Marian rührte in ihrem Tee. »Zucker?«

Sie sah nicht hin, als ich Zuckerberge in meine Tasse löffelte. »Genau genommen hat uns dieses Medaillon interessiert.« Sie zeigte auf ein anderes Foto von Genevieve. Auf diesem Bild trug sie das Schmuckstück.

»Es ging uns dabei um eine spezielle Geschichte. Eine Liebesgeschichte, um genau zu sein.« Sie lächelte traurig. »Deine Mutter war sehr romantisch veranlagt, Ethan.«

Ich warf Lena einen Blick zu. Wir wussten, worauf Marian hinauswollte.

»Sie dürfte euch beide interessieren, denn in dieser Liebesgeschichte spielen sowohl die Duchannes als auch die Wates eine Rolle. Ein Soldat der Konföderierten und die schöne Mistress von Greenbrier.«

Es ging um die Visionen, zu denen uns das Medaillon verholfen hatte. Um den Brand von Greenbrier. Das letzte Buchprojekt meiner Mutter handelte ausgerechnet davon, was zwischen Genevieve und Ethan geschehen war, zwischen Lenas Ururururgroßmutter und meinem Ururururgroßonkel.

Als meine Mutter starb, arbeitete sie gerade daran. So war es in Gatlin. Nichts passierte hier nur ein einziges Mal.

Lena war blass geworden. Sie hatte sich vorgebeugt und meine Hand genommen, jetzt ruhten unsere Hände auf der staubigen Tischplatte. Sofort spürte ich das vertraute Kribbeln.

»Hier. Das ist der Brief, der uns erst auf die Idee zu diesem Projekt gebracht hat.« Marian breitete auf dem Nebentisch zwei Pergamentblätter aus. Insgeheim freute ich mich darüber, dass sie den Arbeitstisch meiner Mutter so belassen hatte, wie er war. Für mich war er ein Andenken, passender als die Blumen, die alle auf ihren Sarg gelegt hatten. Die Frauen von der TAR, die zur Beerdigung gekommen waren, hatten den Sarg regelrecht mit Nelken überschüttet, obwohl meine Mutter Nelken nicht mochte. Die ganze Stadt, die Baptisten, die Methodisten, sogar die Pfingstler waren auf den Beinen, wenn jemand geboren, verheiratet oder beerdigt wurde.

»Du kannst ihn lesen, aber nimm ihn nicht in die Hand. Der Brief ist einer der ältesten Gegenstände, die wir in Gatlin haben.«

Lena beugte sich über den Brief und hielt mit der Hand ihr Haar zurück, damit es nicht auf die alten Blätter fiel. »Sie sind unsterblich ineinander verliebt, aber sie sind zu verschieden.« Sie überflog den Brief. »Von zweierlei Art, nennt er es. Ihre Familien wollen die beiden trennen. Obwohl er nicht an die gerechte Sache in diesem Krieg glaubt, will er sich als Freiwilliger melden, in der Hoffnung, dass ihre Familie ihn akzeptieren wird, wenn er für die Sache des Südens kämpft.«

Marian schloss die Augen und wiederholte aus dem Gedächtnis:

»Ich könnte genauso gut ein Affe wie ein Mensch sein, in Greenbrier würde das nichts ändern. Und obwohl ich nur ein einfacher Sterblicher bin, bricht mir vor Schmerz das Herz bei dem Gedanken, den Rest meines Lebens ohne Genevieve verbringen zu müssen.«

Es hörte sich an wie ein Gedicht. Es waren Zeilen, wie Lena sie in meiner Vorstellung schrieb.

Marian öffnete die Augen. »Wie Atlas, der die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern spürt.«

»Das alles ist so traurig«, sagte Lena und sah mich an.

»Sie haben sich geliebt. Und es war Krieg. Ich sage es euch ungern, aber die Geschichte hat nach allem, was wir wissen, ein schlimmes Ende genommen.«

»Und was hat es mit diesem Medaillon auf sich?« Ich deutete auf das Foto. Beinahe scheute ich mich, danach zu fragen.

»Vermutlich hat Ethan es Genevieve geschenkt, um ihre heimliche Verlobung zu besiegeln. Wir wissen nicht, was dann damit geschah. Niemand hat es nach jener Nacht, in der Ethan starb, gesehen. Genevieves Vater zwang seine Tochter, einen anderen Mann zu heiraten, aber es geht das Gerücht, dass sie das Medaillon aufbewahrte und damit begraben wurde. Man sagt, es sei ein mächtiger Talisman gewesen, das gebrochene Band einer gebrochenen Liebe.«

Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Dieser mächtige Talisman war nicht mit Genevieve begraben worden, er war in meiner Hosentasche, und es war noch dazu ein Dunkler Talisman, wenn man Amma und Macon glauben durfte. Gerade jetzt fühlte er sich pochend heiß an, als hätte er in glühenden Kohlen gelegen.

