1_022_13828_Garcia.tifDer wahre Boo Radley

14.9.

Am Sonntagabend las ich wieder einmal den Fänger im Roggen, bis ich müde genug war, um einzuschlafen. Nur dass ich beim besten Willen nicht müde genug wurde. Und ich konnte auch nicht richtig lesen, denn das Lesen war für mich nicht wie sonst. Ich konnte mich nicht in Holden Caulfield hineinversetzen, die Geschichte nahm mich nicht wie sonst gefangen, nicht so, wie sie einen gefangen nehmen muss, wenn man sich in einen anderen verwandeln will.

Ich war nicht allein in meinem Kopf. Er war voller Medaillons und Brände und Stimmen. Voller Menschen, die ich nicht kannte, und voller Visionen, die ich nicht verstand.

Und da war noch etwas. Ich legte das Buch zur Seite und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Lena? Du bist doch da, oder nicht?

Ich starrte an die blaue Zimmerdecke.

Es ist zwecklos. Ich weiß, dass du da bist. Ja, irgendwo hier bist du.

Ich wartete, bis ich sie hörte. Ihre Stimme, die wie ein kleiner funkelnder Gedanke in der finstersten, entlegensten Ecke meines Bewusstseins auftauchte.

Nein. Nicht wirklich.

Doch. Du warst hier, die ganze Nacht.

Ethan, ich schlafe, das heißt, ich habe geschlafen.

Ich schmunzelte.

Nein, hast du nicht. Du hast gelauscht.

Hab ich nicht!

Gib’s zu, du hast gelauscht.

Jungs! Ihr meint, alles dreht sich nur um euch. Vielleicht hat mir einfach dieses Buch gefallen?

Kannst du hierherkommen, wann immer du magst?

Eine lange Pause trat ein.

Eigentlich nicht. Aber heute Abend ist es einfach so passiert. Ich verstehe immer noch nicht, wie es funktioniert.

Vielleicht können wir jemanden fragen.

Wen zum Beispiel?

Ich weiß es nicht. Schätze, wir müssen es selbst herausfinden. Wie alles andere auch.

Wieder trat eine Pause ein. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, ob das »wir« sie verschreckt hatte. Vielleicht schwieg sie deshalb, vielleicht aber auch, weil sie nicht wollte, dass ich irgendetwas herausfand, was mit ihr zu tun hatte.

Versuch es nicht.

Ich lächelte, aber ich merkte, wie mir die Augen zufielen. Ich konnte sie kaum noch offen halten.

Ich versuche es.

Ich schaltete das Licht aus.

Gute Nacht, Lena.

Gute Nacht, Ethan.

Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht jeden meiner Gedanken lesen konnte.

Basketball. Ich würde einfach an Basketball denken. Und während ich im Geist an das Regelbuch dachte, spürte ich, wie mir die Augen zufielen, wie meine Glieder schwer wurden, wie ich wegdämmerte …

Ertrinken.

Ich war am Ertrinken.

Ich zappelte in dem grünen Wasser und die Wellen schlugen über meinem Kopf zusammen. Meine Füße strampelten, sie suchten nach dem schlammigen Grund des Flusses, vielleicht des Santee, aber sie fanden ihn nicht. Ich sah einen Lichtschein, der auf dem Wasser tanzte, aber ich gelangte nicht an die Oberfläche.

Ich ging unter.

Heute ist mein Geburtstag, Ethan. Heute passiert es.

Ich streckte die Hand aus. Sie fasste nach ihr, und ich drehte mich, um sie zu packen, aber sie glitt davon, und ich konnte sie nicht festhalten. Ich wollte schreien, als ich ihre kleine weiße Hand in der Dunkelheit verschwinden sah, aber mein Mund war voller Wasser, und ich brachte keinen Ton hervor. Ich spürte, wie ich würgte. Ich verlor die Besinnung.

Ich habe versucht, dich zu warnen. Du musst mich loslassen!

Ich schreckte im Bett hoch. Mein T-Shirt war klatschnass. Mein Kissen war durchgeschwitzt. Meine Haare waren feucht. Und in meinem Zimmer war es schrecklich schwül. Hatte ich schon wieder das Fenster offen gelassen?

»Ethan Wate!«, rief Amma. »Hörst du mir überhaupt zu? Du kommst schleunigst runter, sonst kriegst du eine ganze Woche lang kein Frühstück von mir.«

Ich saß schon auf meinem Platz, als sie schwungvoll drei Eier auf meinen Teller mit Brötchen und Soße gleiten ließ. »Guten Morgen, Amma.«

Sie drehte mir den Rücken zu und würdigte mich keines Blickes. »Du weißt genau, dass an diesem Morgen nichts gut ist. Also tu nicht so unschuldig.« Sie war immer noch sauer auf mich, aber ich war mir nicht sicher, ob es deshalb war, weil ich den Unterricht geschwänzt hatte oder weil ich das Medaillon wieder mit nach Hause gebracht hatte. Wahrscheinlich wegen beidem. Ich konnte es ihr nicht einmal verübeln. Sonst hatte ich nie Ärger in der Schule. Das war etwas völlig Neues für sie.

»Amma, es tut mir leid, dass ich am Freitag mitten im Unterricht abgehauen bin. Es wird nicht wieder passieren. Alles wird wieder so sein wie sonst.«

Ihre Miene wurde freundlicher, wenn auch nur ein wenig, und sie setzte sich mir gegenüber. »Wohl kaum. Wir alle treffen unsere Entscheidungen und diese Entscheidungen haben Folgen. Ich nehme an, du wirst die Entscheidung, die du getroffen hast, teuer bezahlen müssen, wenn du in die Schule kommst. Vielleicht hörst du diesmal auf mich. Halte dich fern von dieser Lena Duchannes und von diesem Haus.«

Es war sonst gar nicht Ammas Art, das nachzuplappern, was alle in der Stadt sagten, schon allein deshalb, weil sie ohnehin meist anderer Meinung war. Aber daran, wie sie ihren Kaffee umrührte, obwohl sich die Milch schon längst darin verteilt hatte, konnte ich sehen, dass sie sich Sorgen machte. Amma machte sich immer Sorgen um mich, und deswegen liebte ich sie, aber seit ich ihr das Medaillon gezeigt hatte, hatte sich etwas verändert. Ich ging um den Tisch herum und nahm sie in den Arm. Sie roch nach Bleistiftmine und Zimtpastillen wie immer.

Sie schüttelte den Kopf und brummte vor sich hin. »Ich will nichts mehr hören von grünen Augen und schwarzen Haaren. Sieht aus, als würden heute schwarze Wolken aufziehen, also nimm dich lieber in Acht.« Amma hatte nicht einfach nur dunkle Vorahnungen, heute waren sie pechschwarz. Ich spürte ja selbst, dass düstere Wolken aufzogen.

Link tauchte mit der Schrottkiste auf und wie üblich dröhnte schreckliche Musik aus den Lautsprechern. Als ich einstieg, drehte er die Musik leiser, und das verhieß nie etwas Gutes.

»Wir kriegen Ärger.«

»Ich weiß.«

»Jackson ist dabei, die Lynchjustiz wieder einzuführen.«

»Was weißt du darüber?«

»Es geht schon seit Freitagabend so. Ich hörte meine Mutter davon sprechen und wollte dich anrufen. Wo warst du überhaupt?«

»Ich hab so getan, als wollte ich ein verhextes Medaillon drüben in Greenbrier vergraben, damit mich Amma wieder ins Haus lässt.«

Link lachte. Wenn es um Amma ging, wunderte er sich nicht, wenn von Hexen und Zauberamuletten und dem bösen Blick die Rede war. »Wenigstens musstest du dir nicht wieder so einen stinkenden Beutel mit Zwiebeln um den Hals hängen, das war widerlich.«

»Es war Knoblauch. Bei der Beerdigung meiner Mutter.«

»Es war widerlich.«

Link und ich waren Freunde, seit er mir im Bus dieses Twinkie geschenkt hatte, und danach hatte er sich nie sonderlich darum geschert, was ich sagte oder tat. Schon damals wusste man, wer sein Freund war und wer nicht. So war es eben in Gatlin. Alles war schon vor zehn Jahren passiert. Und bei unseren Eltern war alles schon vor zwanzig oder dreißig Jahren passiert. Und was die Stadt anging, hier war schon vor hundert Jahren nichts mehr passiert. Jedenfalls nichts von Bedeutung.

