30
Es war kurz vor elf, als die Verhöre der acht Angestellten von MedForsk abgebrochen wurden. Ottosson beschloß, allen etwas zu essen zu bestellen.
Einige Angestellte protestierten erneut. Vor allem Mortensen war außer sich. Er sprach von Rechtsbeugung. Dann ruf doch deine Mama an, dachte Lindell, als sie ihn zetern hörte. Ottosson sagte mit sanfter Stimme, daß noch weitere Fragen zu klären wären, aber daß sie jetzt alle erst einmal etwas essen müßten.
Lindell grinste insgeheim. Er klang wie eine Kindergärtnerin, die ihren ungeduldigen Kleinen etwas erklärte.
Sie hatten beschlossen, daß die Angestellten einzeln in den Vernehmungszimmern essen sollten, weshalb sie nach der kurzen Versammlung wieder zurück in die jeweiligen Räume gebracht wurden. Die Polizeibeamten aßen gemeinsam.
»Wie läuft es denn so?« fragte Ottosson die versammelten Kollegen.
Eine lebhafte Diskussion begann. Die meisten hatten den Eindruck gewonnen, daß die Angestellten aufgewühlt waren wegen des Dramas um Familie Cederén, aber auch weil sie und ihr Unternehmen so minutiös unter die Lupe genommen wurden. Mortensen hatte natürlich längst erfahren, daß schwedische Polizisten bei UNA Medico in Malaga vorstellig geworden waren, den anderen war dies neu.
»Teresia Wall hat erst einmal kein Wort mehr herausbekommen«, sagte Beatrice.
»Bei meinem war es das gleiche«, meinte Haver.
»Mortensen hat auf eine interne Untersuchung verwiesen, die das Unternehmen durchführen will«, sagte Berglund.
»Vorher wollte er dem, was in der Sache bereits gesagt worden ist, nichts mehr hinzufügen.«
»Was hat er denn zu unserem Besuch in Spanien gesagt?« erkundigte sich Lindell.
»Es ist ganz offensichtlich, daß er Instruktionen von diesem de Soto bekommen hat. Sie scheinen die Taktik zu haben, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben. Für Dinge, die möglicherweise gegen das Gesetz verstoßen, muß immer der andere geradestehen.«
»Wir sind sauber«, ahmte Berglund Mortensen nach.
»Sie hoffen, daß wir auf ihre Aktenberge hereinfallen und dann in den Papierfluten ersaufen«, sagte Ottosson, »aber wir kümmern uns nicht um das Geld und ihre Transaktionen.«
Der Staatsanwalt betrat den Raum. Er nickte den Polizisten zu.
»Darf ich dir etwas zu essen anbieten?« fragte Ottosson; Beatrice und Lindell tauschten einen Blick. Der Kommissariatsleiter war wirklich bestens gelaunt.
Fritzén lehnte lächelnd ab und setzte sich.
»Ich glaube, meine hat etwas auf dem Herzen«, sagte Beatrice. »Sie ist übernervös.«
»Sie ist schwanger«, meinte Sammy. »Das macht Frauen immer hibbelig.«
Beatrice sah ihn an, und eine passende Antwort lag ihr auf der Zunge, sie fuhr dann jedoch scheinbar unbeeindruckt fort: »Sie hat eine ganze Reihe von Fragen zu Gabriella Mark gestellt und war auffallend neugierig. Als ich wissen wollte, ob sie Gabriella gekannt oder schon einmal von ihr gehört habe, ist sie einer Antwort ausgewichen.«.
»Sie hat etwas gesagt, das ich interessant fand«, warf Lindell ein, »aber ich komme nicht mehr darauf, was es war. Das ärgert mich.«
»Du bist doch höchstens zweimal im Zimmer gewesen«, sagte Beatrice.
Die anderen hörten zu. Ihr Respekt vor Lindells Spürsinn war groß genug, um sie ahnen zu lassen, daß sie vielleicht etwas Wichtigem auf der Spur war.
»Als ich zum zweiten Mal im Zimmer war, habt ihr über die Affen geredet«, sagte Lindell zögernd.
»Und beim ersten Mal?« fragte Beatrice.
»Privates«, erwiderte Lindell nachsinnend. »Privates«, wiederholte sie leiser.
»Niemand hat eine Ahnung, wer Pålle sein könnte«, sagte Ottosson. »Das deutet darauf hin, daß er nicht zum engeren Umfeld von MedForsk gehört. Sonst müßte jemand den Namen doch schon einmal gehört haben.«
In diesem Augenblick kam eine der Sekretärinnen herein, sah Lindell an und signalisierte, daß sie mit ihr sprechen wollte. »Eine ältere Frau, die sehr aufgeregt war, hat angerufen und nach dir gefragt«, sagte die Sekretärin.
