15
Ove Lundin saß im Schneideraum und arbeitete an einem Bericht über das Universitätskrankenhaus. Er hatte das Gefühl, die Bilder schon einmal gesehen zu haben, denn der Politiker, der interviewt wurde, sagte genau das gleiche wie alle anderen Kommunalpolitiker vor ihm auch.
Jemand war draußen auf der Treppe; er hörte Annas Stimme. Sie hatte Dienst in der Redaktion und lotste jetzt Ann-Britt Zimén von der Volkspartei hinunter, die gleich als Studiogast in der Sendung sein sollte. Anna schaltete den Fernsehapparat in dem kleinen Raum vor der Regie an. Er hörte Anna erklären, wann sie ins Aufnahmestudio gehen würden.
Lundin verließ den Schneideraum und grüßte. Die Politikerin schien nervös zu sein. Er ging zu den anderen in die Regie. Dort saßen bereits Melin, der Tontechniker, Rosvall, der Bildtechniker und der diensthabende Redakteur, Charlie Nikoforos. Die Neue, mit der Ove Lundin bislang kaum ein Wort gewechselt hatte, erkundigte sich, wie der Name der Politikerin geschrieben würde. Sie tippte den Nachnamen ein und hatte damit ihren Teil der Arbeit getan. Ihre Aufgabe war es, die Übersicht über alle Zeiten und Namen zu behalten.
Im Studio befanden sich zwei Kameramänner und Anders Moss, der das Interview führen sollte. Die Nachrichtensprecherin war noch nicht heruntergekommen. Bis zum Beginn der Sendung blieb eine Viertelstunde. Um 18:10 würden sie auf Sendung gehen.
Sie hatten keine sensationellen Nachrichten zu verkünden. Außer dem Film über die Gesundheitspolitik brachten sie eine Reportage über Genforschung, einen Kurzbeitrag über die Zustände im Gefängnis von Enköping und einen weiteren über die Jahreshauptversammlung von Pharmacia. Die Politikerin der Volkspartei sollte versuchen, die regionale Politik ein wenig greifbarer werden zu lassen. Ove Lundin glaubte nicht, daß sie etwas Überraschendes von sich geben würde. Sie hatte auf ihn einen eher verschüchterten Eindruck gemacht.
Birgitta Nilsson, die Nachrichtensprecherin, betrat das Studio und kommentierte den neuen Hintergrund. Zum wievielten Mal, fragte sich Lundin müde.
Sie setzte sich, schaute auf den in den Tisch eingelassenen Computerbildschirm und wechselte ein paar Worte mit Moss.
»Du hast da einen Fleck auf der Nase«, sagte er, und obwohl sie wußte, daß er sich einen Scherz erlaubte, mußte sie den kleinen Spiegel hervorholen und nachsehen. Sie setzte den Ohrhörer ein und warf einen prüfenden Blick auf den Teleprompter, von dem sie ablesen würde. Dort konnte sie bereits die Anmoderation sehen, in der sie den Inhalt der Sendung präsentierte, ehe zwei Minuten Reklame gesendet würden. Sie seufzte; falls sie sich langweilte, zeigte sie es jedenfalls nicht. Im Gegenteil, sie wirkte konzentriert, klemmte sich das Kabel hinter das Ohr und hörte augenblicklich die Stimme des Redakteurs.
»Wir haben Enköping auf zwanzig Sekunden gekürzt.«
Sie überprüfte das schnell auf dem Bildschirm.
»Okay«, sagte sie.
Anna Brink beobachtete die Frau. Sie sah verängstigt aus. Studiogäste waren oft nervös, betrachteten immer wieder ihr eigenes Spiegelbild und schoben die Haare aus dem Gesicht, es zuckte um ihren Mund, sie rückten die Krawatten oder zogen Blusen zurecht, lachten gekünstelt oder hüllten sich in Schweigen. Anna Brink hatte sämtliche Varianten erlebt, und Ann-Britt Zimén gelang es, all diese Verhaltensmuster zu einem Bewegungsschema zu vereinen.
»Keine Sorge«, sagte Anna Brink.
Die Frau tat ihr leid. Man konnte nur hoffen, daß sie sich etwas beruhigte, denn sonst würde es Anders Moss im Studio nicht leicht mit ihr haben.
Plötzlich verzerrte sich das Gesicht der Politikerin. Sie stierte zur Tür und stieß einen jammernden Laut aus. Anna Brink folgte ihrem Blick. Auf der anderen Seite der Glastür stand eine junge Frau. Ihre blonden Haare waren genauso blutverschmiert wie ihr Gesicht. Das Weiß in ihren Augen leuchtete, ihr Mund stand offen, und sie preßte eine Hand gegen die Glasscheibe.
Anna schob die paralysierte Politikerin zur Seite, hakte die Sicherheitskette auf und öffnete die Tür. Die Frau versuchte etwas zu sagen, was Anna Brink jedoch nicht verstand.
»Was ist passiert?«
Die Frau griff nach der Tür, und ehe Anna Brink wußte, wie ihr geschah, waren drei oder vier schwarzgekleidete Gestalten in den engen Vorraum gestürmt. Alle waren mit Wollmützen maskiert, und das erste, was die blutüberströmte Frau tat, war, sich ebenfalls eine Wollmütze überzuziehen.
»Keinen Mucks«, sagte einer der Vermummten und legte der Politikerin die Hand auf den Mund. »Ihnen wird nichts geschehen.«
Anna Brink sah, daß sie alle noch jung waren. Schmächtige Körper, schmale Hände und jugendliche Stimmen.
»Ihr müßt einfach nur den Mund halten und tun, was wir sagen.«
Sie und die Politikerin wurden in den Schneideraum gestoßen. Einer der Maskierten griff nach dem Telefon und riß die Schnur aus der Wand. »Her mit den Handys!« sagte er mit deutlich spürbarer Nervosität. »Wie viele seid ihr hier?«
»Ich weiß nicht genau«, antwortete Anna, »sechs, sieben Personen vielleicht. Einige sind im Regieraum und einige im Studio. Was wollen Sie?«
»Das kann dir egal sein.«
Anna Brink staunte über sich selbst. Anfangs hatte sie noch Angst gehabt, aber sie geriet nicht in Panik. Die Politikerin dagegen war in dem gleichen erbärmlichen Zustand wie ihre Partei und saß apathisch an die Wand gelehnt auf dem Boden. Aus ihr würde man die nächste Zeit kein vernünftiges Wort mehr herausbekommen. Anna Brink beugte sich über sie und sagte, daß alles wieder in Ordnung komme.