Ethan, tu’s nicht.

Wir müssen. Sie kann uns helfen. Meine Mutter hätte uns geholfen.

Ich griff in die Hosentasche, schob das Taschentuch beiseite, um die abgewetzte Kamee zu berühren, dann nahm ich Marians Hand und hoffte, dass das Medaillon auch diesmal wieder seine Kräfte zeigen würde. Ihre Teetasse fiel klirrend zu Boden. Der Raum fing an, sich um uns zu drehen.

»Ethan!«, schrie Marian laut.

Lena nahm Marians Hand. Das Licht im Raum verlosch. »Keine Angst. Wir bleiben bei dir.« Lenas Stimme klang wie von sehr weit her und in der Ferne hörte ich Gewehrschüsse.

Nach wenigen Augenblicken ging Regen nieder in der Bibliothek …

Der Regen prasselte auf sie herab. Der Sturm tobte und erstickte langsam die Flammen, aber es war nichts mehr zu retten.

Genevieve starrte auf die Überreste des einst prachtvollen Hauses. Sie hatte heute alles verloren. Ihre Mutter. Evangeline. Sie durfte Ethan nicht auch noch verlieren.

Durch den Schlamm kam Ivy auf sie zugerannt, in ihrem Rock trug sie die Dinge, die Genevieve ihr zu holen aufgetragen hatte.

»Ich komme zu spät, Gott im Himmel, ich komme zu spät«, schluchzte Ivy. Sie blickte sich ängstlich um. »Kommt, Miss Genevieve, hier können wir nichts mehr tun.«

Aber Ivy irrte sich. Eines gab es noch zu verrichten.

»Es ist nicht zu spät. Es ist nicht zu spät«, wiederholte Genevieve immer und immer wieder.

»Ihr redet wirr, Miss.«

Genevieve warf Ivy einen verzweifelten Blick zu. »Ich brauche das Buch.«

Ivy wich entsetzt zurück und schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr müsst die Finger von dem Buch lassen. Ihr wisst nicht, was Ihr damit heraufbeschwört.«

Genevieve packte die alte Frau an den Schultern. »Ivy, das ist die einzige Möglichkeit. Du musst es mir geben.«

»Ihr wisst nicht, worum Ihr mich bittet. Ihr wisst gar nichts über das Buch …«

»Gib es mir oder ich mache mich selbst auf die Suche danach.«

Schwarze Rauchwolken stiegen hinter ihnen auf, das Feuer zischte noch immer und verschlang, was vom Hause übrig geblieben war.

Ivy gab nach, raffte ihre zerrissenen Röcke und führte Genevieve weg von dem Ort, der früher einmal der Zitronenhain ihrer Mutter gewesen war. Weiter als bis hierher war Genevieve nie gekommen. Hinter diesem Hain gab es nichts als Baumwollfelder, zumindest hatte man ihr das immer gesagt. Und es hatte sie nie in diese Felder gezogen, außer bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie und Evangeline Verstecken gespielt hatten.

Ivy schritt zielstrebig voran. Sie wusste genau, wohin sie ging. In der Ferne hörte Genevieve noch immer Gewehrschüsse und die gellenden Schreie ihrer Nachbarn, die mit ansehen mussten, wie ihre Häuser niederbrannten.

Ivy blieb in der Nähe eines Wildwuchses aus Schlingpflanzen, Rosmarin und Jasmin stehen, die an einer alten steinernen Wand hinaufrankten. Sie verdeckten fast einen schmalen Durchgang. Ivy bückte sich und ging hindurch. Genevieve folgte ihr. Der Torbogen musste einst zu einer großen Mauer gehört haben, die den Ort kreisrund begrenzte.

