1_022_13828_Garcia.tifMarian, die Bibliothekarin

13.10.

Drei Tage waren inzwischen verstrichen und ich musste immer noch daran denken. Jemand hatte auf Ethan Carter Wate geschossen und wahrscheinlich war er tot. Ich hatte es mit eigenen Augen gesehen. Na ja, eigentlich waren alle, die damals gelebt hatten, mittlerweile tot. Aber ehrlich gesagt war es für mich doch ein wenig schwierig, mich mit dem Tod dieses einen Soldaten der Südstaatenarmee abzufinden. Genauer, mit dem Tod dieses einen Deserteurs der Südstaatenarmee. Meines Ururururgroßonkels.

Ich dachte in Algebra II darüber nach, während Savannah vor der Klasse an einer Gleichung scheiterte, was Mr Bates aber nicht weiter auffiel, weil er zu sehr in die letzte Ausgabe von Guns and Ammo vertieft war, seinem Lieblingsmagazin. Ich dachte darüber nach während einer Informationsveranstaltung der Future Farmers of America, bei der ich Lena nicht finden konnte, sodass ich mich schließlich zu den Jungs von der Band setzte. Link saß mit einigen von der Basketballmannschaft ein paar Reihen hinter mir, aber ich bemerkte es gar nicht, bis Shawn und Emory anfingen, zu grunzen und Bauernhoftiere nachzumachen. Nach einer Weile hörte ich sie nicht mehr, meine Gedanken wanderten zurück zu Ethan Carter Wate.

Das Problem war nicht, dass er zu den Konföderierten gehört hatte. Jeder in Gatlin hatte im Bürgerkrieg auf der falschen Seite gestanden und mittlerweile hatten wir uns daran gewöhnt. Für mich war es so, als wäre man nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, nach Pearl Harbour in Japan oder nach Hiroshima in Amerika geboren. Die Geschichte konnte manchmal richtig fies sein. Man konnte es sich ja nicht aussuchen, wo man auf die Welt kam. Allerdings musste man dort ja nicht bleiben. Man musste nicht in der Vergangenheit leben wie die Frauen der TAR oder wie die Historische Gesellschaft von Gatlin oder wie die Schwestern. Genauso wenig musste man wie Lena stillschweigend hinnehmen, dass die Dinge so waren, wie sie waren. Ethan Carter Wate hatte das nicht getan und ich konnte es auch nicht.

Über diesen Ethan Wate wussten wir inzwischen Bescheid, nun mussten wir mehr über Genevieve in Erfahrung bringen, so viel stand fest. Vielleicht hatte es ja einen tieferen Sinn, dass gerade wir auf dieses Medaillon gestoßen waren. Vielleicht hatte es ja sogar einen tieferen Sinn, dass wir uns zum ersten Mal in einem Traum begegnet waren, auch wenn es eigentlich ein Albtraum war …

Früher, als meine Mutter noch lebte und die Welt noch in Ordnung war, hätte ich sie gefragt, was ich tun sollte. Aber meine Mutter war tot, und mein Vater war viel zu sehr in sich zurückgezogen, um mir von Nutzen zu sein. Und Amma würde uns bestimmt nicht bei etwas helfen, das mit dem Medaillon zu tun hatte.

Lena war wegen Macon immer noch in düsterer Stimmung, der Regen, der an die Fenster prasselte, sprach Bände. Ich sollte eigentlich meine Hausaufgaben machen, was hieß, dass ich mindestens zwei Liter Schokoladenmilch und so viele Plätzchen brauchte, wie ich in der anderen Hand tragen konnte.

Ich ging von der Küche durch die Diele und blieb vor dem Arbeitszimmer meines Vaters stehen. Mein Vater war oben unter der Dusche – mehr oder weniger die einzige Gelegenheit, bei der er das Zimmer noch verließ. Wahrscheinlich war die Tür abgeschlossen. Seit der Sache mit dem Manuskript hatte er seine Tür immer abgeschlossen.

