« Der Geruch ist bald weg. Ich stelle das Glas so lange raus.»
Er öffnete die Haustür und stellte das Glas hinaus, schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel herum. Sie hängte ihre Jacke an einer an der Wand befestigten Hutablage auf.
«Malen Sie?», fragte sie.
«Nur als Hobby. Kommen Sie herein. Wir wollten doch Kaffee trinken.»
Er bückte sich und zog die Schuhe aus und sie folgte seinem Beispiel. Dann bat er sie in die Küche.
Sie sah sich um. Dieser Mann wohnte nicht allein. Am Fenster hingen weiße Spitzengardinen, die auf beiden Seiten von rosa Raffbändern daran gehindert wurden, vors Fenster zu fallen. Auf dem Fensterbrett blühten gut gepflegte Topfpflanzen, deren Namen sie nicht kannte, und darunter lag ein weißer Spitzenläufer, der selbst gehäkelt wirkte.
Er trat an die Spüle und füllte Wasser in die Kaffeekanne.
«Nehmen Sie Platz», sagte er.
Sie tat, was er sagte. Vor dem Fenster konnte sie die Straße sehen. Er holte eine recht abgegriffene alte Blechdose hervor und maß daraus Kaffee ab. Sie schaute ihm zu. Irgendetwas war an dieser Küche merkwürdig. Sauber geputzt und aufgeräumt, aber alles veraltet. Die Schranktüren schienen noch original zu sein, und die Spüle reichte ihm gerade bis zu den Schenkeln. Wer hier lebte, interessierte sich für andere Dinge als für Inneneinrichtung, aber was hatte sie schon zu kritisieren ?
«Leben Sie allein hier?», fragte sie.
Er sah sie an, fast scheu diesmal.
«Ja. Seit meine Mutter gestorben ist, bin ich allein.»
«Ah ja. Ist sie erst kürzlich gestorben?»
Die Kaffeemaschine begann zu gurgeln.
«Nein, nein. Das ist bald zehn Jahre her.»
Aber die Gardinen hast du immer noch.
«Möchten Sie auch ein Stück Brot?»«Ja, bitte. Gerne.»
Er ging zum Kühlschrank. Ein altes Modell mit schwarzen Bakelitknöpfen. Gun-Britt hatte in ihrer Wohnung in Hultaryd so einen gehabt. Vor fünfundzwanzig Jahren.
Die Hand auf dem Griff, zögerte er.
«Ach ja», sagte er und zog die Hand zurück. «Ich habe vergessen einzukaufen. Ich furchte, Sie müssen sich mit einer schlichten Tasse Kaffee begnügen.»
«Natürlich.»
Er öffnete stattdessen einen Küchenschrank und nahm Tassen und Teller heraus. Hübsche kleine Kaffeetassen mit hellblauen Blumen. Er stellte sie auf den Tisch und zog eine Schublade unter der Tischplatte auf.
Auf der Straße kam ein Auto gefahren und Sibylla sah hinaus. Das Auto fuhr vorbei.
Ingmar faltete Servietten. Hauchdünne Kaffeeservietten mit gewelltem Rand, wie sie sie seit den Kaffeetafeln in Hultaryd nicht mehr gesehen hatte. Aber so war das wohl. Auf dem Land eilte die Zeit nicht so schnell dahin.
«Es soll schon elegant sein, wenn man hohen Besuch kriegt.»
Sie sah ihm dabei zu, wie er sorgfältig das Wachstuch glatt strich, nachdem er die Schublade wieder zugemacht hatte. Er wirkte aufgedreht. So als ob es lange her sei, dass er etwas so Angenehmes erlebt hatte. Wahrscheinlich war er Damenbesuch nicht gewohnt.
Bevor er den Kaffee einschenkte, holte er ein kleines Silbertablett mit einer Zuckerschale und einem Kännchen aus dem gleichen Porzellan wie die Tassen. Er schien zufrieden zu sein, als er sein Werk betrachtete. Dann setzte er sich ihr gegenüber und lächelte.
«Bitte sehr.»
« Danke.»
Sie sah das leere Kännchen an und hätte gern ein bisschen
Milch gehabt, verkniff es sich aber, danach zu fragen. Sie hob die Tasse an dem winzigen Henkelchen und trank einen Schluck. Hinter ihm hing ein gestickter Wandbehang. Aber die Liebe ist das Größte von allem.
«Was wollen Sie denn nun von Kerstin?», fragte er plötzlich.
Die Frage überrumpelte sie. Für sie war selbstverständlich gewesen, dass er während der gemeinsamen Autofahrt an ihren intensiven Gedanken hätte teilhaben müssen, aber nun fiel ihr mit einem Mal ein, dass er ja immer noch nicht wusste, wer sie war.