Ich hatte eine Vorahnung, dass sich das bald ändern würde.

Meine Mutter hätte gesagt, die Zeit ist reif. Wenn es etwas gab, was meine Mutter mochte, dann war es die Veränderung. Ganz anders die Mutter von Link. Sie war eine Aufbauscherin, sie steigerte sich in alles hinein, sie hatte eine Mission, sie hatte Beziehungen – und das war eine gefährliche Kombination. Als wir in der achten Klasse waren, riss Mrs Lincoln die Steckdose aus der Wand, weil sie Link dabei erwischt hatte, wie er sich einen Harry-Potter-Film ansah. Daraufhin startete sie einen Feldzug, um die Filme aus der Stadtbibliothek von Gatlin zu verbannen, weil sie glaubte, sie leisteten der Hexerei Vorschub. Zum Glück konnte sich Link zu Earl Petty hinüberschleichen und MTV anschauen, sonst wäre Who Shot Lincoln niemals die erste – und mit erste meine ich die einzige – Rockband der Jackson High geworden.

Ich habe Mrs Lincoln niemals verstanden. Wäre meine Mutter noch am Leben, sie würde die Augen verdrehen und sagen: »Auch wenn Link dein bester Freund ist, erwarte bitte nicht von mir, dass ich in die TAR eintrete und Reifröcke trage, wenn sie die Schlachten des Bürgerkriegs nachspielen.« Und dann würden wir uns beide vor Lachen biegen bei der Vorstellung, wie meine Mutter, die meilenweit über schlammige Schlachtfelder lief und alte Patronenhülsen suchte und sich mit der Gartenschere selbst die Haare schnitt, bei der TAR Kuchen verkaufte und jedem gute Ratschläge gab, wie er sein Haus dekorieren sollte.

Es war leicht, sich Mrs Lincoln bei der TAR vorzustellen. Sie war die Schriftführerin, sogar ich wusste das. Sie war zusammen mit den Müttern von Savannah Snow und Emily Asher im Vorstand, während meine Mutter sich meistens in der Bibliothek verkroch und Mikrofiches las.

Gelesen hatte.

Link redete immer noch, aber ich hatte eigentlich schon genug gehört. »Meine Mutter, die Mütter von Emily und Savannah … sie haben in den letzten Tagen die Telefondrähte zum Glühen gebracht. Ich hab zufällig mit angehört, wie meine Mutter darüber gesprochen hat, wie in der Englischstunde das Fenster zerbrochen ist, und dass man sich erzählt, die Nichte vom alten Ravenwood habe Blut an den Händen gehabt.«

Er bog mit dem Wagen um die Ecke und redete immer noch ohne Punkt und Komma. »Und dass deine Freundin gerade aus einer Irrenanstalt in Virginia entlassen worden ist und dass sie eine Waise ist und dass sie bi-schizo-manisch oder so was Ähnliches sein soll.«

»Sie ist nicht meine Freundin, wir sind einfach Bekannte«, sagte ich, ohne nachzudenken.

»Halt die Klappe, Kumpel. Du bist so in sie verknallt, dass man es meilenweit hört.« Aber das hätte er auch von jedem anderen Mädchen gesagt, mit dem ich geredet hätte, von dem ich ihm erzählt hätte oder dem ich in der Aula nur hinterhergeschaut hätte.

»Bin ich nicht. Gar nichts ist passiert. Wir hängen nur zusammen rum.«

»Du erzählst so eine Scheiße, du könntest glatt als Toilette durchgehen. Du bist in sie verliebt, Wate. Gib’s zu.« Feinfühligkeit war nicht Links Stärke, und ich glaube auch nicht, dass er sich vorstellen konnte, mit einem Mädchen herumzuhängen, außer aus den naheliegenden Gründen – es sei denn, sie spielte Lead-Gitarre.

»Ich hab ja nicht gesagt, dass ich sie nicht mag. Wir sind einfach Freunde.« Was auch stimmte, ob ich es wollte oder nicht. Aber das stand auf einem anderen Blatt. Wie auch immer, bei diesen Worten muss ich wohl ein wenig gelächelt haben. Großer Fehler.

Link tat, als würde er sich übergeben, und kam dabei mit dem Auto ins Schlingern, sodass er fast einen Lastwagen gerammt hätte. Aber er wollte mich nur hochnehmen. Im Grunde war es Link egal, wen ich mochte, wenn er mich nur damit aufziehen konnte. »Also sag schon, stimmt es? Ist was dran?«

»Was meinst du damit?«

»Du weißt schon. Ist sie gaga oder einfach nur meschugge?«

»Eine Fensterscheibe ist kaputtgegangen. Das ist alles. Daran ist doch nichts Ungewöhnliches.«

»Mrs Asher sagt aber, sie hat das Fenster eingeschlagen oder irgendetwas dagegengeworfen.«

»Erstaunlich, besonders wenn man bedenkt, dass Mrs Asher gar nicht bei uns im Englischunterricht ist.«

»Meine Mom auch nicht, aber sie hat gesagt, dass sie heute in der Schule vorbeikommen will.«

»Großartig. Halte ihr einen Platz an unserem Tisch frei.«

»Vielleicht hat Lena so was in ihren früheren Schulen auch gemacht, vielleicht hat man sie deshalb in eine Art Anstalt gesteckt.« Link meinte das ernst, und das konnte nur bedeuten, dass er seit dem Zwischenfall mit dem Fenster eine ganze Menge gehört hatte.

Einen Augenblick lang musste ich daran denken, wie Lena ihr Leben bezeichnet hatte. Kompliziert. Vielleicht war dies eine jener Komplikationen oder einfach nur eins von den sechsundzwanzigtausend anderen Dingen, über die sie nicht sprechen konnte. Was, wenn all die Emily Ashers, die es auf der Welt gab, recht hatten? Was, wenn ich mich auf die falsche Seite gestellt hatte?

»Nimm dich in Acht, Mann. Vielleicht hat sie schon einen Stammplatz bei den Durchgeknallten.«

»Wenn du das wirklich glaubst, dann spinnst du.« Wortlos bogen wir auf den Schulparkplatz ein. Ich war verärgert, obwohl ich wusste, dass Link mich nur warnen wollte. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Heute war alles anders für mich. Ich stieg aus und schlug die Autotür zu.

Link rief mir nach: »Ich mach mir Sorgen um dich, Kumpel. Du benimmst dich ziemlich komisch.«

»Wie, bist du jetzt mit mir verheiratet? Vielleicht solltest du dir mehr Sorgen darüber machen, warum du es nicht schaffst, ein Mädchen anzuquatschen, ob es nun verrückt ist oder nicht.«

Er stieg aus dem Auto und sah zum Verwaltungsgebäude hinüber. »Mag sein, aber vielleicht solltest du deiner Freundin, oder wie du sie nennen willst, sagen, dass sie heute lieber vorsichtig sein soll. Schau mal dort rüber.«

Auf der Eingangstreppe standen Mrs Lincoln und Mrs Asher und sprachen mit Direktor Harper. Emily stand zusammengesunken neben ihrer Mutter und versuchte, leidend auszusehen. Mrs Lincoln hielt Mr Harper einen Vortrag, und der nickte eifrig, als wollte er sich jedes Wort merken. Direktor Harper mochte in der Schule das Sagen haben, er wusste aber nur zu gut, wer in der Stadt das Sagen hatte. Er unterhielt sich gerade mit zweien von ihnen.

Als Links Mutter fertig war, lieferte Emily eine besonders lebhafte Darstellung des Vorfalls mit dem zerbrochenen Fenster. Mrs Lincoln legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter. Direktor Harper schüttelte nur den Kopf. Heute hingen wirklich rabenschwarze Wolken am Himmel.

Lena saß in dem großen schwarzen Auto. Der Motor lief und sie schrieb in ihr zerfleddertes Notizbuch. Ich klopfte ans Fenster und sie fuhr erschrocken zusammen. Sie schaute nach hinten, zum Verwaltungsgebäude. Sie hatte die Mütter auch schon entdeckt.