Ich sah mich rechts und links in der Diele um, dann streckte ich die Hand nach dem Türgriff aus, während ich meine Plätzchen gewagt auf der Milchtüte balancierte. Aber noch ehe ich den Knauf berührte, hörte ich, wie sich das Schloss klickend umdrehte. Die Tür sprang von ganz allein auf, so als hätte sie jemand im Inneren des Zimmers für mich aufgemacht. Die Plätzchen fielen zu Boden.

Noch vor einem Monat hätte ich das nicht geglaubt, aber jetzt wusste ich es besser. Das war Gatlin. Nicht das Gatlin, das ich zu kennen geglaubt hatte, sondern ein anderes Gatlin, das anscheinend schon immer offen vor mir gelegen, das ich aber niemals wahrgenommen hatte. Eine Stadt, in der das Mädchen, das ich sehr gern hatte, aus einem alten Geschlecht von Castern stammte, in der unsere Haushälterin eine Seherin war, die im Sumpf die Zukunft aus Hühnerknochen las und die Geister ihrer verstorbenen Vorfahren zu sich rief, und in der sogar mein Vater sich benahm wie ein Vampir.

In diesem Gatlin gab es nichts, was zu unwahrscheinlich gewesen wäre. Komisch, wie man sein ganzes Leben hier verbringen konnte, ohne es zu bemerken.

Ich stieß die Tür auf, langsam, zögernd, und warf einen Blick in das Arbeitszimmer. Ich sah die Ecke mit den eingebauten Bücherschränken, die mit Mutters Büchern vollgestopft waren und all den Überbleibseln aus dem Bürgerkrieg, die sie auf Schritt und Tritt gesammelt hatte. Ich sog die Luft tief ein. Kein Wunder, dass mein Vater diesen Raum nie verließ.

Ich konnte meine Mutter beinahe vor mir sehen, wie sie gemütlich in ihrem alten Lesesessel am Fenster saß. Auf der anderen Seite der Tür hatte sie immer auf ihrer Schreibmaschine getippt. Wenn ich die Tür einen Spalt weiter aufstieß, müsste ich sie jetzt eigentlich dort sitzen sehen. Aber da war kein Tippen zu hören, und ich wusste genau, dass sie nicht da war, dass sie nie wieder da sein würde.

In den Regalen standen die Bücher, die ich gebraucht hätte. Wenn irgendwer hier in Gatlin mehr über die Geschichte der Stadt wusste als die Schwestern, dann war es meine Mom gewesen. Ich trat einen Schritt vor und stieß die Tür nur ein paar Zentimeter weiter auf.

»Bei allen himmlischen Heerscharen! Ethan Wate, wenn du vorhaben solltest, auch nur einen Fuß in diesen Raum zu setzen, dann wird dir dein Vater eine solche Tracht Prügel verabreichen, dass du es nächste Woche noch spürst.«

Beinahe hätte ich die Milchtüte fallen gelassen. Amma. »Ich hab gar nichts getan. Die Tür ist von selbst aufgegangen.«

»Schäm dich. Kein Geist in Gatlin würde es wagen, einen Fuß in das Arbeitszimmer deiner Mutter und deines Vaters zu setzen, es sei denn, deine Mutter selbst.« Sie musterte mich eindringlich. Es war ein Blick, bei dem ich mich fragte, ob sie mir nicht etwas sagen wollte, vielleicht sogar die Wahrheit. Vielleicht war es ja tatsächlich meine Mutter gewesen, die mir die Tür aufgemacht hatte.

Denn eines war klar: Irgendjemand oder irgendetwas wollte, dass ich dieses Arbeitszimmer betrat, und zwar ebenso sehr, wie etwas anderes dies zu verhindern suchte.

Amma schlug die Tür zu, zog einen Schlüssel aus ihrer Tasche und schloss ab. Ich hörte, wie das Schloss einschnappte, und begriff, dass damit auch eine einmalige Chance vertan war, die sich unverhofft aufgetan und genauso schnell wieder in Nichts aufgelöst hatte.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Morgen ist Schule. Hast du nicht noch zu tun?«

Ich sah sie verständnislos an.

»Wolltest du nicht wieder in die Bibliothek? Seid ihr beiden, Link und du, schon mit eurem Referat fertig?«

Und da fiel es mir wieder ein. »Ja, stimmt genau, die Bibliothek. Da will ich gerade hingehen.« Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und stürmte an ihr vorbei.

