11
Was ist schlimmer? Zu vermuten, dass der eigene Freund sich nicht binden will, oder es tatsächlich zu wissen? Während meiner Unwissenheit gab es wenigstens noch die selige Hoffnung. Ich konnte mir vorstellen, wie Seth eines Abends (wie gestern Abend zum Beispiel) mit einem Verlobungsring auftauchen und vor mir auf die Knie fallen würde. Bei dem Gedanken an den Hund muss ich laut lachen. Ein Hund! Ich habe einen zweibeinigen Freund verloren, aber einen vierbeinigen gewonnen, inklusive kostenlosem Hundesitting. Eigentlich kein schlechter Deal. Im Moment passt Seth sogar auf Rhett auf.
Ich steige mit seltsam gemischten Gefühlen ins Flugzeug. Einerseits ist es gut, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Aber andererseits ist Taiwan auch nicht wirklich meine Zukunft. Ich hole mein Tagebuch heraus und versuche, eine neue Richtung für mein Leben zu entwerfen.
- ZIELE:
- Bis 1. Januar Chefsyndikus bei Gainnet werden.
- Zufrieden sein als Single. (Oder ein nicht erzwungener Heiratsantrag.)
Und jetzt weiß ich nicht mehr weiter. Das ist nicht gerade Leben mit Vision. Vielleicht ist das mein Problem, dass meine Ziele nicht hoch genug oder nicht genug auf die Ewigkeit ausgerichtet sind. Eigentlich könnte ich die Beförderung schon Ende der Woche haben, und vielleicht sollte das auch mein Ziel sein. Danach könnte ich dann längerfristige Pläne machen, die auch in der Ewigkeit Bestand haben. Ich zerknülle das Blatt mit den Zielen und stopfe es in meine Jackentasche.
Wenn ich in Taiwan aussteige, fühle ich mich immer zugleich erleichtert und bedrückt. Erleichtert, weil alles besser ist, als achtzehn Stunden im Flugzeug zu sitzen, und bedrückt, weil Taiwan eben Taiwan ist. Es ist bestimmt ein schönes Land, irgendwo. Aber den Teil des Landes bekomme ich natürlich nie zu sehen. Ich sehe nur Hotels, Fabriken, Büros und teure Meeresfrüchte- Restaurants.
Geschäftsreisen hören sich immer sagenhaft an, bis man selbst auf eine geht. Dann sieht London aus wie Taiwan und Taiwan wie Indien und Indien wie irgendeine Kleinstadt in Amerika. Man kommt in westliche Hotels und trifft sich mit ausländischen Geschäftsleuten. Reisen heißt eigentlich, dass ein bisschen Abenteuer dabei sein sollte. Aber Geschäftsreisen sind nicht abenteuerlich, es sei denn, Sie finden es abenteuerlich, Ihrem Essen in die Augen zu sehen.
Als ich im Flughafen bin, gehe ich zur Gepäckausgabe. Normalerweise mache ich das nicht, aber meine mangelnde Begeisterung über diese Reise beginnt schon auffällig zu werden, und ich denke, ein bisschen Zeit allein, um meine Tasche abzuholen, kann nicht schaden. Mein roter Koffer dreht ganz allein seine Kreise auf dem silbernen Förderband. Nur eine einsame schwarze Tasche liegt noch auf der anderen Seite des Karussells.
»Ist das Ihre Tasche?«, fragt mich ein Vertriebsingenieur. Woher ich weiß, dass er Vertriebsingenieur ist? An seiner Einheitsaufmachung. Softwareingenieure (wie Seth) sind die Freaks. Sie benutzen Taschen-Schutzhüllen für ihre Stifte, tragen nur Werbe- T-Shirts und sind die Zielscheibe aller Fernsehkomiker. Hardwareingenieure kommen leger gekleidet zu Geschäftsverhandlungen. Sie tragen meistens Hemden ohne Krawatte und leichte Stoffhosen. Aber Vertriebs- und Marketingleute sind ein ganz anderer Schlag. Sie sind die Hollywoodversion der Ingenieure, schlau, intellektuell, nehmen das Leben um sich herum wahr, und ihr Horizont geht über Videospiele und Science-Fiction-Filme hinaus.
»Ist das Ihre Tasche?«, fragt er noch einmal.
