21
Es erwies sich als einfache, jedoch frustrierende Arbeit, sich einen Überblick über Gabriella Marks Leben und ihren Bekanntenkreis zu verschaffen. Sie war eine sehr einsame Frau gewesen. Zu diesem Schluß kam Lindell, als sie den Bericht las, den Beatrice ihr hatte zukommen lassen.
Geboren wurde sie in einem kleinen Dorf bei Simrishamn, wo der Vater Zahnarzt gewesen war und die Mutter Zahnarzthelferin in der gleichen Praxis. Beide waren vor gut fünf Jahren gestorben. Ihre Mutter hatte Krebs, ihr Vater war vor der Küste Sri Lankas ertrunken. Die Kollegen in Simrishamn hatten eine halbe DIN-A4-Seite mit Informationen gefüllt.
Ihre nächsten Verwandten waren zwei Cousinen und ein Cousin, eine wohnte in Ystad, die andere in Tomelilla und der Cousin in Malmö. Die beiden Cousinen hatten im Grunde keinen Kontakt zu Gabriella Mark. Der Cousin aus Malmö war der einzige, der über die Jahre hinweg Verbindung zu ihr gehalten hatte. Dieser Malmöer Cousin war natürlich nicht zu erreichen. Die Kollegen in Malmö hatten seine Wohnung aufgesucht, aber es öffnete ihnen niemand. Eine Nachbann wußte zu berichten, daß er seit einer Woche im Urlaub war und erst in vierzehn Tagen wiederkommen würde. Er war zum Wandern in den Dolomiten.
Zum letzten Mal hatten sich alle vier vor drei Jahren gesehen. Damals ging es darum, das Erbe ihrer Großeltern aufzuteilen. Gabriella Mark war nach Simrishamn gereist und hatte eine Reihe von Schmuckgegenständen abgeholt.
Gabriella war schon immer etwas eigen gewesen, wie eine der Cousinen sich ausdrückte, nicht unfreundlich, aber reserviert. Sie hatte mit ihnen nicht über Sven-Erik Cederén gesprochen.
Die Firma, in der Gabriella Mark zuletzt gearbeitet hatte, existierte zwar nicht mehr, Beatrice war es aber gelungen, den früheren Firmenchef in Holland aufzutreiben, wo er im Immobiliengeschäft tätig war. Er klang aufrichtig bestürzt, als er am Telefon erfuhr, Gabriella sei tot. »Sie war so ein feiner Mensch«, hatte er zu Beatrice gesagt.
Lindell fand es tröstlich, daß in diesem Fall zur Abwechslung einmal jemand ein gutes Wort für einen anderen Menschen fand.
»Außerdem war sie eine sehr gute Projektleiterin«, teilte ihr früherer Arbeitgeber mit. »Sie hatte Ideen und setzte sie auch um, und das ist mehr, als man von den meisten anderen sagen kann. Sie war schwer zu bremsen, hartnäckig und zielstrebig.«
»Warum hat sie gekündigt?« hatte Beatrice ihn gefragt.
»Sie hat nicht gekündigt. Sie ist krankgeschrieben worden nach dem Autounfall, bei dem ihr Mann ums Leben gekommen ist. Sie hat sich von diesem Schlag nie wieder richtig erholt.«
Der Mann war verstummt, und Beatrice hatte schon geglaubt, die Leitung sei unterbrochen worden, als er mit einer Bemerkung fortfuhr: »Gabriella wollte immer gerecht sein. Sie haßte Ungerechtigkeit, egal ob es darum ging, wer mit dem Kaffeekochen an der Reihe war, oder um etwas, was sie am Morgen in der Zeitung gelesen hatte, über Menschen, die schlecht behandelt wurden. Ich glaube, das hatte sie von ihrem Vater, der war eine Art Weltverbesserer und soll sehr wahrheitsliebend gewesen sein. Sie hat oft von ihm gesprochen.«
Beatrice meinte hinterher, ein Immobilienfritze, der gleichzeitig so redegewandt war, wenn es um menschliche Beziehungen ging, sei doch einmal etwas ganz Neues.
»Sie hat alle verloren, die ihr lieb und teuer waren«, sagte Lindell, als sie und Beatrice die Aussagen über Gabriella Mark durchgingen. »Ihr Mann ist genauso gestorben wie ihre Eltern, und dann ist die Sache mit Cederén passiert.«
»Kein Wunder, daß sie Beruhigungsmittel genommen hat«, warf Beatrice ein.
»Sie haßte Ungerechtigkeiten?« sprach Lindell nachdenklich weiter.
Gabriella Mark war ihr sympathisch. Schade, daß wir uns nicht öfter unterhalten durften, dachte sie.
»Sie hätte eine gute Polizistin abgegeben«, meinte Beatrice.
»Ja, wir sind eben auch eine Art Projektleiter«, erwiderte Lindell. »Beim Projekt Gerechtigkeit.«
Der Arzt, der Gabriella Mark das Medikament verschrieben hatte, konnte ihnen nicht viel Neues berichten. Sie hatte ihn nur sporadisch aufgesucht. Offenbar hatte sie ihm nichts Persönliches anvertraut, sondern den Arzt nur benutzt, um an Beruhigungsmittel und Schlaftabletten zu kommen.
Finanziell ging es ihr gut. Das Haus war abbezahlt. Sie hatte einiges von ihren Eltern geerbt, so daß man sie finanziell unabhängig nennen konnte, obwohl sie so lange krankgeschrieben war. Ihr Bankguthaben belief sich auf fast achthunderttausend Kronen. Sie bezahlte in eine private Altersvorsorge ein und hatte, soweit sich dies ermitteln ließ, keine Schulden.
»Jedenfalls hat sie sich nicht wegen des Geldes mit Cederén eingelassen«, sagte Beatrice. »Geld hatte sie selber genug. Ich frage mich, ob sie von dem Geschäft in der Dominikanischen Republik gewußt hat. Wußte sie, daß Cederén dort Land gekauft hat? Vielleicht hatten sie gemeinsame Pläne.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Lindell. »Oder vielleicht doch. Erinnerst du dich an den Brief, den wir gefunden haben? Dieser Piñeda, der geschrieben hat, daß sie in Not seien. Könnte dieser Brief aus der Dominikanischen Republik stammen? Bei Gabriella Marks Sinn für Gerechtigkeit kann man sich gut vorstellen, daß sie die Dinge wieder in Ordnung bringen wollte.«
In einer Viertelstunde sollte die Besprechung stattfinden. Die Ermittlungen im Fall Cederén waren in ein ganz anderes Licht gerückt. Lindell schloß die Augen und versuchte, all die losen Fäden logisch miteinander zu verknüpfen. Welche Rolle spielte Piñedas Brief? Der Anschlag der Tierschützer auf TV4? Was wußte Gabriella Mark? Was war so gefährlich, daß sie deshalb aus dem Weg geschafft werden mußte?