Sie senkte den Blick.
«Ich möchte mich nur ein bisschen mit ihr unterhalten.»
Sein Lächeln war ihm wie ins Gesicht geklebt.
«Warum denn?»
Sie merkte, wie sie die Gereiztheit beschlich. Vielleicht war es gut gemeint von ihm, aber sie hatte kein Interesse an seinem Wohlwollen.
«Das ist eine Sache zwischen ihr und mir», versetzte sie schließlich.
Ingmar ließ sie nicht aus den Augen.
«Sind Sie sich da sicher?»
Der Kaffee war nicht gut. Er hatte viel zu wenig Pulver genommen, und sie war nicht imstande, diese Konversation noch länger aufrechtzuerhalten. Sie erhob sich.
« Danke für den Kaffee und fürs Mitnehmen. Aber ich glaube, ich warte draußen.»
Er sagte nichts darauf, sondern lächelte nur weiter. Einen kurzen Augenblick durchfuhr es sie, dass er vielleicht nicht ganz dicht sei. Sein Lächeln sah so dämlich aus, dass sie schon fast ungemütlich werden wollte. So als ob er an eine lustige Geschichte dächte, von der er nichts erzählt hatte.
Sie ging in die Diele und zog sich ihre Schuhe an. Als sie sich aufrichtete, stand er in der Tür. Sein Lächeln war noch breiter geworden.
«Sie wollen doch nicht schon gehen?»
Das klang fast wie ein Befehl. Damit versetzte er ihrem guten Benehmen endgültig den Todesstoß.
«Doch, das will ich. Ich trinke keinen Kaffee ohne Milch.»
«Ach, was. Ich hätte nicht gedacht, dass du so wählerisch bist.»
Er hatte zugebissen wie eine Schlange. Ohne Zögern. Als ob er seine Worte endlich nicht mehr abzuwägen brauchte.
Ein erstes Gran Unbehagen flackerte in ihr auf. Sie ergriff ihre Jacke.
«Was meinen Sie damit?», fragte sie schließlich. Ganz und gar nicht mit derselben Sicherheit, die sie soeben noch empfunden hatte.
Er hatte die Veränderung in ihrem Tonfall bemerkt, denn wieder breitete sich dieses Lächeln über sein Gesicht.
«Ich meine nur, dass solche wie du mit dem, was sie kriegen, zufrieden sein sollten.»
Sie tat ihr Bestes, um es zu verbergen, aber sie hatte jetzt Angst. Sehr kräftig schien er nicht zu sein, doch da verschätzte sie sich nicht zum ersten Mal. Waren die Kerle erst ausreichend spitz, hatte sie selten eine Chance. Aber sie wollte sich auf gar keinen Fall freiwillig ergeben.
«Wo, zum Geier, sind wir hier eigentlich?», fragte sie plötzlich. «Eine Ritualmörderin und ein Vergewaltiger auf nur hundert Meter Abstand. Seid ihr sicher, dass mit eurem Trinkwasser alles in Ordnung ist?»
Sie schielte nach der Haustür. Der Schlüssel war abgezogen.
«Die ist auch abgeschlossen», sagte er. «Aber eins muss ich jetzt doch ein bisschen zurechtrücken. Wenn ich zu irgendetwas wirklich keine Lust habe, dann dazu, mit dir ins Bett zu gehen.»
Das überzeugte sie nicht im Geringsten. Sie trat noch einen Schritt weiter von ihm zurück und stieß mit dem Rücken an die Treppe zum Obergeschoss.
« Dafür haben wir einige andere Dinge zu entwirren, du und ich.»
Sie schluckte.
«Das glaube ich nicht.»
Er lächelte wieder.
«Doch, Sibylla. Und ob wir das haben.»
Zuerst brachte sie kein Wort heraus. Das Einzige, was sie verstand, war, dass nichts so war, wie es sein sollte. «Woher wissen Sie, wie ich heiße?»
«Das habe ich in der Zeitung gelesen.»
Er konnte sie unmöglich erkannt haben. Nicht mit der neuen Frisur.
Draußen auf der Straße kam ein Auto heran. An ihm vorbei sah sie durchs Küchenfenster, dass es vorüberfuhr.
« Du brauchst nicht länger nach Kerstin Ausschau halten. Sie wohnt am anderen Ende der Stadt. Das Haus da drüben gehört ein paar Deutschen, und die kommen nie vor Juni.»
Sie wollte raus. Raus und weg.
«Was wollen Sie von mir?», fragte sie.
Er antwortete nicht.