Ich nicke, und er zieht sie vom Karussell. »Danke.«
Ich stehe nur da und starre ihn an. Mein Blick sagt: »Sind Sie mein zukünftiger Ehemann?« Wie in diesem Kinderbuch, in dem der kleine Vogel alle Tiere fragt: »Bist du meine Mutter?«
»Angenehmen Aufenthalt«, sagt er und trottet davon, und mein Magen dreht sich. In meinem Leben geht es nur noch um unerfüllte Erwartungen. Ich muss wohl so eine Ausstrahlung haben, die signalisiert, Lauft, Männer! Lauft sofort weg! Dreht euch nicht um!
Als mich das Taxi vor dem Hotel absetzt, entdecke ich neben dem Haupteingang einen Juwelier. Da fällt mir ein, dass ich hier schon einmal vor mich hingeschmort habe. Der Laden gehört einem Israeli, und die Schaufenster sind mit hebräischer, chinesischer und englischer Schrift besprüht. Auf Englisch steht da »Sonderangebot«, und ich vermute, in den anderen Sprachen auch.
Im Schaufenster liegt ein außergewöhnlicher Platinring mit einem Saphir und Diamanten darum herum. Das Preisschild ist in Taiwan-Dollar. Der Ring sieht einfach nur teuer aus, aber er ruft mir förmlich zu: Ich bin dein Frustkauß Ich seufze, gehe zum Hoteleingang und ziehe mein Handgepäck hinter mir her.
Im Hotel bringt der Page mein Gepäck in eine Suite mit einem eleganten Wohnzimmer mit Sofas, Schreibtisch und richtig viel Platz. Wow, mit dem Chef zu verreisen hat Vorteile, denke ich einen Augenblick lang. Dann fällt mir die Kinnlade runter, als ich nebenan noch ein zweites Schlafzimmer entdecke. Die Tür steht offen, und drinnen sehe ich einen geöffneten Koffer. Mir ist vollkommen klar, wessen Koffer das ist.
»Entschuldigung, aber ich teile mein Zimmer mit niemandem.«
Der Page nickt nur. »Geschäftsführer Hans. Er bucht immer Suite, Miss.«
Ich kann meinen Herzschlag in den Ohren hören. Ich bin in einem fremden Land zusammen mit einem Mann, der keine Regeln kennt. Doch, er kennt seine eigenen Regeln, bei denen es darauf ankommt, wer was weiß. Meine Hände werden feucht.
»Ich möchte mein eigenes Hotelzimmer. Können Sie meine Sachen bitte woanders hinbringen?« Ich halte ihm meine Kreditkarte hin. »Kreditkarte. Ich zahle.« Zur Bekräftigung schlage ich mir auf die Brust, was vielleicht auch funktionieren würde, wenn ich mit einem Gorilla sprechen würde.
»Hotel voll, Miss. Dieses Zimmer schon bezahlt.« Der Page schaut mich fragend an. Ich weiß, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass ältere Geschäftsmänner mit jungen Begleiterinnen reisen, aber ich bin Anwältin und nicht das »Handgepäck« meines Chefs, und so will ich auch behandelt werden.
Ich bin auf Geschäftsreise, und das muss ich diesem Mann, der nur wenig Englisch spricht, klarmachen.
Ich verneige mich. »Nein, ich teile kein Zimmer mit einem Mann.« Ich gestikuliere mit den Händen. »Kein Mann in meinem Zimmer.«
»Speisesaal. Ihr Mann im Speisesaal.«
Ich marschiere nach unten, bereit jeden k.o. zu schlagen, der sich mir in den Weg stellt. Hans wartet tatsächlich im Speisesaal auf mich. Er lächelt mich über die unvermeidliche Weinflasche hinweg verschlagen an, und sein schiefes Grinsen macht mich extrem nervös. »Warum haben Sie so lange gebraucht?«
Na gut, im Zweifel für den Angeklagten. »Ich habe meine Tasche eingecheckt, und es war viel Verkehr. Hans, hier ist etwas schiefgelaufen. Anscheinend bin ich in Ihr Zimmer gebucht.«
Er schüttelt den Kopf. »Sie sind nicht in meinem Zimmer. Wir haben eine Suite. Sie haben Ihr Zimmer, und ich habe meines. Aber so können wir auch spät abends noch arbeiten, ohne dass wir uns in der Nähe eines Bettes befinden. Klar? Keine Belästigung.« Er streckt sich und faltet die Hände hinter dem Kopf.