»Sag Marian einen schönen Gruß von mir und komm nicht zu spät zum Abendessen.«

Die gute, alte Amma. Sie hatte immer die richtige Antwort parat, ob mit oder ohne Absicht, ob freiwillig oder unfreiwillig.

Lena wartete auf dem Parkplatz vor der Stadtbücherei von Gatlin auf mich. Der rissige Betonboden war noch nass und glänzte vom Regen. Obwohl die Bibliothek noch zwei Stunden geöffnet hatte, war der Leichenwagen das einzige Auto auf dem Parkplatz außer einem wohlbekannten, alten türkisfarbenen Lieferwagen. Man konnte auch nicht gerade behaupten, dass diese Stadt berühmt gewesen wäre für ihre Bibliothek. Und es gab auch nicht viel, was man hier über Städte wissen wollte, höchstens über die eigene Stadt, und wenn der Großvater oder der Urgroßvater etwas nicht wusste, dann brauchte man es wahrscheinlich auch gar nicht zu wissen.

Lena hatte sich dicht an die Mauer der Bibliothek gelehnt und schrieb in ihren Notizblock. Sie trug eine abgewetzte Jeans, riesige Gummistiefel und ein flauschiges schwarzes T-Shirt. Kleine Zöpfe, die zwischen ihren vielen Locken gar nicht auffielen, umschmeichelten ihr Gesicht. Sie sah fast wie ein normales Mädchen aus. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich ein ganz normales Mädchen wollte. Ich wusste nur, dass ich sie wieder küssen wollte. Aber das musste warten. Wenn Marian die Antworten auf unsere Fragen hatte, dann würde ich noch viele Gelegenheiten haben, Lena zu küssen.

Ich ging im Geist wieder die Spielzüge durch: Blocken und Abrollen.

»Glaubst du wirklich, hier gibt es etwas, das uns weiterhelfen kann?« Lena warf mir über ihren Notizblock einen Blick zu.

Ich zog sie an mich. »Nicht etwas. Jemanden.«

Die Bibliothek war wunderschön. Als Kind hatte ich hier so viele Stunden verbracht, dass ich ebenso wie meine Mutter überzeugt war, eine Bibliothek sei so etwas wie ein Gotteshaus. Und diese Bibliothek war noch dazu eines der wenigen Gebäude, die Shermans Marsch und den großen Brand überstanden hatten. Die Bibliothek und das Haus der Historischen Gesellschaft waren die beiden ältesten Gebäude der Stadt, abgesehen von Ravenwood. Es war ein zweigeschossiges, ehrwürdiges viktorianisches Haus, alt und verwittert, die weiße Farbe blätterte ab, und über viele Jahrzehnte gewachsene dichte Ranken streckten sich auf Türen und Fenster aus. Es roch nach altem Holz und Teeröl, nach Plastikeinbänden und vergilbtem Papier. Der Geruch vergilbten Papiers, pflegte meine Mutter zu sagen, war der Geruch der Zeit selbst.

»Ich verstehe nicht. Weshalb ausgerechnet die Bibliothek?«

»Es geht nicht nur um die Bibliothek, es geht um Marian Ashcroft.«

»Die Bibliothekarin? Die Freundin von Macon?«

»Marian war die beste Freundin meiner Mutter, sie haben gemeinsam geforscht. Nur sie weiß so viel über Gatlin, wie meine Mom wusste, und jetzt ist sie der klügste Mensch in der ganzen Stadt.«

Lena warf mir einen skeptischen Blick zu. »Klüger als Onkel Macon?«

»Okay, sie ist die klügste Sterbliche in der ganzen Stadt.«

Ich habe nie richtig verstanden, was jemand wie Marian in einer Stadt wie Gatlin suchte.

»Nur weil man dort lebt, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen«, hatte Marian mir oft erklärt, wenn wir zusammen mit Mom ein Thunfisch-Sandwich aßen, »heißt das noch lange nicht, dass man nicht darüber Bescheid wissen sollte, wo man lebt.« Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinte. Ich begriff überhaupt die Hälfte der Zeit nicht, worüber sie redete. Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb Marian und meine Mutter so gut miteinander auskamen; denn die andere Hälfte der Zeit begriff ich nicht, wovon meine Mutter sprach. Wie schon gesagt: Sie war die klügste Frau in der Stadt, zumindest aber die bemerkenswerteste Persönlichkeit.