»Wo sind wir hier?«

»An einem Ort, den Eure Mutter vor Euch geheim halten wollte, sonst würdet Ihr wissen, wozu er dient.«

In einiger Entfernung sah Genevieve kleine Steine aus der Erde emporragen. Natürlich. Es war der Friedhof der Familie. Genevieve erinnerte sich, schon einmal hier gewesen zu sein, damals war sie noch sehr jung gewesen, und ihre Großmutter war gerade gestorben. Die Beerdigung hatte in der Nacht stattgefunden, ihre Mutter hatte, vom Mondlicht beschienen, im hohen Gras gestanden und Worte in einer Sprache geflüstert, die Genevieve und ihre Schwester nicht kannten. »Was suchen wir hier?«

»Ihr wollt doch das Buch, oder nicht?«

»Es ist hier draußen?«

Ivy blieb stehen und blickte Genevieve erstaunt an. »Wo sonst sollte es sein?«

Ein Stück weiter stand ein fast völlig überwuchertes Bauwerk. Es war eine Gruft. Ivy blieb am Eingang stehen. »Seid Ihr sicher, dass …«

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit!« Genevieve wollte die Tür öffnen, aber da war kein Türknauf. »Wie geht sie auf?«

Die alte Frau stellte sich auf die Zehenspitzen und tastete über der Tür. Im Feuerschein aus der Ferne konnte Genevieve dort einen kleinen, glatten Stein erkennen, in den eine Mondsichel eingemeißelt war. Ivy legte die Hand auf den Mond und drückte dagegen. Die Tür bewegte sich und öffnete sich knirschend, Stein schleifte auf Stein. Ivy griff nach etwas auf der anderen Seite des Eingangs. Eine Kerze.

Ihr Licht erleuchtete den kleinen Raum. Er maß höchstens ein paar Schritt im Durchmesser. Aber auf jeder Seite standen alte Holzregale, auf denen sich Röhrchen und Fläschchen mit Blüten, Pülverchen und trüben Tinkturen reihten. In der Mitte des Raums befand sich ein verwitterter Steintisch, auf dem ein altes Holzkistchen lag. Es war in jeder Hinsicht schmucklos, die einzige Zierde war eine winzige Mondsichel, die in den Deckel eingraviert war und die genauso aussah wie die Mondsichel auf dem Stein über der Tür.

»Ich rühr es nicht an«, sagte Ivy leise, als fürchtete sie, das Holzkistchen könne sie hören.

»Ivy, es ist doch nur ein Buch.«

»Es ist nicht nur ein Buch, und am allerwenigsten in Eurer Familie.«

Genevieve hob den Deckel sachte an. Das Buch war in schwarzes Leder gebunden, das schon Risse bekommen hatte, es sah eher grau als schwarz aus. Es trug keine Aufschrift, aber auch hier war der kleine Mond auf den Einband geprägt. Zögernd hob Genevieve das Buch heraus. Ivy war sehr abergläubisch. Aber obwohl Genevieve sich über die Alte lustig gemacht hatte, wusste sie doch auch, dass sie eine weise Frau war. Sie las die Zukunft aus Karten und Teeblättern, und Genevieves Mutter fragte Ivy fast in jeder Angelegenheit um Rat, zum Beispiel wann der beste Zeitpunkt war, um Gemüse zu pflanzen, damit es nicht erfror, oder mit welchen Kräutern man wirksam eine Erkältung kurierte.

Das Buch fühlte sich warm an. Als ob es lebte, atmete.

»Warum hat es keinen Titel?«, fragte Genevieve.

Ivy schnaubte. »Nur weil ein Buch keinen Titel hat, heißt das nicht, dass es keinen Namen hat. Das hier ist das Buch der Monde

Sie hatte keine Zeit mehr zu verlieren. In der Dunkelheit ging Genevieve dem Lichtschein der Brände nach. Zurück zu dem, was von Greenbrier und Ethan noch übrig war.

Sie überflog die Seiten. In dem Buch standen Hunderte von Sprüchen, wie sollte sie da den richtigen finden? Dann sah sie ihn. Er war auf Latein, eine Sprache, die ihr wohl vertraut war. Ihre Mutter hatte eigens einen Lehrer aus dem Norden angestellt, damit sie und Evangeline sie lernten.

Der Bannspruch. Der Spruch, der den Tod in Fesseln bindet.

Genevieve legte das Buch neben Ethan auf den Boden, mit dem Finger deutete sie auf die erste Zeile des Spruchs.