»Und, worum geht es?«
»Sie heißt Viola und wohnt auf Gräsö«, antwortete die Sekretärin. Lindell nahm das Bedauern in ihrem Blick wahr, noch ehe sie richtig verstanden hatte, was gesagt worden war.
»Was ist passiert?« brachte sie heraus.
»Du sollst sie anrufen. Sie meinte, du hättest die Nummer.«
Lindell verließ ihre Kollegen ohne ein Wort der Erklärung und lief in ihr Büro. »Edvard«, murmelte sie, »Edvard.« Als sie mit zitternder Hand Violas Nummer tippte, fiel ihr der Traum wieder ein.
Die alte Frau nahm sofort ab, so als hätte sie neben dem Telefon gewartet. »Ich bin es, Ann, was ist passiert?«
Sie hörte Violas angestrengte Atemzüge. »Es geht um Edvard«, sagte Viola und wurde durch einen Hustenanfall unterbrochen.
»Ja und?«
»Er ist ins Meer gegangen, und …«
Der Schreibtisch schien zu schwanken. Sie tastete nach einem Halt und stieß an einen Stapel mit Berichten, die auf den Boden fielen. Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Die Beine gaben nach, und sie blieb zwischen den Blättern auf dem Fußboden liegen.
Lindell zog den Hörer zu sich heran und hörte Violas Rufe.
»Aber er lebt, liebes Kind, er lebt.«
Mit einemmal haßte sie die alte Frau; das Gefühl verschwand jedoch ebenso schnell, wie es gekommen war. Sie setzte sich. Das war knapp, dachte Lindell.
»Er wollte die Netze einholen und ist ins Meer gegangen«, begann Viola.
Warum benutzt sie nur diese Formulierung, dachte Lindell und wurde wieder wütend.
»Er hat sich wieder hochgezogen, und nach einer Stunde konnten wir mit dem Boot an ihn ran. Es war Victor, der Alte«, sagte Viola, und nun hörte Lindell, daß die Frau den Tränen nahe war.
»Der Alte«, wiederholte Lindell mechanisch und weinte.
Sie brauchte einige Zeit, um sich soweit im Griff zu haben, daß sie zu ihren Kollegen zurückkehren konnte.
Sie waren gerade dabei, die Reste ihrer Mahlzeit wegzuräumen, als Lindell den Raum betrat. Es wurde totenstill, alle sahen sie an. Sie sah die Sorge in ihren Augen und mußte kämpfen, daß sie nicht wieder in Tränen ausbrach. »Es ging um Edvard«, sagte sie, »er ist heute morgen mit dem Boot gekentert. Es war stürmisch, und dieser dumme Kerl ist trotzdem hinausgefahren, um die Netze einzuholen.«
»Und?« fragte Ottosson und trat einen Schritt näher.
Sie wollte in diesem Moment nicht, daß er sie berührte – wie er das sonst immer tat, wenn sie niedergeschlagen war –, den Arm um ihre Schultern legte und etwas Nettes sagte.
»Er hat sich das Bein gebrochen, aber das ist erst passiert, als man ihn aus einer Untiefe rausfischen wollte. Er ist auf den Felsen ausgerutscht.« Sie sah die Erleichterung in den Augen ihrer Arbeitskollegen. Nie zuvor hatte sie sich ihnen so verbunden gefühlt wie in diesem Moment.
Lindell blieb eine Weile sitzen. Auf ihrem Teller lag noch mehr als die Hälfte der Portion, aber sie hatte keinen Hunger mehr. Beatrice blieb abwartend im Türrahmen stehen und sah Lindell zu, als sie lustlos die Essenreste wegräumte.
»Kannst du weitermachen?«
Lindell drehte sich zu ihr um.
»Ja, natürlich«, antwortete sie, aber mit den Gedanken war sie auf Gräsö.
Edvard war in Östhammar medizinisch versorgt worden und lag in der Ambulanz. Sie versuchte ihn sich in einem Krankenbett vorzustellen, aber es fiel ihr schwer. Wie sollte der ungeduldige Edvard das nur aushalten? Lindell hatte Viola gesagt, daß sie am Abend nach Östhammar fahren würde.
Die Verhöre wurden fortgesetzt. Lindell ging von Raum zu Raum. Teresia Wall, die von Beatrice verhört wurde, sah verängstigt aus. Lindell versuchte vergeblich, sich zu erinnern, was am Anfang des Verhörs gesagt worden war, aber es fiel ihr nicht ein. Die beiden hatten nur ein wenig geplaudert.