Ich gab ihr zu verstehen, dass sie die Tür öffnen sollte, aber sie schüttelte den Kopf. Ich ging zur Beifahrerseite. Die Tür war ebenfalls verriegelt, aber so leicht würde Lena mich nicht loswerden. Ich setzte mich auf die Kühlerhaube und stellte meinen Rucksack auf den Kies daneben. Ich würde hier sitzen bleiben und wenn ich Wurzeln schlug.

Was machst du da?

Ich warte.

Da wirst du lange warten müssen.

Ich habe Zeit.

Sie starrte mich durch die Windschutzscheibe an. Die Türverriegelung ging auf. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du verrückt bist?« Sie kam herüber zu mir, die Arme vor der Brust verschränkt wie Amma, kurz bevor sie mir eine Gardinenpredigt hielt.

»Nicht so verrückt wie du, nach allem, was man so hört.«

Sie hatte die Haare mit einem schwarzen Seidentuch zurückgebunden, auf dem auffallende hellrosa Kirschblüten waren. Ich stellte sie mir vor, wie sie vor dem Spiegel stand und sich fühlte, als ginge sie zu ihrer eigenen Beerdigung, und wie sie dieses Tuch anlegte, um sich aufzumuntern. Sie trug ein langes schwarzes, ich weiß nicht was, eine Mischung aus T-Shirt und Kleid, dazu Jeans und ihre schwarzen Chucks. Sie runzelte die Stirn und schaute zum Verwaltungsgebäude hinüber. Wahrscheinlich saßen die Mütter jetzt gerade im Büro von Direktor Harper.

»Hörst du sie?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann ja nicht die Gedanken der Menschen lesen, Ethan.«

»Aber meine kannst du lesen.«

»Nicht so richtig.«

»Und was war das letzte Nacht?«

»Ich hab dir doch gesagt, ich weiß nicht, weshalb das passiert. Wir scheinen uns irgendwie … miteinander zu verbinden.« Sogar diese Umschreibung schien ihr heute Morgen schwer über die Lippen zu gehen. Sie sah mir nicht in die Augen. »So war es noch nie zuvor mit irgendjemandem.«

Ich wollte ihr sagen, dass ich genau wusste, wie ihr zumute war. Ich wollte ihr sagen, dass ich mich ihr, wenn wir auf diese Weise in unseren Gedanken beisammen waren, näher fühlte als je einem anderen Menschen, auch wenn unsere Körper Millionen von Meilen voneinander entfernt waren.

Aber ich konnte es nicht. Ich konnte nicht einmal daran denken. Stattdessen dachte ich an das Basketball-Regelbuch, das Mittagessen in der Cafeteria, den Flur mit dem erbsensuppengrünen Bodenbelag, den ich auch heute wieder entlanggehen würde. Dann legte ich den Kopf schräg und sagte: »Ja. Das sagen mir die Mädchen oft.« Du Idiot. Je nervöser ich wurde, desto mieser wurden meine Witze.

Sie lächelte, es war ein unsicheres, gequältes Lächeln. »Versuch nicht, mich aufzuheitern. Das funktioniert nicht.« Aber es funktionierte doch.

Ich drehte mich um und sah zur Treppe hinüber. »Wenn du wissen willst, worüber sie gerade sprechen, ich kann’s dir sagen.«

Sie sah mich skeptisch an.

»Wie denn?«

»Wir sind hier in Gatlin. Und hier gibt es nichts, was auch nur annähernd geheim wäre.«

»Wie schlimm ist es?« Sie wandte den Blick ab. »Halten sie mich für verrückt?«

»Und ob.«

»Bin ich eine Gefahr für die Schule?«

»Wahrscheinlich. Hier in der Gegend ist man zu Sonderlingen und Fremden nicht sehr nett. Und fremder und sonderbarer als Macon Ravenwood kann kaum jemand sein, nichts für ungut.« Ich lächelte sie an.

Es klingelte zum ersten Mal. Sie hielt mich am Ärmel fest und sah mich ängstlich an. »Letzte Nacht. Ich hatte einen Traum. Hattest du …«

Ich nickte. Sie musste nicht weiterreden. Ich wusste, dass wir zusammen in diesem Traum gewesen waren. »Sogar meine Haare waren nass.«

»Meine auch.« Sie streckte den Arm aus. Da war ein Mal an ihrem Handgelenk, dort wo ich sie festzuhalten versucht hatte, bevor sie in der Dunkelheit verschwand. Ich hoffte, dass sie das nicht in ihrem Traum gesehen hatte. Aber ihrer Miene nach zu urteilen, hoffte ich vergebens. »Es tut mir leid, Lena.«

»Du kannst nichts dafür.«

»Ich wünschte, ich wüsste, weshalb die Träume so real erscheinen.«

»Ich habe versucht, dich zu warnen. Du hättest mir aus dem Weg gehen sollen.«

»Schon gut. Ich betrachte mich als gewarnt.« Dabei wusste ich nur zu gut, dass ich genau das nicht konnte – ihr aus dem Weg gehen. Auch wenn ich jetzt gleich in die Schule marschieren musste und dort eine große Menge Scheiße auf mich wartete, es war mir egal. Es war schön, jemanden zu haben, mit dem ich reden konnte, ohne dass ich mir jeden Satz vorher zweimal überlegen musste. Und mit Lena konnte ich gut reden. In Greenbrier hätte ich tagelang mit ihr im Gras sitzen und reden können. Sogar noch länger. So lange, wie sie da war und mir zuhörte.

»Was hat es mit deinem Geburtstag auf sich? Weshalb hast du gesagt, dass du danach vielleicht nicht mehr hier bist?«

Rasch wechselte sie das Thema. »Was ist mit dem Medaillon? Hast du auch gesehen, was ich gesehen habe? Das Feuer? Die andere Vision?«

»Ja. Ich saß gerade in der Kirche und bin beinahe aus der Bank gekippt. Aber ich habe einiges von den Schwestern erfahren. Die Anfangsbuchstaben ECW, sie stehen für Ethan Carter Wate. Er war mein Ururururgroßonkel, und meine verrückten Tanten behaupten, ich wurde nach ihm benannt.«

»Weshalb hast du dann die Initialen auf dem Medaillon nicht erkannt?«

»Das ist das Seltsame an der Geschichte. Ich habe noch nie etwas von ihm gehört, sein Name fehlt in unserem Stammbaum zu Hause.«

»Und was ist mit GKD? Das kommt von Genevieve, nicht wahr?«

»Über sie wussten sie anscheinend nichts, aber wofür sonst sollte das G stehen? Es ist die junge Frau aus unserer Vision. Und D muss Duchannes heißen. Ich wollte Amma fragen, aber als ich ihr das Medaillon zeigte, sind ihr fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Als wäre das Ding dreimal verhext, in Voodoo-Zauber getränkt und zu guter Letzt noch in einen Fluch gewickelt. Und das Arbeitszimmer meines Vaters, in dem er die alten Bücher meiner Mutter über Gatlin und den Krieg aufbewahrt, ist für mich verbotenes Terrain.« Ich zögerte, dann sagte ich wie nebenbei: »Du könntest deinen Onkel fragen.«

»Mein Onkel weiß nichts. Wo ist das Medaillon jetzt?«

»In meiner Hosentasche, eingewickelt in einen Beutel mit Pülverchen. Beim Anblick des Medaillons hat Amma alles, was sie zur Hand hatte, darübergeschüttet. Sie glaubt, ich hätte es wieder nach Greenbrier gebracht und dort vergraben.«

»Bestimmt hasst sie mich.«

»Nicht mehr als jede andere meiner Freundinnen. Ich meine natürlich Mädchen, mit denen ich befreundet bin.« Ich konnte es selbst kaum fassen, wie bescheuert ich klang. »Ich glaube, wir sollten uns lieber zum Unterricht aufmachen, ehe wir noch mehr Ärger kriegen.«

»Eigentlich habe ich gerade überlegt, nach Hause zu fahren. Ich weiß, irgendwann kann ich ihnen nicht mehr aus dem Weg gehen, aber ich möchte einfach noch einen Tag lang meine Ruhe haben.«

»Wirst du keine Schwierigkeiten bekommen?«

Sie lachte. »Von meinem Onkel, dem Bösewicht Macon Ravenwood, der Schule für reine Zeitverschwendung hält und der Meinung ist, man müsse den ehrbaren Bürgern von Gatlin tunlichst aus dem Weg gehen? Er wird begeistert sein.«

»Warum kommst du dann überhaupt?« Ich war mir ziemlich sicher, sollte Links Mutter je aufhören, ihren Sohn jeden Morgen zur Tür hinauszujagen, würde er sich nicht mehr in der Schule blicken lassen.

