20

Um sieben geht Hans endlich nach Hause. Ich schleiche mich um halb acht davon. Ich bin spät dran für das Abendessen. Ich hasse es, zu spät zu kommen, und ich schleife einen überdimensionalen Hundewelpen mit mir herum. So viel zum ersten Eindruck. Egal, Seth gehört der Vergangenheit an. Man könnte den ersten Eindruck auch den letzten nennen.

Das Gute an der Sache ist, dass mir keine Zeit geblieben ist, um mir Gedanken über das Treffen mit Seths Eltern zu machen, obwohl ich zugeben muss, dass ich neugierig bin. Sie haben ihr ganzes Leben lang in China gepredigt und ihrem Sohn trotzdem ein Studium in Stanford ermöglicht. Ich frage mich, wo hier der Bruch ist. Werden sie sich wie Menschen aus der wohlhabenden Oberschicht benehmen (wie Kevins Eltern) oder wie fromme Missionare? Oder vielleicht eine Mischung aus beidem?

Ich halte vor Seths Eigentumswohnung, und Rhett erleichtert sich erst mal an einer kleinen Platane. Dann klopfe ich. Seths Wohnung ist eine typische Junggesellenbude: weiße Wände, Dreck in jeder Ecke, Staubflusen auf dem Linoleumboden aus den Sechzigern, und der Teppich auf der Treppe hat dunkle Ränder, weil er zu selten gesaugt wird. Das Positive ist, dass es schon nach Desinfektionsmittel riecht, als er die Tür öffnet. Ich weiß also, dass er heute sauber gemacht hat.

Seth macht auf, und seine Eltern schauen ihm neugierig über die Schulter. Sie sind groß, viel größer, als ich sie mir vorgestellt hatte, und älter. Vermutlich Ende siebzig. Seths Vater hat dichtes, graues Haar, eine kräftige Statur und die gleichen durchdringenden blauen Augen wie sein Sohn. Seine Mutter ist immer noch schön, trägt ihre silbergrauen Haare in einem Knoten hochgesteckt, hat graublaue Augen und von der Sonne gealterte Haut. Ich gebe Seth Rhetts Leine und verneige mich leicht, wie in Taiwan.

»Dr. und Mrs. Greenwood, ich bin sehr erfreut, Sie endlich kennen zu lernen.«

Mrs. Greenwood umarmt mich und nickt ihrem Sohn zustimmend zu. Dr. Greenwood streckt mir eine wettergegerbte Hand hin und schüttelt meine mit einem festen Händedruck.

»Die Freude ist ganz unsererseits«, sagt Mrs. Greenwood. »Seth hat uns erzählt, dass Sie als Patentanwältin arbeiten.«

»Nun ja, ich bin Patentanwältin. Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Dieser wunderschöne Hund, den Ihr Sohn mir geschenkt hat, hat mir heute bei der Arbeit leider ein paar Probleme bereitet. Deshalb musste ich etwas länger bleiben.«

»Du hast ihr einen Hund gekauft?« Seths Mutter schaut ihn verwirrt an. Willkommen im Club. Ich hatte auch eher an einen Diamantring gedacht.

»Ashley liebt Tiere.«

Ich lächle. »Zumindest liebe ich Rhett. Er ist ein toller Hund, und wir arbeiten daran, dass er Sitz macht. Rhett, sitz!«, sage ich, und mein Hund springt an meinem letzten Paar Strumpfhosen hoch. Ich spüre, wie die Laufmasche am Schienbein hochläuft. Ich lächle wieder. »Sitz!« Rhett schaut mich mit seinen großen Hundeaugen nur verständnislos an. »Nun, wie ich schon sagte, wir arbeiten noch daran.«

»Gehen wir essen«, verkündet Seth. »Meine Eltern essen sonst nicht so spät.«

Wie war das noch mal? »Es tut mir sehr leid«, sage ich noch einmal.

Ich sehe, wie Mrs. Greenwood Seth in den Rücken piekt, weil er unhöflich war. Die Fahrt zum Restaurant in ihrem gemieteten Ford Taurus verläuft ziemlich schweigsam, aber ich sitze mit Seths Mutter hinten, und sie lächelt mich an. Schließlich fängt sie ein Gespräch an. »Seth hat mir erzählt, dass Sie öfter in Taiwan sind.«

»Das stimmt. Eigentlich müsste ich das nicht, da ich meistens nur an amerikanischen Patenten arbeite, aber das Produkt selbst zu sehen hilft mir, das Patent zu entwerfen. Deshalb bin ich öfters dort.«

»Gefällt Ihnen Taiwan?«

Hmm. Wie beantworte ich diese Frage taktvoll? »Ich bin kein großer Fischfan, deshalb ist das mit dem Essen etwas schwierig. Aber ich mag die Menschen.« Und das stimmt.

