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Ann Lindell genoß die Heiterkeit ihres Kollegen. Sammy Nilsson hatte mit todernster Miene ihr Horoskop für diesen Tag vorgelesen, aber als er zur letzten Zeile kam, »… und warum nicht einer Einladung zur Liebe nachgeben, die Sie heute erhalten werden«, mußte er laut lachen.
»Eine Einladung zur Liebe«, meinte Lindell, »wie das klingt.«
»Vielleicht lädt dich Ottosson zu einer Tasse Kaffee ein«, erwiderte Sammy Nilsson. »Ich glaube, er ist scharf auf dich.«
Ottosson war der Leiter des Kriminalkommissariats für Gewaltdelikte. Er hatte für halb zehn eine Besprechung einberufen, und Lindell und Sammy Nilsson ahnten, daß es um die Neuorganisation der örtlichen Polizei gehen würde.
Alles sollte wieder einmal über den Haufen geworfen werden. Die lokalen Polizeiwachen, die man mit viel Geschrei eingeführt hatte, konnten jeden Moment abgewickelt werden. Es war im Gespräch, die Wachen in Gottsunda und anderen Vororten zu schließen und in das zentraler gelegene Industriegebiet Fyrislund zu verlegen. Das Wort »lokal« würde plötzlich eine ganz neue Bedeutung bekommen, wenn Polizeipräsident Lindberg seinen Willen durchsetzte.
»Wie steht’s? Man hört, daß du ausgegangen bist?«
Lindell sah schnell auf. Sammy Nilsson hatte das Gefühl, daß ihr Blick fast etwas Ängstliches hatte.
»Ausgehen? Nie im Leben.«
»Hast du dich nicht mit einem Mann getroffen?«
»Wir waren aus und haben ein bißchen gefeiert, die Mädels und ich, du weißt schon.«
»Ich habe da aber etwas anderes gehört.«
Lindell lächelte.
»Du darfst nicht alles glauben, was du hörst.«
Ola Haver trat zu ihnen. Lindell sah ihm an, daß etwas passiert war, aber er setzte sich erst, bevor er zu sprechen begann.
»Wir haben einen Fall von Fahrerflucht«, sagte er. »Zwei Tote.«
»Wo?« fragte Sammy Nilsson.
»Uppsala-Näs.«
»Irgendwelche Zeugen?« erkundigte sich Lindell.
Haver schüttelte den Kopf.
»Ein Fuhrunternehmer, der am Unfallort vorbeikam, hat angerufen. Das eine Opfer ist ein Kind, ein Mädchen.«
Havers Gesicht war blaß.
»Verdammter Mist«, sagte Sammy Nilsson.
»Ungefähr sechs Jahre alt.«
Lindell sah auf die Uhr: 9:12.
»Ich rufe Ottosson an«, sagte sie und stand auf.
Einladung zur Liebe, dachte Lindell, als sie in Sammys Wagen stieg, wir bekommen eher Einladungen wie diese hier.
Sie schielte zu Sammy Nilsson hinüber, als er in die Salagatan einbog. Er fluchte leise über den Verkehr, fuhr auf die St. Olofsgatan und starrte wütend einen Autofahrer an, der von rechts kam und ihn zum Anhalten zwang.
Haver telefonierte auf dem Rücksitz, und Lindell nahm wahr, daß er von der Streife vor Ort genauere Informationen erhielt.
Mittwoch, der 14. Juni. Einer dieser Tage, die so viel Gutes für den Sommer verhießen. Auf den Heuwiesen stand das Gras hoch. Auf manchen wurde bereits die erste Ernte eingefahren. Bei Högby hatte ein Mann seinen Traktor am Straßenrand stehenlassen und ging mit gemessenen Schritten durch Klee und Thimoteegras, das ihm bis zur Hüfte reichte. Ann Lindell dachte für einen Moment an Edvard. Das hätte auch er sein können, der dort über das Feld ging und mit der Hand über die Halme strich. Das Bild war im nächsten Moment schon wieder verschwunden und blieb dennoch haften. Er war dort. In der Landschaft. Nach einem halben Jahr war Edvard Risberg noch immer wie ein Schatten gegenwärtig. Sie hörte seine Worte und spürte seine Hände. Niemand hatte sie je so angefaßt wie er.