Als wir die menschenleere Bibliothek betraten, lief Marian in Strümpfen zwischen Bücherstapeln umher und führte mit klagender Stimme Selbstgespräche wie eine Wahnsinnige in einer griechischen Tragödie, aus denen sie so gerne zitierte. Da die Bibliothek meistens wie eine Geisterstadt war – abgesehen von den gelegentlichen Besuchen der Damen von der TAR, die einen zweifelhaften Stammbaum überprüfen wollten –, konnte Marian hier tun und lassen, was sie wollte.

»Weißt du etwas …«

Ich folgte der Stimme bis in die hintersten Regale.

»… hast du gehört es …«

Ich bog in die Regalreihe ein, in der die erzählende Literatur versammelt war. Da stand sie, hielt einen schwankenden Stapel Bücher in den Armen und schaute geradewegs durch mich hindurch.

»… oder weißt du nicht …«

Lena trat hinter mich.

»… wie auf die Lieben kommet Feindesübel?«

Marian spähte über ihre quadratische rote Brille hinweg und blickte abwechselnd auf mich und Lena. Sie war da, aber auch wieder nicht. Ich kannte diesen Blick gut, und ich wusste, dass sie, obwohl sie ständig in Zitaten sprach, nie etwas leichtfertig von sich gab. Welches Übel kam auf mich zu oder auf meine Freunde? Wenn Lena dieser Freund war, dann war ich mir nicht sicher, ob ich es wissen wollte.

Ich hatte viel gelesen, aber keine griechischen Tragödien. »Oedipus?«

Ich umarmte Marian über ihren Bücherstapel hinweg. Sie drückte mich so fest an sich, dass ich keine Luft mehr bekam, eine dickleibige Biografie von General Sherman stach mir in die Rippen.

»Antigone«, sagte Lena von hinten.

Angeberin.

»Sehr gut.« Marian lächelte sie über meine Schulter hinweg an.

Ich schnitt Lena eine Grimasse, aber sie zuckte die Schultern. »Ich bin eben zu Hause unterrichtet worden.«

»Es ist immer beeindruckend, einem jungen Menschen zu begegnen, der Antigone kennt.«

»Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass sie die Toten begraben wollte.«

Marian lächelte uns beide an. Die Hälfte der Bücher, die sie auf dem Arm trug, drückte sie mir in die Hand, die andere Hälfte Lena. Wenn sie lächelte, hatte man eine Titelbildschönheit vor sich. Sie hatte weiße Zähne und war wunderbar braun, sie sah wirklich mehr wie ein Model und nicht wie eine Bibliothekarin aus. Sie war ausgesprochen hübsch und exotisch, in ihr hatten sich so viele Nationalitäten vermischt, Vorfahren von den westindischen Inseln, der Karibik, England, Schottland und nicht zuletzt aus Amerika, dass sich in ihr die Geschichte des Südens selbst widerspiegelte. Um ihre Herkunft zurückzuverfolgen, hätte es nicht nur eines Stammbaums, sondern eines ganzen Stammwalds bedurft.

Obwohl wir südlich von Irgendwo und nördlich von Nirgendwo waren, wie Amma sagen würde, war Marian Ashcroft gekleidet, als stünde sie vor einer ihrer Klassen in Duke. Ihre Kleider, ihr Schmuck, überhaupt ihr Stil, zu dem auch bunt gemusterte Halstücher gehörten, alles schien von weit her zu kommen und wurde noch ergänzt durch ihren unbeabsichtigt modischen Kurzhaarschnitt.

Marian stammte ebenso wenig aus der Gegend von Gatlin wie Lena, hatte jedoch schon genauso lange hier gelebt wie meine Mutter. Inzwischen sogar länger. »Du hast mir so sehr gefehlt, Ethan. Und du – du bist sicher Macons Nichte, Lena. Das berüchtigte neue Mädchen. Die mit dem Fenster. Oh ja, ich habe schon von dir gehört. Unsere Damen reden gern.«

Wir folgten Marian zum Schalter am Eingang und legten die Bücher auf den Rückgabewagen.