Mrs. Greenwood lacht. »Ich werde nie unsere ersten Mahlzeiten vergessen, als Cal und ich frisch nach China ausgereist waren. Ich konnte nicht kochen und ließ immer den Reis anbrennen. Ich wusste nicht, dass etwas, das man in Wasser kocht, anbrennen kann. Aber wenn nicht genügend Wasser im Topf ist, kann man scheinbar alles anbrennen. Cal war der Ansicht, dass es kein gutes Beispiel wäre, wenn wir immer essen gehen würden. Also stellte er eine ältere Chinesin an, die mir alles beibrachte. Ich glaube, am Anfang hat die Chinesin über mich gelacht.«

»Inzwischen kocht sie natürlich wie ein Profi«, fügt Dr. Greenwood hinzu. »Und sie hat es unserer Tochter schon als kleines Kind beigebracht. Als Sara dann zum Studium nach Amerika zurückkam, hat sie für ein paar arme Theologiestudenten gekocht, und jetzt habe ich einen Schwiegersohn. Sie sind nach Hawaii in die Mission gegangen.«

»Du hast mir nie gesagt, dass du eine Schwester hast, Seth.«

»Du hast mich nie gefragt.«

Wieder schlägt Mrs. Greenwood gegen die Rückenlehne des Fahrersitzes, und ich muss ein Lachen unterdrücken. »Wir hatten immer vorgehabt, China zu verlassen, wenn unsere Kinder erwachsen sind. Aber jetzt ist es unsere Heimat. Da Sara in Hawaii ist und Seth nach Indien geht, gibt es für uns kein richtiges Zuhause mehr. Unsere Familie führt ein Zigeunerleben.«

Ich glaube, Seths Mutter ist die sanftmütigste Person, der ich je begegnet bin. In ihrer Nähe spürt man förmlich Gottes Gegenwart. Sein Vater ist zwar schwerfällig und altmodisch, aber wenn er seine Frau ansieht, hat er immer noch diesen gewissen Blick. Es ist das Gleiche wie mit John und Brea, sie haben etwas ganz Wertvolles. Eigentlich müsste Seth sich wünschen zu heiraten. Er müsste sich danach sehnen, das Gleiche zu haben wie sein Vater, aber er tut es nicht. Ich würde Seths Mutter so gerne erzählen, dass er die Risiko-Phase mit links gemeistert hat und direkt dazu übergegangen ist, die Brücken abzubrechen. Während wir uns unterhalten, driften meine Gedanken ab.

»Wie lange bleiben Sie hier?«, frage ich.

»Wir werden einen Monat hier sein. Dr. Greenwood kennt einen Herzspezialisten, und wir kommen alle zwei Jahre einmal her, damit er sich untersuchen lässt.«

Ich schaue zu Seths Vater, der gebaut ist wie ein Soldat der Marines, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein Herzproblem hat.

»Wir sind auch gekommen, um Seth zu besuchen, Evelyn«, sagt Dr. Greenwood.

»Stimmt«, erwidert Mrs. Greenwood. »Aber wenn er jetzt nach Indien geht, wird das einfacher. Werden Sie ihn vermissen?«, fragt sie mich. Seth schaut mich im Rückspiegel an. Seine leuchtend blauen Augen werden von den Scheinwerfern hinter uns angestrahlt.

»Ich werde ihn vermissen, aber Seth muss tun, was er tun muss.«

»Ich will, dass Ashley mit mir kommt, Mutter«, erklärt Seth.

»Sie wollen Seth nicht heiraten? Ihr beide scheint wie füreinander geschaffen«, bedauert Mrs. Greenwood. Und ich spüre, wie die Tränen anfangen, mir in den Augen zu brennen. Wie erkläre ich ihr, dass er mir noch keinen Antrag gemacht hat, ohne ihn als Versager hinzustellen?

»Über das Thema haben wir noch nicht gesprochen«, sage ich schließlich lächelnd, und Mrs. Greenwood nimmt meine Hand in ihre.

Dann spricht sie wieder. »Es ist schon so lange her, dass ich bei Marie Callendar Kuchen gegessen habe. Ich habe schon davon geträumt. Ich überlege, ob ich das Abendessen auslasse und direkt zum Nachtisch übergehe. Was meinen Sie, Ashley?«

»Ich denke, wenn Sie den weiten Weg von China hierher gemacht haben, sollten Sie tun, was Ihr Herz begehrt.«

»Wir sind erst seit neun Monaten miteinander befreundet«, platzt Seth dazwischen. Ich vermute, das ist seine verspätete Antwort auf die Frage nach unserer Beziehung, aber ich schäme mich einfach nur für ihn.

»Dein Vater und ich haben uns sechs Wochen gekannt«, erwidert Mrs. Greenwood. Dann dreht sie sich wieder zu mir. »Zitronen-Baiser und Erdbeer-Rhabarber. Damit werde ich anfangen. Was ist mit Ihnen, Ashley? Machen Sie mit?«

»Schokoladenkuchen«, sage ich und versuche, die Tatsache zu ignorieren dass Seth soeben verkündet hat, dass wir nicht heiraten werden und dass alles schon längst vor diesem Fiasko von Abendessen entschieden war.