Ein Rehbock äugte nervös vom Waldsaum zur Straße hinauf. Die Sonne schien Lindell direkt ins Gesicht, aber sie klappte die Sonnenblende des Wagens nicht herunter, sondern ließ die Strahlen ihr Gesicht wärmen.
Einen Kilometer weiter lagen eine Frau und ihre Tochter am Straßenrand.
Haver sagte etwas, das Lindell nicht verstand.
»Das ist bestimmt Ryde«, meinte Sammy Nilsson. »Nur er fährt einen so verrosteten Mazda.«
Er hatte recht. Eskil Ryde von der Spurensicherung war bereits am Tatort eingetroffen. Er stand über den Straßengraben gebeugt. Mit der einen Hand fuhr er sich durch das schüttere Haar, mit der anderen gestikulierte er.
Einer der uniformierten Kollegen winkte einen Kleinbus vorbei. Lindell erahnte etwas im Straßengraben, als sie aus dem Wagen stieg. Das Kind, dachte sie und schaute hastig zu Sammy Nilsson hinüber. Sie sahen sich einen Moment an. Ryde hob die graue Decke an. Das Stirnbein des Mädchens war gebrochen. Åke Jansson, der zweite uniformierte Kollege, schluchzte. Haver legte seinen Arm um ihn, und Åke ballte seine Hände zu Fäusten. Lindell berührte ihn flüchtig an der Schulter, ehe sie sich über den Körper des Kindes beugte. Sie sah im Grunde nichts, obwohl sie die dünnen Beine registrierte, die rechte Hand, deren Nägel hellrosa lackiert waren, das Muster des roten Kleides und die hellen Haare, die jetzt genauso rot waren wie das Kleid.
Lindell richtete sich so schnell wieder auf, daß ihr schwarz vor Augen wurde.
»Wissen wir, wer die beiden sind?« fragte sie, ohne jemanden direkt anzusprechen.
»Nein«, erwiderte Åke Jansson. »Ich habe nach einem Portemonnaie, einer Tasche oder etwas Ähnlichem Ausschau gehalten, aber sie hatten nichts dergleichen dabei. Sie haben bestimmt in der Nähe gewohnt. Der LKW-Fahrer, der als erster hier war, glaubt, die beiden schon einmal gesehen zu haben. Er befährt die Straße jeden Tag.«
Lindell hatte den Lastwagen registriert, der ungefähr dreißig Meter entfernt stand.
»Du sollst doch keine Leichen anrühren«, schimpfte Ryde.
»Ich wollte ja bloß wissen, wer sie waren«, sagte Jansson beleidigt.
»Vielleicht wollten sie zur Kirche«, überlegte Haver.
»Das Mädchen hat Blumen gepflückt«, meinte Ryde.
»Woher weißt du das?«
»Die Hände«, sagte Ryde.
Vier Polizisten um einen Kinderkörper. Ryde deckte ihn behutsam wieder zu.
»Wir schauen uns mal die Frau an«, sagte er.
Sie war eine schöne Frau gewesen. Ihre Haare, im gleichen Farbton wie die des Mädchens, waren kurzgeschnitten und gaben dem Gesicht einen strengen Rahmen. Von dieser Strenge war nicht mehr viel geblieben, aber Lindell begriff, daß sie eine Frau gewesen war, nach der man sich umsah, der man zuhörte. Sie glaubte, Selbstbewußtsein und Willenskraft in ihren Zügen zu erkennen, auch wenn sich ein scharfer Stein in ihr Kinn gebohrt hatte.