Berglund, der sich nun darauf konzentrierte, Mortensen über seine Beziehung zu Cederén zu befragen, sah müde aus. Mortensen erklärte, daß es bei den Streitigkeiten mit seinem Forschungsleiter im Winter und Frühjahr um den weiteren Kurs des Unternehmens gegangen sei. Mit Tierversuchen habe das nichts zu tun gehabt.
»In diesem Punkt waren wir uns vollkommen einig«, behauptete Mortensen. »Sven-Erik war ein seriöser Wissenschaftler, der niemals zugelassen hätte, daß die Grenzen des ethisch Vertretbaren überschritten werden.«
»Vielleicht haben Sie sich ja genau darüber gestritten?« warf Lindell ein.
Berglund sah sie an, und Lindell hatte den Eindruck, daß es ihm nicht gefiel, wenn sie sich einmischte.
»Wenn Sie damit andeuten wollen, ich wäre anderer Ansicht gewesen als er, irren Sie sich«, antwortete Mortensen emphatisch. »Wir waren uns, wie gesagt, vollkommen einig.«
Lindell verließ den Raum und ging zu Haver.
Nach einer Stunde beschlossen Lindell und Ottosson, die Verhöre abzubrechen, weil nichts Greifbares herausgekommen war.
»Wir hatten einfach nicht genug in der Hand«, meinte Ottosson.
Die Aktion der Polizei hatte die Angestellten offensichtlich nervös gemacht. Aber da Lindell und die anderen Polizisten ihre Vermutungen nur unzureichend untermauern konnten, klangen auch ihre Worte zunehmend wie leere Drohungen. Adrian Mårds Angaben ließen sich durch nichts belegen, und sie durften erst recht nicht auf ein Dokument verweisen, das sie nicht einmal gesehen hatten.
War beim Tod von Familie Cederén und Gabriella Mark Geld im Spiel gewesen, oder hing alles mit den angeblich illegalen Tierversuchen zusammen? Sie kannten die Antwort immer noch nicht.
Die Ermittlungen traten wieder einmal auf der Stelle, und das hatte Spuren hinterlassen bei den versammelten Kriminalpolizisten.
»Mortensen ist ein ganz linker Hund«, meinte Berglund.
»Er gibt sich freundlich, ist in Wahrheit aber aalglatt. Er weiß, daß wir nichts in der Hand haben.«
Er mochte Mortensen nicht, das hatte Lindell sofort bemerkt, als sie bei den beiden hereingesehen hatte. Der sonst so sanftmütige Berglund war gereizt gewesen und hatte bei seinen Versuchen, Mortensen auf den Leib zu rücken, einen unprofessionellen Eindruck gemacht.
Es ging ein frischer Wind, als Ann Lindell kurz nach fünf auf die Straße hinaustrat. Die Niedergeschlagenheit ließ sich nicht so einfach abschütteln. Als sie im Auto saß, kamen ihr wie aus heiterem Himmel wieder die Tränen. Während der Verhöre und der Diskussionen mit den Kollegen hatte sie die Fassung bewahren können; nun war es damit vorbei.
»Das ist alles so sinnlos«, murmelte sie leise.
Sie wollte nach Östhammar fahren, wurde aber immer unsicherer, ob das richtig war. Mal wollte sie Edvard sehen, mal wollte sie ihn nicht sehen. Sie sehnte sich nach seiner Stimme und seinen Händen, aber ihr war klar, daß es nie wieder so sein würde wie früher. Sie konnte ihn nicht mehr lange hinhalten. Das Märchen von Edvard und Ann ging bald zu Ende. Sieh das ein, dachte sie und fühlte Verbitterung in sich aufsteigen.
Sie fuhr nach Hause und betrat die stille Wohnung, die ihr in diesem Moment unwirklich vorkam. Wohnte sie tatsächlich schon seit ein paar Jahren hier? Der Kühlschrank war leer, das Geschirr stapelte sich in der Spüle, der Wäschekorb war voll, und sie wunderte sich fast ein wenig, als Wasser aus der Dusche strömte. Etwas funktionierte. Sie sah zu, wie das Wasser wirbelnd im Abfluß verschwand.
Sie wollte ein Glas Wein trinken und sich auf die Couch legen, aber es war kein Wein im Haus, und sie hatte sich vorgenommen, keinen neuen mehr zu kaufen. Viele Monate nicht. Wie lange stillte man eigentlich?
In Osthammar hatte es kräftig geregnet; als Ann Lindell auf dem Parkplatz der Ambulanz aus dem Auto stieg, atmete sie tief durch.