Die Tür zu dem Raum wurde geschlossen, und einer der Maskierten blieb davor stehen. Die übrigen drangen in die Regie und das Studio ein. Alle dort drin waren vollkommen überrumpelt. Bis zur Sendung blieben noch zwei Minuten. Charlie Nikoforos versuchte ansatzweise Widerstand zu leisten und packte einen der Eindringlinge am Arm, aber der lachte nur und befreite sich aus seinem Griff.
»Niemand wird zu Schaden kommen, wenn ihr tut, was wir verlangen«, sagte einer, der die Gruppe anzuführen schien.
»Wir wollen ins Fernsehen, und ihr werdet uns dabei helfen.«
Er betrachtete die Mitglieder der Redaktion, die man inzwischen alle im Regieraum versammelt hatte.
»Diese Tasche«, sagte er und hielt eine altmodische Einkaufstasche hoch, »enthält eine Sprengladung, die groß genug ist, um das Studio in Schutt und Asche zu legen. Wenn ich hier zünde, dauert es noch zehn Sekunden, bis es knallt. Ein paar von euch schaffen es vielleicht noch ins Freie, aber sicher nicht alle.«
Die Mitarbeiter von TV4 starrten die unansehnliche Tasche an. Eine Plastikschnur lugte aus dem ein wenig offenstehenden Reißverschluß heraus. Der Mann hielt die Tasche in der linken Hand und fuchtelte mit der anderen herum. Es sah aus, als würde er mit dem Arm eine Explosion beschreiben.
»Wer von euch ist die Nachrichtensprecherin?«
»Das bin ich«, sagte Birgitta Nilsson.
»Schön, du wirst für uns ein Kommuniqué verlesen.«
Er sah kurz auf die Wanduhr, 18:09.
»Du wirst wie immer aussehen, das Papier verlesen, und das war’s. Verstanden?!«
Birgitta Nilsson starrte den Mann an, sagte aber nichts.
»Was, zum Teufel, das können Sie doch nicht machen!« wandte der Redakteur ein.
»Was steht denn da drin?« fragte Ove Lundin.
»Das werdet ihr noch früh genug erfahren. Alle tun, was sie sonst auch tun, keine Mätzchen, alle bleiben ruhig und vernünftig. Wenn unser Text gesendet worden ist, hauen wir wieder ab.«
Für einen Moment wurde es totenstill im Raum. Der Schock und das Gefühl von etwas Unwirklichem, das von der Redaktion Besitz ergriffen hatte, wich nun der Angst. Was geschah, wenn etwas schiefging? Was würde dann passieren?
»Und keine verdammten Tricks! Wir haben jemanden, den wir anrufen werden und der kontrolliert, ob es auch wirklich gesendet wird, also versucht erst gar keine Mätzchen. Habt ihr mich verstanden?«
Der maskierte Mann schrie seine Kommandos. Die roten Punkte der Uhr marschierten unverdrossen im Kreis.
»Setz dich da rein! Gib dich wie immer.«
»Noch dreißig Sekunden«, sagte die Neue und blickte den Redakteur flehentlich an.
»Okay«, sagte er, »setz dich an deinen Tisch.«
Birgitta Nilsson starrte auf das Papier, das man ihr in die Hand gedrückt hatte, war aber nicht in der Lage, auch nur eine Zeile zu lesen. Schweigend begaben sich alle an ihre Plätze. Birgitta Nilsson holte mechanisch den Spiegel heraus und schaute in ihr blasses Gesicht. Der Redakteur setzte sich an den kleinen Tisch im Regieraum. Er schaltete das Mikrofon ein, das ihm den Kontakt zu Birgitta ermöglichte.
»Bist du in Ordnung?« fragte er leise. »Du schaffst das schon.«
Einer der Kameramänner machte sich bereit.
»Noch zehn Sekunden«, sagte der Redakteur.
Sein Blick war auf die Monitore gerichtet. Die Sendung begann. Das Intro klang auf einmal vollkommen fremd.
»Soll ich die normale Anmoderation machen?« hörte man Birgittas Stimme.
Anders Moss starrte den maskierten Mann an, der das Kommando hatte, einen Schritt näher an die offene Tür zum Studio herantrat, hineinschaute und dann nickte.
»Anschließend folgen zwei Minuten Reklame«, erläuterte Moss.
Der Maskierte nickte wieder. Er schien sich etwas beruhigt zu haben.
»Warum?« fragte Moss. »Man wird euch bestimmt schnappen.«
»Halt einfach das Maul«, zischte der Mann.
Moss hatte plötzlich alles gründlich satt. Warum müssen wir solchen Idioten ausgeliefert sein, dachte er. Die Reklame lief. Außer dem Anführer behielten zwei der Eindringlinge an den Kontrollmonitoren alles im Blick, und ein weiterer befand sich im Studio. Wir könnten sie überwältigen, dachte Moss und versuchte Blickkontakt zu seinem Tontechniker zu bekommen, der jedoch mit einem dämlichen Gesichtsausdruck auf die Regler starrte, so als verstünde er nicht, was man von ihm erwartete.
Die Sekunden vergingen. Zehn Sekunden, dachte Moss, wie weit kommen wir in zehn Sekunden? Vielleicht ist es auch nur ein Bluff, aber wer würde es schon darauf ankommen lassen?
Die Reklame näherte sich dem Ende. Der Tontechniker zitterte vor Angst.
»Noch zehn Sekunden«, sagte die Neue. Sie schien am ruhigsten von allen.
Dann war Birgitta auf Sendung. Nervös blickte sie in die Kamera. Leute, die sie kannten und zuschauten, meinten hinterher, ihr wäre nicht das geringste anzumerken gewesen, aber ihr selber war vor Angst speiübel.
Sie blickte auf das Blatt. Der Text war maschinengeschrieben, mit großer Schrift. Es waren vielleicht fünfzehn Zeilen voller schwarzer, fremder Buchstaben.