«Können wir uns nicht setzen? Der Kaffee wird kalt.»
Sie sah wieder zur Tür. Die Diele hatte kein Fenster.
«Es hat keinen Zweck, Sibylla. Du gehst erst, wenn ich es dir erlaube.»
Eingesperrt.
Sie schloss die Augen für ein paar Sekunden und versuchte sich zu sammeln. Er bewegte sich von der Tür weg, und weil sie keine andere Wahl hatte, ging sie einen Schritt in die Küche.
«Ich wäre dankbar, wenn du die Schuhe ausziehen würdest.»
Sie drehte sich um und sah ihn an.
Leck mich!
Sie ging weiter zum Tisch und setzte sich. Als sie zu ihm hochsah, war nicht zu verkennen, dass er verärgert war. Er öffnete einen Schrank, holte einen Handbesen und eine Schaufel daraus hervor und kehrte irgendeinen unsichtbaren Dreck vom Boden auf. Nachdem er die Gerätschaften zurückgestellt hatte, setzte er sich ihr gegenüber.
Sein Lächeln war verschwunden.
«Von nun an, denke ich, wirst du tun, was ich sage.»
Von nun an? Was war das hier eigentlich? Warum, zum Kuckuck, konnte er nicht sagen, was er wollte?
«Sie haben kein Recht, mich dazu zu zwingen, hierzubleiben», sagte sie leise.
Er tat so, als wäre er erstaunt.
«Nein? Nein, so was. Dann willst du vielleicht die Polizei anrufen? »
Als sie nicht antwortete, lachte er und sie dachte, dass es jetzt vielleicht an der Zeit wäre, genau das zu tun. Die Polizei anzurufen.
Sie sahen sich an. Jeder Atemzug wurde registriert. Wieder fuhr ein Auto vorbei, und Sibylla ließ ihn für eine Sekunde aus den Augen.
Das Schweigen war gebrochen.
«Ich muss zugeben, dass ich erstaunt war, als du auf dem Friedhof aufgetaucht bist. Wie ein Geschenk des Himmels. Gott beschützt die Seinen wirklich.»
Sie starrte ihn an.
«Ich habe nicht geglaubt, dass es wahr sein kann, als ich die Uhr zu sehen bekam. Wäre die nicht gewesen, dann hätte ich dich nicht erkannt.»
Er nickte in Richtung ihrer Armbanduhr und Sibylla folgte seinem Blick. Er lächelte, legte den Kopf zurück und schloss die Augen.
«Danke, Herr, daß Du mir Dein Ohr geneigt hast, dass Du meine Seele erlöst und sie hierher geführt hast. Danke, dass ...»
«Die Uhr?», fiel sie ihm ins Wort.
Er verstummte. Als er die Augen öffnete, waren sie schmal wie Schlitze.
«Unterbrich mich nie wieder, wenn ich mit dem Herrn spreche», sagte er langsam.
Er beugte sich über den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Plötzlich rückte sich alles zurecht.
Wehe dem, der den Unschuldigen seines Rechtes beraubt.
Die Wahrheit drang wie eine Speerspitze in sie.
Sie konnte nicht sprechen. Vor Schreck spürte sie einen Blutgeschmack im Mund.
Wonach man aussah, darauf kam es an.
Wie hatte sie das bloß eine Sekunde lang vergessen können! Ihre eigenen Vorurteile hatten sie direkt in die Falle gelockt.
Ihm war klar, dass sie es wusste, das konnte sie ihm ansehen.
«Ich habe diese Uhr schon einmal gesehen, verstehst du. Im Französischen Saal des Grand Hotel. Als du Jörgen Grundberg bei seiner letzten Mahlzeit Gesellschaft geleistet hast.»
Gespannt wie zwei Bogensehnen saßen sie nach wie vor auf ihren Küchenstühlen und bewachten einander. Beide warteten auf das auslösende Moment.
Eine Ewigkeit verging und Sibylla versuchte ihr Bestes, damit sich die Wahrheit zu einer fassbaren Kette fügte.
Sie hatte so Recht gehabt.
Und sich doch so geirrt. Rune Hedlund hatte keine Geliebte gehabt, sondern etwas noch Heimlicheres:
Einen Geliebten.
Es waren diese sehnigen Hände, die zwischen ihnen auf dem Küchentisch ruhten, die all diese Widerwärtigkeiten, deren sie bezichtigt wurde, vollbracht hatten. Mit alter, alltäglicher Hobbyfarbe befleckt waren sie in Plastikhandschuhen verborgen in die Körper der Opfer eingedrungen, um zurückzuholen, was sie verloren hatten.
«Warum?», flüsterte sie schließlich.