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, daß Beatrice sie mit einem Gesichtsausdruck beobachtete, der sowohl Sorge als auch Neugierde verriet. Was sieht sie, dachte Lindell. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Die beiden Kolleginnen standen sich nicht sehr nah, obwohl sie die einzigen Frauen im Kommissariat waren und deshalb so etwas wie Zusammengehörigkeit hätten empfinden sollen.
»Der Typ, der sich bei dem Überfall auf TV4 an der Treppe verletzt hat, ist jedenfalls wieder in Ordnung. Seine Beine sind nicht gelähmt«, sagte Beatrice.
»Gott sei Dank«, erwiderte Lindell, »aber unsere Lähmung nimmt dafür zu.«
»War es ein Mann?« fragte Beatrice. Lindell nickte.
»Bestimmt.«
»Er hat sie gekannt.«
»Ich denke schon. Es war bestimmt kein Verrückter, der aus dem Wald spaziert kam und sie aus purem Vergnügen erwürgte. Er kannte sie und wollte sie zum Schweigen bringen.«
Lindell wurde schlecht, und sie stand auf. Es ärgerte sie, daß sie sich so schlecht konzentrieren konnte. Wie lange war einem übel?
»Wenn wir davon ausgehen, daß Gabriella Marks Theorie zutrifft und Cederén aus dem Weg geschafft wurde, welchen Grund könnte es dann dafür geben?« spekulierte Beatrice weiter.
»Finanzielle Motive«, antwortete Lindell. Es war ihr mit Mühe gelungen, den Brechreiz zu unterdrücken, und sie drehte sich wieder um.
»Möglich«, erwiderte Beatrice zweifelnd. »Obwohl es MedForsk doch gut geht. Ausnahmslos hervorragende Geschäftszahlen und neue medizinische Erfolge. Die Firma stand kurz vor einer kräftigen Expansion.«
»Wenn es aufwärtsgeht, ist die Verzweiflung am größten, falls es etwas gibt, das nicht ins Bild paßt. Vielleicht paßte Cederén nicht mehr ins Bild.«
Lindell war plötzlich den Tränen nah. Erneut mußte sie ihrer Kollegin den Rücken zukehren.
»Was ist los?« fragte Beatrice. »Du siehst so traurig aus.«
Lindell nickte kaum merklich in Richtung Fenster.
»Ich denke an Emily«, sagte sie leise.
»Wenn Kinder sterben, ist es am schlimmsten«, stimmte Beatrice ihr zu. »Ich habe auch viel an sie gedacht.«
Sie schwiegen eine Weile. Lindell spürte, daß Beatrice gerne nachgehakt hätte. Sie wollte und wollte doch nicht, daß ihre Kollegin sie danach fragte, wie es ihr ging. Lindell spürte immer stärker das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Ihre Mutter kam dafür nicht in Frage, denn sie würde ihr weder vernünftige Ratschläge geben noch tröstende Worte finden.
»Nimm es dir nicht so zu Herzen«, sagte Beatrice. »Ich weiß, das klingt lächerlich, aber …«
»Ich komme schon klar«, schnitt Lindell ihr das Wort ab.
Die Vormittagsbesprechung entwickelte sich zu einer düsteren Angelegenheit. Die Tatsache, daß ein weiterer Mord begangen worden war und bei den Ermittlungen im Fall Cederén neue Wege eingeschlagen werden mußten, bedrückte alle Anwesenden bis auf Sammy Nilsson. Ihn schien es vielmehr zu stimulieren, daß sich die Lage weiter kompliziert hatte.
»Gabriella Mark ist der Schlüssel«, sagte er enthusiastisch.
Die übrigen Anwesenden schienen einige Sekunden über seine Behauptung nachzudenken, fanden aber nichts Revolutionäres daran. Schlüssel gab es mehr als genug. Möglicherweise war es der Zufall, der einen davon zum entscheidenden Hinweis werden ließ. Daß die Aufklärung des Mordes an Gabriella Mark von Bedeutung für den verzwickten Fall um MedForsk war, stellte in den Augen seiner Kollegen nun wirklich keine bahnbrechende Erkenntnis dar; aber sie ließen ihn gewähren. Es war gut, daß wenigstens einer von ihnen noch voller Energie war. Vielleicht würde in seinem Redeschwall tatsächlich noch etwas von Bedeutung auftauchen.
»Ich bin die Telefongespräche durchgegangen, die sie in der letzten Zeit geführt hat«, fuhr er fort. »Sie hat nicht besonders viel telefoniert, aber es gibt ein paar Gespräche, die wichtiger sind als die anderen. Ein paar Telefonate, die das Ganze so richtig zuspitzen.«
Er legte eine Kunstpause ein. Den anderen dämmerte es nun allmählich, daß es vielleicht doch einen Grund zum Optimismus gab, und sie warteten darauf, daß er weitersprach.
»Sie hat viermal Jack Mortensen angerufen und einmal Cederéns Eltern.«
Lindell blickte auf.
»Mortensen«, sagte sie. »Er hat doch abgestritten, etwas von einer Geliebten Cederéns zu wissen. Wann wurden die Gespräche geführt?«
»Zuletzt vorgestern«, antwortete Sammy Nilsson. »Um 14:10. Davor dreimal. Das erste Telefonat führten sie einen Tag, nachdem wir Cederéns Leiche gefunden hatten.«
»Das gibt es doch gar nicht«, entfuhr es Lindell.
»Seine Eltern hat sie vor einer Woche angerufen. Das Gespräch dauerte gut acht Minuten. Mit Mortensen hat sie insgesamt zweiundfünfzig Minuten telefoniert.«
»Zweiundfünfzig Minuten«, wiederholte Haver, »anscheinend hatten sie sich einiges zu sagen.«
»Wir bestellen Mortensen ins Präsidium«, bestimmte Ottosson. »Er soll ruhig ein wenig ins Schwitzen kommen. Ann, du unterhältst dich am besten noch einmal mit Cederéns Vater.«
Lindell sah das alte Ehepaar vor sich. Was sollte sie ihnen sagen? Kannten sie Gabriella vielleicht von früher?