»Das in Uppsala ansässige Unternehmen MedForsk führt illegale Tierversuche an Affen durch«, begann sie, verstummte dann jedoch.
»Was zum Teufel!« schrie der maskierte Mann im Studio.
»Weiter!«
Es vergingen ein paar Sekunden, die allen Anwesenden endlos vorkamen, ehe sie in der Lage war, weiterzulesen. In diesem Augenblick erkannten viele Zuschauer, daß etwas nicht stimmte.
»Die Versuche laufen seit zwei Jahren, verstoßen gegen bestehende Gesetze und bedeuten eine schwere Mißhandlung der Affen, die unter unwürdigsten Bedingungen gefangengehalten werden. Sie leben in engen Käfigen und leiden Not. Wir vom Kommando zur Befreiung der Tiere warnen MedForsk: Beenden Sie die qualvollen Versuche, sonst stoppen wir Ihr blutiges Handeln. Sie glauben, daß Sie sich über den Tierschutz hinwegsetzen können, und rechtfertigen sich damit, daß dies im Dienste der Menschheit geschehe, aber in Wirklichkeit geht es Ihnen nur ums Geld. Das ist unsere letzte Warnung: Brechen Sie Ihre kriminellen Versuche ab, sonst handeln wir.«
Calle Friesman, der auf den Beitrag über das Universitätskrankenhaus wartete, den er am Nachmittag gedreht hatte, begriff sofort, daß etwas nicht stimmte. Der erste Satz hätte noch okay sein können, auch wenn er nichts davon gehört hatte, daß sie einen Beitrag über Affen bringen würden. Aber da waren Birgittas Stimme und ihr Blick. Sie las vom Blatt ab, nicht vom Teleprompter – das allein war schon seltsam. Zwar hatten alle Nachrichtensprecher lose Blätter vor sich auf dem Tisch liegen, von denen sie angeblich ablasen, doch das geschah vor allem, um etwas Leben in den Nachrichtenblock zu bringen.
Als dann die nächsten Sätze kamen, lief es ihm eiskalt über den Rücken. Was zum Teufel ist nur los mir ihr, dachte er und stand auf. Er sah sich in den Redaktionsräumen um: er war der letzte. Möglich, daß jemand aus der Marketingabteilung noch arbeitete, aber sie verfolgten die Sendung in der Regel nicht so genau. War sie verrückt geworden?
Als sie das Kommuniqué verlesen hatte, starrte Birgitta Nilsson hilflos in die Kamera. Sie hörte, wie Anders schreiend Anweisung gab, ein Pausenbild zu senden. Der Kameramann sank zu Boden.
Der Anführer hatte während der letzten Minuten mit jemandem telefoniert, der die Sendung verfolgte. Er beendete das Gespräch und lachte plötzlich.
Warum bleiben sie? dachte Anders Moss. Begreifen sie denn nicht, daß die Bullen bald hiersein werden?
»Das habt ihr gut gemacht. Danke für die Hilfe.«
Wie auf Kommando verließen die Tierschützer die Regie wieder. Im gleichen Moment stürzte Calle Friesman die Wendeltreppe in einem solchen Tempo herunter, daß er einem der maskierten Männer geradewegs in die Arme lief.
»Was, zum Teufel, treibt ihr hier?« schrie der Journalist.
Er bekam einen Schlag an den Kopf, taumelte gegen das Geländer und fiel nach hinten. Der Schmerz im Rücken, als er auf einer Treppenstufe aufschlug, war unbeschreiblich. Über ihm stand der Maskierte. Calle Friesman nahm dessen Mundgeruch wahr. Dann verschwanden die Besetzer so lautlos, wie sie zehn Minuten vorher eingedrungen waren.
Aus dem Schneideraum hörte man die Politikerin schreien.
Der Alarm wurde um 18:15 ausgelöst. Berglund und Haver hatten an diesem Abend Dienst. Haver saß in seinem Büro und bereitete ein Verhör für den nächsten Morgen vor. Olsson in der Telefonzentrale stellte das Gespräch zu ihm durch, und Haver erfaßte sofort den Ernst der Lage. Es gab einen Einsatzplan für den Fall von Terroraktionen, und Haver bat Olsson, augenblicklich Ottosson und Wirén von der Sicherheitspolizei zu informieren.
Er selber rief von seinem Handy aus Berglund an, während er die Treppe hinunterlief. Die Streifenwagen waren alarmiert, und Haver würde sie im Mannschaftswagen zur Redaktion von TV4 im südlichen Industriegebiet begleiten.
Als er im Wagen saß, telefonierte er noch mit Ann Lindell. Er hatte gehört, daß es irgendwie auch um MedForsk ging, und war sicher, daß Lindell unter diesen Umständen dabeisein wollte.
Die Polizei brauchte sechs Minuten, um zu TV4 zu gelangen. Das Personal des Senders hielt sich vor dem Regieraum und auf der Laderampe auf. Einige weinten. Calle Friesman lag noch auf der Treppe und konnte seine Beine nicht bewegen. Durch den Schmerz im Rücken war er für kurze Zeit ohnmächtig geworden, hatte aber mittlerweile das Bewußtsein wiedererlangt.
Anna Brink beugte sich über ihn. »Bleib einfach still liegen«, sagte sie.
Das Martinshorn des Krankenwagens war schon zu hören.
Ola Haver blieb ein paar Sekunden bei dem gelähmten Journalisten stehen und sah, wie ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Der Mann war leichenblaß. Haver brachte kein Wort über die Lippen. Wenn es etwas gab, wovor er panische Angst hatte, dann davor, in einen solchen Zustand zu geraten.
Berglund hob die Stimme, damit sich die Angestellten um ihn scharen sollten. »Hat jemand gesehen, wie sie von hier weg sind?«
Alle starrten den schreienden Polizisten an.
»Sie sind gelaufen«, antwortete Anna Brink. »Sie sind auf die Rampe gerannt, runtergesprungen und um die Ecke verschwunden.«
»Sie haben kein Auto gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. Im gleichen Moment traf der Krankenwagen ein, bremste scharf unterhalb der Rampe, und zwei Sanitäter sprangen heraus. Einen von ihnen kannte Haver von früher.