Ihre Frage bewirkte, dass er sich entspannte. Sie führte sie in eine neue Phase. Sie brauchten sich nun nicht mehr zu verstellen. Die Andeutungen waren alle gemacht, und das Einzige, was noch ausstand, war die abschließende Konfrontation. Wenn sie es wissen wollte und er erzählen würde.
Und dann ...?
Er zog seine Hände zurück und legte sie in den Schoß, machte fast den Eindruck, als ob er sich darauf vorbereiten würde, eine Rede zu halten.
«Warst du schon mal auf Malta?»
Seine Frage kam so unerwartet, dass ihr ein Schnauben entfuhr. Womöglich hielt er es für ein Lachen, denn jetzt lächelte er wieder.
«Ich bin dort gewesen», fuhr er fort. «Ungefähr ein halbes Jahr nach Runes Unfall.»
Er sah auf seine Hände und lächelte nun nicht mehr.
«Niemand ahnte, wie sehr ich trauerte ...»
Er holte tief Luft, bevor er fortfuhr.
«Unsere Liebe wurde mit Rune zu Grabe getragen. Aber Kerstin tat ja allen wahrlich Leid. Sie haben ihr Essen gebracht und geheuchelt und stundenlang dagesessen und sich ihr blödes Geschwätz angehört, wie ungerecht doch alles sei. Mehrmals wollte ich hingehen und ihr in ihr hässliches, wabbliges Gesicht schleudern, dass ich es war, den er geliebt hatte! Nicht sie. Er war bei mir gewesen, bevor er mit dem Elch zusammenprallte. Er war direkt aus meinem Bett gekommen. Es waren meine Hände gewesen, die seinen Körper zuletzt liebkost hatten.»
Er reckte seine langen Finger in die Luft, damit sie es auch wirklich kapierte.
Er war jetzt aufgewühlt. Seine Hände zitterten und er atmete heftig, und einen Moment lang schien es, als wollte er anfangen zu weinen. Seine Unterlippe bebte vor verhaltenem Zorn. Womöglich war dies das erste Mal, dass er seiner Trauer Ausdruck verleihen durfte. Dreizehn Monate lang hatten ihm die Worte auf der Zunge gepocht.
Das erste Mal.
Und vermutlich das letzte Mal.
« Dann ging sie wieder zur Arbeit. Saß wie eine Königin im Frühstücksraum und brüstete sich damit, dafür gesorgt zu haben, dass Runes Tod nicht umsonst gewesen sei. Dass mit Hilfe seines Körpers vier Menschenleben gerettet worden seien.»
Er schüttelte angewidert den Kopf.
«Pfui Teufel! Mir war speiübel. Ist das Liebe? Ist es das? Denjenigen, den man zu lieben behauptet, aufzuschlitzen und seine Überreste in alle Winde zu zerstreuen.»
Er stand auf. Die Bewegung erfolgte so plötzlich, dass sie zurückwich und der Stuhl hinter ihm umfiel. Mit einem Knall landete die Rückenlehne des Sprossenstuhls auf dem Fußboden. Er hob ihn auf und ging zur Spüle, holte die Kaffeekanne und kehrte an den Tisch zurück.
« Noch Kaffee?»
Sie schüttelte verwirrt den Kopf und er schenkte sich selber etwas ein. Als er ihr den Rücken zukehrte, um die Kanne zurückzubringen, sah sie sich um. Hinter ihr befand sich eine geschlossene Tür.
«Ich dachte, es würde mir besser gehen, wenn ich eine Zeit lang von hier wegkäme. Wenn es mir erspart bliebe, Tag für Tag ihr scheinheiliges Gesicht im Frühstücksraum zu sehen.»
Zwischen ihrem Rücken und der geschlossenen Tür waren ungefähr zwei Meter Abstand.
«Es gab nur noch eine Reise da unten im Reisebüro. Es war das erste Mal, dass der Herr in mein Leben eingriff, aber das wusste ich damals noch nicht.»
Er war jetzt ganz entspannt. Trank einen Schluck Kaffee und sah aus dem Fenster. Zwei Freunde, die sich viel zu erzählen hatten und zusammen Kaffee tranken.
«Auf Malta gibt es eine Stadt, die heißt Mosta, und dort gibt es eine Kathedrale. Diese wollte der Herr mir zeigen. Ich habe einen der Ausflüge von Freizeitreisen mitgemacht, um nicht allein sein zu müssen. Dieser Ausflug hat mein Leben völlig verändert.»
Er faltete die Hände und legte sie vor sich auf den Tisch.
«Es war, als ob mir jemand einen Filter von den Augen gezogen hätte. Als ob ich endlich sehen könnte.»