Sie spielte mit einem der Anhänger an ihrer Halskette, einem siebenzackigen Stern. »Ich dachte, hier sei es anders. Ich dachte, vielleicht könnte ich hier Freunde finden, bei der Schülerzeitung mitarbeiten oder so was.«

»Bei unserer Schülerzeitung? Dem Jackson Kurier?«

»An meiner alten Schule wollte ich der Schülerzeitung beitreten, aber sie sagten mir, die Mannschaft wäre komplett, obwohl sie nie genug Autoren hatten, um die Zeitung rechtzeitig rauszubringen.« Sie wich verlegen meinem Blick aus. »Ich sollte besser gehen.«

Ich hielt ihr die Autotür auf. »Ich finde, du solltest mit deinem Onkel über das Medaillon sprechen. Er weiß vielleicht mehr, als du denkst.«

»Glaub mir, er weiß nichts.«

Ich knallte die Autotür zu. Sosehr ich mir auch wünschte, dass sie blieb, so war ein Teil von mir doch erleichtert, dass sie wieder nach Hause ging. Es kam heute auch schon so genug auf mich zu.

»Soll ich das für dich abgeben?« Ich zeigte auf den Block auf dem Beifahrersitz neben ihr.

»Nein, das sind keine Hausaufgaben.« Sie machte das Handschuhfach auf und ließ den Block darin verschwinden. »Das ist nichts.« Jedenfalls nichts, was sie mir verraten wollte.

»Du solltest lieber gehen, bevor der Dicke auf dem Parkplatz herumschnüffelt.« Noch ehe ich ein weiteres Wort sagen konnte, ließ sie den Motor an, winkte und fuhr los.

Ich hörte ein lautes Bellen. Ich drehte mich um und sah den riesigen schwarzen Hund von Ravenwood und wen er anbellte.

Mrs Lincoln lächelte mir zu. Der Hund knurrte, seine Rückenhaare sträubten sich. Mrs Lincoln betrachtete das Tier mit solchem Abscheu, dass man hätte glauben können, sie hätte Macon Ravenwood höchstpersönlich vor sich. Ich war mir nicht sicher, wer von den beiden im Kampf den Kürzeren gezogen hätte.

»Streunende Hunde haben Tollwut. Jemand sollte das bei der Stadtverwaltung anzeigen.« Aber klar doch, und ich wusste auch schon, wer dieser Jemand war.

»Ja, Ma’am.«

»Wer war das, der gerade in diesem merkwürdigen schwarzen Wagen davongefahren ist? Ihr schient euch ziemlich gut zu unterhalten.« Sie kannte die Antwort bereits. Es war keine Frage, es war eine Anklage.

»Ma’am.«

»Apropos merkwürdig. Direktor Harper hat mir eben gesagt, dass er dem Ravenwood-Mädchen einen Schulwechsel vorschlagen will. Sie kann zwischen Schulen in drei Landkreisen wählen. Solange es nicht Jackson ist.«

Ich antwortete nicht. Ich sah sie nicht einmal an.

»Es ist unsere Pflicht, Ethan. Direktor Harpers, meine – die aller Eltern in Gatlin. Wir müssen dafür sorgen, dass die jungen Leute in dieser Stadt wohlbehütet aufwachsen. Und dass sie nicht in schlechte Gesellschaft geraten.« Womit alle gemeint waren, die nicht so waren wie sie.

Mrs Lincoln streckte die Hand aus und legte sie mir auf die Schulter, genau so, wie sie es bei Emily gemacht hatte, vor nicht einmal zehn Minuten. »Du verstehst sicher, was ich damit sagen will. Schließlich bist du einer von uns. Dein Vater ist hier zur Welt gekommen und deine Mutter liegt hier begraben. Du gehörst hierher. Aber nicht alle gehören hierher.«

Ehe ich noch etwas sagen konnte, saß sie schon in ihrem Lieferwagen.

Diesmal hatte Mrs Lincoln mehr vor, als nur ein paar Bücher zu verbrennen.

Sobald ich im Unterricht saß, verlief der Rest des Tages ganz normal, beängstigend normal. Ich sah keine Eltern mehr, obwohl ich den starken Verdacht hegte, dass sie im Büro des Direktors herumlungerten. Zum Mittagessen aß ich zusammen mit den anderen Jungs wie üblich drei Portionen Schokoladenpudding, wobei es sich von selbst verstand, über was und über wen wir dabei nicht sprachen. Sogar der Anblick von Emily, die während der gesamten Englischstunde und auch noch während des Chemieunterrichts wie besessen SMS tippte, erschien mir beruhigend vertraut – wenn man einmal davon absah, dass ich genau wusste, um was oder besser um wen ihre SMS sich drehten. Wie gesagt: Alles war beängstigend normal.

Bis mich Link nach dem Basketballtraining absetzte und ich beschloss, etwas komplett Verrücktes zu tun.

Amma stand vorn an der Verandabrüstung – ein sicheres Zeichen, dass etwas nicht stimmte.

»Hast du sie getroffen?«

Das hätte ich voraussehen müssen. »Sie war heute nicht in der Schule.« Genau genommen stimmte das ja auch.

»Vielleicht war das auch gut so. Wohin dieses Mädchen auch geht, ihm folgt der Ärger wie Ravenwoods Hund. Ich möchte nicht, dass er dir auch noch in dieses Haus folgt.«

»Ich gehe unter die Dusche. Ist das Essen bald fertig? Link und ich wollen heute Abend noch an unserem Projekt arbeiten«, rief ich ihr von der Treppe aus zu und versuchte dabei, so beiläufig wie möglich zu klingen.

»Arbeiten? Welches Projekt?«

»In Geschichte.«

»Wann gehst du weg und wann willst du wieder zu Hause sein?«

Ich ließ die Tür des Badezimmers zufallen, damit ich um eine Antwort herumkam. Ich hatte einen Plan, aber ich brauchte eine Ausrede, und sie musste gut sein.

Zehn Minuten später, ich saß am Küchentisch, hatte ich die Ausrede parat. Sie war zwar nicht wasserdicht, aber es war das Beste, was mir in dieser kurzen Zeit eingefallen war. Nun musste ich sie nur noch an den Mann bringen. Ich war kein guter Lügner und Amma war nicht auf den Kopf gefallen. »Link holt mich nach dem Essen ab, und wir gehen in die Bibliothek, bis sie schließt. So gegen neun oder zehn.« Ich goss Carolina Gold über mein gegrilltes Schweinenackensteak. Carolina Gold, diese klebrige Senf-Barbecue-Soße, war das Einzige, wofür die Gegend von Gatlin bekannt war, das nichts mit dem Bürgerkrieg zu tun hatte.

»In die Bibliothek?«

Ich wurde immer nervös, wenn ich Amma anlog, deshalb versuchte ich, sie möglichst wenig anzulügen. Und heute Abend hatte ich wirklich ein schlechtes Gefühl, hauptsächlich im Magen. Was ich am wenigsten wollte, war drei Teller mit Grillfleisch zu essen, aber ich hatte keine andere Wahl. Amma wusste genau, wie viel ich verdrücken konnte. Zwei Teller, und sie würde Verdacht schöpfen. Einen Teller, und sie würde mich mit einem Thermometer und einem Ginger Ale in mein Zimmer schicken. Ich nickte und machte mich daran, meinen zweiten Teller leer zu essen.

»Du hast keinen Fuß mehr in die Bibliothek gesetzt seit …«

»Ich weiß.« Seit meine Mutter gestorben war.