»Glauben Sie nicht alles, was die Leute sagen, Dr. Ashcroft.«

»Bitte, sag Marian zu mir.« Fast hätte ich ein Buch fallen lassen. Außer für meine Familie war Marian für so gut wie jeden hier in der Gegend Dr. Ashcroft. Lena hatte sie jedoch sofort in ihren inneren Kreis aufgenommen, und ich konnte mir nicht erklären, weshalb.

»Marian.« Lena grinste. Von Link und mir einmal abgesehen, erlebte Lena jetzt zum ersten Mal die berühmte Südstaaten-Gastfreundschaft, und das ausgerechnet bei jemandem, der nicht von hier war.

»Was ich nur gern wissen würde, als du dieses Fenster mit deinem Besenstiel zerbrochen hast, hast du da auch die künftige Generation der TAR ausgelöscht?« Marian ließ die Jalousien herunter und winkte uns zu sich, ihr zur Hand zu gehen.

»Natürlich nicht. Wenn ich das gemacht hätte, woher hätte ich dann all die kostenlose Werbung für mich bekommen?«

Marian warf den Kopf in den Nacken und lachte. Sie legte den Arm um Lena. »Humor hast du ja. Und den brauchst du auch, wenn du hier in dieser Stadt zurechtkommen willst.«

Lena seufzte. »Ich habe eine Menge Witze gehört. Die meisten über mich.«

»Ah, aber es heißt auch, die Werke des Geistes überdauern die Werke der Gewalt.«

»Ist das von Shakespeare?« Ich kam mir ein bisschen dumm vor.

»Fast. Das stammt von Sir Francis Bacon. Aber wenn du zu den Leuten gehörst, die der Meinung sind, er habe Shakespeares Dramen verfasst, dann, schätze ich, hast du recht.«

»Ich passe.«

Marian zerzauste mein Haar. »Du bist um mehr als einen Kopf gewachsen, seit ich dich zum letzten Mal gesehen habe, EW. Was gibt Amma dir nur zu essen? Torte zum Frühstück, zum Mittag- und zum Abendessen? Mir kommt es vor, als hätte ich dich hundert Jahre nicht gesehen.«

»Ich weiß. Es tut mir leid. Aber mir war nicht sehr nach Lesen in letzter Zeit.«

Sie wusste, das war gelogen, aber sie wusste auch, was ich damit sagen wollte. Marian ging zur Tür und drehte das Schild um, auf dem »geöffnet« stand. Dann schloss sie die Tür mit einem lauten Klicken ab. Unwillkürlich musste ich an das Arbeitszimmer zu Hause denken.

»Ich dachte, die Bibliothek ist bis neun geöffnet?« Wenn nicht, dann würde ich eine wichtige Ausrede verlieren, wenn ich mich zu Lena davonschleichen wollte.

»Heute nicht. Die leitende Bibliothekarin hat soeben beschlossen, dass für die Stadtbibliothek von Gatlin der heutige Tag ein Feiertag ist. Sie ist sehr sprunghaft.« Sie blinzelte. »Für eine Bibliothekarin.«

»Danke, Tante Marian.«

»Ich weiß, ohne triftigen Grund wärst du nicht gekommen, und ich vermute, dieser Grund kann nur die Nichte von Macon Ravenwood sein. Weshalb verziehen wir uns nicht ins Hinterzimmer, machen eine Kanne Tee und gehen den Dingen auf den Grund?« Marian liebte Wortspielereien.

»Es ist eigentlich eher eine Frage.« Ich griff in meine Hosentasche und tastete nach dem Medaillon, das immer noch in das Taschentuch von Sulla, der Weissagerin, eingewickelt war.

»Frage nach allem. Nimm maßvoll Lehren an. Antworte nichts.«

»Homer?«

»Euripides. Du solltest dir allmählich etwas einfallen lassen, EW, oder ich muss wirklich einmal mit der Schulbehörde reden, wenn du mir bei so etwas die Antwort schuldig bleibst.«

»Aber du hast doch eben selbst gesagt, ich solle nicht antworten.«

Sie schloss eine Tür mit der Aufschrift PRIVATARCHIV auf. »Habe ich das gesagt?«

Marian schien, genau wie Amma, immer die richtige Antwort parat zu haben. Wie jeder gute Bibliothekar.

