einer Seite fiel ihr eine dichte pinkfarbene Strähne ins Gesicht, die länger war als der Rest ihres verwuschelten Ponys. Sie trug eine riesige schwarze Sonnenbrille und einen kurzen schwarzen Faltenrock wie ein Cheerleader aus der Gothic-Szene. Ihr superkurzes weißes Oberteil war so durchsichtig, dass man den schwarzen BH darunter sehen konnte und noch einiges mehr. Und es gab eine Menge zu sehen. Schwarze Motorradstiefel, einen Nabelring und ein Tattoo. Es war so eine Art schwarzes Tribaltattoo rings um den Nabel, aus der Entfernung konnte ich es nicht genau erkennen, außerdem wollte ich nicht zu auffällig hinstarren.

»Ethan? Wer von euch ist Ethan Wate?«

Ich blieb wie angewurzelt stehen. Die halbe Basketballmannschaft rannte in mich hinein.

»Wieso denn der?« Shawn war genauso überrascht wie ich, als sie ausgerechnet meinen Namen rief. Sonst war er immer derjenige, der bei den Frauen Glück hatte.

»Ist die scharf.« Link gaffte sie mit offenem Mund an. »Eindeutig dritten Grades.«

Verbrennungen dritten Grades, das war das größte Kompliment, das Link einem Mädchen machen konnte. Das hatte bisher nicht einmal Savannah Snow geschafft.

»Sieht nach Stress aus.«

»Heiße Mädchen sind Stress, das ist ja der Witz daran.«

Sie kam direkt auf mich zu, lutschte immer noch an ihrem Lolli. »Wer von euch Glückspilzen ist Ethan Wate?« Link schubste mich vor.

»Ethan!« Sie schlang die Arme um meinen Hals. Ihre Hände waren unerwartet kalt, so als hätte sie einen Eisbeutel festgehalten. Mich überlief ein Frösteln und ich wich einen Schritt zurück.

»Kennen wir uns?«

»Noch nicht. Ich bin Ridley, Lenas Cousine. Aber ich wünschte mir fast, wir hätten uns zuerst kennengelernt …« Als sie Lena erwähnte, warfen mir die Jungs ein paar schräge Blicke zu, dann verzogen sie sich langsam zu ihren Autos. Seit meinem Gespräch mit Earl hatten wir, was Lena anging, ein stillschweigendes Abkommen getroffen – die einzige Art von Abkommen, die Jungs je treffen. Es lief darauf hinaus, dass weder ich sie erwähnte noch die anderen, und wir waren uns alle irgendwie einig, dass wir bis in alle Ewigkeit so weitermachen würden. Niemand fragt etwas, niemand sagt etwas. Doch diese Ewigkeit würde nicht mehr lange dauern, wenn von nun an Lenas merkwürdige Verwandten in der Stadt auftauchten.

»Cousine?«

Hatte Lena jemals etwas von Ridley erzählt?

»Über die Feiertage. Tante Del. Familientreffen und so. Na, klingelt’s bei dir?« Sie hatte recht. Macon hatte beim Abendessen davon gesprochen.

Ich grinste erleichtert, trotzdem hatte ich einen dicken Kloß im Magen, also konnte meine Erleichterung so groß nun auch wieder nicht sein. »Richtig. Tut mir leid, dass ich das vergessen hatte. Die Cousinen.«

»Mein Süßer, vor dir steht die Cousine. Beim Rest handelt es sich nur um Kinder, die meine Mutter zufälligerweise nach mir noch bekommen hat.« Mit einem Satz sprang Ridley in den Mini Cooper zurück. Und das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Sie machte einen Satz über die Wagentür und landete auf dem Fahrersitz. Das mit dem Cheerleader war kein Witz, das Mädchen hatte tatsächlich kräftige Beine.

Ich bemerkte, dass Link wie angewurzelt neben seiner Schrottkiste stand und gaffte.

Ridley klopfte auf den Beifahrersitz. »Spring rein, Boyfriend, sonst schaffen wir es nicht mehr rechtzeitig.«

»Ich bin nicht … ich meine, wir sind nicht …«

»Du bist wirklich süß. Steig schon ein. Du willst doch nicht, dass wir zu spät kommen, oder?«

»Zu spät wofür?«

»Familiendinner. Der große Feiertag. Die Zusammenkunft. Was glaubst du, weshalb sie mich in dieses Scheißkaff geschickt haben, um dich zu suchen?«

»Ich weiß nicht. Lena hat mich niemals eingeladen.«

»Na ja, die Sache ist die: Man kann Tante Del nicht davon abhalten, den ersten Kerl, den Lena jemals mit nach Hause gebracht hat, genauer unter die Lupe zu nehmen. Du bist also vorgeladen, und weil Lena noch mit den Vorbereitungen für das Dinner beschäftigt ist und Macon immer noch, na du weißt schon, schläft, habe ich eben das kürzere Streichholz gezogen.«

»Sie hat mich nicht mit nach Hause genommen. Ich bin nur eines Abends aufgekreuzt und habe ihr die Hausaufgaben gebracht.«

Ridley öffnete die Autotür von innen. »Komm rein, Streichholz.«

»Wenn Lena gewollt hätte, dass ich komme, hätte sie mich angerufen.« Aber noch während ich das sagte, wusste ich bereits, dass ich einsteigen würde.