Die Bibliothek war das zweite Zuhause meiner Mutter gewesen und das galt auch für mich. Als kleiner Junge hatte ich jeden Samstagnachmittag dort verbracht. Wir streiften durch die Regalreihen und zogen jedes Buch heraus, auf dem ein Piratenschiff, ein Ritter, ein Soldat oder ein Astronaut abgebildet war. Meine Mutter sagte immer: »Das ist meine Kirche, Ethan. So halten wir in unserer Familie den Sabbat heilig.«

Marian Ashcroft, die leitende Bibliothekarin von Gatlin, war die älteste Freundin meiner Mutter, die zweitbeste Historikerin neben meiner Mutter, und bis letztes Jahr forschten die beiden gemeinsam. Sie hatten zusammen in Duke das Examen abgelegt, und nachdem Marian ihren Doktortitel in Afro-Amerikanistik gemacht hatte, folgte sie meiner Mutter hierher nach Gatlin, wo sie gemeinsam ihr erstes Buch schrieben. Als der Unfall passierte, steckten sie mitten in der Arbeit zu ihrem fünften Buch.

Seit damals hatte ich keinen Fuß mehr in die Bibliothek gesetzt und auch jetzt war mir eigentlich noch nicht danach. Aber ich wusste, dass Amma mich keinesfalls davon abhalten würde, dorthin zu gehen. Sie würde nicht einmal anrufen, um sich zu vergewissern, dass ich wirklich da war. Marian Ashcroft gehörte zur Familie. Und Amma, die meine Mutter genauso geliebt hatte wie Marian, ging die Familie über alles.

»Also benimm dich und rede nicht so laut. Du weißt, was deine Mutter immer gesagt hat: Jedes Buch ist ein gutes Buch, und wo immer man gute Bücher sicher aufbewahrt, dort wohnt auch Gott.« Wie schon gesagt: Meine Mutter wäre nie in die TAR aufgenommen worden.

Link hupte. Er fuhr zur Bandprobe und nahm mich ein Stück mit. Ich floh aus der Küche, ich fühlte mich so schuldig, dass ich dem Drang nur schwer widerstehen konnte, mich in Ammas Arme zu werfen und ihr alles zu beichten, so als wäre ich wieder sechs Jahre alt und hätte sämtliche Vorräte an Jell-O aus der Speisekammer vertilgt. Vielleicht hatte Amma recht. Vielleicht hatte ich ja ein Loch in den Himmel gestoßen und nun fiel mir das ganze Universum auf den Kopf.

Während ich vor die Eingangstür von Ravenwood trat, umklammerte ich fest den glänzenden blauen Ordner, meine Entschuldigung dafür, dass ich ungebeten in Lenas Haus auftauchte. Ich kam vorbei, um ihr die Englischaufgaben zu bringen, die sie heute im Unterricht verpasst hatte – das hatte ich mir jedenfalls vorgenommen zu sagen. Es hatte überzeugend geklungen in meinen Ohren, als ich noch auf unserer eigenen Veranda stand. Aber jetzt, auf der Veranda von Ravenwood, war ich mir da nicht mehr so sicher.

Es war sonst nicht meine Gewohnheit, so etwas zu machen, aber mir war völlig klar, dass Lena mich von sich aus niemals einladen würde. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ihr Onkel uns weiterhelfen könnte, dass er etwas wissen könnte.

Vielleicht tat ich es auch aus einem ganz anderen Grund. Weil ich sie einfach sehen wollte. Es war ein unendlich langer, langweiliger Tag in Jackson gewesen ohne den Hurrikan Lena, und ich fing langsam an, mich zu fragen, wie ich die letzten acht Schuljahre überstanden hatte ohne das ganze Chaos, das sie angerichtet hatte. Ohne das ganze Chaos, das ich wegen ihr am liebsten angerichtet hätte.

Ein Lichtschein fiel aus den mit Weinranken überwucherten Fenstern. Im Hintergrund hörte ich Musik, alte Savannah-Lieder, besonders das eine aus Georgia, das meine Mutter so geliebt hatte. »In the cool cool cool of the evening …«

Bevor ich klopfen konnte, hörte ich ein Bellen hinter der Tür, und gleich darauf schwang sie auf. Lena stand barfuß vor mir, sie sah ganz anders aus als sonst, festlich, in einem schwarzen Kleid, auf das kleine Vögel gestickt waren, sie sah aus, als wollte sie gerade in ein schickes Restaurant gehen. Ich dagegen fiel ziemlich ab in meinem löchrigen Atari-T-Shirt und den Jeans. Sie trat auf die Veranda heraus und zog die Tür hinter sich zu. »Ethan, was machst du denn hier?«

Ich hielt verlegen den Ordner hoch. »Ich hab dir die Hausaufgaben gebracht.«

»Ich fasse es nicht, dass du hier so einfach auftauchst. Ich habe dir doch gesagt, dass mein Onkel keine Fremden mag.« Und schon schob sie mich wieder die Stufen hinunter. »Du musst gehen. Sofort.«

»Ich dachte, wir könnten mit ihm reden.« Hinter mir vernahm ich ein Räuspern. Ich schaute hoch und sah Macon Ravenwoods Hund und hinter ihm Macon Ravenwood persönlich. Ich versuchte, meine Überraschung zu verbergen, aber dass ich beinahe einen Satz gemacht hätte, hat mich, fürchte ich, verraten.

»Das höre ich wahrhaftig nicht oft. Natürlich komme ich dieser Bitte gerne nach, wie man es von einem echten Südstaatengentleman erwarten darf.« Er sprach auf die schleppende Art der Südstaatler, hatte jedoch eine makellose Aussprache. »Es ist mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen, Mr Wate.«

Ich konnte es nicht glauben, dass ich vor ihm stand. Vor ihm, dem geheimnisvollen Mr Ravenwood. Ich hatte wirklich erwartet, einen Boo Radley zu treffen – einen Kerl, der in Arbeitshosen ums Haus stapfte, eintönig vor sich hin brabbelte wie ein Neandertaler, und dem vielleicht auch noch der Speichel aus den Mundwinkeln tropfte.

Aber dieser Mann war kein Boo Radley. Dieser Mann war eher ein Atticus Finch.

Macon Ravenwood war tadellos gekleidet, so als wären wir, ich weiß nicht, im Jahr 1942. Sein blütenweißes Hemd hatte altmodische Silberknöpfe und sein schwarzes Dinnerjackett war makellos und saß perfekt. Seine Augen waren dunkel und leuchteten, man konnte fast meinen, sie seien schwarz. Sie waren verhangen, getönt, so wie die Scheiben des großen schwarzen Autos, mit dem Lena durch die Stadt fuhr. Man konnte nicht in diese Augen sehen, nichts spiegelte sich darin. Sie stachen hervor in seinem blassen Gesicht, das weiß war wie der Schnee, weiß wie Marmor, weiß wie, na ja, halt so weiß, wie man es von einem Einsiedler erwarten konnte. Seine Haare waren Salz und Pfeffer, vorne grau und am Scheitel so schwarz wie Lenas Haar.

Man hätte ihn für einen Filmstar aus der Zeit vor der Erfindung des Farbfilms halten können oder auch für den Regenten eines Zwergenstaats, von dem noch nie jemand gehört hatte. Aber Macon Ravenwood war von hier. Das war das Verrückte. Der alte Ravenwood war der Schwarze Mann von Gatlin, das hatte man mir von Kindesbeinen an eingetrichtert. Aber jetzt kam er mir vor, als gehörte er viel weniger in diese Stadt als ich.

Er klappte das Buch zu, das er in der Hand hielt, ohne den Blick von mir zu wenden. Er sah mich an, ja, er sah fast in mich hinein, als suche er etwas. Vielleicht hatte der Typ einen Röntgenblick. Wenn ich an die vergangene Woche zurückdachte, kam mir nichts unmöglich vor.

Mein Herz klopfte so laut, dass ich sicher war, er könnte es hören. Macon Ravenwood hatte mich völlig aus der Fassung gebracht und er wusste es. Keiner von uns lächelte. Sein Hund stand aufmerksam und sprungbereit an seiner Seite, als warte er darauf, dass der alte Ravenwood ihm befahl, mich anzugreifen.

»Wo habe ich nur meine Manieren gelassen? Treten Sie doch bitte ein, Mr Wate. Wir wollten gerade zu Abend essen. Sie müssen uns Gesellschaft leisten. Das Abendessen ist hier in Ravenwood immer eine große Angelegenheit.«

Ich blickte Lena an und hoffte, sie würde mir irgendein Zeichen geben.