Es ist einfach praktisch, sage ich zu mir selbst. Wir haben unser eigenes Konferenzzimmer. Reiß dich zusammen, Ashley. Meine Gedanken wandern zu Sophia. Er ist mit einem Supermodel zusammen. Ich habe eine zu lebhafte Fantasie. Aber dann kneife ich die Augen zusammen. »Und was ist, wenn ich müde bin und Sie noch arbeiten wollen?«
»Dann machen Sie die Tür hinter sich zu und gehen ins Bett, Ashley. Sie können abschließen. Haben Sie Angst, dass ich die Tür eintrete?«
»Ich weiß, dass das mit dem Zimmer keine böse Absicht war. Aber es ist einfach nicht angemessen, trotz des Zimmers zwischen uns. Ich bin ledig, und ich bin Christ. Es ist einfach nicht richtig. Wir gehen zur gleichen Tür hinein.«
»Ich bin auch ledig«, sagt er und lehnt sich im Stuhl zurück, »und ich mache mir keine Sorgen.«
»Was wohl Sophia dazu sagen würde, dass Sie sich als ledig bezeichnen? Was sie wohl sagen würde, wenn sie hier anruft und ich gehe ans Telefon?«
»Sie würde denken, dass Sie an unser Telefon gegangen sind«, meint er mit einer entwaffnenden Handbewegung. »Setzen Sie sich. Sie wollen doch hier keine Szene machen. Sophia und ich sind keine amerikanischen Idealisten. Wir sind sehr modern, wie man sagt.«
Genau genommen würde ich unmoralisch sagen. »Hans, die Bibel setzt ganz eindeutige Maßstäbe, und danach richte ich mich. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht, hätte ich lieber mein eigenes Hotelzimmer, um meines Seelenfriedens willen.«
Er lacht darüber. »Als Sie neulich abends Ihren Freund auf dem Gehweg vor meinem Haus abgeknutscht haben, schien das kein moralisches Problem zu sein.«
Ich schließe die Augen. Gibt es etwas Schlimmeres, als als Christ daran erinnert zu werden, dass man sich nicht als solcher verhalten hat?
»Oder sollte ich sagen, Ihr Verlobter?« Hans lacht.
»Hans, in meinem Privatleben bin ich vielleicht keine Leuchte, aber das hat nichts mit meinem Beruf zu tun. Ich kann Ihnen versichern, dass ich eine ausgezeichnete Patentanwältin bin, und deshalb bin ich hier. Warum sprechen wir nicht darüber?« Ich setze mich an seinen Tisch, und wieder einmal versucht er, mir Wein einzuschenken. Ich halte die Hand auf mein Glas.
»Kommen Sie, hier sieht Sie niemand. Trinken Sie mit mir.«
»Ober, eine Cola Light bitte«, sage ich und halte die Hand hoch. »Haben Sie schon Entwürfe zu diesem Patent?«
»Ich flirte gerne, und Sie sind darin ein Naturtalent. Warum tun Sie einem alten Mann nicht den Gefallen und flirten ein bisschen mit mir?« Er deutet mit dem Finger auf meine Figur. »Niemand, der so viel Geld für gute Kleidung ausgibt, flirtet nicht auch. Warum also nicht?«
»Sie sind kein alter Mann, und das wissen Sie. Und ich flirte nicht. Ich bin nur eine gut gekleidete Patentanwältin, und ich will die Stelle als Chefsyndikus, die Sie mir angeboten haben, Hans. Aber ich spiele keine Spielchen.« Obwohl ich zugeben muss, dass mir im Moment kaum etwas anderes übrig bleibt. Ich muss jetzt eine Hypothek abbezahlen.
»Ich liebe es, wenn Sie so ernst mit mir reden.«
»Ich gehe jetzt nach oben. Es ist neun Uhr abends, und ich will Seth anrufen und mich nach meinem Hund erkundigen.«
»Ach ja, Ihr Freund, der Sie nicht heiraten will. Grüßen Sie ihn recht lieb von mir.«
Er ist nicht mehr mein Freund. Aber das werde ich Hans nicht auf die Nase binden. »Entschuldigen Sie mich.« Ich nehme meine Cola Light mit nach oben. Das Zimmer ist wahrhaft luxuriös, und ich versuche, nicht daran zu denken, dass ich bald hier raus muss. Wenn Hans mehr Anstand hätte, würde er mir das große Zimmer überlassen. Andererseits, wenn er mehr Anstand hätte, wäre ich gar nicht in dieser Zwickmühle.
Ich ziehe meine Yogahose an. Offiziell heißt sie Yogahose, inoffiziell ist sie die Sporthose, in der ich auf dem Sofa sitze und Eis esse. Ich wähle Seths Büronummer, und er nimmt sofort ab.
»Seth Greenwood.« Seine Stimme klingt gequält.