»Machst du das immer so? Oder flirtest du etwa mit mir? Denn wenn du Rühr-mich-nicht-an spielen willst, dann sag’s jetzt gleich, dann parken wir am Sumpf und kommen zur Sache.«

Ich stieg ins Auto. »Schon gut. Fahr los.«

Sie strich mir mit ihrer kalten Hand die Haare aus der Stirn. »Du hast hübsche Augen, Boyfriend. Du solltest sie nicht verstecken.«

Als wir in Ravenwood ankamen, wusste ich nicht, wie mir geschehen war. Sie hatte die ganze Zeit über Songs gespielt, die ich noch nie gehört hatte, und ich hatte angefangen zu reden. Ich redete und redete, bis ich ihr Dinge erzählt hatte, die ich sonst niemandem außer Lena erzählt hätte. Ich weiß nicht, wie es dazu kam. Es war, als hätte sich mein Mund selbstständig gemacht.

Ich erzählte ihr von meiner Mutter und davon, wie sie gestorben war, obwohl ich so gut wie noch nie darüber gesprochen hatte. Ich erzählte ihr von Amma, dass sie Karten legte und dass sie wie meine Mutter war, abgesehen von ihren Amuletten und Figürchen und ihrer chronisch schlechten Laune. Ich erzählte ihr von Link und von seiner Mutter, und dass sie neuerdings ganz anders war und ihre Zeit damit verbrachte, alle davon zu überzeugen, dass Lena genauso verrückt war wie Macon Ravenwood und eine Gefahr für jeden Schüler in Jackson.

Ich erzählte ihr von meinem Vater, wie er sich in seinem Arbeitszimmer verkroch, mit seinen Büchern und einem geheimnisvollen Bild, das ich niemals betrachten durfte, und dass ich glaubte, ihn beschützen zu müssen, obwohl das, wovor ich ihn beschützen wollte, schon längst geschehen war.

Ich erzählte ihr von Lena, wie wir uns im strömenden Regen begegnet waren, und dass es uns vorgekommen war, als würden wir uns schon lange kennen, und von der scheußlichen Geschichte mit dem Fenster.

Es war, als würde sie mich aussaugen, so wie sie an ihrem klebrigen roten Lolli saugte, den sie auch beim Fahren nicht aus dem Mund nahm. Ich musste mich sehr beherrschen, damit ich ihr nicht auch von dem Medaillon und den Träumen erzählte. Dass sie Lenas Cousine war, machte das Reden vielleicht ein bisschen einfacher, vielleicht hatte es aber auch andere Gründe.

Gerade als ich anfing, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, waren wir in Ravenwood Manor angekommen, und sie schaltete das Autoradio aus. Die Sonne war schon untergegangen, der Lolli war auch verschwunden und ich hielt endlich den Mund. Wo war die Zeit geblieben?

Ridley beugte sich ganz dicht zu mir. Mein Gesicht spiegelte sich in den Gläsern ihrer Sonnenbrille. Ich sog ihren Duft ein. Sie roch süß und ein bisschen feucht, ganz anders als Lena, aber trotzdem irgendwie vertraut. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Streichholz.«

»Tatsächlich? Und warum nicht?«

»Du bist das einzig Wahre.« Sie lächelte mich an und ihre Augen blitzten auf. Hinter ihren Brillengläsern schimmerte es golden, so wie ein Goldfisch, der in einem dunklen Teich schwimmt. Ihre Augen konnten einen willenlos machen, sogar durch die getönten Gläser hindurch. Vielleicht trug sie die Brille gerade deshalb. Dann wurden die Brillengläser wieder dunkel und sie fuhr mir durchs Haar.

»Zu dumm nur, dass Lena dich wahrscheinlich nie wiedersehen wird, wenn du erst mal den Rest von uns kennengelernt hast. Unsere Familie ist nämlich ein bisschen verrückt.« Sie stieg aus und ich folgte ihr.

»Verrückter als du?«

»Unendlich viel verrückter.«

Na großartig.

Als wir die unterste Stufe erreicht hatten, legte sie mir wieder ihre kalte Hand auf den Arm. »Und noch was, Boyfriend. Wenn dir Lena den Laufpass gibt, was sie ungefähr in fünf Monaten tun wird, dann ruf mich an. Du wirst wissen, wo du mich findest.« Sie hakte sich bei mir unter und fragte auf einmal ungeheuer förmlich: »Du gestattest?«

Ich machte eine galante Handbewegung. »Aber sicher doch. Nach dir.« Die Treppe knarrte unter unserem Gewicht. Ich ging mit Ridley am Arm bis zur Eingangstür und rechnete jeden Augenblick damit, auf den Stufen einzubrechen.

Ich klopfte, aber niemand öffnete. Ich tastete nach dem Mond über dem Türstock. Die Tür ging auf, ganz langsam …

Ridley schien mit einem Mal zögerlich. Als wir über die Schwelle traten, spürte ich geradezu, wie das Haus Luft holte, so als hätte sich darin unmerklich etwas geändert.