»Er scheint gelähmt zu sein«, sagte er leise zu dem Rettungssanitäter.
»Verdammt!« Der Mann sah seinen Kollegen an, und sie gingen hinein. Haver hoffte inständig, daß der Fernsehjournalist wieder gesund würde.
Er rief Ottosson noch einmal an, der ihm mitteilte, daß das ganze Haus auf den Beinen war. Der Plan für das Vorgehen bei Terrorakten und Geiselnahmen war in Kraft gesetzt worden. Überall in der Stadt wurden an strategischen Stellen Sperren errichtet. Eine spezielle Eingreiftruppe war im Einsatz.
»Gibt es eine Kopie von der Sendung?«
»Ja, wir können sie laufen lassen. Möchten Sie sie sehen?«
»Wie heißen Sie?«
»Anders Moss.«
»Okay, hören Sie mir jetzt bitte gut zu. Ich verstehe, daß Sie geschockt sind, aber versuchen Sie sich bitte an die Täter zu erinnern. Wie viele waren es? Gab es etwas Auffälliges an ihrer Kleidung, an ihren Stimmen? Haben sie Dialekt gesprochen oder mit einem ausländischen Akzent?«
»Sie haben alle normales Schwedisch gesprochen«, erwiderte Moss. »Sie waren jung, zwischen zwanzig und fünfundzwanzig.«
»Wie viele waren es?«
»Fünf oder sechs. Es war so ein Durcheinander.«
Ola Haver sah Moss an, der trotz allem einigermaßen gefaßt schien. Mach jetzt bloß alles richtig, dachte Haver.
Die Sanitäter hatten Calle Friesmans Nacken mit einer Manschette gesichert und betteten ihn nun vorsichtig auf eine Spezialtrage. Friesman hielt die Augen geschlossen. Behutsam wurde er hochgehoben und durch die schmale Tür auf die Rampe hinausgetragen. Dort herrschte Totenstille. Alle betrachteten Friesmans bleiches Gesicht. Jemand weinte. Es war die Politikerin der Volkspartei.
»Waren sie bewaffnet?« fragte Berglund.
Die Fernsehleute sahen sich an. Jeder suchte die Antwort in den Gesichtern der anderen.
»Ich glaube nicht«, meinte der Tontechniker schließlich.
»Ich habe keine Waffen gesehen.«
Einige andere schüttelten ebenfalls den Kopf.
»Sie hatten aber eine Bombe«, fuhr der Tontechniker fort.
»Eine Bombe.«
»Ja, das haben sie jedenfalls behauptet. Sie wollten sie hochgehen lassen, wenn wir nicht getan hätten, was sie uns sagten.«
»Haben Sie die Bombe gesehen?«
»Nein, sie lag in einer Tasche. Mit einer Zündschnur …«
»Beschreiben Sie die Tasche.«
»Sie war braun, mit Griff. Mein Vater hatte früher die gleiche. So eine, in der man den Henkelmann und die Thermoskanne dabei hatte.«
Haver nickte. Sein Vater hatte auch eine solche Tasche besessen.
»Aber sichtbar trugen sie keine Waffen?«
»Nein«, antwortete Moss.
»Wie sind sie hereingekommen?« fragte Berglund.
Moss zeigte auf die Tür.
»Sie haben mich reingelegt«, sagte Anna Brink. »Ein junges Mädchen stand mit blutverschmiertem Gesicht davor. Ich dachte, sie wäre verletzt.«
»Niemand macht dir einen Vorwurf, weil du aufgemacht hast«, sagte Moss.
»Wenn ich Sie richtig verstehe, war es also kein Blut?«
Anna Brink nickte.
»Sie zog sich dann sofort eine Mütze über den Kopf. Ich konnte nur sehen, daß sie blond war. Ich begleite Calle«, sagte sie plötzlich und verließ den Raum.
Der Krankenwagen verschwand, weitere Streifenwagen trafen ein. Hundeführer und Polizisten mit schußsicheren Westen und Maschinenpistolen standen in einer Gruppe zusammen und erhielten Instruktionen von Ärnlund, ihrem Chef.
Haver erblickte Lindell auf dem asphaltierten Hof. Er stieg von der Rampe und ging ihr entgegen.
»MedForsk?« war das erste, was sie sagte.
»Genau. Die wird man so leicht nicht wieder los.«
»Gibt es eine Verbindung zu unserem Fall?«
»Es ging um Affen, um Tierversuche. Bei den Tätern scheint es sich um militante Tierschützer zu handeln.«
»Haben sie mit Waffengewalt gedroht?«
»Nein, aber angeblich hatten sie eine Bombe dabei. Ansonsten scheinen es ziemlich brave Terroristen gewesen zu sein; das Personal ist natürlich geschockt.«
»Ist die Bombe noch da?«
Haver mußte grinsen.
»Glaubst du, dann würden wir hier stehen?«
Lindell sah zu den Mitarbeitern des Fernsehsenders hinüber. Einige rauchten, ein Mann hielt eine weinende Frau im Arm.
»Sie brauchen Hilfe«, sagte sie.
»Soweit ich weiß, ist die schon unterwegs«, erwiderte Haver.
»Ich rufe Jack Mortensen an. Wir müssen ihn kommen lassen und ihm das Band vorspielen, dann werden wir ja sehen, wie er darauf reagiert.«
Der Übertragungswagen von Radio Uppland näherte sich. Schon bald würden wohl weitere Medienvertreter vor Ort sein. Ein Fernsehstudio während einer Livesendung zu besetzen war etwas Neues, und daß die Opfer auch Journalisten waren, würde ihre Kollegen bestimmt zusätzlich motivieren.
Haver informierte Lindell darüber, was er bei seinem kurzen Gespräch mit dem Personal erfahren hatte.
»Wir lassen Berglund, Wende und Beatrice die ersten Vernehmungen durchführen. Ist jemand verletzt? Ich bin einem Krankenwagen begegnet.«
»Einer der Journalisten hat eine Rückenverletzung. Er ist möglicherweise gelähmt.«
»Oh, verdammt«, sagte Lindell mit Nachdruck. »Ich rede auf der Stelle mit der Sicherheitspolizei. Die führen bestimmt ein umfangreiches Register über militante Tierschützer.«
»Und was ist mit MedForsk?«
Seit die Nachricht von dem Überfall Lindell erreicht hatte, grübelte sie. Konnten diese militanten Tierschützer auch Josefin und Emily überfahren haben?