»Hi Seth. Ich bin’s, Ashley.« Ich richte mich auf. »Ich wollte dich nur fragen, wie es Rhett geht.« Atsch! Ich rufe nicht wegen dir an, sondern wegen dem Hund.
»Ashley, gut, dass du anrufst. Einen Moment, ich muss nur schnell die Tür zumachen.« Ich höre, wie die Tür zugeht, und er ist wieder am Telefon. »Du wirst nicht glauben, was passiert ist.«
»Ist etwas mit Rhett?«
»Dem Hund geht es gut, aber ich kann ihn nicht mehr nehmen, wenn du unterwegs bist. Ich kann ihn wahrscheinlich immer noch ans Tierheim zurückgeben, wenn er dir zu viel ist.«
»Was? Warum?« Ich dachte, wir hätten geteiltes Sorgerecht.
»Als ich heute Morgen ins Büro gekommen bin, haben sie angekündigt, dass es zahlreiche Kündigungen geben wird. Sie verlegen die ganze Softwareentwicklung nach Indien und lassen nur das Nötigste hier.«
»Hast du deinen Job verloren?«
»Nein. Ich habe sogar einen neuen bekommen.« Er hält einen Moment inne. »Ich gehe nach Indien, um die neue Abteilung dort aufzubauen.«
»Das dauert eine Weile, oder?«, frage ich so beiläufig wie möglich.
»Mindestens drei Monate, vielleicht sogar sechs.«
So läuft das also. Seth geht nach Indien. Gott schickt ihn tatsächlich in die Mission, damit er nicht heiraten muss. Wie praktisch für ihn.
»Und wann fliegst du? Bist du noch da, wenn ich zurückkomme?« Und damit er nicht auf den Gedanken kommt, es gehe mir um ihn, füge ich hinzu: »Oder muss ich eine andere Bleibe suchen für Rhett Butlah?«
»Ich suche noch eine Hundepension für ihn, bevor ich gehe.«
»Er kommt auf keinen Fall in eine Hundepension, Seth. Sag mir, wann du fliegst. Du kannst mir auf die Mailbox sprechen oder mir eine Mail schicken, dann suche ich jemanden aus der Gemeinde, der mir hilft.«
»Du klingst aufgebracht.«
»Was soll ich denn sonst sein?«
»Du solltest dich für mich freuen.«
»Das heißt dann wohl, dass du nicht mit Pastor Romanski sprechen wirst, was?« Unsere Trennung scheint endgültig zu sein.
»Dafür sehe ich jetzt keinen Grund mehr. Gott ruft mich ganz eindeutig nach Indien, auch wenn es nur für kurze Zeit ist.«
»Ich muss gehen. Ich muss heute Abend noch etwas einkaufen.«
»Sollten wir uns darüber nicht noch etwas länger unterhalten?«, fragt Seth.
»Worüber? Ich glaube, du hast alles gesagt, was zu sagen ist.«
»Wir sollten darüber reden, dass ich weggehe. Es tut mir wirklich leid. Aber ich hätte es selbst nicht besser planen können.«
So leicht kommt er mir nicht davon. Niemals. Wozu hat meine Mutter mich erzogen, wenn ich von ihr nicht gelernt habe, wie man anderen ein schlechtes Gewissen macht? »Hier geht es nicht um mich. Und es geht auch nicht um Gott und deinen Ruf in die Mission. Es geht einzig und allein um dich. Du kannst dir einreden, du tust es für Gott, so viel du willst. In Wahrheit tust du es aus Feigheit. Und ich bin nur froh, dass ich anfange, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind.«
»Bist du sauer, Ashley? Warum bist du sauer?«
Ich knalle den Hörer auf die Gabel, renne zum Aufzug und drücke ungefähr vierzig Mal auf den Knopf. Endlich kommt der Fahrstuhl und spuckt mich in der Lobby wieder aus wie einen Sack Mehl, der auf den Boden fällt und platzt.
Hans hängt immer noch an seiner Flasche Wein und sitzt vor irgendeinem zertrümmerten Krustentier. Er schaut mich komisch an, und ich starre auf meine Sporthose, die ich immer noch anhabe.
»Ich weiß, ich weiß. Ich gehe nur mal kurz weg. Ich muss noch etwas besorgen.«
Hans steht auf. »Nicht abends. Nicht ohne Begleitung, und es ist mir ein Vergnügen.« Er wirft seine Stoffserviette auf den Tisch.
»Na schön.« Wenn man mich vom anderen Ende der Welt aus einfach sitzen lässt, dann brauche ich jetzt ein bisschen internationale Einkaufstherapie.