Mit jedem Schritt wuchs ihre Anspannung. Sie hatte nichts dabei, weder Schokolade noch Blumen. Sie kam mit leeren Händen und einer einzigen Hoffnung: daß er sie umarmen würde wie früher.
Eine Krankenschwester kam ihr entgegen. Lindell erklärte ihr Anliegen. Die Krankenschwester zeigte auf ein Bett am hinteren Ende des Korridors. »Wir haben das Bein gegipst«, sagte sie lächelnd.
»Wird er hierbleiben müssen?«
»Nein, sobald der Gips fest ist, schicken wir ihn nach Hause.«
»Hat er Schmerzen?«
»Er hat schon in Öregrund etwas gegen die Schmerzen bekommen. Ich glaube, es ist nicht so schlimm.«
Das sagen sie immer, dachte Lindell.
»Vielen Dank«, meinte sie und empfand wie so oft, wenn sie Pflegepersonal begegnete, Dankbarkeit.
Lindell ging zu seinem Bett. Er schlief. Auf der rechten Wange hatte er einen Bluterguß. Ansonsten schien er unverletzt. Das gegipste Bein war unter der Decke verborgen. Sie studierte die Gesichtszüge, die Fältchen, das schütter werdende Haar, die sonnengebräunte Haut und die kräftige Hand, die auf der Decke lag. Eine alte Narbe leuchtete weiß. Hätte sich der Brustkorb nicht regelmäßig gehoben, man hätte ihn für tot halten können; merkwürdig friedvoll war der Anblick dieses sonst so aktiven und unruhigen Mannes.
Ann Lindell streichelte vorsichtig seine Hand. So sollte es bleiben, dachte sie, können wir das Leben nicht in diesem Moment anhalten? Wir tun einfach so, Edvard. Ich stehe hier als deine Geliebte. Du träumst von mir. Du wachst auf, und ich bin an deiner Seite. Ich liebe dich. Das weiß ich jetzt.
Als sie aufblickte, war er aufgewacht. Er sah sie an. Sie lächelte schüchtern.
»So kann es einem gehen«, sagte er. Er griff nach ihrer Hand.
Deine Hände machen mich wehrlos, dachte sie. »Wie geht es dir?«
»Man verwöhnt mich«, sagte er und lächelte.
Sie nickte. Er rückte ungelenk ein wenig zur Seite, damit sie sich auf die Bettkante setzen könnte, aber Lindell holte sich einen Stuhl.
»Was ist passiert?«
Er erzählte ihr von seinem Fischfang und hob Victors Mut hervor. Der Alte hatte sein Boot geschickt zwischen den Untiefen hindurchmanövriert, den Anker im exakt richtigen Augenblick geworfen, und es war, als hätte sich das Meer mit einem Schlag beruhigt.
»Die Felsen sind glatt«, sagte Edvard abschließend.
»Ich habe furchtbare Angst bekommen, als Viola anrief. Sie meinte nur, du seist ins Meer gegangen, und da habe ich gedacht, du wärst gestorben.«
Edvard sagte nichts.
»Warum bist du bloß bei so einem Wetter rausgefahren?«
»Es waren Victors Netze.«
»Wen kümmern schon ein paar Netze?«
Sie sah, daß Edvard nicht weiter darüber sprechen wollte. Er starrte ins Leere. Der etwas verlegene, aber dennoch freimütige Ausdruck in seinem Gesicht war verschwunden.
»Du wolltest es ausprobieren, stimmt’s? Wolltest sehen, wo die Grenze verläuft. War es nicht so?«
»Nein«, erwiderte er, aber Lindell hörte die Unsicherheit in seiner Stimme.
»Ich bin schwanger«, sagte sie.
Edvard reagierte nicht. Er drehte nur den Kopf, sah sie an und nickte.
»Wußtest du es?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Ich liebe dich«, sagte er leise, »das war mir schlagartig klar, als ich dort im Wasser lag. Ich kann nicht mehr so weit weg von dir leben.«
»Es ist nicht von dir«, sagte sie und verstand selber nicht, woher sie die Worte und die Kraft nahm. Lindell sah die Zweifel und dann den Schmerz, der sich über sein Gesicht legte. Es sah aus, als hätte sie ihm einen Peitschenhieb versetzt. »Es tut mir leid«, schluchzte sie.
Sein Körper wurde zu einem Panzer, und er schloß die Augen. Seine Wangen hatten eine kränkliche graue Farbe bekommen.
»Verzeih mir. Ich liebe dich doch.«
Er zuckte zusammen wie unter einem neuerlichen Hieb.
»Geh jetzt«, sagte er wütend.
»Ich liebe dich«, wiederholte sie.