Ivy fasste sie am Handgelenk und hielt es fest. »Die Nacht heute ist nicht gut für solche Dinge. Halbmond ist für Weiße Magie, Vollmond ist für Schwarze. Und daran ändert sich auch nichts.«

Genevieve machte sich los vom Griff der alten Frau. »Ich habe keine Wahl. Dies ist die einzige Nacht, die uns bleibt.«

»Miss Genevieve, Ihr müsst Euch darüber im Klaren sein: Diese Worte sind mehr als nur ein Zauber. Sie sind ein Handel. Ihr könnt das Buch der Monde nicht benutzen, ohne einen Preis dafür zu zahlen.«

»Der Preis ist mir einerlei. Es geht um Ethans Leben. Alles andere habe ich schon verloren.«

»Der Junge hat kein Leben mehr in sich. Das letzte Fünkchen haben sie aus ihm herausgeschossen. Was Ihr versucht, ist wider die Natur.«

Genevieve wusste, dass Ivy recht hatte. Ihre Mutter hatte ihr und Evangeline oft genug eingeschärft, dass sie die Gesetze der Natur beherzigen müssten. Jetzt überschritt sie eine Grenze, die kein Mitglied ihrer Familie zu überschreiten gewagt hätte. Aber ihre Familie war tot. Sie war die Einzige, die noch übrig geblieben war.

Und sie musste es versuchen.

»Nein!« Lena ließ unsere Hände los und unterbrach den Kreis. »Sie ist auf die Dunkle Seite gegangen, begreift ihr das nicht? Genevieve hat Dunkle Magie benutzt.«

Ich nahm ihre Hände, aber sie versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien. Sonst strahlte Lena für mich eine angenehme, sonnige Wärme aus, aber jetzt fühlte sie sich an wie ein eisiger Tornado. »Lena, was wir gesehen haben, bist nicht du, das bin nicht ich. Das alles ist schon über hundert Jahre her.«

Sie war außer sich. »Das bin ich, deshalb zeigt mir das Medaillon das alles. Es ist eine Warnung. Ich soll mich von dir fernhalten. Damit ich dir nicht wehtue, wenn ich Dunkel werde.«

Marian schlug die Augen auf, sie waren riesengroß in ihrem Gesicht. Ihr sonst so gepflegtes und sorgsam frisiertes kurzes Haar war nun wirr und zerzaust. Sie wirkte erschöpft, aber auch erregt. Ich kannte diesen Blick. Es war, als sähe ich meine Mutter vor mir. »Du bist noch nicht berufen, Lena. Du bist weder gut noch böse. So ist es halt in der Duchannes-Familie, wenn man fünfzehneinhalb Jahre alt ist. Ich habe in meinem Leben schon viele Caster gekannt und auch viele von den Duchannes, und zwar sowohl die Lichten als auch die Dunklen.«

Lena warf Marian einen verblüfften Blick zu.

Marian holte tief Luft. »Du wirst nicht Dunkel werden. Du bist genauso melodramatisch wie Macon. Beruhige dich wieder.«

Woher wusste sie, wann Lena Geburtstag hatte? Woher wusste sie von den Caster?

»Warum habt ihr mir nicht erzählt, dass ihr Genevieves Medaillon besitzt?«

»Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Jeder sagt uns etwas anderes.«

»Lasst es mich sehen.«

Ich griff in meine Hosentasche. Lena legte die Hand auf meinen Arm und ich zögerte. Marian war die beste Freundin meiner Mutter gewesen, sie gehörte praktisch zur Familie. Ich wusste, ich hätte ihre Absichten nicht in Zweifel ziehen dürfen, aber ich war gerade erst Amma in den Sumpf gefolgt und hatte beobachtet, wie sie sich mit Macon Ravenwood traf, und damit hätte ich auch nie gerechnet. »Woher sollen wir wissen, dass wir dir vertrauen können?«, fragte ich und fühlte mich elend dabei.

»Der beste Weg, um herauszufinden, ob du jemandem vertrauen kannst, ist, ihm zu vertrauen.«

»Elton John?«

»Beinahe. Ernest Hemingway. Auf seine Art war er früher auch ein Popstar.«

Ich lächelte, aber Lenas Zweifel konnte Marian mit ihrer gewinnenden Art nicht so leicht ausräumen. »Weshalb sollen wir gerade dir vertrauen; alle verbergen doch etwas vor uns.«

Marian wurde wieder ernst. »Weil ich nicht Amma bin und weil ich nicht Macon bin. Ich bin auch nicht deine Großmutter oder deine Tante Delphine. Ich bin eine gewöhnliche Sterbliche. Ich stehe auf niemandes Seite. Ich stehe zwischen Schwarzer Magie und Weißer Magie, zwischen den Dunklen und den Lichten. Etwas muss dazwischen stehen, etwas, das diesem Hin und Her widersteht, und das bin ich.«

Lena wich zurück. Wir konnten es beide nicht fassen. Woher wusste Marian so viel über Lenas Familie?

»Was bist du?« In Lenas Familie war das eine sehr bedeutungsvolle Frage.