»Hallo, Mutter.«

Eine rundliche Frau, die eifrig damit beschäftigt war, Kürbisse und goldene Blätter auf dem Kaminsims zu drapieren, fuhr erschrocken hoch und ließ einen kleinen weißen Kürbis zu Boden fallen. Er zersprang in lauter kleine Stücke. Sie stützte sich am Kaminsims ab. Sie sah seltsam aus, als würde sie ein Kleid aus dem vergangenen Jahrhundert tragen. »Julia! Ich meine, Ridley. Was tust du hier? Ich bin ganz durcheinander. Ich dachte, ich dachte …«

Mir wurde sofort klar, dass hier etwas nicht stimmte. Das war alles andere als die übliche Begrüßung zwischen Mutter und Tochter.

»Jules? Bist du das?« Ein Mädchen, das Ridley wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur etwas jünger, etwa zehn Jahre alt, kam mit Boo Radley, der einen funkelnden blauen Umhang trug, in die Halle gerannt. Sie putzten den Familienwolf fürs Fest heraus oder was sonst sollte das sein? Alles an dem Mädchen war hell und strahlend: Es hatte blondes Haar und leuchtend blaue Augen, die aussahen, als spiegelte sich ein sonniger Nachmittagshimmel darin. Das Mädchen lächelte, dann legte es die Stirn in Falten. »Sie haben gesagt, du wärst weggegangen.«

Boo fing an zu knurren.

Ridley breitete die Arme aus und wartete darauf, dass das kleine Mädchen auf sie zustürzen würde, aber das Kind rührte sich nicht vom Fleck. Ridley ballte kurz die Hände und öffnete sie dann wieder. In der einen Hand hielt sie einen roten Lolli und in der anderen eine kleine graue Maus mit einem funkelnden blauen Mäntelchen, das genau zu Boos Umhang passte. Das Tier reckte die Nase in die Luft und schnupperte wie bei einem billigen Zaubertrick.

Das kleine Mädchen kam langsam auf Ridley zu, als hätte seine Schwester die Macht, es ohne die geringste Berührung durchs Zimmer zu ziehen, so wie der Mond die Gezeiten anzieht. Ich hatte den Sog ja auch gespürt.

Als Ridley sprach, war ihre Stimme rau und belegt und honigsüß zugleich. »Komm schon, Ryan. Mama wollte dich nur aufziehen. Ich bin nirgendwohin gegangen, jedenfalls nicht wirklich. Deine liebe große Schwester würde dich doch nicht allein lassen, oder?«

Ryan verzog den Mund zu einem Lächeln und lief auf Ridley zu. Sie hüpfte hoch, als wollte sie sich geradewegs in ihre ausgebreiteten Arme stürzen. Boo bellte. Einen Moment lang hing Ryan in der Luft wie eine von diesen Comic-Figuren, die versehentlich von irgendwelchen Klippen springen und dann ein paar Sekunden über der Tiefe hängen, ehe sie abstürzen. Dann fiel sie, fiel jählings auf den Boden, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Die Lampen im Haus wurden heller, alle zur gleichen Zeit, wie auf einer Bühne, auf der die Lichter wieder angingen, weil der Akt zu Ende ist. Das Licht warf harte Schatten auf Ridleys Züge.

Das Licht veränderte alles. Ridley schirmte ihre Augen mit der Hand ab und rief ins Haus hinein: »Ich bitte dich, Onkel Macon. Muss das sein?«

Boo sprang vor und stellte sich zwischen Ryan und Ridley. Knurrend kam der Hund näher; sein Fell war gesträubt, was ihn noch mehr wie ein Wolf aussehen ließ als sonst. Offensichtlich versagte Ridleys Charme bei ihm.

Ridley hakte sich wieder fest bei mir unter und lachte böse. Es klang bedrohlich. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, aber ich hatte ein Gefühl, als hätte ich nasse Socken im Hals stecken.

Ridleys eine Hand ruhte auf meinem Arm, die andere streckte sie über den Kopf zur Zimmerdecke empor. »Also gut, wenn ihr mich so unfreundlich empfangen wollt …« Alle Lichter erloschen. Im ganzen Haus schien es einen Kurzschluss gegeben zu haben.

Von oben aus der Dunkelheit war Macons ruhige Stimme zu hören. »Ridley, meine Liebe, was für eine Überraschung. Wir haben nicht mit dir gerechnet.«

Nicht mit ihr gerechnet? Wovon sprach er überhaupt?

»Für nichts auf der Welt möchte ich die Zusammenkunft versäumen, und schau mal, ich habe einen Gast mitgebracht. Man könnte auch sagen, ich bin sein Gast.«

Macon kam die Treppe herunter, dabei ließ er Ridley nicht aus den Augen. Hier waren zwei Löwen, die sich vorsichtig umkreisten, und ich stand zwischen ihnen. Ridley hatte mich benutzt, und ich hatte mich nicht dagegen gewehrt, ich war wie der Lolli, der rote Lolli in ihrem Mund.

»Ich halte das nicht für eine gute Idee. Ich bin sicher, du wirst gerade woanders erwartet.«

Mit einem schmatzenden Geräusch zog sie den Lutscher aus dem Mund. »Wie schon gesagt, ich wollte das Familientreffen für nichts auf der Welt versäumen. Willst du allen Ernstes, dass ich Ethan den weiten Weg bis nach Hause bringe? Worüber sollten wir uns die ganze Zeit unterhalten?«

Ich wollte vorschlagen zu gehen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Alle standen nun in der großen Eingangshalle und jeder starrte jeden an. Ridley hatte sich an eine der Säulen gelehnt.