»Wir wissen, daß sie erwürgt wurde, wahrscheinlich zwischen neun und zehn Uhr vorgestern abend«, sagte Ryde. »Es deutet einiges darauf hin, daß dies in der Küche geschah. Ein Flickenteppich war ohne ersichtlichen Grund verrutscht. Angesichts der Tatsache, wie ordentlich die Küche ansonsten war, fällt der Teppich aus dem Rahmen, aber sicher können wir es nicht sagen. Es gab keine Fingerabdrücke bis auf ihre eigenen und die Cederéns. Keine Spuren im Müll, nichts unter ihren Fingernägeln. Keine weiteren Verletzungen am Körper und keine blauen Flecken«, faßte Ryde zusammen.
»Wir haben noch den Kalender«, warf Berglund ein. »Außer dem Namen Pålle gibt er nicht viel her. Dann hat sie noch ein wenig in ein kleines Notizbuch gekritzelt. Es ist kein richtiges Tagebuch, eher verstreute Notizen, die alle aus der Zeit nach dem Tod ihres Mannes zu stammen scheinen. Es sind traurige Zeilen. Das Telefonbuch enthält etwa vierzig Namen, also nicht besonders viele. Unter ihnen findet sich kein Pålle«, schloß Berglund in seiner trockenen und sachlichen Art.
Ottosson sah ihn anerkennend an und nickte.
»Ihre Schuhe waren noch im Haus. Wie ihr wißt, wurde sie barfuß aufgefunden, was die Theorie stützt, daß der Mord im Haus begangen worden ist. Die Fersen sind schmutzig, so als wäre sie bis zu dem Steinhaufen über die Erde geschleift worden«, meinte Ryde, und Lindell hatte das Gefühl, einem einstudierten Wechselgesang zwischen ihm und Berglund zu lauschen.
»Haben die Nachbarn etwas gesehen?« erkundigte sich Ottosson.
»Nein, bis jetzt haben wir nichts herausgefunden«, antwortete Haver. »Nilsson, unser Rasbokenner, kümmert sich darum. Dagegen deutet einiges darauf hin, daß sich jemand am Waldrand aufgehalten hat. Bronkans Leute haben eine Reihe von Spuren gesichert, aber er wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Jedenfalls gibt es da eine Menge Elchkot.«
»Okay«, sagte Ottosson, »jemand ist zu dem Haus gekommen, wahrscheinlich ein Bekannter von Gabriella Mark. Er ist entweder hereingebeten worden oder hat sich ungebeten Zutritt verschafft, hat sie erwürgt und ist verduftet. Es deutet nichts darauf hin, daß etwas angerührt oder gestohlen worden wäre.«
»Schwer zu sagen, wir wissen ja nicht, was sich vorher alles im Haus befand«, widersprach Berglund pedantisch.
»Das stimmt natürlich«, erwiderte der Kommissariatsleiter, »aber es ist nichts verschoben oder durchsucht worden, das wollte ich damit sagen.«
Ein paar Sekunden herrschte Schweigen, bis Lindell das Wort ergriff.
»Bleibt die Frage nach dem Motiv. Gabriella Mark hat mich zweimal angerufen. Bei ihrem ersten Anruf klang sie vor allem verwirrt und verzweifelt; beim zweiten Mal war sie etwas bestimmter und fest davon überzeugt, daß Cederén unschuldig war. Für sie war es völlig undenkbar, daß er sich das Leben genommen hat. Ihr Hauptargument war der Gin. Was halten wir davon?«
»Soll man Cederén gezwungen haben, den Gin zu trinken, um ihn anschließend mit Autoabgasen zu vergiften?« fragte Ottosson skeptisch.
Lindell nickte. »Unmöglich ist das nicht«, erwiderte sie.
»Gabriella Mark war sich ihrer Sache vollkommen sicher. Wir werden uns in Cederéns Bekanntenkreis umhören, ob er Gin trank.«
»Wer kann ihr davon erzählt haben? In der Zeitung hat es jedenfalls nicht gestanden.«
»Das würde ich auch gerne wissen«, meinte Lindell.
»Haben wir es jemandem gesagt?« fragte Haver.
»Ich habe es jemand gesagt«, meldete sich Beatrice zu Wort, und alle Köpfe drehten sich in ihre Richtung. »Ich habe mit Cederéns Eltern gesprochen, und als seine Mutter mich fragte, ob ich glauben würde, daß ihr Sohn vor seinem Tod sehr leiden mußte, habe ich nein gesagt und erzählt, daß er ziemlich betrunken gewesen ist, als die Abgase ihn vergifteten, so daß er wahrscheinlich gar nichts gespürt hat.«
Niemand sagte etwas.
»Ich habe es gesagt, um sie ein wenig zu trösten«, fügte Beatrice hinzu.
»Hast du erwähnt, daß er Gin getrunken hat?« fragte Lindell.
»Ich weiß es nicht, schon möglich. Das war vielleicht ein Fehler«, fuhr sie fort, als alle schwiegen.
»Was heißt schon Fehler; ich verstehe, wie du gedacht hast. Wir fragen Cederéns Mutter einfach danach«, sagte Ottosson leichthin und versuchte so, Beatrices Verlegenheit ein wenig zu lindern.
Die Besprechung endete damit, daß Lindell den Stand der Ermittlungen zusammenfaßte und die anstehende Arbeit verteilte. Im Grunde war das nicht nötig, da alle wußten, was sie zu tun hatten. Sie tat es vor allem um ihrer selbst willen, um ihre eigene Passivität zu überwinden. Ottosson lächelte sie an und strich sich über den Bart. Beatrice beobachtete sie von der Seite. Haver sah vor allem ungeduldig aus.
Unmittelbar nach der Besprechung ging Lindell zur Toilette. Sie wollte sich im Spiegel sehen, um herauszufinden, ob sich ihre innere Verwirrung auch in ihrem Äußeren widerspiegelte. Sie fuhr sich mit einer Hand über Wangen und Stirn, so als würde sie von einem Geliebten gestreichelt. Die Fältchen um ihre Augen waren tiefer geworden, aber was schlimmer war: Die Augen hatten ihren Glanz verloren. Sie starrten sie matt aus einem fremden Gesicht an, das zu einem fremden Körper gehörte.
Sie verließ die Toilette in einem erbärmlichen Zustand und mußte sich zusammenreißen, um die fünfzehn Schritte bis zu ihrem Büro zu gehen. Als sie an ihrem Platz hinter dem Schreibtisch saß, wählte sie Jack Mortensens Telefonnummer. Sie erreichte ihn weder bei MedForsk noch unter seiner Privat- oder Handynummer und hinterließ eine Nachricht auf der Mailbox.