»Ich bin die Leiterin der Stadtbibliothek von Gatlin und das werde ich auch bleiben. Ich bin keine Caster. Ich zeichne nur alles auf. Ich führe die Bücher.« Marian ordnete ihr Haar. »Ich bin die Hüterin in einer langen Reihe von Sterblichen, denen es von seither anvertraut ist, die Geschichte und die Geheimnisse einer Welt zu bewahren, an der wir nie ganz teilhaben können. So jemanden muss es immer geben und das bin jetzt ich.«

»Tante Marian, was sagst du da?« Ich verstand die Welt nicht mehr.

»Lass es mich so sagen, es gibt solche Bibliotheken und es gibt solche Bibliotheken. Ich bin für alle rechtschaffenen Bürger von Gatlin da, seien sie nun Caster oder gewöhnliche Sterbliche. Und das lässt sich auch sehr gut vereinbaren, denn in der Zweigstelle arbeite ich hauptsächlich nachts.«

»Willst du damit sagen …«

»Die Caster-Bibliothek von Gatlin, ja. Selbstverständlich bin ich auch die Bibliothekarin der Caster-Bibliothek. Ihre Leiterin, um genau zu sein.«

Ich starrte Marian an, als sähe ich sie eben zum ersten Mal. Und sie erwiderte meinen Blick mit ihren braunen Augen und dem gleichen wissenden Lächeln wie immer. Sie sah aus wie immer und doch war sie eine völlig andere geworden. Ich hatte mich oft gefragt, weshalb Marian all die Jahre hier in Gatlin verbracht hatte. Ich hatte angenommen, dass es wegen Mom gewesen sei. Nun begriff ich, dass es andere Gründe dafür gab.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber Lena dachte schon weiter. »Dann musst du uns helfen. Wir müssen herausfinden, was mit Ethan und Genevieve geschehen ist und was es mit Ethan und mir zu tun hat, und zwar noch vor meinem Geburtstag.« Lena sah Marian erwartungsvoll an. »Die Caster-Bibliothek hat darüber bestimmt Aufzeichnungen. Vielleicht ist auch das Buch der Monde da. Glaubst du, wir finden dort die Antwort?«

Marian senkte den Blick. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich fürchte aber, ich kann euch nicht helfen. Es tut mir so leid.«

»Was sagst du?« Ich hatte noch nie erlebt, dass Marian jemandem ihre Hilfe versagt hätte, am wenigsten mir.

»Ich darf mich nicht einmischen, selbst wenn ich es wollte. Das steht sozusagen in meiner Stellenbeschreibung. Weder schreibe ich die Bücher noch stelle ich die Regeln auf, ich hüte und befolge nur. Ich darf mich nicht einmischen.«

»Ist es dir wichtiger, deine Pflichten als Bibliothekarin zu erfüllen, als uns zu helfen?« Ich baute mich vor ihr auf, sodass sie mir in die Augen sehen musste. »Sind sie dir wichtiger als ich?«

»Wenn es nur so einfach wäre, Ethan. Aber es herrscht ein Gleichgewicht zwischen der Welt der Sterblichen und der Welt der Caster, zwischen Licht und Dunkel. Der Hüter ist ein Teil dieses Gleichgewichts, ein Teil der Ordnung der Dinge. Wenn ich mich den Gesetzen widersetze, an die ich gebunden bin, dann ist dieses Gleichgewicht in Gefahr.« Sie sah mich an, ihre Stimme zitterte. »Ich darf mich nicht einmischen, und wenn es mich umbringt. Nicht einmal dann, wenn es Menschen Schmerzen zufügt, die ich liebe.«

Ich verstand nicht, wovon sie sprach, aber ich wusste, dass Marian mich ebenso liebte, wie sie Mom geliebt hatte. Wenn sie uns nicht helfen konnte, dann hatte sie sicher einen Grund dafür. »Gut. Du kannst uns also nicht helfen. Bring uns einfach zu dieser Bibliothek, dann werde ich es selbst herausfinden.«

»Du bist kein Caster, Ethan. Diese Entscheidung liegt nicht bei dir.«

Lena ergriff meine Hand. »Es ist meine Entscheidung. Und ich möchte in die Bibliothek gehen.«

Marian nickte. »Einverstanden. Ich bringe euch dorthin, wenn sie das nächste Mal geöffnet ist. Die Caster-Bibliothek hat nicht die gleichen Öffnungszeiten wie die Stadtbibliothek von Gatlin. Sie sind etwas unregelmäßiger

Natürlich waren sie das.