Dankbarkeit umstrahlte ihn.
«Am neunten April neunzehnhundertzweiundvierzig war diese Kirche voller Leute. Ganz normale Menschen, die wie gewohnt ins Hochamt gegangen sind. Plötzlich fällt eine Bombe durch die Kuppel. Zersplittert das prächtige Glasdach und stürzt in den Gang. Aber sie explodiert nicht. Wie durch ein Wunder Gottes detoniert sie nicht, die ganze Gemeinde kann das Hochamt vielmehr ohne eine Schramme verlassen. Ist das nicht ein Wunder?»
Falls er eine Antwort darauf wollte, dann wartete er vergebens.
«Es war ein englischer Flieger, der die Bombe aus Versehen abgeworfen hatte.»
Er starrte sie an.
«Verstehst du nicht?»
Sie schüttelte leicht den Kopf.
«Ihre Zeit war noch nicht gekommen. Gott hatte noch keinen von denen, die sich damals in dieser Kirche befanden, gerufen. Sie sollten noch nicht sterben. Deshalb hat er eingegriffen und alles ins Lot gebracht.»
Er schwieg und sah eine Weile aus dem Fenster, bevor er fortfuhr:
«Aber Rune ... ihn hat der Herr gerufen. Warum, weiß ich nicht, ich warte noch immer darauf, dass der Herr mir eine Antwort gibt. Vielleicht wird er es jetzt tun, da mein Auftrag ausgeführt ist.»
Sibylla schluckte. Sie fürchtete, dass seine Beichte sich ihrem Ende näherte.
«Aber sie ließ ihn nicht sterben. Sie nahm die Macht Gottes in ihre eigenen Hände und hielt ihn hier bei uns auf Erden am Leben ... Fing ihn auf halbem Weg ins Himmelreich ab.»
Sein Gesicht hatte sich zu einer Grimasse verzogen.
«Wie hätte ich das denn zulassen können?»
Er hielt noch immer die Hände vor sich gefaltet.
«Und ich werde große Rache an ihnen üben und sie im Grimm züchtigen. Und wenn ich sie meine Rache spüren lasse, dann werden sie erfahren, dass ich der Herr bin.»
Er verstummte.
Ihre Angst, die vor einer Weile einer Art Tatkraft gewichen war, kehrte mit neuer Wucht zurück.
Sie brauchte mehr Zeit.
«Und diejenigen, die Sie getötet haben? Was sagt Gott über die?»
Er legte den Kopf schräg und sah sie verwundert an.
«Hast du denn nicht verstanden?»
Sie traute sich nicht einmal, den Kopf zu schütteln.
«Der Herr hat sie gerufen. Sie sollten sterben. Mit welchem Recht gebieten wir Seinem Willen Einhalt?»
Sie wusste keine Antwort. Zu sagen, dass er verrückt sei, würde ihr kaum weiterhelfen.
«Und ich?», fragte sie schließlich.
Da lächelte er wieder.
«Du bist ebenfalls auserwählt.»
Er sagte das so, dass es wie ein Kompliment klang. «Der Herr hat auch dich als sein Werkzeug ausersehen. Wir beide sind zur selben Vollendung berufen.» Jetzt war die Zeit bald abgelaufen. «Und was ist mein Aufgabe?» Sein Lächeln breitete sich übers ganze Gesicht. «Mich zu schützen.»
Im nächsten Augenblick war sie auf den Beinen. Ohne zu zögern, warf sie sich nach hinten und bekam die Klinke der verschlossenen Tür zu fassen. Das Glück war mit ihr, die Tür ging zur anderen Seite auf, und bevor er um den Tisch herumkam, war sie schon in dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. In der nächsten Sekunde drängte er von der anderen Seite dagegen. Er drückte die Klinke herunter und Sibylla konnte das Gewicht spüren, mit dem er sich gegen die Tür stemmte. Mit aller Kraft, die sie aufbieten konnte, versuchte sie die Tür zuzuhalten. Es gab keinen Schlüssel.
Sie sah sich um.
Sie befand sich in seiner Malerwerkstatt. Das Zimmer war voll mit Farbdosen, und hinter ihr stand eine Staffelei mit einem halb fertigen Jesus am Kreuz. In der Wand rechts von ihr war noch eine Tür, aber auch dort gähnte das Schlüsselloch leer. Sie spürte, wie der Druck auf die Tür nachließ, und beugte sich rasch hinunter, um durchs Schlüsselloch zu gucken.
Auf der anderen Seite war niemand.