Sag ihm, dass du nicht bleiben möchtest.

Glaub mir, das will ich wirklich nicht.

»Nein, danke, Sir. Ich möchte Sie nicht stören. Ich wollte Lena nur die Hausaufgaben vorbeibringen.« Wieder hielt ich den blauen Ordner hoch.

»Unsinn, Sie müssen zum Essen bleiben. Und nach dem Essen werden wir uns im Wintergarten ein paar Zigarren genehmigen, oder bevorzugen Sie Zigarillos? Es sei denn, es ist Ihnen unangenehm reinzukommen, was ich durchaus verstehen könnte.« Ich wusste nicht, ob er einen Scherz machte oder nicht.

Lena legte den Arm um seine Taille, und ich sah, wie sich sein Gesichtsausdruck augenblicklich änderte. Es war, als bräche die Sonne an einem trüben Tag durch die Wolken.

»Onkel M, bitte treib keine Späße mit Ethan. Er ist der einzige Freund, den ich hier habe, und wenn du ihn vergraulst, werde ich zu Tante Del ziehen, dann hast du niemanden mehr, den du ärgern kannst.«

»Ich habe immer noch Boo.« Der Hund blickte fragend zu Macon auf.

»Den nehme ich mit. Schließlich läuft er mir durch die ganze Stadt hinterher und nicht dir.«

Ich musste einfach fragen. »Boo? Heißt der Hund Boo Radley?«

Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über Macons Gesicht. »Besser er als ich.« Er warf den Kopf in den Nacken und lachte, was mich erschreckte, denn irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, dass er überhaupt lächeln konnte. Schwungvoll öffnete er die Tür hinter sich. »Bleiben Sie bei uns, Mr Wate. Ich habe so gerne Gesellschaft, und es ist schon eine Ewigkeit her, seit wir in Ravenwood das Vergnügen hatten, einen Gast aus unserem wunderbaren kleinen Städtchen zu bewirten.«

Lena lächelte gequält. »Sei nicht hochnäsig, Onkel M. Es ist nicht ihre Schuld, dass du mit keinem von ihnen redest.«

»Und es ist nicht meine Schuld, dass ich eine Vorliebe für gutes Benehmen, ein bisschen Verstand und leidliche Körperpflege habe, wobei mir die Reihenfolge egal ist.«

»Hör nicht auf ihn. Er ist einfach in gereizter Stimmung heute.« Lena warf mir einen entschuldigenden Blick zu.

»Lass mich raten. Hat es etwas mit Direktor Harper zu tun?«

Lena nickte. »Die Schule hat heute angerufen. Solange man den Vorfall untersucht, so lange nehme ich auf Bewährung am Unterricht teil.« Sie verdrehte die Augen. »Wenn ich mir noch etwas zuschulden kommen lasse, werde ich von der Schule gewiesen.«

Macon lachte geringschätzig, als unterhielten wir uns über eine völlig bedeutungslose Angelegenheit. »Bewährung? Wie amüsant. Bewährung würde irgendeine richterliche Autorität voraussetzen.« Er schob uns beide vor sich her ins Haus hinein. »Ein übergewichtiger Highschool-Direktor, der mit knapper Not das College geschafft hat, und eine Bande von aufgescheuchten Hausfrauen mit Schoßhündchen, von denen es keines mit Boo Radley aufnehmen könnte, kommen dafür wohl kaum infrage.«

Ich trat über die Schwelle und blieb wie angewurzelt stehen. Die Eingangshalle war hoch und riesig, keine Spur mehr von dem Muster-Reihenhaus, das ich hier erst vor ein paar Tagen vorgefunden hatte. Ein wuchtiges Ölbild, das Porträt einer blendend schönen Frau mit leuchtenden goldenen Augen, hing über dem Treppenaufgang, der auch kein gewöhnlicher Treppenaufgang mehr war, sondern eine typische frei schwebende Treppe, die nur von der Luft getragen zu werden schien. Hier hätte Scarlett O’Hara im Reifrock herunterschweben können und sie hätte kein bisschen fehl am Platz gewirkt. Riesige Kristalllüster hingen von der Decke. Die Eingangshalle war vollgestopft mit alten viktorianischen Möbeln, kleinen Sitzgruppen mit fein bestickten Stühlen, Marmortischchen und zierlichen Farnen. Überall brannten Kerzen. Hohe Türen standen weit auf, überall duftete es nach Gardenien, die in silbernen Vasen kunstvoll arrangiert auf den Tischen standen.

Einen Moment lang glaubte ich, zurück in einer der Visionen zu sein. Aber das Medaillon steckte gut verwahrt und in ein Taschentuch eingewickelt in meiner Hosentasche. Ich war mir sicher, denn ich hatte es eigens überprüft.

Ich wurde einfach nicht schlau daraus. Ravenwood hatte sich in einen völlig anderen Ort verwandelt, seit ich zum letzten Mal hier gewesen war. Es schien unmöglich, als wäre ich eine andere Zeit zurückversetzt worden, was ganz unmöglich war. Auch wenn es nur ein Traum war, ich wünschte, meine Mutter hätte es hier sehen können. Ihr hätte das Haus gefallen. Erst jetzt fühlte es sich echt an, und ich wusste, so sah das Herrenhaus die meiste Zeit über aus. Es war so echt wie Lena, wie der ummauerte Garten, wie Greenbrier.

Warum hat es neulich anders ausgesehen?

Wovon sprichst du?

Ich denke, du weißt, wovon ich spreche.

Macon ging vor uns her. Wir bogen um eine Ecke und kamen in einen Raum, der in der letzten Woche noch ein gemütliches, kleines Wohnzimmer gewesen war. Jetzt aber war daraus ein prächtiger Ballsaal geworden, in dem ein langer Tisch mit Klauenfüßen stand, der für drei gedeckt war, so als hätten sie mich bereits erwartet.

Ein Klavier klimperte in einer Ecke vor sich hin. Ich vermutete, dass es eines von diesen mechanischen Pianos war. Die ganze Szene war unheimlich, der Raum hätte erfüllt sein müssen vom Klirren der Gläser und vom Lachen der Menschen. Ravenwood gab die größte Party des Jahres, aber ich war der einzige Gast.

Macon redete immer noch. Alles, was er sagte, hallte wider von den riesigen, mit Fresken geschmückten Wänden und den gewölbten Stuckdecken. »Ich glaube, ich bin ein Snob. Ich kann Städte nicht ausstehen. Ich kann Stadtmenschen nicht ausstehen. Sie haben einen kleinen Geist und riesige Hintern. Oder anders gesagt: Was ihnen an Intelligenz fehlt, das machen sie mit ihrem Sitzfleisch wett. Mit ihnen ist es wie mit ungesundem Essen. Fett, aber leider entsetzlich wenig Gehalt.« Er lächelte, aber es war kein freundliches Lächeln.

»Warum ziehen Sie nicht einfach weg?« Ich spürte, wie Ärger in mir hochstieg und mich wieder in die Wirklichkeit zurückbrachte, was für eine Wirklichkeit es auch immer sein mochte, in der ich mich gerade befand. Es war etwas völlig anderes, ob ich mich über Gatlin lustig machte oder ob Macon Ravenwood es tat. Dazwischen lagen Welten.

»Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich bin in Ravenwood zu Hause, nicht in Gatlin.« Er spuckte den Namen aus, als wäre er giftig. »Wenn ich einst das Zeitliche segne, dann muss ich jemanden suchen, der sich an meiner Stelle um Ravenwood kümmert, da ich selbst keine Kinder habe. Es war schon immer meine größte und schwerste Aufgabe, Ravenwood am Leben zu erhalten. Ich verstehe mich selbst als Kurator eines lebendigen Museums.«

»Sei nicht so dramatisch, Onkel M.«

»Sei nicht so diplomatisch, Lena. Ich verstehe nicht, warum du dich mit diesen tumben Stadtleuten abgeben willst.«

Ich muss zugeben, an dem, was er sagt, ist was dran.

Willst du, dass ich nicht mehr in die Schule gehe?