»Ich weiß nicht«, meinte Haver. »Leute zu überfahren ist eine Sache, und Tierschützer zu sein eine andere. Die scheinen hier nicht besonders gewalttätig vorgegangen zu sein. Sie waren nicht bewaffnet, und die Verletzung entstand auch eher durch einen Unfall, als an der Treppe zwei Männer mehr oder weniger zusammengestoßen sind.«
»Aber gibt es womöglich eine Verbindung zwischen Cederén, den Affen und den Tierschützern?«
»Das ist eine gute Frage«, lächelte Haver.
»Wie gesagt, ich rufe Mortensen an. Ich glaube, ich bestelle ihn ins Präsidium. Vorher rede ich noch mit der Sicherheitspolizei.«
»Ich bleibe noch hier. Vielleicht finden die Hunde ja was.«
Auf dem Hof herrschte reges Treiben. Ein paar Streifenpolizisten waren damit beschäftigt, das Gelände abzusperren.
Ryde und ein Kollege von der Spurensicherung tuckerten in Rydes altem Auto heran.
Lindell fuhr zum Polizeipräsidium zurück. Sie lächelte, als sie an den Chef der Sicherheitspolizei dachte. Er würde wohl in Hochform sein. Endlich würde das mühsame Zusammentragen von Informationen zu etwas nütze sein, endlich würden sie ein wenig glänzen dürfen, nicht zuletzt vor den Kollegen. Im Präsidium machten sich viele lustig über die Sicherheitspolizei. Jetzt durften auch sie einmal Beifall ernten.
Lindell fühlte sich nicht besonders gut, obwohl das Wochenende mit Edvard ihre Erwartungen erfüllt hatte. Er war ungewöhnlich offen und freimütig gewesen. Sie hatten sich geliebt, waren spazierengegangen, hatten auf der Wiese gelegen und in die Wolken geschaut, sich wieder geliebt. Sie hatten ein wenig über die Zukunft gesprochen und angedeutet, daß es vielleicht eine gemeinsame werden könnte. Edvard hatte gesagt, daß er in die Stadt oder wenigstens etwas heran ziehen könnte, und sie selber hatte geantwortet, daß in Östhammar und Tierp immer Leute gebraucht wurden. Die Arbeit war nicht alles oder sollte es zumindest nicht sein. Dennoch war ihr unbehaglich zumute. Irgend etwas stimmte nicht mit ihr.
Frisk, der Chef der Sicherheitspolizei, war wie erwartet ganz in seinem Element, als er am Abend des 26. Juni gemeinsam mit Lindell, Sammy Nilsson, dem Leiter des Führungs- und Lagedienstes und Ottosson den Fall durchging. Er schob sich einen Cheeseburger mit Pommesfrites in den Mund und erläuterte dabei wortreich die vorhandenen Register über Veganer, Tierschützer und andere Feinde der Weltordnung. Frisk schmatzte und lächelte wölfisch. Lindell hatte im Grunde nichts gegen ihn, aber ihr wurde ein wenig übel, wenn sie sein eifriges Kauen sah.
»Wir haben ein ganz gutes Bild von der Lage«, sagte er und stopfte sich noch eine Handvoll Pommesfrites in den Schlund. »Ihr müßt entschuldigen, aber ich bin nicht zum Essen gekommen.«
Ottosson nickte ungeduldig. Alle wußten, daß er und Frisk sich nicht besonders mochten.
»Es gibt das Kommando zur Befreiung der Tiere und dann noch die AFA«, fuhr er fort. »Beide haben uns namentlich bekannte Sympathisanten in der Stadt.«
»Wofür steht AFA?« wollte Sammy wissen.
Frisk sah sehr zufrieden aus.
»Antifaschistische Aktion«, antwortete er schnell. »Sie haben ungefähr zehn Mitglieder in der Stadt.«
»Ist es nicht wahrscheinlicher, daß die Täter militante Tierschützer waren?«
»Schon möglich«, erwiderte Frisk, wischte sich endlich den Mund mit einer Serviette ab und schob die Reste seines Imbisses zur Seite. »Das Kommando zur Befreiung der Tiere hat etwa ein Dutzend mehr oder weniger aktive Mitglieder, die wir zum harten Kern rechnen können, außerdem gibt es noch ungefähr fünfzig Sympathisanten.«
»So viele?« fragte Lindell.
»Ja, wenn man großzügig rechnet.«
Großzügig, dachte sie und fragte sich ernsthaft, wie sie auf diese Zahl gekommen waren.
»Dazu können Bekannte, Geschwister, Schulkameraden und andere zählen.«
»Ihr kennt diese Jugendlichen? Ich gehe jedenfalls davon aus, daß es sich um junge Leute handelt?«
»Und ob wir sie kennen«, sagte Frisk.
»Können wir eine Liste mit ihren Namen bekommen?« fragte Ottosson ruhig.
»Das geht nicht so einfach«, antwortete der Chef der Sicherheitspolizei und wurde auf einmal ganz vorsichtig. Er redete um den heißen Brei herum, sprach von Integrität und undichten Stellen. Es wurde eine langer Vortrag.
»Wir brauchen die Namen«, unterbrach Ottosson ihn.
»Das kapierst du doch wohl?«
Frisks Gesicht nahm einen abweisenden Ausdruck an, der sich mit einer gehörigen Portion schlecht verborgenen Entzückens mischte.
»Wir könnten zusammenarbeiten«, sagte er, als wäre dies ein Zugeständnis von historischem Ausmaß.
»Bockmist«, bellte Ottosson zur Verblüffung der übrigen Anwesenden. Es war sonst nicht seine Art, laut zu werden.
»Wir brauchen die Namen, so einfach ist das. Und falls du glauben solltest, daß es in unserem Kommissariat undichte Stellen gibt, bist du auf dem Holzweg.«
Frisk sah beleidigt aus. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, erwiderte er kurz angebunden.