Haver ging die Passagierlisten des Flughafens durch. Unmittelbar nach Cederéns Verschwinden hatte er mit dieser Arbeit begonnen. Damals war es ihr Ziel gewesen, Cederéns Namen auf den Listen zu finden. Mittlerweile hatte er seine Suche auf alle abgehenden und ankommenden Flüge aus der Dominikanischen Republik und Malaga ausgeweitet. Die Listen umfaßten Tausende von Namen. Er hatte die meisten Charterflüge aussortiert und konzentrierte sich auf Linienflüge.
Er hoffte, irgendwo auf einen Namen zu stoßen, den er aus den Ermittlungen kannte, entweder den Cederéns oder den eines anderen Mitarbeiters von MedForsk. Jetzt ging er die Listen noch einmal durch, um eventuell den Namen der Ermordeten zu finden.
Im Laufe des Winters und Frühjahrs war Cederén häufig nach Malaga geflogen. Bei seiner Sekretärin waren insgesamt zwölf Reisen in die spanische Stadt notiert.
Büro und Fabrikanlage des Unternehmens in Spanien waren ausgebaut und die Produktion zum größten Teil dorthin verlagert worden. Vielleicht war er ja nicht allein geflogen. Haver wußte nicht genau, wonach er suchte, aber vielleicht verbarg sich irgendwo hinter all diesen Namen etwas Wichtiges. Er hielt insbesondere Ausschau nach dem Namen Piñeda, dem unbekannten Briefschreiber. War er vielleicht nach Schweden gekommen, um auf sein Recht zu pochen? Bislang hatte Haver jedoch noch nichts von Interesse gefunden.
Mortensen meldete sich eine Viertelstunde später.
»Ich hatte das Handy ausgeschaltet. Ständig ruft jemand an«, lautete seine Erklärung dafür, daß er nicht an den Apparat gegangen war.
Lindell fragte sich insgeheim, ob man nicht ein Mobiltelefon besaß, damit man jederzeit erreichbar war.
»Ich möchte Sie bitten, auf der Stelle herzukommen«, sagte sie ohne höfliche Umschweife.
»Jetzt?«
»Ja, jetzt. Wir haben einiges zu besprechen.«
»Aha.« Mortensen gab sich naiv, schien sich zu einem Einwand aufraffen zu wollen.
»Jetzt«, wiederholte Lindell.
Sie brauchte nicht länger als zwanzig Minuten zu warten, bis vom Empfang Besuch für sie angekündigt wurde. Sie ging hinunter und lotste Mortensen schweigend zu ihrem Büro.
Den naiven Ton hatte er abgelegt, was Lindell ein wenig gnädiger stimmte. Sie verabscheute Leute, die gewöhnlich das Sagen hatten, sich aber in Gegenwart eines Polizisten in nervöse Teenager verwandelten.
»Sie haben mir glatt ins Gesicht gelogen«, begann sie ohne Umschweife.
»Was meinen Sie damit?«
»Ich meine Cederéns Geliebte. Sie wußten von ihr und Sie wußten, wo sie sich aufhielt.«
Mortensen sah sie an, und sie glaubte zu erkennen, daß ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen spielte. War es denn wirklich möglich, daß er sie höhnisch angrinste?
»Ja natürlich, ich kenne Gabriella.«
»Sie ist tot«, teilte ihm Lindell mit und bereute augenblicklich ihre Worte.
»Das ist doch nicht möglich.«
»Warum haben Sie mich angelogen?«
»Wie ist das passiert?«
»Beantworten Sie meine Frage.«
»Ich …«, setzte er an, verstummte jedoch sofort wieder. Er starrte Lindell an, als glaube er, daß sie versuchte zu bluffen.
»Sie hat mich angerufen, mir aber ihren Namen nicht genannt. Sie hätten ihr das Leben retten können, wenn Sie uns gesagt hätten, wo sie war.«
»Hat sie sich etwa umgebracht?«
»Jetzt erzählen Sie mir, warum Sie geblufft haben. Und keine Märchen mehr.«
»Ich wollte sie schützen«, sagte er leise. »Sie hatte auch so schon zu viel gelitten. Sie wissen vielleicht nicht, was sie alles durchmachen mußte.«
»Statt dessen haben Sie zu ihrem Tod beigetragen«, entgegnete Lindell.
Er blickte hastig auf, Staunen im Gesicht, aber da war auch noch etwas anderes, vielleicht Angst.
»Was hat sie gesagt?« fragte Mortensen vorsichtig.
»Das spielt keine Rolle. Sie wollte über Cederén sprechen.«
»Wie ist sie gestorben?«
»Sie ist erwürgt worden.«
Mortensen schluckte.
»Wie gut haben Sie sie gekannt?«
»Nicht sehr gut. Ich wußte, daß sie mit Sven-Erik zusammen war. Ich bin ihr ein paarmal begegnet. Wer hat das getan?«
»Erzählen Sie mir von der Beziehung der beiden.«
Mortensen riß sich ein wenig zusammen und begann, einigermaßen zusammenhängend davon zu erzählen, wie sie und Cederén sich kennengelernt hatten. Mortensen glaubte, daß Gabriella Mark der Hauptgrund für Cederéns Persönlichkeitsveränderung war, dafür, daß er begonnen hatte, seine Arbeit und die Firma in Frage zu stellen.
»Ging es dabei um die Tierversuche?«
»Nein, kaum, wir haben während unserer ganzen beruflichen Laufbahn mit Versuchstieren gearbeitet. Diese Art von Arbeit ist von jeher eng mit medizinischer Forschung verknüpft.«
»Dann war er also kein militanter Tierschützer?«
»Nein, auf gar keinen Fall«, beteuerte Mortensen.
»Was war er dann?«
»Ich glaube, er ist in eine Art Midlife-crisis geraten. Das hing sicher auch mit Josefin zusammen. Die beiden hatten sich wohl auseinandergelebt.«
»Das kann schon vorkommen, wenn der eine ein Verhältnis mit einer anderen Frau anfängt«, meinte Lindell.
»Ich habe es eher als ein Symptom dafür gesehen, daß ihre Ehe nicht mehr gut lief. Daß seine Wahl auf Gabriella fiel, war wohl eher ein Zufall.«
»Plante Cederén eine gemeinsame Zukunft mit ihr?«
»Keine Ahnung.«
»Hatte der Landkauf in der Dominikanischen Republik etwas mit ihr zu tun? Wollten die beiden vielleicht dorthin ziehen?«
»Keine Ahnung«, wiederholte er. »Der Landkauf ist und bleibt mir ein Rätsel.«
»Sie sagen, daß Sie Gabriella Mark schützen wollten, als Sie ihre Identität für sich behielten. Dachten Sie nicht auch ein wenig an die Firma?«
»Wie meinen Sie das?«
»Es wurde immerhin so einiges im Zusammenhang mit dem Tod von Familie Cederén geschrieben. Wenn sich dann auch noch herausgestellt hätte, daß er eine Geliebte hatte, wäre das Ganze sicher noch unangenehmer geworden.«
»Nein, so war das nicht«, sagte er leise.