»Geh weg! Geh, verdammt noch mal.«
Als sie davontaumelte, blickte sie sich ein letztes Mal um. Edvard schaute ihr nach, und ihre Blicke begegneten sich. Was sie sah, war verzweifelter Haß.
Lindell bereute, daß sie die Wahrheit so plump herausposaunt hatte. Sie plagte das Gefühl, seine Wehrlosigkeit ausgenutzt zu haben. Eben erst aus dem Meer geborgen, war er nicht nur schutzlos den Wogen der Ostsee ausgeliefert gewesen, sondern jetzt auch allen überschäumenden Gefühlen. So mochte er es jedenfalls empfinden.
Das verlorengegangene Vertrauen würde sich nie wieder aufbauen lassen.
Am Ausgang blieb sie plötzlich stehen. Sie hatte sein Zögern bemerkt, als sie danach fragte, warum er bei so einem Wetter hinausgefahren sei. Lindell starrte an der Fassade hoch, in der die Fenster im Licht der Abendsonne glänzten.
Wenn sie das Kind abtrieb, würde er sie dann wieder wollen? Sie machte auf dem Absatz kehrt, so als wolle sie augenblicklich zurückgehen, den Korridor hinablaufen und ihn ohne Umschweife fragen, ihre eigene Scham und seine unausgesprochenen Vermutungen beiseite schieben. Sie wußte, daß er sie niemals fragen würde, wer der Vater des Kindes war. Würde sie es ihm erklären können und sein Vertrauen wenigstens soweit zurückgewinnen, daß sie es noch einmal miteinander versuchen konnten?
Sie schüttelte den Kopf. Nicht Edvard. Seine Schwermut erstickte solche Hoffnungen. Das bloße Wissen um ihre kurze Affäre würde ihnen wie ein unüberwindliches Hindernis im Weg stehen.
Das Handy klingelte, und sie überlegte, ob er es sein konnte, aber es war nur Frenke aus der Telefonzentrale des Präsidiums.
»Hallo Ann, entschuldige bitte, daß ich dich störe, aber hier hat jemand angerufen, und mir kam ein Name in dem Gespräch bekannt vor. Mortensen. Sagt dir das was?«
»Ja, sicher«, antwortete Lindell ungeduldig.
»Sein Nachbar, der mir ziemlich verrückt zu sein scheint, hat eben angerufen und sich darüber beklagt, daß Mortensen solchen Krach macht.«
»Krach macht?«
»Ja, offensichtlich arbeitet er mit Maschinen auf seinem Grundstück, und der Typ fand, daß es dafür schon ein bißchen spät sei. Dem Nachbarn zufolge ist Mortensen fast jeden Abend zugange.«
»Aha«, sagte Lindell.
»Ja, ich weiß schon«, meinte Frenke, »aber weil ich mich an den Namen Mortensen erinnern konnte, habe ich gedacht, ich sollte dir lieber Bescheid sagen. Er steckt doch in der MedForsk-Sache drin. Ich habe den Nachbarn gebeten, dich morgen anzurufen.«
»Nett von dir. Danke für den Anruf.«
Sie sah auf die Uhr. Mortensen kann nicht mehr ganz bei Trost sein, dachte sie. Sitzt einen ganzen Tag im Verhör und fährt anschließend nach Hause und gräbt in seinem Garten.
Was hatte er noch gesagt? Man muß zusehen, daß man für sein Geld auch etwas bekommt?
Die Rückfahrt nach Uppsala kam ihr endlos lang vor. Sie passierte Börstil, und ihr ging durch den Kopf, daß sie vielleicht für lange Zeit zum letzten Mal an der weißen Kirche vorbeifuhr. Sie war immer eine Art Etappenziel für Lindell gewesen. Wenn sie die Kirche hinter sich ließ, war die Küstenregion erreicht. Die Kirche bildete für sie die Grenze zu Edvards Reich, und sie erinnerte sich an die vielen Male, die sie mit erwartungsvollem Kribbeln im Bauch daran vorbeigefahren war.
Es gelang ihr, an etwas anderes zu denken, was ihr eine gewisse Erleichterung verschaffte. Sie durfte jetzt nicht schlappmachen. Sie mußte die Ermittlungen zu Ende führen.
Als sie durch Gimo fuhr, hielt sie sich zum ersten Mal an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Die Kirche von Skäfthammar. Als nächstes kommt Alunda, dachte sie. Danach Stavby und anschließend Rasbo. Von der Kathedrale in Malaga zu den Landkirchen Upplands.