»Rück erst einmal eine Liste vom sogenannten harten Kern dieser Tierschutztypen heraus, dann fangen wir bei denen an. Wir wollen die Namen noch heute abend vorliegen haben.«
Lindell grinste innerlich. Manchmal versetzte Ottosson seine Umgebung in Erstaunen. Deshalb war er als Chef auch so beliebt.
Frisk stand auf. Ottosson ebenfalls. Wie zwei Kampfhähne standen sie sich, nur durch den Tisch getrennt, gegenüber. Als Frisk den Raum verlassen hatte, nahm Ottosson die Verpackung mit den Pommesfrites und die klebrigen Blätter vom Tisch und schmiß alles in den Papierkorb.
»Der Kerl verbreitet nur Müll«, sagte er.
»Okay«, meinte Sammy Nilsson, »lassen wir das erst einmal. Hast du Mortensen erreicht?«
»Habe ich, er ist unterwegs. Er war in seinem Sommerhaus in den Schären, aber er hat sich unverzüglich ins Auto gesetzt. Er war ganz offensichtlich erschüttert. Ich habe ihn nach den Affen gefragt, aber er wollte sich nicht dazu äußern.«
»Kommt er hierher?«
Lindell sah auf die Wanduhr, halb neun. »Ungefähr in einer halben Stunde«, erwiderte sie.
»Du siehst müde aus«, meinte Ottosson. »War das Mittsommerwochenende so anstrengend?« Seine Wut war wie weggeblasen.
Lindell lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich hatte Hunger, aber mir ist der Appetit vergangen«, sagte sie.
»Sammy geht Frisks Liste durch, und du übernimmst Mortensen. Ich fahre jetzt nach Hause. Meiner Frau geht es nicht besonders. Sie hat sich eine richtige Sommergrippe eingefangen. Ist das okay? Ich komme später wieder zurück.«
»Völlig okay«, sagte Sammy Nilsson.
Der Geschäftsführer von MedForsk war braungebrannt, aber das war das einzige Zeichen von Gesundheit an ihm. Er sah gequält aus. Er setzte sich in Lindells Büro und sah sich ängstlich um, so als wäre er in einer Folterkammer gelandet. Lindell holte Kaffee, es war bestimmt ihre siebte Tasse heute, und nahm am Schreibtisch Platz.
»Üble Geschichte«, begann sie. »Möchten Sie Zucker?«
Mortensen schüttelte den Kopf und machte keine Anstalten, nach der Tasse zu greifen. Man hätte meinen können, er habe sie gar nicht gesehen.
»Affen«, sagte Lindell. »Haben Sie welche?«
Mortensen zuckte zusammen. Er versuchte zu lächeln, was ihm aber gründlich mißlang. Endlich griff er nach seinem Kaffee und hob die Tasse an den Mund, wobei er Lindell nervös ansah. Sie wartete ab.
»Praktisch alle, die die Parkinsonsche Krankheit erforschen, sind auf Tierversuche angewiesen«, erwiderte er, nachdem er die Tasse wieder abgestellt hatte.
»Das heißt …«, sagte Lindell.
»Wir haben Versuche an Affen durchgeführt.«
»Illegale, haben diese Tierschützer im Fernsehen gesagt. Stimmt das?«
»Das sind alles genehmigte Versuche gewesen. Wir haben mehrere Versuchsreihen durchgeführt. Alle benutzen Affen in der Forschung. Das ist nichts Ungewöhnliches. Diese Leute wissen nicht, wovon sie reden. Sie haben noch nie jemanden gesehen, der an Parkinson leidet. Sie sind nur darauf aus, Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Wo befinden sich diese Affen?«
»Das ist unterschiedlich«, sagte Mortensen. »Unter anderem in Ultuna.«
»An der Landwirtschaftlichen Fakultät?«
»Ja, genau. Dort gibt es lückenlose Kontrollen.«
»Wer führt diese Kontrollen durch?«
»Das machen unabhängige Veterinäre. Es gibt eine Organisation für diese Aufgabe.«
»Dann ist die Kritik der Tierschützer also völlig aus der Luft gegriffen?«
»Ja, natürlich«, antwortete Mortensen energisch.
Er hatte wieder etwas Mut gefaßt und trank noch einen Schluck Kaffee. Lindell beschlich das Gefühl, einen gewieften Taktierer vor sich zu haben.
»Was glauben Sie, warum führen diese Leute eine solche Aktion durch?«
»Sie wollen auf sich aufmerksam machen, das habe ich doch schon gesagt. Wollen sich interessant machen.«
»Sind sie auch bei Ihnen in der Firma gewesen?«
»Nein.«
»Es wäre doch das Normalste gewesen, dort zu demonstrieren, oder nicht?«
»Ich weiß nicht, was bei diesen Leuten normal ist.«
»Sven-Erik Cederén ist mit Tierschützern nicht in Kontakt gekommen?«
»Nein, jedenfalls hat er davon nichts gesagt.«
Lindell schwieg längere Zeit.
»Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Cederén, den Affen und der Aktion bei TV4?«
Ein Ausdruck von Schmerz legte sich auf Mortensens Gesicht. Er wand sich auf seinem Stuhl, sah Lindell kurz an und beugte sich vor.
»Ich weiß nicht, was hier vorgeht«, sagte er leise. »Sven-Erik war mein Freund, alles lief gut. Jetzt bricht alles zusammen, verstehen Sie. Das ganze Unternehmen ist ins Wanken geraten. Alle stellen Fragen. Leute rufen mich an. Womit haben wir das verdient?«
»Sie scheinen ein paar Millionen auf die Seite geschafft zu haben; Sie führen Versuche an Affen durch, die Tierschützer, und wahrscheinlich viele andere Menschen auch, für Tierquälerei halten, Ihr Forschungsleiter überfährt seine Familie und nimmt sich das Leben – kein Wunder, daß die Leute Fragen steilen. Was geht eigentlich vor bei MedForsk?«
Mortensen antwortete nicht.
»Wir werden uns die Affen natürlich ansehen. Vielleicht müssen wir Cederéns Tod neu bewerten.«
»Was meinen Sie damit?«
»Vielleicht gibt es ja eine Verbindung?« Lindell machte sich eine Notiz auf ihrem Block.