»Wer kann ein Interesse an ihrem Tod gehabt haben?«
Die Frage stand im Raum, als das Telefon klingelte. Lindell griff nach dem Hörer, ohne den Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs aus den Augen zu lassen. Haver war am Apparat. Sie bat ihn, später noch einmal anzurufen, legte auf und wiederholte ihre Frage. Mortensen schien neue Kraft geschöpft zu haben und erging sich in einer langen Tirade über die zunehmende Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft.
»Vielleicht war es auch eine Art Rache von jemandem, der Josefin nahegestanden hat«, sagte er abschließend.
»Gibt es denn jemanden, der ihr nahestand und bereit wäre zu morden?«
»Was weiß denn ich. Die Menschen scheinen heutzutage zu allem fähig zu sein.«
In dem Punkt mußte Lindell ihm recht geben, auch wenn sie seine Theorie ansonsten eher unwahrscheinlich fand.
»Sie haben fast eine Stunde lang mit Gabriella Mark telefoniert. Worüber haben Sie gesprochen?«
»Haben wir so lange telefoniert? Die meiste Zeit haben wir natürlich über Sven-Erik gesprochen. Ich wollte wissen, wie sie zurechtkam. Ich wußte ja, daß sie es nicht leicht gehabt hatte. Schließlich kenne ich eine Reihe von Ärzten, falls sie ärztlichen Beistand benötigt hätte, meine ich.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Daß sie Gemüse aussäen müsse. Ich fand, das klang verrückt.«
»Was haben Sie vorgestern, am Abend des 29. Juni gemacht?«
»Ich habe in meinem Garten einen Teich ausgehoben«, sagte er. »Ich bin dabei, den Garten umzugestalten, und hatte einen kleinen Bagger gemietet.«
»Von wann bis wann haben Sie in Ihrem Garten gearbeitet?«
»Ich habe so gegen sechs angefangen und gebaggert, solange es hell genug war. Man will schließlich etwas haben für sein Geld.«
»Waren Sie allein?«
»Der Mann, der den Bagger vermietet hat, ist kurz vor sechs gekommen. Er hat mir alles erklärt, dann ist er wieder weggefahren. Das war wohl so gegen sieben. Dann habe ich weitergemacht.«
»Sie haben keinen Besuch bekommen?«
Mortensen schien nachzudenken.
»Nein, aber die Nachbarn können sicher bestätigen, daß ich im Garten gearbeitet habe.«
Lindell stand plötzlich auf, und Mortensen reagierte auf ihre unerwartete Bewegung damit, daß er seinen Stuhl zurückschob.
»Gibt es sonst noch was, das Sie uns nicht erzählt haben?«
Er schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid …«, begann er, wurde aber von Lindell unterbrochen, die ihm für das Gespräch dankte und die Hand ausstreckte.
Er ergriff sie, mit der anderen machte er eine unbeholfene Geste, als wollte er sagen: Entschuldigung, ich konnte doch nicht ahnen.
Lindell notierte sich die wichtigsten Punkte des Verhörs. Sie war sich nicht sicher, wie sie Jack Mortensen einschätzen sollte. Er war ein gerissener Typ, der bestimmt gewohnt war, sich den unterschiedlichsten Situationen anzupassen. Sein Tonfall und seine Gesten hatten mitunter etwas Theatralisches; aber Lindell wußte auch, daß manche Menschen bewußt eine defensive Rolle spielten, ohne daß sie deshalb etwas im Schilde führten. Sie wollten damit nur ihr Entgegenkommen signalisieren. Es sprach einiges dafür, daß auch er zu dieser Sorte Menschen gehörte.
Sie rief Haver an, der jedoch nicht mehr in seinem Büro war. Daraufhin wählte sie die Nummer von Cederéns Eltern, die sie nach einigem Suchen in dem Durcheinander auf ihrem Schreibtisch gefunden hatte.
Seine Mutter ging an den Apparat. Sie bestätigte, daß sie mit Gabriella Mark gesprochen hatte, die sich als eine Freundin Sven-Eriks vorgestellt habe. Sie hatte ihnen nur ihr Beileid aussprechen und ihnen mitteilen wollen, daß sie nicht daran glaube, daß Sven-Erik der Täter war.
»Sie war mir sympathisch«, erzählte Cederéns Mutter.
Die Frage, ob sie Gabriella Mark von dem Gin erzählt habe, bejahte Cederéns Mutter. Von dem Gin hätten sie von einer anderen Polizistin erfahren. »Ich habe ihr das erzählt, um sie ein wenig zu trösten«, sagte die Frau.
Lindell bedankte sich für die Auskunft und wollte das Gespräch bereits beenden, als die Frau sie unterbrach: »Wer war sie?«
»Eine Freundin der Familie«, antwortete Lindell.
Lindell dachte nicht weiter über Mortensen nach. Ihr Bauch machte sich wieder bemerkbar. Wie groß mochte es sein, wenn es wirklich in ihr wuchs, dieses kleine Lebewesen? Sie wußte nichts über die Entwicklung von Embryonen. Sie strich sich über den Hosenbund. Äußerlich war noch nichts zu erkennen. Die einzige körperliche Veränderung waren die etwas volleren Brüste. Hatte Sammy Nilsson ihre Brüste heute nicht etwas sehr lange betrachtet?
Sie hätte in der Cafeteria essen können, verließ aber statt dessen das Haus und spazierte mit schnellen Schritten in die Stadt. Sie hatte geglaubt, eine Atempause zu haben, um sich klar darüber werden zu können, wie es mit ihr weitergehen sollte, aber dann war der Mord an Gabriella Mark dazwischengekommen, und sie mußte ihre privaten Überlegungen zurückstellen. Sie tat dies automatisch, aber auch mit einer gewissen Erleichterung.
Es war schwül, und Lindell geriet schon nach wenigen Minuten ins Schwitzen.