In den Ohrläppchen Gold, am linken Ringfinger ein schwerer Goldring und an der rechten Hand ein silberner Ring mit eingefaßten Steinen. Mit ihren gepflegten Fingernägeln hatte sie zwischen dem üppigen Grün des Straßengrabens und dem schwarzen, gesprungenen Asphalt Muster in den Schotter geritzt.
Ihr Kleid war khakifarben und sommerlich leicht. Auf dem schmalen Rücken war der Abdruck eines Autoreifens zu erkennen.
Sie hatte blaue Augen, aber ihr Blick war gebrochen.
Lindell schaute auf und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Es war vollkommen windstill, und vom See schallte das Geräusch eines Motorboots herüber. Auf der Weidenallee, die zum Gut Ytternäs hinaufführte, näherte sich ihnen ein Mann. Er ging langsam, aber Lindell sah, daß er die Gruppe von Autos, die am Straßenrand parkten, bemerkt hatte. Da kommt der erste Schaulustige, dachte sie und drehte sich schnell um.
»Die Identifizierung ist im Moment das wichtigste. Wer ist hier der Pfarrer?« sagte Lindell und sah Sammy Nilsson an, der den Kopf schüttelte.
»Keine Ahnung«, antwortete er. »Ich geh mal zur Kirche. Vielleicht gibt es dort ein Schwarzes Brett.«
Lindell ging zu dem Lastwagen hinüber. Åke Jansson zufolge saß der Fahrer in der Fahrerkabine; als sie näher kam, erblickte sie sein Gesicht im Rückspiegel. Er öffnete die Tür und glitt mit einer geübten, aber dennoch steifen und ungelenken Bewegung vom Sitz herab.
»Guten Tag, Ann Lindell von der Polizei. Sie waren als erster vor Ort?«
Der Mann nickte und ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte.
»Sie haben die beiden schon einmal gesehen?«
»Ich denke schon.«
»Entschuldigung, wie heißen Sie eigentlich? Ich habe vergessen zu fragen.«
»Lindberg, Janne Lindberg. Ich wohne da drüben«, sagte er.
»Sie haben die beiden also wiedererkannt?«
»Ja, sie gehen regelmäßig auf dieser Straße. Ich glaube, sie wohnen drüben bei Vreta udde, aber ich kenne die Frau nicht persönlich.«
»Sie war eine schöne Frau.«
Janne Lindberg nickte.
»Sie kamen von zu Hause und wollten in die Stadt? Wann war das?«
»Ungefähr um neun.«
»Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben.«
»Als erstes habe ich die Mutter gesehen, dann das Mädchen.«
»Sind Sie Brillenträger?«
»Nein, wieso?«
»Sie kneifen die Augen so zusammen.«
»Das ist wegen der Sonne.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Ich hab nachgesehen, ob sie noch leben.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Dann habe ich angerufen.«
»Sie haben die beiden also nicht überfahren?«
Die Frage ließ den Fahrer zusammenzucken, und er starrte Lindell an. »Was zum Teufel«, brachte er hervor. »Glauben Sie, ich überfahre eine Mutter mit Kind! Ich bin LKW-Fahrer.«
»Das ist alles schon vorgekommen. Darf ich mal einen Blick auf Ihr Handy werfen?«
»Warum denn das?«
»Ich möchte sehen, wann Sie uns angerufen haben.«
Er seufzte und reichte ihr das Handy. Lindell drückte auf die Speichertaste und stellte fest, daß Lindberg um 9:08 angerufen hatte. Davor hatte er zuletzt um 8:26 telefoniert. Anschließend ging sie auch noch die eingegangenen Anrufe durch, um zu prüfen, ob vielleicht jemand Lindberg angerufen hatte, bevor er die Polizei alarmierte. Tatsächlich. Um 8:47 hatte er einen Anruf erhalten.