»Ich weiß nicht, was in diesen Idioten gefahren ist!«
»Er war doch Ihr Freund«, sagte sie, »Sie sollten es wissen.«
Mortensen blieb stumm. Sein Gesicht schien im Laufe des Gesprächs blasser geworden zu sein. Ein beleidigter Zug legte sich um seinen Mund, so als hätte Lindell eine Abmachung gebrochen. Das Gespräch war beendet. Mortensen stand wortlos auf, während Lindell demonstrativ sitzen blieb.
»Ich werde Sie hinausbegleiten«, sagte sie schließlich.
Sie wußte, daß sie jetzt nicht weiterkommen würden. Die Überprüfung der Affen in Ultuna würde ergeben, daß alles in bester Ordnung war. Dessen war sie sich sicher. Möglicherweise kein schöner Anblick, aber alles nach Vorschrift. Der Mann war ihr zuwider. Mortensens Versuch, den Märtyrer zu spielen, und seine Behauptung, Cederén sei sein Freund gewesen, kamen ihr wie eine billige Schmierenkomödie vor.
Schweigend gingen sie den Korridor hinab, und als Lindell Mortensen hinausließ, fiel eine Last von ihr ab. Sie wollte allein sein. Ihr war den ganzen Abend übel gewesen, und sie war völlig erledigt. Bei Mortensens Vernehmung hatte sie sich nicht sonderlich geschickt angestellt. Sie gab ihrer Abneigung die Schuld dafür. Das Gefühl, in eine Sackgasse geraten zu sein, ärgerte sie. Den Überfall auf ein Fernsehstudio zu untersuchen, das war ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack. Affen in allen Ehren, aber sie wollte sich lieber mit den Problemen der Leute beschäftigen. Sie schämte sich ein wenig für diesen Gedanken, denn natürlich erschütterten sie die Bilder von Tieren voller Schläuche und Nadeln, aber das Bild von Josefin und Emily am Straßenrand beschäftigte sie viel mehr. Sie wollte um jeden Preis verstehen, was sich ereignet hatte, war sich jedoch bewußt, daß sie wahrscheinlich nicht weiterkommen würden. Sven-Erik Cederén hatte die Erklärung für das Drama mit ins Grab genommen.
Vielleicht hatte sie auch Frisks selbstzufriedene Art gereizt. In seine Listen über Veganer und ähnliche Gruppen setzte sie kein großes Vertrauen. Lindell hegte den Verdacht, daß im Grunde jeder auf diesen Listen landen könnte. Die Kollegen von der Sicherheitspolizei und nicht zuletzt ihr Chef verströmten eine Aura von Willkür.
Sie kehrte in ihr Büro zurück. Sie wußte, daß Sammy Nilsson noch im Haus war, aber sie wollte jetzt allein sein. Es war ein langer Tag gewesen.
Wie würde es wohl sein, mit Edvard zusammenzuleben, dachte sie. Wird er akzeptieren, daß ich so oft fort bin? Sie versuchte sich Edvard in einer Wohnung in der Stadt vorzustellen, vor dem Fernseher oder in ein Buch vertieft, während sie im Polizeipräsidium saß oder durch die halbe Provinz eilte. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er das lange durchhielt.
Von einer Sekunde zur nächsten wurde ihr wieder übel, und sie schaffte es gerade bis zum Papierkorb, dann erbrach sie sich. Sie hatte Frisks fettigen Hamburger noch vor Augen und mußte gleich wieder würgen. Hoffentlich kommt jetzt keiner, dachte sie, als es wieder losging.
Über den Papierkorb gebeugt, mit zitternden Knien und Schweiß auf der Stirn, wurde ihr auf einmal klar, was mit ihr los war. Sie hätte es schon viel früher begreifen müssen, aber erst jetzt durchströmte sie die Erkenntnis eisig kalt. Sie hatte das Gefühl, ihre Körpertemperatur würde um mehrere Grad sinken, und sie schauderte. Das war so falsch, so verdammt falsch!
Sie starrte auf den Boden des Papierkorbs, wo zerknüllte Blätter, das Resultat der klugen Überlegungen des heutigen Tages, in einem Brei aus Erbrochenem lagen. So falsch! schrie es in ihr, und sie wußte, daß ihr Leben eine Wendung nahm.
Sie hätte es längst begreifen müssen! Sie hätte doch schon vor zehn Tagen ihre Regel bekommen müssen. Jetzt erinnerte sie sich, daß sie in der Woche vor Mittsommer noch überlegt hatte, wie schade es wäre, wenn es ausgerechnet auf Gräsö soweit wäre. Anschließend hatte sie keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Daß die Regel später kam oder sogar ganz ausblieb, war nichts Ungewöhnliches, wenn sie so im Streß war. Ihre Blutungen waren selten stark oder langanhaltend. Der Zyklus war unregelmäßig, und sie machte sich über ein paar Tage hin oder her keine großen Gedanken.
Aber jetzt wurde sie sich ihres Körpers schmerzhaft bewußt. Sie hätte es natürlich begreifen und die Zeichen deuten müssen, zum Beispiel die ständige Übelkeit. Sie hatte die Gründe dafür in allem, in unregelmäßigen Mahlzeiten, dem Hering und dem Schnaps gesucht, nur nicht darin.
Lindell dachte an ihre Versessenheit auf Salziges und Süßes. Oft genug hatte sie beobachtet, wie sich schwangere Freundinnen über Kokosbällchen, Lakritz und alle möglichen Süßigkeiten hermachten, ohne dies mit ihrer eigenen Nascherei in den letzten Wochen in Verbindung zu bringen.
Als erstes empfand sie Verachtung. Selbstverachtung. Anschließend wurde sie wütend. Warum mußte sie auch mit einem langweiligen Ingenieur ins Bett gehen? Dann bekam sie Angst. Jetzt würde sie Edvard verlieren, den Mann, den sie liebte. Schließlich stellten sich Zweifel ein: Sie war nicht schwanger, es lag am Streß.
Das Telefon klingelte, und Lindell fuhr erschreckt hoch. Sie starrte den Apparat an. Vier Klingelzeichen. Unmittelbar darauf war ihr Handy zu hören.