Sie – als alleinerziehende Mutter, Lindell versuchte es sich vorzustellen. Die Probleme, die damit auf sie zukämen: zu Hause bleiben, stillen und Windeln wechseln und mit den anderen Müttern aus ihrem Viertel in der Krabbelgruppe sitzen. Wenn das Kind älter ist, würde sie zum Kindergarten hetzen müssen und ständig ein schlechtes Gewissen haben, sowohl zu Hause als auch auf der Arbeit.
So hatte sie sich die Schwangerschaft und das Leben mit Kindern nicht vorgestellt. Sie wollte einen Mann haben, mit dem sie gemeinsam den Alltag bewältigen konnte. Wenn es doch nur Edvards Kind gewesen wäre!
Sie ging immer schneller. Innerhalb der nächsten acht Tage muß ich mich entscheiden, dachte sie. Wie lange darf man eigentlich abtreiben? Sie erinnerte sich vage, daß es achtzehn Wochen waren. Das machte viereinhalb Monate. Konnte das wirklich stimmen?
Eine Woche, murmelte sie leise vor sich hin, als sie die Tür zum Restaurant Elaka Måns aufschob.
Später am Tag kam Bronkan vorbei und berichtete, daß es ihnen gelungen war, in der Nähe von Gabriella Marks Haus einen Fußabdruck der Größe 42 zu sichern, ungefähr fünf Meter hinter dem Waldsaum, in sumpfigem Gelände.
Von der Stelle aus konnte man den Hof überblicken und hatte gleichzeitig gute Deckung hinter ein paar zerzausten Tannen. Unmittelbar neben dem Fußabdruck befand sich Elchkot. Haver scherzte, daß es vielleicht Hufgröße 42 war, aber Bronkan schien keinen Spaß zu verstehen und starrte Haver und Lindell nur wütend an. Lindell wußte, daß die Männer eine umfangreiche und zeitraubende Arbeit hinter sich hatten, und beeilte sich deshalb, zu dem Fund zu gratulieren. Bronkans Miene hellte sich ein wenig auf, aber die Müdigkeit in seinem Gesicht war nicht zu übersehen.
Der Abguß würde die bislang praktisch nicht existierende Sammlung von Indizien im Falle Mark ergänzen. Im übrigen war damit natürlich noch längst nicht gesagt, daß der Fußabdruck überhaupt etwas mit dem Mord zu tun hatte. Sie konnten nur hoffen, daß er ein Teil war, das zu ihrem Puzzle paßte.
Die Befragungen in Gabriella Marks kleinem Freundeskreis und unter ihren ehemaligen Arbeitskollegen waren abgeschlossen. Bis auf Hedda Ljunggren hatte man alle telefonisch vernommen. Berglund war bei der pensionierten Lehrerin, einer Dame um die Siebzig, zu Hause gewesen.
Alles in allem hatte das Gespräch mit Hedda Ljunggren das Bild einer jungen Frau vermittelt, die am Boden zerstört gewesen war, dann jedoch langsam, aber sicher wieder ins Leben zurückfand. Im großen und ganzen war das Gabriella Mark aus eigener Kraft gelungen, weil sie den Seelenklempnern immer mißtraut habe. In ihrem ganzen Elend war sie doch überzeugt gewesen, den Weg aus der Depression zu finden und sich ein neues Leben aufbauen zu können. Ihr Haus, das sie sich gekauft und in dem Hedda Ljunggren sie einige Male besucht hatte, war ein erster Schritt in diese Richtung gewesen.
»Sie war so schön, wenn es ihr gut ging«, hatte die Lehrerin gesagt. »Dann strahlte sie regelrecht. Außerdem hatte sie eine Art, sich anderen mitzuteilen, die nur wenigen vergönnt war. Dabei konnte es um einige Worte der Anerkennung oder um ein Bund Möhren gehen.«
Berglund faßte seine Eindrücke zusammen. Er mochte die alte Lehrerin. Ihre Worte waren von großer Liebe zu Gabriella Mark und einer auf Wissen und Respekt basierenden Menschenkenntnis erfüllt gewesen, die Berglund bei einigen seiner jüngeren Kollegen arg vermißte.
»Ich glaube, ich weiß, wie alles zusammenhängt«, sagte Sammy Nilsson. Er saß da, streckte genüßlich die Beine aus und machte eine Pause. »Wir haben doch auch noch Josefins Vater. Er ist der einzige, der ein hinlängliches Motiv hatte, sich an der Frau zu rächen, die indirekt den Tod seiner Tochter verursacht hat.«
Lindell hatte den alten Mann, der in Uppsala-Näs am Küchentisch saß, in seiner offenen Wunde auf dem Schädel kratzte und nicht verstehen konnte, was mit Kind und Enkelkind geschehen war, noch gut vor Augen. Natürlich hatte er einen großen Verlust erlitten, aber war er deshalb auch fähig, einen Mord zu begehen?
»Vielleicht hat er Gabriella Mark aufgesucht, um mit ihr zu reden, ist dann wütend geworden und hat sie erwürgt«, fuhr Sammy Nilsson fort.
»Und wie hat er von ihrer Existenz erfahren und wo sie wohnt?« erkundigte sich Berglund.
»Vielleicht kannte Josefin die Geliebte ihres Mannes. Wem konnte sie sich schon anvertrauen? Außerdem bin ich in der Garage Magnusson begegnet, der mir erzählte, daß er die Kellnerin aus dem Wermlandskällaren noch einmal angerufen habe. Er wollte sich erkundigen, ob sie sich an weitere Details bei Cederéns Restaurantbesuchen erinnern könne, und bei der Gelegenheit hat sie erwähnt, daß sie zu Josefins Vater in Uppsala-Näs gefahren sei. Sie hatte ihn ein wenig trösten wollen, denn die beiden haben sich offenbar gut verstanden, als sie noch im Pflegedienst arbeitete. Mit anderen Worten, der Vater wußte, daß wir nach einer unbekannten Frau in Cederéns Begleitung suchten. Er wußte, wer sie war, aber statt mit uns zu sprechen, beschloß er, sie selber ausfindig zu machen. Nicht unbedingt, um sie zu ermorden, aber mit Sicherheit, um ihr in die Augen zu sehen, sie vielleicht zu beschimpfen, was weiß ich.«
Lindell mußte über Sammy Nilssons abschließende Worte grinsen.
»Lacht ihr nur«, sagte er, »aber habt ihr vielleicht eine bessere Idee?«
Er stemmte sich aus dem Sessel, streckte sich nach der Thermoskanne auf dem Tisch, schüttelte sie und mußte feststellen, daß sie leer war.