Schließlich setzte Macon dem Schweigen ein Ende. »Warum führst du Ethan nicht ins Speisezimmer? Ich bin sicher, du weißt noch, wo es ist.«

»Aber … Macon …« Die Frau, die ich für Tante Del hielt, machte den Eindruck, als begriffe sie nicht ganz, was vor sich ging.

»Das ist schon in Ordnung, Delphine.« Macon Ravenwood war anzusehen, wie angestrengt er sich die nächsten Schritte überlegte, wie er vorausdachte, weiter voraus als wir alle zusammen. Ohne zu wissen, wo ich hineingeraten war, empfand ich es auf einmal als sehr beruhigend, dass er da war.

Ins Speisezimmer wollte ich auf gar keinen Fall. Ich wollte nur weg von hier, aber das war unmöglich. Ridley ließ meinen Arm nicht los, und solange sie mich festhielt, kam ich mir vor wie ferngesteuert. Sie führte mich in den festlichen Speisesaal, wo ich Macon bei meinem ersten Besuch beleidigt hatte. Ich sah Ridley an, die sich an meinen Arm klammerte. Diese Beleidigung hier war viel schlimmer.

Der Raum wurde von Hunderten kleiner schwarzer Votivkerzen erhellt und von den Lüstern hingen Ketten mit schwarzen Perlen. An der Tür, die in die Küche führte, befand sich ein riesiger Kranz aus schwarzen Federn. Der Tisch war mit Silberbesteck und perlmuttfarbenem Geschirr gedeckt, das genauso gut echtes Perlmutt sein konnte.

Die Küchentür flog auf. Lena kam rückwärts durch die Tür und trug ein großes Silbertablett, auf dem sich exotische Früchte türmten, die ganz bestimmt nicht aus South Carolina stammten. Sie trug einen schwarzen Umhang, der bis zum Boden reichte und an der Taille gegürtet war. Er war auf eine seltsame Art und Weise zeitlos, etwas Ähnliches hatte ich in dieser Gegend und in diesem Jahrhundert noch nicht gesehen, aber als ich auf ihre Füße schaute, sah ich, dass sie ihre Converse anhatte. Sie war sogar noch schöner als damals, als ich zum Essen hier gewesen war … wann war das gewesen? Vor ein paar Wochen, einer Ewigkeit?

Ich fühlte mich ein bisschen benommen, irgendwie schläfrig. Ich holte tief Luft, und Ridleys Duft stieg mir in die Nase, sie roch nach Moschus und etwas anderem, das viel zu süß war – ein wenig wie Sirup, der auf dem Ofen vor sich hin köchelte. Der Geruch war intensiv und nahm einem den Atem.

»Wir sind gleich so weit. Nur noch ein paar …« Lena blieb wie erstarrt in der halb geöffneten Tür stehen. Sie sah aus, als wäre ihr soeben ein Geist erschienen, wenn nicht gar etwas Schlimmeres. Ich war mir nicht sicher, ob es nur wegen Ridley war oder weil sie uns zusammen sah, wie wir Arm in Arm vor ihr standen.

»Hallo, Cousine. Lange nicht gesehen.« Ridley ging ein paar Schritte auf sie zu und zog mich hinter sich her. »Willst du mir keinen Kuss geben?«

Das Tablett fiel polternd zu Boden. »Was tust du hier?« Lenas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Was soll das heißen? Ich bin gekommen, um meine Lieblingscousine zu besuchen, und ich hab auch gleich noch einen Freund mitgebracht.«

»Ich bin nicht dein Freund«, sagte ich lahm. Ich hatte Mühe, überhaupt etwas zu sagen, denn sie hing immer noch wie eine Klette an meinem Arm. Aus der Zigarettenschachtel, die in ihrem Stiefelschaft steckte, zog sie eine Zigarette heraus und zündete sie an, alles ohne mich auch nur eine Sekunde lang loszulassen.

»Ridley, bitte rauche nicht in diesem Haus«, sagte Macon, und im selben Moment ging die Zigarette aus. Ridley lachte und schnippte die Zigarette in eine Schüssel, in der sich etwas befand, das aussah wie Kartoffelpüree, aber wahrscheinlich kein Kartoffelpüree war.

»Onkel Macon. Du warst schon immer schrecklich pingelig, wenn es um die Hausregeln ging.«

»Diese Regeln wurden schon vor sehr langer Zeit aufgestellt, Ridley. Weder du noch ich können sie ändern.«

Die beiden musterten einander wie zwei Kontrahenten im Ring. Macon machte eine einladende Handbewegung und ein Stuhl rückte von selbst vom Tisch weg. »Warum setzen wir uns nicht alle. Lena, sag der Küche bitte Bescheid, dass wir noch zwei Gedecke brauchen.«

Lena stand da und schäumte vor Wut. »Sie kann nicht bleiben.«

»Schon gut. Nichts kann dir hier etwas anhaben«, versicherte ihr Macon. Aber Lena war nicht ängstlich, sie war zornig.

Ridley lächelte. »Bist du sicher?«

»Das Mahl ist bereitet, und ihr wisst, wie ärgerlich die Küche werden kann, wenn das Essen kalt wird.« Macon trat in das Speisezimmer. Alle folgten ihm, obwohl er so leise gesprochen hatte, dass man es kaum hörte.