Die Schuldgefühle, die sie plagten, weil sie einen anderen Menschen so verletzt hatte, drohten sie zu übermannen, aber wieder zwang sie sich, an die Ermittlungen zu denken. Was hatte Teresia Wall bloß gesagt? Sie hatten über etwas Privates geredet, aber Lindell kam einfach nicht darauf, was ihr dabei aufgefallen war. Vielleicht war es nur ein einziges Wort gewesen, aber welches?
Auf Höhe der Abfahrt Richtung Tuna fiel es ihr wieder ein. Es ging um Teresia Walls Mann, daß er als Veterinär in Ultuna arbeitete. Adrian Mård war Agronom und mußte folglich auch an der Landwirtschaftlichen Fakultät studiert haben. Ob sie sich kannten? Hatte Teresias Mann Mård die Informationen über illegale Tierversuche zugespielt?
Es waren bloß Vermutungen, aber Lindell hatte sich schon oft auf ihre Intuition verlassen, und dieser Anhaltspunkt war nicht schlechter als viele andere auch. Sie sah auf die Uhr. Edvard, was tust du jetzt? Sie tastete nach dem Telefon, das zwischen die Sitze gerutscht war, und wählte Beatrices Privatnummer. Es klingelte fünfmal, ehe sie an den Apparat kam.
»Hast du etwa schon geschlafen?«
»Nein, wir spielen draußen Boule mit ein paar Freunden«, antwortete Beatrice gutgelaunt. »Ich habe mir schon gedacht, daß du es bist.«
»Mir ist da eine Idee gekommen …«, begann Lindell.
»Teresia Wall«, unterbrach Beatrice sie.
»Genau.«
»Das war mir klar.«
»Ihr Mann arbeitet in Ultuna und hat da bestimmt auch studiert. Das gleiche gilt für Adrian Mård.«
Sie brauchte nicht mehr zu sagen. Beatrice verstand, was sie meinte.
»Sollen wir sie morgen wieder zum Verhör holen?«
»Kannst du dich bitte darum kümmern?« fragte Lindell.
Karl-Göran Wall hatte 1982 sein Examen in Ultuna gemacht, im gleichen Jahr wie Adrian Mård. Diese Information hatte Lindell durch einen Anruf bei einer zuvorkommenden Sekretärin der Landwirtschaftsuniversität erhalten.
Sie hatten zwar unterschiedliche Studiengänge belegt, aber die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich kannten, war dennoch recht groß.
»Kennen Sie einen Mann namens Adrian Mård?« fragte Beatrice.
Teresia Wall verneinte, aber ihre Augen verrieten sie.
»Kennt Ihr Mann ihn vielleicht?« mischte Lindell sich ein.
»Wir könnten ihn anrufen und fragen.«
Teresia Wall schob die Unterlippe vor, ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Vielleicht war es ein Zeichen von Wut. Sie sagte nichts, und Lindell und Beatrice wußten, daß sie auf der richtigen Spur waren.
»Okay, ich kenne Adrian Mård. Na und?«
»Er hat uns gewisse Informationen zukommen lassen«, sagte Lindell.
Teresia Wall begann still zu weinen. Langsam rannen ihr die Tränen über die Wangen.
Beatrice holte ein Papiertaschentuch hervor. Teresia Wall schneuzte sich lautstark und begann anschließend zu erzählen. Lindell vergewisserte sich, daß das Tonband lief. Jetzt, de Soto, dachte sie, jetzt kommen wir.
»Es war letzten Herbst«, begann Teresia Wall ihre Aussage, »Sven-Erik war in Malaga gewesen und kehrte außer sich vor Wut zurück. Er war nicht mehr er selbst. Er und Mortensen stritten sich oft. Türen wurden zugeschlagen, die Atmosphäre war vergiftet. Vorher war alles so gut gelaufen. Dann war von einem Moment zum anderen alles anders.«
»Worüber haben die beiden sich gestritten?« fragte Beatrice.
»Wir hatten keine Ahnung. Sofi hat Mortensen einmal darauf angesprochen, aber er hat sich geweigert, etwas zu sagen. Anfangs haben wir gedacht, es ginge um Geld. Deshalb kommt es ja meistens zum Streit, aber es ging um etwas anderes. Eines Tages war ich in Sven-Eriks Büro, um einige Unterlagen zu holen. Ich fand sie nicht und fing an, in den Stapeln auf seinem Schreibtisch zu suchen.« Sie machte eine kurze Pause und sah Lindell an. »Ich wollte nicht herumschnüffeln«, versicherte sie, »aber es war wichtig, die Versuchsauswertung zu finden, nach der ich suchte.«
Lindell nickte.