»Wir lachen nicht«, erwiderte Lindell, »aber du mußt zugeben, daß du viel Phantasie hast.«
»Es geht um das Motiv«, sagte er. »Ein starkes Motiv. Und welches Motiv könnte stärker sein als die Trauer eines Vaters nach dem Tod seiner einzigen Tochter. An Cederén konnte er sich nicht mehr rächen. Ihm blieb nur noch Gabriella.«
»Ich glaube, das Ganze ist viel komplizierter«, wandte Haver ein. »Ich denke, daß das alles zusammenhängt. Es geht in diesem Drama nicht nur um familiäre Trauer. MedForsk gehört auch dazu, genauso wie die Affen und die Tierschützer.«
»Okay«, sagte Sammy Nilsson und stand wieder auf, »dann ziehe ich mich jetzt zurück und hecke eine neue Theorie aus. Seid ihr in einer halben Stunde noch da?«
Lindell beschloß, zu Josefins Vater hinauszufahren. Auf dem Hinweg hielt sie an der Kirche und wollte das Grab von Josefin und Emily besuchen, überlegte es sich aber gleich wieder anders. Zehn Minuten blieb sie sitzen und spielte mit dem Gedanken, Edvard anzurufen, aber was sollte sie ihm eigentlich sagen?
Scheinbar ruhiger fuhr sie weiter, vorbei an der verlassenen Villa der Cederéns. Das Haus würde wohl verkauft werden. Soweit sie wußte, erbten es Sven-Eriks und Josefins Eltern.
Holger Johansson saß gemeinsam mit seiner Nachbarin Vera beim Kaffee auf der Hollywoodschaukel. Er schien nicht weiter überrascht zu sein, daß Lindell wieder auftauchte.
Sie konnte es nicht lassen, einen Blick auf seinen Schädel zu werfen. Vera ging hinein, um ein weiteres Gedeck zu holen.
Holger Johansson war in den Wochen seit ihrer ersten Begegnung gealtert. Er wirkte beinahe etwas verwirrt. Vielleicht nimmt er Medikamente, dachte Lindell.
Sie erzählte in aller Kürze, daß sie die Frau gefunden hätten, mit der Cederén sich getroffen habe. Holger Johansson sah nicht überrascht aus, hob nur den Blick und sah Lindell an, so als wolle er sagen: Ja sicher, es war doch alles Cederéns Fehler, es war seine Untreue, die meine Tochter und meine Enkelin getötet hat.
»Cederéns Freundin ist ebenfalls tot. Sie wurde ermordet.«
Der Mann setzte seine Tasse mit einem Klirren ab und starrte Lindell verblüfft an.
»Wie bitte?« brachte er heraus; Vera kam gerade zurück. In der einen Hand hielt sie das Gedeck und in der anderen einen Kuchenteller mit ein paar Stücken Biskuitrolle.
Lindell wiederholte, was sie gesagt hatte.
Vera blieb mit der Tasse in der Hand stehen. »War das die Frau, von der in der Zeitung stand?«
Lindell nickte.
»Der Kaffee«, sagte Holger Johansson, »schenk ihr eine Tasse Kaffee ein.«
»In der Zeitung stand aber nichts davon, daß es eine Verbindung zu Sven-Erik gibt«, sagte sie.
»Nein, das haben wir den Medien nicht gesagt.«
»Wie ist sie gestorben?« fragte Holger Johansson.
»Sie ist erwürgt worden.«
Es war seltsam, nicht sagen zu dürfen, daß Gabriella ein guter Mensch gewesen war, dem das Leben schwer zugesetzt hatte.
»Wie traurig«, sagte Vera und sah ihren Nachbarn flüchtig an, so als hätte sie sich versprochen.
»Ich muß Sie leider fragen, was Sie am Abend des 29. Juni gemacht haben.«
Sie haßte es, diese Frage zu stellen, und erklärte deshalb im nächsten Atemzug, daß sie es tat, weil sie es tun mußte.
»Ich verstehe«, sagte Holger Johansson. »Ich war wie immer zu Hause. Seit Josefin tot ist, habe ich das Haus praktisch nicht mehr verlassen.«
»Das kann ich bezeugen«, warf Vera schnell ein.
»Ich glaube Ihnen«, sagte Lindell.
»Ich muß Ihnen noch zwei weitere Fragen stellen. Welche Schuhgröße haben Sie?«
»44«, erwiderte Holger Johansson unerwartet schnell.
»Danke«, sagte Lindell und nahm einen ersten Schluck Kaffee.
»Sie sprachen von zwei Fragen.«
»Ja, meine letzte Frage mag Ihnen ein wenig seltsam vorkommen …«
»Als ob die Frage nach meiner Schuhgröße nicht schon seltsam genug gewesen wäre«, unterbrach Holger Johansson sie.
Lindell mußte lächeln. »Ich wollte Sie fragen, ob es eine Alkoholsorte gab, die Sven-Erik Cederén nicht vertrug, die er nicht trank?«
»Das weiß ich nicht, aber meistens trank er Whisky. Ohne Eis und Wasser. Wie viele Abende haben wir nicht hier mit unseren Gläsern zusammengesessen.«
Holger Johansson versank in Gedanken. Lindell warf Vera einen Blick zu.
»Er trank niemals klaren Schnaps oder Grog«, fuhr der Mann fort. »Reicht Ihnen das als Antwort?«
»Vielen Dank«, antwortete Lindell.
Sie blieb noch eine Viertelstunde. Als sie vom Tisch aufstand, fiel ihr etwas ein. »Sie hatten eine Zeitlang eine Haushaltshilfe, Maria Lundberg, haben Sie noch einmal mit ihr gesprochen, seit sie nicht mehr regelmäßig zu Ihnen kommt?«
»Nein«, erwiderte Holger Johansson fragend, »hätte ich das tun sollen?«
Vera stand auf und begleitete Lindell zum Auto. Als sie es fast erreicht hatten, griff Vera nach ihrem Arm.
»Sie müssen Holger entschuldigen, aber manche Dinge vergißt er im Moment einfach. Maria, die Haushaltshilfe, ist tatsächlich hier gewesen und hat ihn besucht.«
Lindell nickte.
Sie verließ die beiden alten Leute mit einem seltsamen Gefühl. Lag es daran, daß das Paar auf der Hollywoodschaukel sie an ihre eigenen Eltern erinnert hatte? Der gleiche Stillstand, der um sie herum in der Luft lag, das gleiche Klirren der Kaffeetassen und die gleiche, ein wenig traurige Passivität. Die Hollywoodschaukel hatte hin und her geschaukelt. Vera hatte ihr von Zeit zu Zeit mit dem Fuß diskret neuen Schwung gegeben. So war es wohl, sie sorgte für Bewegung. Holger Johansson schaukelte zerstreut mit, vielleicht war er sich dessen auch gar nicht bewußt. Daheim in Ödeshög war es genauso. Ohne kleine Bewegungen der Mutter, eingeübt im Laufe eines langen gemeinsamen Lebens mit dem Vater, würde ihr Elternhaus vollkommen erstarren.