Sie trat einen Schritt zurück und stieß gegen einen Tisch. Eine Blechdose mit Pinseln fiel zu Boden. Der Schreck versetzte ihr Stiche im Leib und sie stellte sich mitten ins Zimmer. Plötzlich ein Geräusch - und ihr war klar, woher er kommen würde. Im selben Moment sah sie seine Hand im Türspalt zu dem anderen
Zimmer, sah, wie diese um die Tür griff. Sie zögerte nicht. Mit voller Wucht warf sie sich gegen die Tür, und sie konnte es knirschen hören, als seine Hand eingeklemmt wurde.
Er schrie nicht. Die Finger spreizten sich vor Schmerz, doch es war kein Laut von der anderen Seite zu vernehmen. Nur ihr eigener Atem, als sie nach Luft rang. Es folgte ein kräftiger Stoß gegen die Tür, den Sibylla so gut wie möglich parierte, doch durch den dabei entstandenen kleinen Spalt hatte er seine Hand zurückziehen können.
Plötzlich schlug eine Wanduhr hinter ihr. Dieses jähe Geräusch raubte ihr den letzten Rest Selbstkontrolle, sie drehte sich um und lief davon. Riss ohne innezuhalten die Küchentür auf und rannte durch die Küche in die Diele. Dort blieb sie kurz stehen und sah sich um. Die Haustür war verschlossen, das wusste sie, ins Obergeschoss zu laufen, wäre jedoch ein Schritt weiter in die Falle. Ein Geräusch aus dem Zimmer neben ihr ließ ihr aber keine andere Wahl. Einen Schritt nach vorn und sie sah seine Füße im Türspalt. Er saß mit ausgestreckten Beinen und dem Rücken zur Tür auf dem Fußboden. Schnell vorbei und die Treppe hinauf. Sie hörte, wie er aufstand. Oben an der Treppe ein kurzer Flur mit drei geschlossenen Türen. In einer steckte ein Schlüssel. Die Tür war abgeschlossen, ging aber beim ersten Versuch auf.
«Nicht da rein!», hörte sie ihn schreien.
Aber sie war schon drinnen.
Mit zitternden Händen gelang es ihr, den Schlüssel von innen ins Schloss zu stecken und herumzudrehen. Im nächsten Augenblick drückte er die Klinke herunter.
«Sibylla. Mach jetzt keine Dummheiten!»
Sie wandte sich um.
Ein ungemachtes Bett mitten im Zimmer. Das Laken und der Kissenbezug, beide vielleicht einst weiß, waren grau und fleckig.
An der Wand gegenüber eine Spiegelkommode aus dunklem Holz, wahrscheinlich Eiche, und vor dem Spiegel eine brennende
Kerze in einem halbmeterhohen silbernen Leuchter. Solche Kerzen hatte sie bisher nur in Kirchen gesehen. Am Fuß des Leuchters lag eine Bibel.
«Sibylla. Du machst jetzt die Tür auf!»
Sie trat ans Fenster. Die Krampe saß fest, und Sibylla musste ordentlich zupacken, um sie mit Gewalt vom Haken zu lösen. Ein kreischendes Geräusch, als das Metall widerstrebend nachgab.
«Nicht das Fenster aufmachen!», rief er. «Sibylla, pass auf die Kerze auf!»
Er klopfte jetzt heftig an die Tür.
Sie lehnte sich hinaus. Direkt unter ihr war die Steintreppe, die zur Haustür führte, und wenn sie wider Erwarten das Eisengeländer glücklich verfehlen sollte, würde sie sich mit größter Wahrscheinlichkeit auf den Steinplatten das Genick brechen.
«Sibylla. Mach das Fenster zu!»
Er klang jetzt streng.
Sie ließ das Fenster offen und ging zu der Spiegelkommode. Die Atempause, die ihr die verschlossene Tür verschafft hatte, half ihr, die Gedanken wieder zu sammeln.
Pass auf die Kerze auf.
Neben dem silbernen Leuchter zwei eingeschweißte Kerzen von derselben Größe wie die brennende und gleich daneben vier unbenutzte Grablichter in weißen Plastikbechern.
Brenndauer zirka sechzig Stunden.
Sie nahm die Bibel und schlug die erste Seite auf. Jemand hatte mit Druckbuchstaben etwas innen auf den Einband geschrieben, sie las es rasch.
Denn Liebe ist stark wie der Tod
und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.
Ihre Glut ist feurig
und eine Flamme des Herrn.
Mit einem Mal war ihr klar, dass die Macht nun bei ihr lag.
Die lodernde Flamme war ihre Waffe.
Sie hörte etwas im Schlüsselloch kratzen. Sie legte die Bibel zurück und schloss eilends das Fenster.