»Zwischen den Papierstapeln lag ein Dokument, das mir auffiel. Es sah aus wie alle anderen, aber ganz unten hatte Sven-Erik eine Anmerkung gemacht. ›Verdammte Scheiße‹ stand dort mit großen Buchstaben. Da wird man natürlich neugierig. Und dann stand da noch, daß er abrate und daß dies zu großem Leid führen könne. Es waren die beiden Worte ›großes Leid‹, die mir vor allem ins Auge stachen.«
»Hatte er diese Notiz geschrieben?«
»Ja natürlich, ich erkannte seine Handschrift«, antwortete Teresia Wall. »Es ging um eine geplante Versuchsreihe. Wir haben seit zwei Jahren Versuche an Affen durchgeführt. Liiv und Södergren sind dafür verantwortlich gewesen, und die Versuche sind nicht besonders erfolgreich verlaufen.«
»Ist an den Vorwürfen der Tierschützer etwas dran?« erkundigte sich Beatrice. »Sie haben immerhin behauptet, die Versuche seien illegal.«
Teresia Wall zögerte, bevor sie antwortete. »Ich glaube, daß sie eine parallele Versuchsreihe durchgeführt haben«, sagte sie. »Eine Reihe, die genehmigt war, und eine zweite, die anscheinend nicht offiziell war.«
»Glauben Sie das oder wissen Sie es?«
»Ich weiß es«, sagte sie leise.
»Warum haben Sie dann nicht Alarm geschlagen?« fragte Lindell.
Teresia Wall schwieg lange. »Die Zukunft des Unternehmens hing doch von dem Parkinsonprogramm ab«, sagte sie schließlich.
»Wie unterschieden sich die neuen Versuche, über die Cederén so aufgebracht war, von den alten?«
Teresia Wall sah zu Boden, ihre gefalteten Hände lagen auf dem Bauch.
»Wie waren die Ergebnisse?« fragte Lindell.
»Nicht besonders gut«, meinte Teresia. »Die Sache ist offensichtlich schiefgegangen. Die Versuche wurden abgebrochen, weil zu viele Nebenwirkungen auftraten.«
»Und diese Versuche wurden in der Dominikanischen Republik durchgeführt?«
Teresia Wall nickte.
»Warum gerade dort?«
»Keine Ahnung, wahrscheinlich sind die Kontrollen dort nicht so streng.«
Teresia Wall erzählte, daß sie nicht gewußt habe, was sie hätte tun sollen. Ihr Mann bemerkte, wie sie sich veränderte, und glaubte, es läge an ihrer Schwangerschaft, aber am Ende hielt sie es nicht mehr aus und erzählte ihm, was sie entdeckt hatte. Gemeinsam hatten sie daraufhin Kontakt zu Adrian Mård aufgenommen, den sie seit fünfzehn Jahren gut kannten. Sie verließen sich ganz auf ihn. Sie wußten, daß er die Information an die Öffentlichkeit bringen konnte, ohne daß sie und ihr Mann in die Sache hineingezogen wurden.
Sie beteuerte, niemandem in der Firma etwas über das Dokument, das sie gefunden hatte, gesagt zu haben. Sie hatte vorgehabt, Cederén darauf anzusprechen, aber dazu war es dann nicht mehr gekommen.
Lindell verließ den Raum und ging auf der Stelle zu Ottosson. Er sah sie an und machte Anstalten, etwas zu sagen, aber Lindell schnitt ihm das Wort ab und gab wieder, was Teresia Wall berichtet hatte.
Der Dezernatsleiter lauschte ihr, ohne sie zu unterbrechen, und schwieg eine Weile mit abwesendem Blick.
»Kann das wirklich wahr sein?«
»Ich bin davon überzeugt, daß Wall die Wahrheit sagt«, antwortete Lindell. »Warum sollte sie bluffen?«
Ottosson verließ seinen Platz am Schreibtisch und ging im Raum auf und ab, blieb dann plötzlich stehen, griff nach dem Telefon und tippte eine Nummer ein.
»Ja, ich bin’s, Ottosson, kannst du mal kurz rüberkommen?« Er hörte sich die Antwort an, ehe er ungeduldig wieder das Wort ergriff. »Nein, das kann nicht warten«, sagte er und legte auf.
»Fritzén?« fragte Lindell.
Ottosson nickte. Lindell war auf einmal ganz ruhig. Sie saß auf ihrem Stuhl und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ottosson sagte etwas, das sie nicht verstand, bevor er unvermittelt den Raum verließ und den Flur hinabeilte. Als er zurückkehrte, sah Lindell, daß er sich das Gesicht gewaschen hatte. Haaransatz und Bart waren noch feucht.
»Wie machen wir jetzt weiter?« fragte er müde und setzte sich an seinen Schreibtisch.