»Kurz bevor Sie die 112 gewählt haben, sind Sie selber angerufen worden. Wer war am Apparat?«
»Einer von den Straßenarbeitern. Ich fahre Asphalt, aber heute morgen hatte ich Probleme mit dem Wagen. Er rief an, um zu hören, ob ich schon unterwegs war.«
»Sie hatten es heute morgen also eilig?«
»Ja, ich hätte schon kurz nach sechs am Werk sein sollen.«
»Waren Sie vielleicht abgehetzt, bekamen einen Anruf, wurden abgelenkt und konnten dann nicht mehr ausweichen?«
»Ach Unsinn! Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen überfahren!«
»Können wir den Mann anrufen, der mit Ihnen telefoniert hat?«
Janne Lindberg nickte. »Ich muß immer an das arme Mädchen denken«, sagte er.
Der Mann, den Lindell in der Allee gesehen hatte, war nun fast bis zu dem Lastwagen gelangt, und sie beschloß, auf ihn zu warten. Er hinkte ein wenig. »Was ist passiert?« fragte er.
»Hat es einen Wildunfall gegeben?«
»Nein«, erwiderte Lindell. »Es geht um einen Unfall mit Fahrerflucht.«
Der Mann blieb stehen. »Sind das etwa Josefin und Emily?«
Die Stimme versagte ihm. »Ich habe sie auf der Straße gehen gesehen. Sind es die beiden?«
»Wir wissen noch nicht, wer sie sind. Könnten Sie uns vielleicht weiterhelfen?«
Der Mann schluchzte: »Ich sah sie auf der Straße. Ich wußte, daß sie heute vorbeikommen würden.«
»Es handelt sich um eine Frau und ein kleines Mädchen. Könnten das die beiden sein?«
Der Mann nickte.
»Möchten Sie uns vielleicht helfen?«
Lindell trat einen Schritt näher an den Mann heran. Seine unverhüllte Verzweiflung und seine Tränen rührten sie so sehr, daß sie selber dem Weinen nahe war.
»Das ist sie«, sagte der Mann, als Lindell die graue Decke lüftete.
Er war ganz fahl im Gesicht geworden, und Lindell befürchtete, daß er in Ohnmacht fallen könnte.
»Kommen Sie, wir setzen uns in den Wagen, dann können Sie mir erzählen, was Sie wissen.«
»Kannst du mal kommen?« rief Ryde. Er hockte neben der Frau.
»Sprich du mit dem Mann«, sagte Lindell zu Sammy Nilsson, der neben ihr stand, und ging zu Ryde.
»Ich glaube nicht, daß sie sofort tot war«, meinte Ryde. »Sie hat versucht, sich auf der Straße zu ihrem Kind zu schleppen. Siehst du, hier«, sagte er und zeigte auf die Fahrbahn. Dort war eine schwache Blutspur zu erkennen. »Sie wollte zu ihrer Tochter.«
Lindell kniete sich hin und starrte angestrengt auf die Fahrbahn. Die Hand der Frau war schmal. Die Steine des Silberrings funkelten in der Sonne. Lindell bemerkte, daß am Zeigefinger Haut abgeschürft war.
»Es war kein Zufall, daß die beiden überfahren wurden«, sagte Ryde und stand mühsam auf.
»Glaubst du wirklich?«
Ryde sah sich um, ehe er antwortete: »Es war hell, die Straße ist gerade und ziemlich breit.«
»Du meinst, es war Mord?«
Ryde antwortete nicht, sondern fischte sein Handy aus der Tasche. Lindell blieb stehen. Das Mädchen hat Blumen gepflückt, dachte sie. Sie schaute zu der grauen Decke hinüber, mit der die Kleine zugedeckt war. Ihre Mutter hat sie nicht mehr erreicht. Wie viele Meter fehlten? Sieben, acht?
Ein Auto näherte sich. Haver hielt es an, während Lindell ihr Telefon herausholte.