«Wenn Sie hereinkommen, lösche ich die Kerze», rief sie.
Die Krampe legte sich um den Haken. Das Geräusch im Schlüsselloch verstummte.
« Die brennt wohl schon, seit er tot ist? Oder wie?»
Nicht einen Ton erhielt sie zur Antwort, aber sie wusste nun Bescheid. Er hatte die Flamme wie ein olympisches Feuer am Brennen gehalten, als lebendiges Andenken an seinen Geliebten.
Sie hatte sich erneut einen Aufschub verschafft.
Aber wozu?
Sie sah sich um.
Außer dem Bett und der Spiegelkommode gab es in dem Zimmer keine Möbel. Es war mit einem braun melierten Teppichboden ausgelegt, auf dem drei zusammengewürfelte Flickenteppiche lagen. Sie betrachtete das Bett. Vielleicht würde das Laken bis zur Erde reichen? Und dann? Er hätte sie schnell eingeholt.
Sie trat an die Spiegelkommode und hob den Leuchter hoch. Ganz, ganz vorsichtig und sich vollauf bewusst darüber, dass die lodernde Flamme ihre Versicherung war.
«Sie können jetzt hereinkommen», rief sie.
«Dann schließ schon auf.»
Sie zögerte kurz.
«Zählen Sie bis drei, bevor Sie hereinkommen. Sonst lösche ich die Kerze.»
Sie bekam keine Antwort. Der weiche Untergrund dämpfte ihre Schritte, als sie zur Tür ging. Rasch drehte sie den Schlüssel herum und trat zurück.
Nach drei Sekunden bewegte sich die Türklinke langsam nach unten.
Dann standen sie sich gegenüber, Auge in Auge, und dazwischen die lodernde Flamme.
Der Zorn in seinen Augen war nicht zu verkennen. Er hatte die zerquetschte Hand ausgestreckt, und als er auf sie hinuntersah, folgte Sibylla seinem Blick. Quer über die Finger verlief eine tiefe Kerbe und der kleine Finger sah aus, als wäre er ganz ab.
Keiner von beiden sagte etwas.
Das Einzige, was sich im Zimmer bewegte, war die Flamme.
«Warum machst du das?», fragte er schließlich. «Was glaubst du damit zu gewinnen?»
«Ich will, dass Sie die Polizei anrufen.»
Er schüttelte den Kopf. Nicht ablehnend, sondern eher als Ausdruck seiner Gereiztheit.
«Verstehst du nicht, dass dies beabsichtigt war? Wir sind auserwählt, du und ich. Wir können über nichts gebieten ... Stell jetzt die Kerze hin.»
Sie schnaubte. Der plötzliche Luftstoß traf das Licht vor ihr. Die flackernde Flamme erinnerte sie unliebsam daran, wie gering ihre Überlegenheit war, und mit einem Mal überkam sie diese erdrückende Angst wieder.
Vielleicht sah er es ihr an, vielleicht roch er es.
Über sein Gesicht breitete sich ein Lächeln.
«Wir sind vom gleichen Schlag, du und ich. Ich habe über dich in der Zeitung gelesen.»
Wie sollte sie bloß hier rauskommen?
«Sie haben mit einer deiner Klassenkameradinnen geredet, hast du das gelesen?...»
Draußen würde die Flamme ausgehen. Der Aufschub galt nur im Haus.
«Ich war auch ein Einzelgänger ...»
«Wo ist das Telefon?»
«Schon in der ersten Klasse merkte man, dass ich anders war. Es war uns im Grunde allen klar ...»
« Drehen Sie sich um und gehen Sie runter, sonst puste ich.»
Sein Lächeln verschwand, aber er rührte sich nicht.
«Und dann Sibylla», sagte er ruhig. «Was wirst du dann tun?»
Eine Ewigkeit verging, und als sie schon glaubte, ihr heftig pochendes Herz würde ihr den Brustkorb sprengen, drehte er sich endlich um. Langsam trat er in die Diele hinaus und sie folgte ihm in ein paar Metern Abstand. Versuchte erfolglos, ihren hektischen Atem zu verhehlen. Eine Stufe nach der anderen. Wie ein umgekehrter Luciazug schritten sie die Treppe hinunter. Sie, die Kerzenflamme schützend, und er mit nach wie vor ausgestreckter blutiger Hand. Ihr zitterten die Knie. Sie versuchte vorauszudenken. Sollte sie ihn telefonieren lassen? Vielleicht wäre es besser, wenn sie das selber machte? Noch vier Stufen. Er war unmittelbar am Fuß der Treppe stehen geblieben.
«Weiter.»