Wie meine Mutter.

Ich war noch nie in Marians Privatarchiv im Hinterzimmer der Bibliothek gewesen. Wenn ich so darüber nachdachte, dann kannte ich niemanden, der je dort gewesen wäre, niemanden außer meiner Mom. Das war ihrer beider Zimmer gewesen, hier schrieben und forschten sie, und wer weiß, was sie sonst noch hier getan haben. Nicht einmal mein Dad durfte dieses Zimmer betreten. Ich erinnerte mich daran, wie Marian ihn einmal an der Tür zurückgehalten hatte, als meine Mutter in dem Zimmer alte Aufzeichnungen studierte. »Privat heißt privat«, hatte sie damals gesagt.

»Das hier ist eine Bibliothek, Marian«, hatte mein Vater protestiert. »Bibliotheken wurden errichtet, damit alle Zugang zum Wissen haben.«

»Hier in dieser Gegend wurden die Bibliotheken errichtet, damit die Anonymen Alkoholiker einen Platz hatten, an dem sie sich treffen konnten, wenn die Baptisten sie rausgeworfen hatten.«

»Marian, sei nicht albern. Es ist doch nur ein Archiv.«

»Betrachte mich nicht als Bibliothekarin. Stell dir vor, ich wäre eine verrückte Wissenschaftlerin und dies hier wäre mein geheimes Laboratorium.«

»Du bist närrisch. Ihr zwei stöbert doch nur in verknittertem altem Papier.«

»Wenn man dem Wind seine Geheimnisse anvertraut, darf man sich nicht wundern, wenn die Bäume sie kennen.«

»Das stammt von Khalil Gibran«, konterte er.

»Drei Menschen können nur dann ein Geheimnis bewahren, wenn zwei von ihnen tot sind.«

»Benjamin Franklin.«

Schließlich hatte es selbst mein Vater aufgegeben, das Archiv zu betreten. Wir fuhren damals nach Hause und aßen Schokoladeneis und von da an kamen mir Marian und meine Mutter immer wie eine unbezwingbare Naturgewalt vor. Zwei verrückte Wissenschaftler, wie Marian selbst gesagt hatte, die aneinander gekettet in ihrem Laboratorium saßen und ein Buch nach dem anderen schrieben. Eines davon schaffte es sogar in die engere Auswahl für den Voice-of-the-South-Preis, der hier in den Südstaaten etwa genauso bedeutend war wie der Pulitzer-Preis. Mein Dad war mächtig stolz auf Mom, eigentlich auf alle beide. Sie sei eben ein »hellwacher Kopf«, sagte er immer über Mom, besonders dann, wenn sie mal wieder mitten in einem Projekt steckte. Sie war dann noch geistesabwesender als sonst, trotzdem schien er sie dann auch am meisten zu lieben.

Und nun war ich hier, in diesem privaten Archiv, und weder mein Vater noch meine Mutter waren dabei, nicht einmal eine Kugel Schokoladeneis war in Sicht. Dafür dass wir in einer Stadt lebten, in der sich eigentlich nie etwas änderte, hatte sich sehr viel getan in der letzten Zeit.

Der Raum war getäfelt, und es war dunkel darin; es war der abgeschlossenste, stickigste Raum, noch dazu ohne Fenster, in dem drittältesten Haus von Gatlin. In der Mitte des Raums standen vier lange Eichentische nebeneinander. Jedes Fleckchen Wand war mit Regalen vollgestellt, in denen sich Bücher türmten. Geschütze und ihre Munition im Bürgerkrieg. König Baumwolle: Das weiße Gold des Südens. In flachen Metallschubladen wurde Handgeschriebenes aufbewahrt, und in einem kleineren Zimmer, das sich an den hinteren Teil des Archivs anschloss, quollen die Aktenschränke über.

Marian machte sich mit einer Teekanne an der Kochplatte zu schaffen. Lena ging zu der Wand mit den gerahmten Landkarten der Umgebung von Gatlin, die sich hinter dem Glas wellten und so alt waren wie die Schwestern.

