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Auf dem äußersten Rand des Bootsstegs hockte eine Möwe. Es sah fast aus, als betrachte sie ihr Spiegelbild im Wasser und bewundere ihr weißes Gefieder, die sanfte Biegung des Schnabels und den Glanz der Augen. Ihr Kopf drehte sich ein wenig, so als hätte sie Edvards Schritte gehört oder als wolle sie eine andere Perspektive auf ihr Spiegelbild bekommen.
Stolz, dachte Edvard, das ist es, was sie sieht. Er ließ sich auf dem krumm gewachsenen Kiefernstamm nieder. Die hellbraune Rinde pflegte ihm ein wenig zusätzliche Wärme zu schenken, aber heute war das gar nicht nötig. Das Thermometer näherte sich der 25-Grad-Marke. Unbewußt rieb Edvard sich das Knie. Beim Sturz von einer Leiter hatte er sich eine häßliche Wunde zugezogen, er fühlte den Schmerz darin pochen.
Der Möwe schien seine Nähe nichts auszumachen. Vielleicht erkannte sie ihn wieder. Du sitzt auf meinem Platz, dachte er, aber das geht schon in Ordnung. Spiegel dich ruhig und träum ein wenig. Es gab einen Hauch von Nachdenklichkeit bei dem Vogel, der Edvard gefiel. Sie ist vielleicht ganz zufrieden mit diesem Tag, verdaut gerade eine Plötze und genießt die Wärme. Oder es ist genau umgekehrt: Sie trauert, sie hat etwas verloren. Vielleicht hat sie den Fisch fallen lassen.
Edvard wollte sie nicht stören, war jedoch ein wenig irritiert darüber, daß sie so lange auf dem Bootsanleger verharrte. Er hüstelte diskret, aber es nutzte nichts. Die Möwe blieb sitzen.
Edvard wartete. Viola, die alte Frau, der das Haus gehörte, in dem er wohnte, kochte, und sie würden bald essen. Er wollte vorher noch einen Moment auf dem Bootssteg stehen.
Plötzlich hob der Vogel ab, kreiste über der Bucht und ließ seinen Kot über dem mattgrünen Wasser fallen. Edvard stand sofort auf und trat auf den Steg hinaus. Einen Moment lang überlegte er, ob er baden sollte, beschloß jedoch, damit bis zum Abend zu warten. Es würde das erste Bad des Jahres sein.
Die Wassertemperatur vor Gräsö im nördlichen Uppland hatte lange bei bescheidenen fünfzehn Grad gelegen, aber er glaubte, daß sie jetzt gestiegen sein müßte, auf siebzehn, vielleicht sogar achtzehn Grad.
Die Möwe flog schreiend immer weiter fort und war mittlerweile nur noch ein Fleck über dem Wasser. Sie nahm Kurs auf den Sund und die offene See. Edvard wünschte sich, es ihr nachtun und auch abheben zu können.
Das kleinere Boot ruckelte träge an der Achtervertäuung, als eine schwache Brise über das Wasser strich. Der Wind war nicht kräftig, sondern glich eher einem Pusten. Vielleicht war es ja der Flügelschlag der Möwe, der ihn auf diese Weise erreichte.
Edvard Risberg stellte sich wie ein Turmspringer auf den äußersten Rand des Bootsstegs, streckte die Arme zum klarblauen Himmel hinauf, reckte alle Glieder und spähte auf das Wasser hinaus. Von der anderen Seite der Bucht drang das Geräusch menschlicher Aktivitäten zu ihm herüber. Bestimmt der Besitzer eines Sommerhauses, der seinen Rasen mähte. Er senkte die Arme wieder und holte tief Luft.
Es war für ihn eine große Genugtuung, auf diesem Bootssteg zu stehen. Er war sein Werk, gebaut auf dem Eis Ende Februar, jetzt in den Ufermorast gesunken. In den Eingeweiden des Stegs ruhte Granit, teils glatte Steine, die sie am Ufer gesammelt hatten, teils die vom Eis gesprengten kantigen, scharfen Blöcke, die sie an der Wasserlinie aufgehoben hatten.
Der Steg trotzte Wind und Meer und hielt den Nordost in Schach. Hinter seinem schützenden Arm konnten die beiden Boote, Victors und das kleine, friedlich vor sich hin dümpeln. Tonnen von Steinen. Holz. Unverrückbar lag er da, erbaut von Victor und Edvard mit Hilfe von Jens und Jerker, seinen beiden Söhnen im Teenageralter.
Victor hatte im Laufe seines langen Lebens eine ganze Reihe von solchen Bootsanlegern und Steinbetten gebaut; dieser war vermutlich sein letzter gewesen. Der alte Mann war dabei aufgeblüht wie nie zuvor. Seine Gebrechen waren ihm nicht mehr anzumerken, und er war unermüdlich.
Die Arbeit hatte eine Woche gedauert, und die Jungen waren die ganze Zeit über dagewesen, hatten Bretter getragen, Nägel eingeschlagen und Schrauben angezogen, Steine geschleppt und schließlich auf dem letzten Brett vor dem Meer eine Messingplakette mit ihren vier Namen und der Jahreszahl befestigt.
Eines Nachmittags hatten sie sich die Eishockeyschlittschuhe genommen und waren über das graue Eis fast bis zur offenen See gelaufen. Edvard hatte sie stolz und glücklich beobachtet, aber er war auch voller Angst gewesen, wegen der Risse im Eis und der brüchigen Eiskante. Mit glühenden Wangen waren die beiden zurückgekehrt. Edvard machte ein Feuer, und sie grillten Würstchen am Strand. Viola stieß mit Kaffee zu ihnen, und die Jungen tranken warmen Saft, genau wie im Stadion, wenn die Bandymannschaft von Sirius Uppsala ihr Heimspiel hatte.