»Wir holen Mortensen.« Lindell ging in ihr Büro. Auch bei ihr machte sich die Müdigkeit bemerkbar. Wie grausam ich zu Edvard war, dachte sie. Ich stürze in sein Krankenzimmer und platze damit heraus, daß ich ein Kind von einem anderen Mann erwarte. Wenn ich etwas behutsamer vorgegangen wäre, hätte ich vielleicht mit ihm darüber reden können. Sie beugte sich über den Schreibtisch. Sollte sie ihn anrufen? Er würde gleich wieder auflegen. Nach Gräsö zu fahren war ebenso sinnlos.
Das Telefon klingelte, abwesend nahm sie den Hörer und nannte ihren Namen.
»Mein Name ist Eilert Jancker, ich wohne in Kåbo und bin ein Nachbar von Jack Mortensen, falls Ihnen der Name etwas sagt?«
»Ja, natürlich«, sagte Lindell und erinnerte sich an Frenkes Anruf am gestrigen Abend. »Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich habe den Krach jetzt endgültig satt. Mortensen gehört zu denjenigen, die der Nachbarschaft das Leben besonders vergällen.«
»Aha?« sagte Lindell, als Jancker keine Anstalten machte, weiterzusprechen.
»Ich habe mich auch schon früher über ihn beschwert, aber jetzt ist das Maß voll. Es wird nicht besser, es wird eher noch schlimmer.«
»Worum geht es denn konkret?« fragte Lindell und wurde langsam ungeduldig.
»Maschinenlärm«, antwortete der Mann.
»Nun bin ich von der Kriminalpolizei, und so etwas fällt eigentlich nicht in meine Zuständigkeit.«
»Aber man hat mir Ihre Nummer gegeben«, beharrte Jancker.
»Na gut, erzählen Sie«, sagte Lindell.
»Vor ein paar Tagen hat Mortensen einen Bagger bis zum späten Abend laufen lassen, und gestern war es wieder soweit. Baggerarbeiten müssen tagsüber ausgeführt werden, das ist jedenfalls meine Meinung, und ich glaube, für alle betroffenen Anwohner sprechen zu können.«
Warum müssen die Leute nur immer so umständlich sein? dachte Lindell müde.
»Was gedenken Sie dagegen zu unternehmen?«
»Haben Sie mit Mortensen darüber gesprochen? Das hat sich schon oft als ein guter erster Schritt …«
»Das habe ich ja versucht«, unterbrach Jancker sie. »Vor ein paar Tagen bin ich rübergegangen. Und was finde ich vor? Einen Bagger mit laufendem Motor, aber keinen Mortensen.«
Lindell horchte auf. »Der Motor läuft, aber Sie sehen Mortensen nirgendwo, habe ich Sie da richtig verstanden?«
»Genau«, erwiderte Jancker, der zufrieden war, daß die Polizistin endlich zu begreifen schien, worum es ging.
»Wann war das?«
»Am Abend des 29., zwischen sechs und zehn. Ich habe sogar an der Tür geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht. Finden Sie nicht auch, daß es eine Unverschämtheit ist! Eine Maschine einfach laufen lassen und wegfahren.«
»Sind Sie sicher, daß er nicht daheim war?«
»Natürlich, sein Auto war weg. Er kam erst gegen zehn nach Hause. Ich habe mir den genauen Zeitpunkt notiert, 22:05.«
»Und dann hat er den Bagger abgestellt?«
»So ist es.«
Lindell erinnerte sich, daß der Maschinenverleiher gesagt hatte, Mortensen sei nicht besonders gut im Baggern gewesen. Jetzt sah sie die Worte in einem ganz anderen Licht. Mit dem Bagger war nicht lange gearbeitet worden.
»Wäre es Ihnen vielleicht möglich, ins Polizeipräsidium zu kommen, damit wir Ihre Aussage festhalten können? Wir könnten einen Wagen vorbeischicken, der Sie abholt.«
»Ich muß schon sagen«, meinte Jancker, »endlich ein Mensch, der begreift, wie lebensnotwendig der häusliche Frieden ist. Natürlich komme ich. Paßt es Ihnen in einer halben Stunde?«
»Das paßt mir sehr gut«, erwiderte Lindell.
Die Baggerarbeiten waren Mortensens Alibi für den Abend gewesen, an dem Gabriella Mark ermordet worden war. Er hatte ausgesagt, seine Nachbarn könnten bezeugen, daß er die ganze Zeit mit dem Bagger gearbeitet habe.
Lindell konnte einfach nicht still sitzenbleiben. Sie stand auf und ging mit schnellen Schritten in ihrem Büro hin und her.