»Er hat es nicht leicht«, sagte sie stets, wenn die Tochter darauf hinwies, daß ihr Vater ruhig etwas aktiver sein oder bei der Hausarbeit helfen könnte. Was sie damit meinte, hatte Lindell nie verstanden; die selbstauferlegte Fürsorglichkeit ihrer Mutter sah sie mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Verachtung.
Das ganze Gerede, dachte sie, führt doch zu nichts. Monotonie und Schlendrian waren die Worte, die ihr in den Sinn kamen. Sie sah sich selber unzählige Male den gleichen Weg fahren.
Irgendwo an diesem Weg standen die Gewalttäter – Mörder, Dealer und Vergewaltiger – und sahen zu, wie sie und ihre Kollegen herumhasteten, sich Notizen machten, in Handys sprachen und miteinander diskutierten. Sie grinsten vermutlich, lachten höhnisch über die Phantasielosigkeit der Polizisten.
Nur selten bogen sie spontan von der Hauptstraße ab, nahmen eine wenig benutzte Abfahrt, um die sich bis zu diesem Augenblick niemand gekümmert hatte, und plötzlich kamen die Ermittlungen wieder in Schwung. Neue Landschaften und Menschen wurden sichtbar.
So müssen wir vorgehen. Das Unerwartete tun. Welche Abfahrt habe ich verpaßt, dachte sie, als sie sich bei Skärfälten auf die 55 Richtung Uppsala einordnete.
Sie fuhr schnell, viel zu schnell, und erreichte rasch die Stadt, aber sie bog nicht zum Polizeipräsidium ab, sondern fuhr weiter nach Rasbo.
Sie näherte sich Gabriella Marks Haus mit einem seltsamen, schwer definierbaren Gefühl im Bauch. Totes Land, ein totes Haus, ein verdorrter Gemüsegarten. Das Anwesen hatte nichts Idyllisches mehr, es kam ihr vielmehr so vor, als wären Grundstück und angrenzender Wald in Angst gehüllt.
Die Kohlpflanzen lagen in den Beeten. Zwei Tage Sonne hatten sie vertrocknen lassen. Tod führt zu Tod, dachte sie düster. Die Abdeckfenster blinkten. Was für einen Sinn hatte es, daß du dir die ganze Arbeit gemacht hast?
Lindell mied das steinerne Grab, den Steinhaufen, unter dem sie die Leiche gefunden hatten. Sie konnte die Vorstellung nicht abschütteln, daß Gabriella Mark noch immer dort lag.
Die Waldtauben gurrten. Lindell ging den Weg entlang. Am Rand des Grundstücks stand ein sehr alter Apfelbaum, und auf der Erde lagen Unmengen von Fallobst, die der alte Baum abgeworfen hatte. Sie hockte sich hin und hob einen Apfel auf.
Die Tauben ließen wieder ihren wehmütigen Ruf erklingen. Sie sind wenigstens ein Paar, dachte sie. Plötzlich hörte man ein leises Rascheln aus dem Wald, und Lindell richtete sich sofort wieder auf. Der Apfel fiel ihr aus der Hand. Ihre Sinne schärften sich, und sie trat einen Schritt näher an den groben Stamm heran.
Wieder hörte sie es rascheln. Lindell starrte zwischen die Tannen und Erlen. Für einen Moment glaubte sie etwas zu sehen, aber was es war, ließ sich nicht sagen. Die Angst packte sie. Sie versuchte ruhig zu atmen und blieb reglos stehen, von einem einzigen Wunsch erfüllt: nicht zu sterben wie Gabriella Mark.
Der Tag soll verflucht sein, an dem ich mich an der Polizeihochschule beworben habe, dachte sie. Ich will leben wie eine normale Frau, meine Zeit nicht mit Toten verbringen, in ihren Behausungen wühlen, über schwarze Erde wandeln. Ich will lieben, Leben um mich haben, ich will Kinder haben.
Schritte im Wald. Bewegungen zwischen den Zweigen. Die Tauben wurden lauter. Lindell drehte sich schnell um und sah zum Haus hinauf. Wo sollte sie Schutz suchen? War der Mörder zurückgekehrt? Gab es im Haus noch etwas von Bedeutung? Etwas, das sie übersehen hatten?
Sie überlegte, zurück zum Wagen zu laufen, konnte sich aber nicht vorstellen davonzurennen. Ob es nun der Mörder war oder nicht, ihre Aufgabe bestand darin, das, was da draußen vorging, zu registrieren. Ihre Angst mußte sie, so gut sie es vermochte, bezähmen.
Lindell preßte ihren Körper an den Stamm und lugte dahinter hervor, um eventuell einen Blick von dem zu erhaschen, der sich in dem dichten Unterholz bewegte.
Ein massiver Körper war zu erkennen. Ein Tier. Plötzlich trat eine Elchkuh aus dem Wald. Sie blähte ihre großen Nüstern und starrte mit vorstehenden Augen auf etwas Unbekanntes, von dem sie wußte, daß es dort irgendwo war. Sie war weniger als zehn Meter von Lindell entfernt. Nie zuvor war sie einem so großen Tier so nahe gewesen.
Die Elchkuh machte ein paar Schritte und sah sich um. Hinter ihr tauchte ein Elchkalb auf. Das muß das Kalb sein, von dem Gabriella Mark in ihrem Kalender geschrieben hat, dachte Lindell.
Es fiel ihm schwer, sich zu bewegen. Der rechte Hinterlauf war verletzt. Eine offene und infizierte Wunde leuchtete rot. Lindell sah, wie die Fliegen das Elchkalb umschwirrten. Jeder Schritt muß eine Qual für das Tier sein, dachte Lindell. Die Elchkuh sah ihr Kalb an. Wußte sie, daß es verloren war? Sie schüttelte ein wenig den mächtigen Kopf, so als wolle sie sich über den Anblick ihres Kalbs beklagen.
Lindell blieb wie versteinert hinter dem Baum stehen und beobachtete das geduldige Warten der Elchkuh, als das stark hinkende Kalb versuchte ihr zu folgen. Sie verschwanden wieder im Unterholz. Die Tragik des unausweichlichen Todes, dem das Jungtier entgegensah, rührte sie.
»Das ist so verdammt grausam«, murmelte sie.