Boo machte den Anfang, er stürmte mit Ryan als Erster hinein. Ihnen folgte Tante Del am Arm eines grauhaarigen Mannes, der ungefähr in Dads Alter war. Seiner Kleidung nach hätte er geradewegs aus einem der Bücher im Arbeitszimmer meiner Mutter entsprungen sein können, mit den Stiefeln, deren Schaft bis zum Knie reichte, seinem rüschenbesetzten Hemd und seinem verwegenen, opernhaften Umhang. Die beiden sahen aus wie Ausstellungsstücke aus einem historischen Museum.

Dann betrat ein älteres Mädchen den Raum. Sie sah Ridley sehr ähnlich, nur war sie nicht so knapp bekleidet und wirkte auch nicht so gefährlich wie sie. Sie hatte langes, glattes blondes Haar und wie Ridley einen Pony, der jedoch viel ordentlicher war. Sie sah aus wie eines dieser Mädchen in Yale oder Harvard oder auf einem anderen der noblen, alten Colleges im Norden, und man stellte sie sich unwillkürlich mit einem Stapel Bücher in der Hand vor. Das Mädchen musterte Ridley, als könne es durch ihre dunkle Brille hindurchsehen.

»Ethan, ich möchte dir meine ältere Schwester Annabel vorstellen. Oh, Entschuldigung, ich wollte sagen Reece.« Wer, bitte schön, kannte den Namen der eigenen Schwester nicht?

Reece lächelte, und als sie sprach, wählte sie ihre Worte sorgfältig. »Was tust du hier, Ridley? Ich dachte, du hättest eine andere Verabredung heute Abend.«

»Ich habe meine Pläne geändert.«

»Auch Familien ändern sich.« Reece streckte die Hand aus und bewegte sie vor Ridleys Gesicht hin und her; es war eine Handbewegung, wie sie ein Magier macht, wenn er etwas aus seinem Zylinder hervorzaubert. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber einen Augenblick lang dachte ich, Ridley würde sich vielleicht in Luft auflösen und verschwinden. Oder noch besser ich.

Aber Ridley verschwand nicht. Sie zuckte nur zusammen und schaute weg, als bereitete es ihr körperliche Schmerzen, Reece in die Augen zu schauen.

Reece betrachtete Ridleys Gesicht aufmerksam. »Interessant. Wie kommt es, Rid, dass ich, wenn ich in deine Augen blicke, einzig und allein ihre sehe? Ihr seid so unzertrennlich wie Pech und Schwefel, oder nicht?«

»Du redest schon wieder Unsinn, Schwesterchen.«

Reece schloss die Augen und sammelte sich, Ridley dagegen zappelte wie ein aufgespießter Schmetterling. Dann machte Reece erneut eine Handbewegung und für einen Augenblick lang verschwamm Ridleys Gesicht und zeigte undeutlich die Züge einer anderen Frau. Mir kam diese Frau irgendwie bekannt vor, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, wo ich sie gesehen hatte.

Macon ließ die Hand schwer auf Ridleys Schulter fallen. Es war das einzige Mal, dass ich sah, wie jemand außer mir sie berührte. Ridley wankte, und ich spürte, wie ein stechender Schmerz aus ihrer Hand durch meinen Arm schoss. Macon Ravenwood war ganz bestimmt kein Mann, den man unterschätzen durfte. »Nun, ob es uns gefällt oder nicht, die Zusammenkunft hat begonnen. Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand dieses Fest verdirbt, nicht unter meinem Dach. Ridley wurde, wie sie uns dankenswerterweise erklärt hat, zu diesem Treffen eingeladen, mehr brauche ich dazu nicht sagen. Bitte, nehmt alle Platz.«

Lena setzte sich, aber sie wandte ihren Blick nicht von uns beiden ab.

Tante Del wirkte jetzt sogar noch besorgter als bei unserer Ankunft. Der Mann in dem Umhang tätschelte ihr beruhigend die Hand. Ein hochgewachsener Junge, ungefähr in meinem Alter, mit schwarzen Jeans, einem ausgewaschenen schwarzen T-Shirt und abgewetzten Motorradstiefeln kam herein und sah sich gelangweilt um.

Ridley stellte mir ihre Familie vor. »Meine Mutter hast du ja schon kennengelernt. Das neben ihr ist mein Vater, Barclay Kent, und hier kommt mein Bruder Larkin.«

»Schön, dich kennenzulernen, Ethan.« Barclay kam auf mich zu, um mir die Hand zu geben, doch als er bemerkte, dass Ridleys Hand auf meinem Arm lag, trat er wieder einen Schritt zurück. Larkin legte mir den Arm um die Schulter, und im selben Moment sah ich, wie er sich in eine züngelnde Schlange verwandelte.

»Larkin!«, zischte Barclay, und sofort wurde aus der Schlange wieder Larkins Arm.

»Hey, ich wollte doch nur die Stimmung etwas auflockern. Ihr seid ja echte Trauerklöße.« Larkins Augen blitzten gelb auf, es waren schmale Schlitze. Schlangenaugen.

»Larkin, es reicht, hab ich gesagt.« Sein Vater schaute ihn an, wie nur ein Vater einen Sohn anschauen kann, der ihn stets aufs Neue enttäuscht. Larkins Augen wurden wieder grün.