»Schau, da ist Ravenwood.« Lena fuhr mit dem Finger über das Glas. »Und hier ist Greenbrier. Auf dieser Karte erkennt man die Grundstücksgrenzen viel besser.«

Ich ging zur anderen Ecke des Zimmers, in der ein einzelner Tisch stand, der mit einer feinen Staubschicht und einem Spinnennetz überzogen war. Ein altes Mitgliedsverzeichnis der Historischen Gesellschaft lag aufgeschlagen da, Namen waren eingekreist, im Binderücken steckte ein Bleistift. Eine Landkarte auf Pauspapier war über eine Karte des heutigen Gatlin geklemmt, so als hätte jemand versucht, die alte Stadt über der neuen wieder auferstehen zu lassen. Und zuoberst lag ein Foto des Gemäldes, das in Macon Ravenwoods Eingangshalle hing.

Die Frau mit dem Medaillon.

Genevieve. Das muss sie sein. Wir müssen es Marian sagen, L. Wir müssen sie danach fragen.

Das geht nicht. Wir können niemandem vertrauen. Wir wissen ja nicht einmal, weshalb wir diese Visionen haben.

Lena. Hab Vertrauen zu mir.

»Was ist mit all dem Zeug hier, Tante Marian?«

Über Marians Gesicht flog ein Schatten. »Das war das letzte Projekt, an dem deine Mutter und ich gearbeitet haben.«

Woher hatte meine Mutter ein Foto von dem Gemälde in Ravenwood?

Da fragst du mich zu viel.

Lena ging zu dem Tisch und nahm das Bild in die Hand. »Marian, was wolltet ihr mit diesem Foto hier?«

Marian reichte uns beiden eine Tasse Tee mit Untertasse. Das war noch eine Besonderheit in Gatlin: Man bekam immer eine Untertasse dazu.

»Du solltest dieses Gemälde eigentlich kennen, Lena. Es gehört deinem Onkel Macon. Er hat mir dieses Foto selbst geschickt.«

»Aber wer ist diese Frau?«

»Genevieve Duchannes, aber das weißt du ja sicher.«

»Nein, das wusste ich nicht.«

»Hat dein Onkel dir denn nichts über deine Vorfahren erzählt?«

»Wir reden nicht oft über unsere verstorbenen Verwandten. Niemand will wirklich über meine Eltern sprechen.«

Marian ging zu einer flachen Schublade und suchte etwas. »Genevieve Duchannes war deine Ururururgroßmuter und sie war wirklich eine faszinierende Person. Lila und ich sind den ganzen Stammbaum der Duchannes durchgegangen für ein Projekt, bei dem uns dein Onkel Macon geholfen hat, bis …« Sie blickte zu Boden. »Bis letztes Jahr.«

War meine Mutter Macon Ravenwood persönlich begegnet? Ich hatte angenommen, er hätte sie nur von ihren Büchern gekannt. Das jedenfalls hatte er behauptet.

»Du solltest dich wirklich mit deinem Stammbaum beschäftigen.« Marian blätterte in ein paar vergilbten Pergamenten und dann lag Lenas Stammbaum vor uns und gleich daneben der ihres Onkels.

Ich deutete auf Lenas Stammbaum. »Das ist doch verrückt. Alle Mädchen trugen den Familiennamen Duchannes, sogar die, die geheiratet haben.«

»Das ist so in meiner Familie. Die Frauen behalten ihren Namen auch dann, wenn sie heiraten. Das war schon immer so.«

Marian blätterte weiter und warf Lena dabei einen Blick zu. »Das ist oft der Fall in Familien, in denen den Frauen besondere Kräfte zugeschrieben werden.«

Ich wollte das Thema wechseln. Ich wollte in Marians Gegenwart nicht zu tief in der Geschichte der starken Frauen in Lenas Familie herumstöbern, besonders weil ja auch Lena zu diesen Frauen gehörte. »Weshalb hast du gemeinsam mit Mom den Stammbaum der Duchannes erforscht? Was war das für ein Projekt?«

s.230.eps

s.231.eps