Sie fischte es aus der Tasche und wußte nicht, ob sie sich melden sollte. »Privatnummer« stand auf dem Display.
Sie drückte die Taste und nannte ihren Namen.
»Spreche ich mit Ann Lindell?«
»Ja.« Ihre Stimme war unbeherrscht, und die Frau am anderen Ende holte so tief Luft, daß Lindell es hören konnte.
»Ich habe gewisse Informationen über Sven-Erik Cederén.«
Es ist die Geliebte, dachte Lindell. »Aha«, sagte sie.
»Er hat sich nicht das Leben genommen.«
»Wer sind Sie?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Für mich spielt das eine große Rolle«, erwiderte Lindell.
»Es spielt keine Rolle«, wiederholte die Frau. »Wichtig ist allein, daß Sie nicht glauben dürfen, Sven-Erik hätte seine Familie überfahren und sich anschließend das Leben genommen. So etwas würde er nie tun.«
»Sind Sie seine Freundin?« Das Wort klang lächerlich, aber sie brachte das Wort Geliebte einfach nicht über die Lippen.
»Ich bin eine Freundin der Familie.«
Man konnte hören, daß die Frau damit ihren Vorrat an Mut und Kraft aufgebraucht hatte. Das Gespräch wurde unterbrochen. Sie hatte aufgelegt.
Lindell klappte das Handy zusammen. Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Wer war diese Frau? Ich bekomme ein Kind. Edvard. Die Ereignisse lähmten sie. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht klar denken, bekam kaum Luft. Sie saß einfach da und hatte nur einen einzigen Wunsch: Edvard nicht zu verlieren.
Ich sollte Sammy anrufen, dachte sie und beobachtete ihre Hand, die sich unwillkürlich über die glatte Fläche des Schreibtischs bewegte.
»Zum Teufel«, sagte sie laut. »Und was ist mit dem Kind? Will ich das Kind verlieren?«
Sie stand auf, ließ sich aber augenblicklich wieder auf den Stuhl fallen. »Bleib ruhig, ruf Sammy an, fahr nach Hause.«
Der Klang der eigenen Stimme beruhigte sie, und sie setzte ihr Selbstgespräch fort. Sie redete ununterbrochen wie ein sehr verwirrter Mensch, ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch, knotete die stinkende Plastiktüte im Papierkorb zu, nahm ihre Jacke und ließ den Blick über das Büro schweifen, als würde sie es für immer verlassen.
Laue Abendluft wehte ihr entgegen. Lindell blieb am Wagen stehen. Sie war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie fahren konnte.
»Idiot«, sagte sie laut zu sich selbst und schloß den Wagen auf, »jetzt reiß dich aber zusammen.«
Sie rief Sammy Nilsson vom Wagen aus an und berichtete ihm von dem Telefonat. Er wiederum erzählte, daß Frisk eine Handvoll Namen als Kern der Tierschützerszene vorgelegt hatte. Sie verabredeten, sich am nächsten Morgen schon früh zu treffen. Lindell wußte, daß Sammy Nilsson den weiteren Abend damit verbringen würde, den Namen auf der Liste etwas mehr Substanz zu geben. Wer waren sie? Adressen, Jobs, waren sie in der Ausbildung, waren sie bei der Polizei schon einmal aktenkundig geworden, all die Fragen, auf die man Antworten finden konnte, wenn man Zugang zu Datenbanken hatte, würde er bearbeiten.
Ann Lindell hatte nur einen Gedanken, als sie nach Hause fuhr und den Wagen parkte: sich ein Glas Wein einzuschenken, auf der Couch zu liegen und in Ruhe zu überlegen. Die Frau, die sie für Cederéns Geliebte hielt, hatte nervös geklungen, so als könne sie nur mühsam die Fassung bewahren. Sie wußte mehr, und Lindell ahnte, daß sie wieder anrufen würde. Offensichtlich war sie von Sven-Erik Cederéns Unschuld überzeugt und mochte deshalb ihre Informationen nicht für sich behalten. Sie würde alles tun, um Lindell von ihrer Version zu überzeugen.
Aber was machte die Frau so sicher? Lindell vermutete, daß es die Liebe war. Man brauchte etwas Zeit, um sich einzugestehen, daß der Geliebte ein Mörder und Selbstmörder war.
Der Wein schmeckte ihr nicht. Campo Viejo hieß die Sorte, die sie fast immer trank. Im staatlichen Alkoholgeschäft auf der Skolgatan kannte man sie schon. Es würde noch so weit kommen, daß die Verkäuferin zwei, drei Flaschen auf die Theke stellte, sobald Lindell das Geschäft betrat. In letzter Zeit war sie deshalb immer zum Alkoholgeschäft im Obs-Warenhaus gefahren. Dort war Selbstbedienung, und sie konnte anonym bleiben.
Möchte ich ein Kind haben? Sie hatte sich die Frage schon des öfteren gestellt und in den letzten Jahren immer mit ja beantwortet. Sie hatte ein Kind mit Rolf gewollt, dem Mann, mit dem sie zusammen gewesen war, bevor sie Edvard kennenlernte. Sie wollte ein Kind mit Edvard haben, auch wenn sie Zweifel hatte. Sie war Mitte Dreißig und wußte, daß es bald zu spät sein würde.
Warum ihr ein Kind so wichtig erschien, wußte sie nicht so genau. Als sie auf der Couch lag und ins Leere starrte, überdachte sie ihre Beweggründe. Sie rechnete aus, wann es geboren würde – Februar. Sie selber war ein Märzenkind. Sie mußte an ihre Eltern in Ödeshög denken und an ihr geduldiges Warten auf einen Enkel. Was würden sie dazu sagen? Ein Kind ohne Vater.
Sie streckte sich nach dem Weinglas, stützte sich auf den Ellbogen und trank einen Schluck. Sie sollte nichts trinken. Sie sank auf das Kissen zurück, deckte sich besser zu und bemitleidete sich selbst. Zehn Minuten später schlief sie. Ihr letzter Gedanke war, daß es besser gewesen wäre, sie hätte Haver angerufen und ihm von dem Gespräch mit der Frau erzählt. In gewisser Weise war das sein Revier.