Er tat, was sie sagte, und verschwand in der Küche. Der Leuchter war schwer. Sie konnte ihn nicht mehr so hoch halten. Vorsichtig senkte sie ihn, und im selben Augenblick setzte sie den ersten Fuß in den unteren Flur.
Sie sah ihn nicht.
«Kommen Sie zur Tür!»
In der Küche regte sich nichts. Sie wechselte die Hand.
«Ich lösche die Kerze.»
Ihr war jedoch klar, dass er genauso gut wie sie wusste, wie leer diese Drohung war. Was würde sie dann tun?
Sie sah in das Zimmer zu ihrer Linken. Ein Sofa und ein Couchtisch. Und der gleiche Teppichboden wie in dem Zimmer im Obergeschoss. Die Tür zur Malerwerkstatt war angelehnt. Sie machte einen Schritt in das Zimmer.
Das Gewicht des Leuchters zwang sie, ihn mit beiden Händen zu halten.
«Kommen Sie heraus, sodass ich Sie sehe!», rief sie.
Sie konnte nirgends ein Telefon entdecken. Sie ging weiter zur
Malerwerkstatt. Aus der Küche war kein Ton zu hören. Als sie über die Schwelle war, schloss sie schnell die Tür hinter sich.
Es stand auf dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers. Ein graues, mit allen Farben des Regenbogens verspritztes altes Telefon.
Beidhändig zu bedienen.
Den Blick auf die Küchentür gerichtet, stellte sie vorsichtig den Leuchter ab, hob den Hörer und tastete mit zittrigen Fingern über die Wählscheibe. Ihr tat alles weh vor Angst.
So nahe nun, und doch so weit entfernt.
Und dann war er über ihr.
Mit Gebrüll wurde die Tür zum Wohnzimmer aufgerissen, und ehe sie reagieren konnte, schlug er sie mit einem Küchenstuhl nieder. Ihr wurde vor Schmerz schwarz vor Augen, und als er rittlings auf ihr saß, merkte sie, dass eine Rippe gebrochen war.
«Tu das nie wieder!», zischte er.
Sie schüttelte den Kopf und versuchte den Schmerzen standzuhalten.
«Der Herr ist auf meiner Seite», fuhr er fort. «Du kannst nicht entkommen.»
Sie schüttelte wieder den Kopf. Alles, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Egal was, wenn er bloß nicht auf ihrer Rippe sitzen blieb.
Er sah sich um.
« Bleib liegen!»
Sie nickte und er stand endlich auf. Neben dem Telefon lag ein weißer Baumwolllappen, den er sich fest um die verletzte Hand wickelte. Ob er wohl Rechtshänder war? In diesem Fall wäre er gehörig geschwächt.
Aber das war sie ebenfalls.
Diese verdammte Flamme brannte noch immer an ihrem Docht.
Nicht einmal die zu löschen, war ihr gelungen.
Verfluchte Scheiße!
Dabei war sie so nah dran gewesen.
Sie drehte sich ein klein wenig, um den Schmerz zu mildern. Ihre Jacke hatte sich genau an der Stelle verknäuelt, wo es am heftigsten wehtat. Er bemerkte ihre Bewegung und stellte ihr seinen Fuß auf den Bauch.
«Du bleibst still liegen.»
Der Schmerz wurde so intensiv, dass ihr die Luft wegblieb. Ihr Gesicht verzerrte sich und sie sah blitzende Sterne hinter den Lidern. Sie merkte, wie sein Fuß verschwand, und nach einer Weile öffnete sie wieder die Augen. Er stand immer noch neben ihr. Weiß im Gesicht und die umwickelte Hand ausgestreckt. In der anderen Hand hielt er ein Kruzifix. Das hatte sie schon einmal gesehen. Auf Patriks Zetteln.
«Bitte sehr», sagte er und ließ es ihr auf den Bauch fallen.
Es war nicht schwer, doch rein reflexartig spannte sie den Bauch an, woraufhin sie eine neue Schmerzwelle durchlief.
«Das musst du selbst tragen», fuhr er fort. «Das ist dein Gang nach Golgatha.»
Wenn sie gekonnt hätte, dann hätte sie ihn gefragt, was er damit meinte.
«Hoch mit dir! Wir werden einen Spaziergang machen.»
Es gelang ihr, sich vom Boden zu erheben. Mit seiner unversehrten Hand packte er sie grob am Nacken und zwang sie, gebückt zu gehen, den Blick auf den Boden gerichtet und das Kruzifix in der linken Hand.
Draußen wurde es allmählich dunkel.
Im Stehen spürte sie den Schmerz in der Seite nicht so sehr. Ohne ihren Nacken loszulassen, schubste er sie die Treppe hinunter.