Nein … ich wollte damit nur sagen …

Macon sah mich an. »Anwesende ausgeschlossen.«

Je mehr er redete, desto neugieriger wurde ich. Wer konnte ahnen, dass der alte Ravenwood der drittintelligenteste Mensch in der ganzen Stadt war, nach meiner Mutter und Marian Ashcroft? Oder vielleicht auch der viertintelligenteste, je nachdem ob mein Vater jemals wieder so sein würde wie früher.

Ich versuchte, den Titel des Buches zu lesen, das Macon in der Hand hielt. »Was ist das, Shakespeare?«

»Betty Crocker, eine außergewöhnliche Frau. Ich habe mich gerade daran zu erinnern versucht, was man hier in der Stadt typischerweise zu Abend isst. Ich hatte heute Appetit auf regionale Küche. Und ich entschied mich für gegrilltes Schweinenackensteak.« Schon wieder. Mir wurde übel, wenn ich nur daran dachte.

Macon rückte mit einer Verbeugung Lenas Stuhl zurecht. »Da wir gerade von Einladungen zum Essen sprechen, Lena, deine Cousinen kommen zur Zusammenkunft. Wir dürfen nicht vergessen, Haus und Küche Bescheid zu sagen, dass wir fünf Personen mehr sein werden.«

Lena sah verlegen aus. »Ich werde es der Haushälterin und dem Küchenpersonal sagen, das meinst du doch, oder?«

»Was ist das für eine Zusammenkunft?«, fragte ich.

»Meine Familie ist ein wenig eigenartig. Die Zusammenkunft ist bloß ein Erntefest, eine Art vorgezogenes Thanksgiving. Vergiss es einfach.« Ich hatte nicht angenommen, dass überhaupt je Besuch nach Ravenwood kam, ob Familie oder nicht. Ich hatte nie auch nur ein einziges Auto an der Straßengabelung abbiegen sehen.

Macon schien sich zu amüsieren. »Wie du meinst. Da wir gerade von der Küche reden, ich bin völlig ausgehungert. Ich gehe mal nachsehen, was sie für uns gezaubert hat.« Während er sprach, hörte ich von irgendwoher, weit weg vom Ballsaal, das Klappern von Töpfen und Pfannen.

»Bitte übertreib es nicht, Onkel M.«

Ich sah Macon Ravenwood nach, wie er in einen Salon trat, dann war er verschwunden. Auf dem gewienerten Boden war noch das Klacken seiner eleganten Schuhe zu hören. Dieses Haus war einfach irre. Im Vergleich dazu war das Weiße Haus eine Bruchbude.

»Lena, was geht hier vor?«

»Wie meinst du das?«

»Woher wusste er, dass er für mich decken soll?«

»Er muss es gemacht haben, als er uns beide auf der Veranda gesehen hat.«

»Was ist mit diesem Haus los? Ich war hier an dem Tag, an dem wir das Medaillon gefunden haben. Da sah es völlig anders aus.«

Sag es mir. Du kannst mir vertrauen.

Sie spielte mit dem Saum ihres Kleides. »Mein Onkel steht auf Antiquitäten«, sagte sie stur. »Hier im Haus sieht es ständig anders aus. Spielt das eine Rolle?«

Was auch immer hier vor sich ging, sie würde es mir nicht erzählen, im Moment jedenfalls nicht. »In Ordnung. Darf ich mich ein wenig umschauen?«

Sie zog die Stirn in Falten, sagte jedoch kein Wort. Ich stand vom Tisch auf und ging in den angrenzenden Salon. Er war wie ein kleines Arbeitszimmer eingerichtet, mit Sofas, einem Kamin und zierlichen Schreibtischen. Vor dem Feuer lag Boo Radley. Kaum hatte ich einen Fuß in das Zimmer gesetzt, fing er an zu knurren.

»Braves Hundchen.« Er knurrte lauter. Ich ging rückwärts aus dem Zimmer. Er hörte auf zu knurren und ließ den Kopf sinken.

Auf dem Tisch neben mir lag ein Päckchen, das in braunes Papier eingeschlagen und mit einer Schnur zugebunden war. Ich nahm es in die Hand. Es trug den Stempel der Stadtbibliothek von Gatlin. Ich kannte diesen Stempel. Meine Mutter hatte Hunderte solcher Päckchen bekommen. Nur Marian Ashcroft machte sich die Mühe, Bücher so einzupacken.

»Interessieren Sie sich für Bibliotheken, Mr Wate? Kennen Sie Marian Ashcroft?« Plötzlich stand Macon neben mir, nahm mir das Päckchen aus der Hand und betrachtete es mit Entzücken.

»Ja, Sir. Marian Ashcroft war die beste Freundin meiner Mutter. Sie haben zusammen gearbeitet.«

Macons Augen blitzten auf, dann war seine Miene wieder so undurchdringlich wie zuvor. Der Moment war verflogen. »Natürlich. Wie unglaublich dumm von mir, Ethan Wate. Ich kannte Ihre Mutter.«

Ich erstarrte. Woher kannte Macon Ravenwood meine Mutter?

Ein merkwürdiger Ausdruck trat auf sein Gesicht, als erinnere er sich an etwas, das er längst vergessen hatte. »Natürlich nur durch ihre Bücher. Ich habe alles gelesen, was sie geschrieben hat. Wenn Sie sich die Fußnoten in ihrem Buch Pflanzungen und Pflanzen – Der geteilte Garten genauer betrachten, dann werden Sie feststellen, dass viele der Quellen, auf die sie sich stützt, aus meiner Sammlung kamen. Ihre Mutter war brillant, ein großer Verlust.«

Ich rang mir ein Lächeln ab. »Vielen Dank.«

»Es wäre mir natürlich eine Ehre, Ihnen meine Bibliothek zu zeigen. Ich würde mit Vergnügen meine Sammlung mit dem einzigen Sohn von Lila Evers teilen.«

Ich sah ihn an, verblüfft, den Namen meiner Mutter aus Macon Ravenwoods Mund zu hören. »Wate. Lila Evers Wate.«

Er lächelte noch breiter. »Natürlich. Aber eins nach dem anderen. Da die Küche verstummt ist, nehme ich an, dass das Essen serviert ist.« Er klopfte mir auf die Schulter und wir gingen in den großen Ballsaal zurück.

Lena saß am Tisch und wartete auf uns; sie zündete gerade eine Kerze wieder an, die der Nachtwind ausgeblasen hatte. Auf dem Tisch stand ein erlesenes Festessen, obwohl ich mir nicht erklären konnte, wie es dorthin gekommen war. Außer uns dreien hatte ich im ganzen Haus keinen Menschen gesehen. Erst dieses verwandelte Haus, dann der Wolfshund und jetzt das. Und ich hatte allen Ernstes geglaubt, dass Macon Ravenwood das Sonderbarste an diesem Abend sein würde.

Das Essen hätte für die TAR, jedes Kirchengemeindefest der Stadt und die Basketballmannschaft zusammen gereicht. Nur dass solche Speisen in Gatlin noch nie auf den Tisch gekommen waren. Da war ein ganzes geröstetes Schwein, dem ein Apfel im Maul steckte. Neben einer tranchierten Gans, die mit Esskastanien überhäuft war, stand eine Hochrippe mit kleinen Papierkrönchen oben auf jeder Rippe. Es gab Schüsseln und Schalen mit Bratensaft und Soße, mit Sahne, Gebäck und Brot, mit Gemüse, Rüben und Aufstrichen, deren Namen ich nicht kannte. Und natürlich Sandwiches mit Schweinenackensteaks, die zwischen all den anderen Speisen völlig fehl am Platz wirkten. Ich schaute zu Lena hinüber, und mir wurde schlecht bei dem Gedanken daran, wie viel ich essen musste, wenn ich jetzt nicht unhöflich sein wollte.

»Onkel M. Das ist doch viel zu viel.« Boo, der sich vor Lenas Stuhl zusammengerollt hatte, klopfte erwartungsvoll mit dem Schwanz.

»Unsinn. Heute feiern wir. Du hast einen Freund gefunden. Die Küche wird es uns sonst übel nehmen.«

Lena blickte mich ängstlich an, so als rechnete sie damit, dass ich zur Toilette gehen und mich davonmachen würde. Ich zuckte die Achseln und lud mir meinen Teller voll. Vielleicht erließ mir Amma ja das Frühstück morgen.