Jens hatte Edvard an die Bandyspiele erinnert und daran, wie es gewesen war, als sie Großvater Albert in den Wagen bugsiert hatten und in die Stadt gefahren waren. Seine Stimme hatte dabei wie früher geklungen. Zum ersten Mal seit über zwei Jahren hatte der Junge mit Edvard gesprochen, ohne daß ein Schatten über seine Worte fiel. Voller Eifer hatte er erzählt, verstummte jedoch, als er die Miene seines großen Bruders bemerkte. Jerker hatte nichts gesagt, sondern nur auf das Eis hinausgestarrt.
Jens hatte seinen Vater noch einmal flüchtig angeschaut und geschwiegen. Edvard ging zu seinem ältesten Sohn und stellte sich dicht neben ihn. Victor sprach weiter, während er Holz nachlegte, aber auch er verstummte schließlich beim Anblick der beiden. Edvard wollte etwas sagen, zwei Jahre der Isolation beenden. Er sah den Trotz, aber auch die unterdrückte Sehnsucht, die in dem verbissenen Gesicht seines Sohnes standen. Er wußte, daß er den ersten Schritt tun mußte, und legte den Arm um seinen Sohn.
So blieben sie stehen, reglos und schweigend. Edvard wußte nur zu gut, daß Worte alles wieder zunichte machen konnten, und er gab sich Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Tränen hatte es schon mehr als genug gegeben. Jetzt wollte er einfach nur seinen Sohn im Arm halten. Selbst wenn später alles zum Teufel ging, würde man ihm diesen Moment nicht mehr nehmen können.
»Du bist gewachsen«, sagte er nur und ließ seinen Sohn wieder los.
Sie aßen noch mehr Würstchen. Viola, die wie immer fror, beklagte sich über den Wind und stellte sich ganz dicht an das Feuer.
»In Gummistiefeln bekommt man immer kalte Füße«, hatte Jens gesagt, und Viola hatte etwas gebrummt. Victor zog einen Kiefernkloben heran und hievte ihn ins Feuer. Die Dämmerung brach allmählich herein, und je mehr es aufklarte, desto kälter wurde es. Sie rückten immer näher an das wärmende Feuer heran.
»Wir könnten uns heute abend die Sterne ansehen«, meinte Jens, und Jerker zuckte zusammen. Er erinnerte sich wohl an Edvards Sternguckerei in Ramnäs und wollte um alles in der Welt nicht an diese Zeit erinnert werden. Hinzu kam, daß Marita, nachdem Edvard ausgezogen oder vielmehr weggelaufen war, als erstes das alte Plumpsklo, sein Observatorium, abgerissen hatte. Seither haßte Jerker sternenklare Abende und Nächte ebenso sehr, wie Marita dies schon immer getan hatte.
Edvard meinte, daß sie lieber Karten spielen sollten, was sie dann auch taten. Eine Ferienwoche hatten sie gemeinsam verbracht und in dieser Zeit einen Bootssteg gebaut, der sicher der stabilste auf der ganzen Insel war, jedenfalls wenn man Victor glauben mochte. Eine Woche. Später waren die Jungen noch an ein paar Wochenenden während des Winters und Frühlings zu ihm herausgekommen. Langsam, aber sicher brach das Eis zwischen ihnen, und Edvard konnte wieder etwas von der alten Freude empfinden, wenn er mit seinen Söhnen zusammen war.
Am Wochenende wollten die beiden wieder nach Gräsö kommen. Edvard wußte, daß sie den Bus zur Insel auch ihm zuliebe nahmen. Hinter Jerkers mürrischer Schale und Jens’ nervösem Geplapper verbarg sich ein rührender Wille, es ihm recht zu machen.
Als Ann ihn verlassen hatte, war er in eine tiefe Krise gestürzt, weil er überzeugt war, nun allein leben zu müssen. Nur Violas Fürsorglichkeit und die viele Arbeit, die ihn nachts tief und fest schlafen ließ, hatten ihn gerettet. Aber jetzt sah er das Leben und seine eigene Existenz in einem etwas hoffnungsvolleren Licht. Er hatte das Gefühl, seinen Platz wiedergefunden zu haben.
Außerdem hatte er den Kontakt zu einigen seiner alten Freunde aufgefrischt, vor allem zu seinen Kameraden in der Gewerkschaft. Fredrik Stark, ein gleichaltriger und sich unermüdlich engagierender Landschaftsgärtner, hatte ihn mehrfach besucht. Er blieb ein paar Tage, schrieb auf seinem Computer und las Edvard lange Sermone vor, wenn dieser nach Hause kam. Er arbeite an einem Roman, behauptete er, und Edvard war wütend darüber und zugleich neidisch auf Starks Zielstrebigkeit. In einem optimistischen Moment und aus der unbestimmten Hoffnung heraus, daß sie immer noch Interesse an ihm haben könnte, hatte er sogar Ann Lindell angerufen und eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen. Er wußte nicht, ob sie ihre Beziehung wieder aufleben lassen, und noch viel weniger, ob sie zusammen leben konnten, aber an den dunklen Winterabenden hatte er begriffen, daß er nicht für immer allein bleiben wollte.
Würde sie zurückrufen? Und wenn nicht, würde er sie noch einmal anrufen?