Macon ließ sich am Kopfende des Tisches nieder. »Warum setzen wir uns nicht alle? Die Küche hat uns ein Festmahl bereitet. Lena und ich hören schon seit Tagen nichts anderes mehr als das Klappern der Töpfe und Pfannen.« Alle setzten sich an den riesengroßen rechteckigen Tisch mit den Klauenfüßen. Er war aus dunklem Holz, beinahe schwarz, und die Tischbeine waren mit komplizierten Mustern verziert, die an Reben erinnerten. In der Mitte des Tisches flackerten hohe schwarze Kerzen.

»Setz dich neben mich, Streichholz.« Ridley führte mich zu einem freien Stuhl gegenüber dem silbernen Vogel, der Lenas Tischkarte im Schnabel hielt, und mir blieb nichts übrig, als ihr zu folgen.

Ich wollte Lena in die Augen sehen, aber sie schaute nur auf Ridley. Und ihr Blick war böse. Ich hoffte sehr, dass ihr Zorn nur Ridley galt.

Der Tisch bog sich unter den vielen Speisen, es waren sogar mehr als bei meinem letzten Besuch. Und jedes Mal, wenn ich den Blick über den Tisch schweifen ließ, waren neue hinzugekommen. Ein Kronenbraten, ein Filet im Rosmarinmantel und andere exotische Gerichte, die ich noch nie gesehen hatte. Ein großer gefüllter Vogel mit Birnen lag auf Federn, die so drapiert waren, dass sie wie ein gespreiztes Pfauenrad aussahen. Ich hoffte, dass es nicht wirklich ein Pfau war, aber nach den Federn zu urteilen, war es einer. Außerdem lagen bunte Süßigkeiten auf dem Tisch, die aussahen wie echte Seepferdchen.

Niemand außer Ridley aß etwas. Sie jedoch ließ es sich schmecken. »Ich liebe Zuckerpferdchen.« Sie steckte sich zwei der winzigen goldenen Seepferdchen in den Mund.

Tante Del hüstelte ein paar Mal und schenkte sich aus einer Karaffe auf dem Tisch eine schwarze, weinähnliche Flüssigkeit ein.

Ridley schaute zu Lena, die ihr am Tisch gegenübersaß. »Na, Cousinchen, hast du schon große Pläne für deinen Geburtstag geschmiedet?« Ridley tauchte die Finger in eine Schüssel mit dunkelbrauner Soße, die neben dem Vogel stand, von dem ich hoffte, es sei kein Pfau, und leckte sie frech wieder ab.

»Wir sprechen heute Abend nicht über Lenas Geburtstag«, sagte Macon warnend.

Ridley genoss die angespannte Situation. Sie stopfte sich noch ein Seepferdchen in den Mund. »Warum nicht?«

Lena sagte hitzig: »Du musst dir über meinen Geburtstag keine Sorgen machen. Du wirst nicht eingeladen.«

»Aber du solltest dir Sorgen machen. Es ist so ein wichtiger Geburtstag.« Ridley lachte. Lenas Haare wellten und glätteten sich, als fege ein Windstoß durchs Zimmer. Tatsächlich regte sich kein Lüftchen.

»Ridley, ich habe gesagt, es reicht.« Macon war drauf und dran, die Geduld zu verlieren. Der Ton, in dem er sprach, war der gleiche, den er angeschlagen hatte, als ich bei meinem ersten Besuch das Medaillon aus der Tasche gezogen hatte.

»Warum ergreifst du Partei für sie, Onkel M.? Als Kind habe ich genauso viel Zeit mit dir verbracht wie Lena. Weshalb ist sie auf einmal dein Liebling?« Sie klang fast ein wenig verletzt.

»Es hat nichts damit zu tun, ob sie mein Liebling ist oder nicht, das weißt du genau. Du bist schon berufen. Es liegt nicht mehr in meiner Hand.«

Berufen? Von wem? Wovon sprach er überhaupt? Der Nebel, der meine Sinne verwirrte, wurde immer dichter. Ich war mir nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden hatte.

»Aber du und ich, wir sind von der gleichen Art«, sagte sie zu Macon. Sie war wie ein verwöhntes Kind, das nicht lockerließ.

Der Tisch begann zu zittern, unmerklich fast, und die dunkle Flüssigkeit in den Weingläsern schwappte leicht hin und her. Dann hörte ich ein rhythmisches Klatschen auf dem Dach. Regen.

Lena hielt sich an der Tischkante fest, ihre Knöchel traten weiß hervor. »Ihr beiden seid NICHT von der gleichen Art«, zischte sie.

Ich spürte, wie sich Ridley neben mir verspannte, sie hielt meinen Arm noch immer umklammert. »Du glaubst, du bist so viel besser als ich, Lena, nicht wahr? Dabei kennst du nicht einmal deinen richtigen Namen. Und du weißt auch nicht, dass deine Familie dem Untergang geweiht ist. Warte nur, bis du berufen wirst, dann siehst du die Dinge, wie sie wirklich sind.« Sie lachte auf, es war ein düsteres, gequältes Lachen. »Du kannst gar nicht wissen, ob wir von der gleichen Art sind oder nicht. In ein paar Monaten bist du vielleicht genauso wie ich.«

Lena starrte mich entsetzt an. Der Tisch bebte jetzt heftiger, das Geschirr klapperte. Draußen zuckte ein greller Blitz und der Regen strömte wie Tränenbäche die Fensterscheiben hinab. »Halt den Mund!«