Der Rest des »Nachtmahles«, wie Mrs. Greenwood es nennt, ist eine Pleite. Seths Mutter und ich essen Kuchen und schließen Freundschaft, während er mit seinem Vater über missionarische Möglichkeiten in Indien spricht. Mrs. Greenwood ist so zutiefst normal. Das hatte ich nicht erwartet. Für mich befinden sich Menschen, die ihr ganzes Leben lang im Dienst für Gott stehen, auf einer höheren Stufe, aber sie ist wohl die bodenständigste Frau, der ich je begegnet bin.

An Seths Haustür angekommen, nehme ich Rhett und seine Wasserschale. »Mrs. Greenwood, es war wirklich schön, Sie kennen zu lernen. Sie auch, Mr. Greenwood. Ich hoffe, Sie haben eine wunderbare Zeit hier und eine gute Heimreise. Wenn Sie irgendetwas brauchen, während Sie hier sind, und Seth schon weg ist, rufen Sie mich einfach an.« Damit gebe ich jedem der beiden meine Visitenkarte. »Auch wenn Sie nur noch ein bisschen Kuchen möchten, rufen Sie mich an.«

Seth begleitet mich zu meinem Auto. »Meine Mutter mag dich.«

»Ich mag sie auch.«

»Sie ist eine echte Dame.«

Genug drum herum geredet. Dafür habe ich meinen Uniabschluss nicht mit Auszeichnung gemacht. »Seth, ich weiß, dass unsere Beziehung etwas angespannt ist, aber ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft, für Indien und was auch immer noch kommen mag.«

»Aber du wirst nicht mitkommen?«

Nicht ohne Ring am Finger. Im Moment würde ich nicht einmal mit Ring mitkommen, glaube ich. Ich kann nicht mehr erkennen, was mir an Seth Greenwood einmal so wichtig gewesen war. Er steht vor mir mit diesem warmen Ausdruck in seinen unglaublich blauen Augen, und ich fühle nichts.

»Wenn ich mit einem Mann ins Ausland ginge, mit dem ich nicht verheiratet bin, was würde das über meinen Glauben aussagen?« Na ja, ausgenommen mein Chef. »Ich glaube, ich bin einfach altmodisch.« Ich schaue ihm in die Augen. »Ich bin nicht die Richtige dafür, Seth. Wenn ich es wäre, wäre es nicht so schwer.« Ehrlich gesagt denke ich, du solltest vielleicht eine Marmorstatue in Betracht ziehen. Aber das ist ein Thema für ein anderes Mal.

Er nimmt meine Hände. Rhett winselt. »Ich kann mir nicht vorstellen, irgendjemand anderes zu heiraten. Ich glaube nur, dass ich noch nicht so weit bin, um zu heiraten.«

Auf einmal sehe ich nicht mehr seine durchdringenden blauen Augen oder seine strengen moralischen Maßstäbe, ich sehe nur noch einen Feigling, einen Mann, der solche Angst hat zu verlieren, dass er kein Risiko eingehen will. Und einen Moment lang bin ich von seinem Anblick angewidert: von seiner Glatze, seinem einfältigen Lächeln, seiner fehlenden Courage. Er hat recht. Er ist noch nicht so weit. Alles dreht sich nur um ihn. Hat es schon immer.

Ich nehme das indische Seidentuch aus meinem Auto und wickle es ihm um den Hals. »Viel Glück.«

»Es tut mir leid, Ashley.« Seine Augen sehen aus, als müsste er die Last der ganzen Welt tragen. Er will mir nicht wehtun, aber was soll er anderes tun? Er kann sich nicht binden.

Du bist bedauernswert, denke ich nur. Bedauernswerter, als du ahnst. »Seth, ich werde jetzt wieder ins Büro fahren. Ich habe heute noch nichts erledigt, und jetzt habe ich ja Rhett, der mich beschützt.«

»Wirst du zum Flughafen kommen, wenn ich fliege?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich glaube nicht.«

»Dann war’s das also.« Er nimmt mein Gesicht in seine Hände. Ich weiche zurück. Was auch immer ich einmal für ihn empfunden habe, jetzt ist es, als hätte Gott gesagt: Es reicht!

»Mach’s gut«, flüstere ich.

»Ich werde dich vermissen.« Er küsst mich noch einmal auf den Mund, und ich fühle nichts. Keine überwältigenden Gefühle, nichts. Es ist wahrscheinlich so, als würde ich meinen Bruder küssen, aber ich hoffe, ich muss nie erleben, wie sich das wirklich anfühlt.

Rhett und ich steigen ins Auto, und ich beobachte Seth im Rückspiegel durch den Schleier des Abendnebels. Neun Monate und ein Herz voller Liebe an einen Zinnsoldat von Mann verschwendet.