Als Macon sein drittes Glas Scotch leerte, schien mir der Zeitpunkt gekommen, die Rede auf das Medaillon zu bringen. Wenn ich so darüber nachdachte, hatte ich immer nur gesehen, wie er sich Speisen auf seinen Teller lud, aber nie, dass er tatsächlich etwas aß. Sie verschwanden von seinem Teller, nachdem er nur paar winzige Bissen zu sich genommen hatte. Wahrscheinlich war Boo Radley der glücklichste Hund der ganzen Stadt.

Ich faltete meine Serviette zusammen. »Darf ich Sie etwas fragen, Sir? Da Sie offenbar so viel über Geschichte wissen und ich, na ja, meine Mutter jetzt nicht mehr fragen kann.«

Was tust du da?

Ich will ihn nur etwas fragen.

Er weiß nichts.

Lena, wir müssen es versuchen.

»Aber gern.« Macon nippte an seinem Glas.

Ich griff in meine Tasche, zog das Medaillon aus dem Beutel und achtete sorgsam darauf, dass es nicht aus dem Taschentuch rutschte. Alle Kerzen gingen zischend aus. Die Lichter wurden dunkler und erloschen. Sogar das Klavier hörte zu spielen auf.

Ethan, was machst du?

Ich mache gar nichts.

Im Dunkeln hörte ich Macons Stimme. »Was hast du in der Hand, mein Sohn?«

»Es ist ein Medaillon, Sir.«

»Würde es dir sehr viel ausmachen, es wieder einzustecken?« Seine Stimme war ruhig, aber ich wusste, dass er es nicht war. Ich spürte, dass er sich nur unter größter Anstrengung beherrschen konnte. Seine Gewandtheit war wie weggeblasen. In seiner Stimme lag eine neue Schärfe, etwas Gehetztes, was er sich auf keinen Fall anmerken lassen wollte.

Ich stopfte das Medaillon wieder in den Beutel und steckte ihn in die Tasche. Auf der anderen Seite des Tisches tippte Macon die Kandelaber mit den Fingerspitzen an. Eine nach der anderen fingen die Kerzen auf dem Tisch wieder an, zu brennen. Das Festmahl aber war verschwunden.

Im Schein der Kerzen sah Macon unheimlich aus. Und zum ersten Mal, seit ich ihn kennengelernt hatte, war er stumm. Er schwieg, so als würde er die Möglichkeiten, die er hatte, auf einer unsichtbaren Waage bemessen, auf der auf geheimnisvolle Weise unsere Schicksale lagen. Es war an der Zeit zu gehen. Lena hatte recht gehabt, das war kein guter Einfall gewesen. Vielleicht hatte es ja seinen Grund, weshalb Macon Ravenwood nie sein Haus verließ.

»Es tut mir leid, Sir. Ich wusste nicht, dass so etwas passieren würde. Unsere Haushälterin, Amma, benahm sich, als wäre es – als wäre es etwas wirklich Machtvolles, als ich es ihr zeigte. Aber als Lena und ich das Medaillon gefunden haben, ist nichts Schlimmes passiert.«

Sag ihm nichts mehr. Sag nichts von den Visionen.

Das werde ich nicht. Ich wollte nur herausfinden, ob ich mit Genevieve recht hatte.

Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, ich hatte nicht vor, Macon Ravenwood davon zu erzählen. Ich wollte nur raus hier. Ich stand langsam auf. »Ich glaube, ich sollte nun nach Hause gehen, Sir. Es ist schon spät.«

»Würde es dir etwas ausmachen, mir das Medaillon zu beschreiben?« Es klang wie ein Befehl. Ich sagte kein Wort.

Lena war es, die schließlich sprach. »Es ist alt und schon etwas abgewetzt. Auf der Vorderseite ist eine Kamee. Wir haben es in Greenbrier gefunden.«

Macon drehte aufgeregt an seinem Silberring. »Du hättest mir sagen müssen, dass du nach Greenbrier gehst. Das gehört nicht mehr zu Ravenwood. Ich kann für deine Sicherheit dort nicht garantieren.«

»Ich war dort vollkommen sicher. Ich habe es gespürt.«

Sicher wovor? Hier schien jemand mehr als ein wenig überbesorgt.

»Das warst du nicht. Es ist jenseits der Grenzen. Man kann es nicht kontrollieren. Niemand kann es kontrollieren. Es gibt so vieles, was du nicht weißt. Und er …«, Macon zeigte auf mich, der ich am anderen Ende des Tisches stand, »er weiß nichts. Er kann dich nicht beschützen. Du hättest ihn nicht in dieses Haus bringen dürfen.«

Ich konnte nicht länger schweigen. Ich musste reden. Er sprach über mich, als wäre ich Luft. »Das geht mich auch etwas an, Sir. Auf der Rückseite des Medaillons sind Initialen. ECW. ECW bedeutet Ethan Carter Wate, das war mein Ururururgroßonkel. Die anderen Initialen lauten GKD, und wir sind uns ziemlich sicher, dass D für Duchannes steht.«

Ethan, hör auf.

Aber ich konnte nicht aufhören zu reden. »Es gibt keinen Grund, uns etwas zu verheimlichen, denn was immer auch geschieht, es betrifft uns beide. Und ob es Ihnen gefällt oder nicht, ich glaube, es passiert gerade im Moment wieder.« Eine Vase mit Gardenien flog quer durchs Zimmer und zerschellte an der Wand. Das war der Macon Ravenwood, über den wir uns als Kinder alles Mögliche erzählt hatten.

»Sie wissen nicht, wovon Sie sprechen, junger Mann.« Er starrte mich an mit einer so gespenstischen Intensität, dass es mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Er war jetzt kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Ich war zu weit gegangen. Boo Radley stand auf und lief hinter Macon auf und ab, als lauerte er einer Beute auf, seine Augen waren geisterhaft rund und so vertraut.

Sag nichts mehr.

Macon Ravenwood kniff die Augen zusammen. Seine Filmstaraura war dahin, sie war etwas gewichen, das viel düsterer war. Ich wollte weglaufen, aber ich war wie angewurzelt, wie gelähmt.

Ich hatte mich getäuscht, was Ravenwood Manor und Macon Ravenwood anging. Ich hatte Angst vor beiden.

Als er schließlich zu sprechen begann, redete er mehr zu sich selbst. »Fünf Monate. Wisst ihr, was ich auf mich nehmen werde, damit sie während dieser fünf Monate in Sicherheit ist? Was es mich kosten wird? Wie es mich auslaugen, vielleicht sogar zerstören wird?« Wortlos stellte sich Lena neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. Und dann hatte sich das Unwetter in seinen Augen so schnell wieder verzogen, wie es gekommen war, und er hatte seine Fassung wiedergewonnen.

»Mir scheint, Amma ist eine sehr kluge Frau. Ich würde auf ihren Rat hören und das Medaillon dorthin zurückbringen, wo ihr es gefunden habt. Bitte, bringt es nicht wieder in mein Haus.« Macon erhob sich und warf seine Serviette auf den Tisch. »Ich glaube, wir werden unsere kleine Bibliotheksführung verschieben müssen, meinen Sie nicht auch? Lena, würdest du dafür sorgen, dass dein Freund nach Hause kommt? Es war ein außergewöhnlicher Abend. Höchst erhellend. Besuchen Sie uns doch bitte wieder, Mr Wate.«

Und dann war der Raum dunkel und Macon Ravenwood verschwunden.

Ich konnte gar nicht schnell genug ins Freie gelangen. Ich wollte nur weg von Lenas unheimlichem Onkel und seinem verrückten Haus. Was zum Teufel war geschehen? Lena drängte mich zur Tür, als hätte sie Angst, dass noch etwas passierte, wenn sie mich nicht schleunigst nach draußen brachte.

Als wir durch die große Halle gingen, bemerkte ich etwas, was mir vorher nicht aufgefallen war.

Das Medaillon. Die Frau mit den gespenstischen goldenen Augen auf dem Ölgemälde trug das Medaillon. Ich packte Lena am Arm. Sie sah es auch und erstarrte.

Das war vorher nicht da.

Was meinst du?

Das Bild hing schon hier, als ich noch ein Kind war. Ich bin tausendmal daran vorbeigegangen. Sie trug niemals ein Medaillon.