»Sag’s ihm, Lena. Meinst du nicht, Streichholz hat ein Recht darauf, alles zu erfahren? Dass du keine Ahnung hast, ob du Dunkel oder Licht bist. Dass du keinerlei Einfluss darauf hast?«

Lena sprang auf und stieß dabei ihren Stuhl um. »Ich habe gesagt, halt den Mund!«

Ridley war wieder ganz entspannt, sie genoss die Rolle, die sie spielte. »Sag ihm doch, wie wir zusammengelebt haben, in ein und demselben Zimmer, wie Schwestern. Sag ihm, dass ich vor einem Jahr gewesen bin wie du, und nun …«

Macon Ravenwood stand auf und klammerte sich mit beiden Händen an der Tischplatte fest. Sein blasses Gesicht schien jetzt noch blasser als sonst. »Ridley, das reicht. Ich werde dich aus diesem Haus verbannen, wenn du noch ein Wort sagst.«

»Du kannst mich nicht verbannen, Onkel. Dazu reicht deine Macht nicht.«

»Überschätze deine Fähigkeiten nicht. Kein Dunkler Caster auf der Erde vermag, aus eigener Kraft in Ravenwood einzudringen. Ich selbst habe diesen Ort mit dem Bann gebunden. Wir alle haben das.«

Dunkler Caster? Das klang gar nicht gut.

»Ach, Onkel Macon. Du vergisst die sprichwörtliche Gastfreundschaft im Süden. Ich bin hier nicht eingedrungen. Ich wurde eingeladen und ich kam Arm in Arm mit dem nettesten jungen Herrn in diesem Scheißkaff.« Ridley drehte sich zu mir und nahm ihre Sonnenbrille ab. Die Augen waren eigenartig. Sie glühten golden und sahen aus wie die Augen einer Katze, mit schwarzen Pupillenschlitzen in der Mitte. Ein Licht flackerte darin und im Schein dieses Lichts veränderte sich alles.

Sie blickte mich an, mit ihrem teuflischen Lächeln, und Dunkelheit und Schatten verzerrten ihr Gesicht. Ihre Züge, eben noch so weiblich und so verführerisch, waren nun kantig und hart, sie verwandelten sich vor meinen Augen. Die Haut spannte sich über den Knochen, jede Vene trat hervor, sodass man fast sehen konnte, wie das Blut durch sie hindurchpulste. Sie sah aus wie ein Ungeheuer.

Ich hatte ein Ungeheuer in dieses Haus gebracht, in Lenas Haus.

Beinahe im selben Moment erzitterte das Gebäude bis in die Grundmauern. Die kristallenen Lüster schwankten, die Lichter flackerten. Die Fensterläden sprangen auf und schlugen wieder knallend zu, während der Regen auf das Dach trommelte. Das Geräusch war so laut, dass es alles andere übertönte, so wie in jener Nacht, in der ich Lena beinahe überfahren hätte, als sie mitten auf der Straße stand.

Ridley klammerte sich mit ihrer eiskalten Hand noch fester an meinen Arm. Ich versuchte, sie abzuschütteln, aber ich konnte mich kaum bewegen. Ihre Kälte breitete sich in meinem Körper aus, mein ganzer Arm fühlte sich schon taub an.

»Ethan!«, rief Lena entsetzt.

Tante Del stampfte auf und der ganze Raum erbebte. Die Dielen schienen unter ihrem Fuß zu schwanken.

Die Kälte hatte vollkommen Besitz ergriffen von mir. Meine Kehle war eingefroren, meine Beine waren gelähmt. Ich konnte mich nicht bewegen, ich konnte mich nicht von Ridleys Arm losreißen, und ich konnte niemandem sagen, was mit mir geschah. Noch ein paar Minuten und ich würde nicht mehr atmen können.

Ich hörte eine Frauenstimme von der anderen Seite des Tisches. Es war die Stimme von Tante Del. »Ridley. Ich habe dir gesagt, du sollst nicht herkommen. Es gibt nichts, was wir im Augenblick für dich tun könnten, Kind. Es tut mir so leid.«

Macons Stimme klang barsch. »Ridley, in einem Jahr kann sich alles verändern. Du kennst jetzt deine Bestimmung. Du weißt, wo dein Platz ist. Du gehörst nicht mehr hierher. Du musst gehen.«

Eine Sekunde später stand er nicht mehr am Kopfende des Tisches, sondern direkt vor ihr. Entweder er war schnell wie der Blitz, oder ich hatte den Überblick über das verloren, was vor sich ging. Die Stimmen tanzten in meinen Ohren und die Gesichter wirbelten vor meinen Augen. Ich bekam fast keine Luft. Mir war so kalt, dass ich nicht einmal mehr mit den Zähnen klappern konnte. »Geh!«, schrie er sie an.

»Nein!«

»Ridley! Benimm dich! Du musst von hier verschwinden. In Ravenwood ist kein Platz für Dunkle Caster. Dies ist ein geschützter Ort, ein Ort des Lichts. Du kannst hier nicht bestehen, jedenfalls nicht lange.« Tante Dels Stimme war fest und entschieden.

Ridley schnaubte. »Ich werde nicht gehen, Mutter, und du kannst mich nicht zwingen …«

Macon ließ sie nicht weiterreden. »Du weißt, dass das nicht stimmt.«

»Ich bin jetzt stärker, Onkel Macon. Du hast keine Gewalt mehr über mich.«

»Es ist wahr, deine Kräfte wachsen, aber du bist noch längst nicht in der Lage, es mit mir aufzunehmen, und ich werde alles tun, was nötig ist, um Lena zu schützen. Auch wenn ich dir dabei wehtun muss oder Schlimmeres.«

Diese Drohung traf Ridley schwer. »Das würdest du mir antun? Ravenwood ist schon immer ein Ort der Dunklen Mächte gewesen, schon seit Abrahams Zeiten. Er war einer von uns. Ravenwood steht uns zu. Warum weihst du diesen Ort dem Licht?«

»Ravenwood ist jetzt Lenas Heimat.«

»Du gehörst zu mir, Onkel M. Zu Ihr.«

Ridley sprang auf, riss auch mich hoch. Jetzt standen sich die drei gegenüber, Lena, Macon und Ridley, Eckpunkte eines Furcht einflößenden Dreiecks. »Ich fürchte mich nicht vor dem, was du bist.«

»Das mag sein, aber du hast keine Macht hier. Nicht über alle von uns – und nicht über eine Naturgeborene.«

Ridley lachte meckernd. »Lena, eine Naturgeborene? Das ist das Verrückteste, was ich heute Abend von dir gehört habe. Ich habe gesehen, wozu Naturgeborene fähig sind. Lena könnte nie eine sein.«

»Du irrst. Vernichter und Naturgeborene sind nicht das Gleiche.«

»Wirklich nicht? Ein Vernichter ist nichts anderes als ein Naturgeborener, der sich der Dunkelheit verschrieben hat. Das sind nur zwei Seiten derselben Medaille.«

Wovon redete sie? Ich begriff gar nichts mehr.

Und dann spürte ich, wie sich alles in mir verkrampfte, und ich begriff, dass ich gleich das Bewusstsein verlieren und womöglich sterben würde. Mein Blut war wie gefroren und alles Leben wurde aus mir herausgepresst. Ich hörte ein Grollen. Ein Blitz, ich zählte bis eins, dann kam der Donner und das laute Krachen eines Astes draußen vor dem Fenster. Das Unwetter war da. Wir waren mittendrin.

»Du irrst dich, Onkel M. Lena ist es nicht wert, dass man sie beschützt, und sie ist ganz bestimmt keine Naturgeborene. Bis zu ihrem Geburtstag kannst du ihre Bestimmung nicht kennen. Du glaubst, nur weil sie jetzt süß und unschuldig ist, wird das Licht sie berufen? Das hat gar nichts zu bedeuten. War ich vor einem Jahr nicht so wie sie? Und nach dem, was Streichholz erzählt hat, scheint sie der Dunklen Seite näher als der Lichten Seite. Blitze, Donner, Unwetter? In der Highschool Angst und Schrecken verbreiten?«

Der Sturm wurde immer stärker und Lena wurde immer wütender. Ich konnte den Zorn in ihren Augen lesen. Eine Fensterscheibe splitterte. Genau wie damals im Englischunterricht. Ich wusste, wie das enden würde.

»Halt den Mund! Du weißt nicht, wovon du redest!« Regen prasselte ins Speisezimmer. Ein Windstoß fegte hinterher, Gläser und Teller krachten klirrend auf den Boden, schwarze Flüssigkeit zog sich in langen Schlieren über den Boden. Aber keiner bewegte sich.

Ridley wandte sich wieder an Macon. »Du hast sie schon immer überschätzt. Sie ist ein Nichts.«

Ich wollte mich losreißen von Ridley, wollte sie packen und sie aus dem Haus zerren, aber ich war zu keiner Bewegung fähig.

Ein weiteres Fenster ging zu Bruch, dann noch eines und noch eines. Überall splitterte Glas. Das Geschirr, die Weingläser, die Gläser in den Bilderrahmen. Möbelstücke krachten an die Wände. Und dann der Wind, es war ein Tornado, der durchs Haus fegte. Es war so laut, ich konnte nichts mehr hören. Das Tischtuch flog weg, mit allen Kerzen, Servierplatten und dem Geschirr, alles krachte gegen die Wand. Ich hatte das Gefühl, der Raum wirbelte um mich herum. Alles wurde in den Vorraum hinausgeweht und hin zur Eingangstür. Boo Radley jaulte, es war ein fürchterliches Geräusch, es klang, als heulte ein Mensch. Der Griff, mit dem mich Ridley am Arm festhielt, lockerte sich allmählich. Ich blinzelte angestrengt und gab mir alle Mühe, nicht das Bewusstsein zu verlieren.

Und inmitten von all dem stand Lena. Reglos, nur ihr Haar peitschte im Wind. Was ging hier vor sich?

Meine Beine gaben nach. Kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, spürte ich einen Windstoß, der meinen Arm buchstäblich aus Ridleys Hand riss und sie selbst aus dem Zimmer wehte, bis hin zur Eingangstür. Ich stürzte zu Boden, und ich hörte Lenas Stimme, zumindest glaubte ich, sie zu hören.

»Lass, verdammt noch mal, meinen Freund in Ruhe, Hexe.«

Meinen Freund.

War ich das?

Ich versuchte zu lächeln. Aber stattdessen wurde es schwarz um mich.