Das war alles.
Ein ganzseitiges Bild zeigte das Grand Hotel, und der Rest des Artikels handelte von anderen Morden mit Leichenschändung, die in den vergangenen zehn Jahren in Schweden begangen worden waren, allesamt mit Bild, Alter und Namen der Opfer illustriert.
Deshalb also hatten sie an ihrer Tür geklopft. Sie war mehr als dankbar, dass sie entkommen war. Wie hätte sie schließlich ihre Anwesenheit in einem der teuersten Hotels von Stockholm erklären sollen? Sie, die nicht einmal so viel besaß, dass es für eine schlichte Tasse Kaffee in der Wienerkonditoriet reichte. Wie hätte sie ihnen begreiflich machen sollen, dass sie sich in regelmäßigen Abständen eine Nacht in einem richtigen Bett gönnte? Stets auf Kosten von jemandem, der es kaum merkte. Nein, sie war sich sicher, dass niemand dies verstehen würde. Niemand, der nicht am eigenen Leib erfahren hatte, wie das war.
«Das ist hier keine Bibliothek. Wollen Sie die Zeitung nun haben oder nicht?»
Der Mann hinter dem Kioskfenster wirkte gereizt. Sie antwortete ihm nicht, sondern steckte lediglich brav die Zeitung zurück.
Es war kalt im Freien und sie hatte wirklich Halsschmerzen. Sie ging weiter in Richtung Hauptbahnhof. Sie brauchte auch Geld. Die nächste Rate würde erst in zwei Tagen in ihrem Postfach landen. Und vor Montag würde sie an das Geld nicht herankommen.
Bei der Gepäckaufbewahrung im Bahnhof stand ein Wechselautomat, sie ging hin und drückte ein paar Mal auf die Scheinausgabe.
«Was ist das denn nun?»
Sie hatte laut und deutlich gesprochen, sodass niemandem in
der Nähe ihre Gereiztheit entgehen konnte. Sie drückte noch mehrmals auf den Knopf, seufzte vernehmlich und schaute sich um. Ein Mann hinter der Gepäckaufbewahrungstheke sah sie an. Sie trat auf ihn zu.
«Gibt es Probleme?», fragte er.
«Der funktioniert nicht. Er hat meinen Hunderter eingezogen, aber es kam kein Wechselgeld heraus, und in acht Minuten geht mein Zug ...»
Der Mann drückte auf eine Registrierkasse und deren Geldfach schoss heraus.
«Der hat schon öfter Schwierigkeiten gemacht.»
So ein Glück!
Er zählte zehn Zehner ab und legte sie in ihre ausgestreckte Hand.
«So. Jetzt schaffen Sie es noch.»
Sie lächelte und steckte das Geld in ihre Handtasche.
«Herzlichen Dank.»
Der Schließfachschlüssel war zum Glück in ihrer Jackentasche und nicht in der im Grand zurückgelassenen Aktentasche.
Nachdem sie ihren Rucksack geholt hatte, ging sie zur Damentoilette, und ein paar Minuten später trug sie Jeans und Anorak und wusste, was sie tun würde.
Sie würde eine Nacht bei Johanssons verbringen.
Auf dem Weg zur Kleingartenkolonie in Eriksdal kaufte sie sich eine Dose weiße Bohnen, Brot, zwei Äpfel, Cola und eine frische Tomate. In dem Moment, in dem sie die Eriksdalsgatan überquerte, trafen sie die ersten Regentropfen. Der Himmel war in den vergangenen Tagen bleigrau gewesen, und dieser Tag bildete keine Ausnahme.
Die Häuschen auf dem Areal wirkten verlassen, und Sibylla war dankbar, dass der trübe Märztag offensichtlich keine Kleingartenbesitzer zur Gartenarbeit herausgelockt hatte. Vielleichtwar es ja noch zu früh. Auch wenn schon lange kein Schnee mehr lag, war der Boden wohl noch nicht frostfrei.
Sie war noch nie so mitten am Tag hierher gekommen und es war eindeutig riskant, aber sie war müde und schlapp und brauchte ihre Ruhe. Sie war sich jetzt sicher, dass sie Fieber hatte.
Der Schlüssel lag wie immer in der Ampel. Die Geranie, die im Sommer darin geprangt hatte, war weg, aber der Schlüssel hatte in seinem Versteck bleiben dürfen. An dieser Stelle hatte sie sich als Erstes umgetan, als sie dieses Häuschen zum ersten Mal aufgesucht hatte. Das war jetzt wohl fast fünf Jahre her.
Auf dem Papier gehörte die Parzelle Kurt und Brigitte Johansson und die beiden hatten keine Ahnung, dass sie ihr Häuschen mit Sibylla teilten. Sie verließ es stets im gleichen Zustand, wie sie es vorgefunden hatte, und achtete peinlich darauf, nichts kaputtzumachen. Dass sie sich dieses Häuschen ausgesucht hatte, lag einerseits am Schlüssel, aber auch an den ungewöhnlich dicken Polstern für die Gartenmöbel, auf denen man ausgezeichnet schlief, und daran, dass Johanssons darüber hinaus so umsichtig waren, in ihrem kleinen Freizeittraum einen Petroleumofen mit Kochplatte zu verwahren. Sibylla kannte die Gewohnheiten der beiden. Sie waren vor allem im Sommer hier. Wenn ihr das Glück hold bliebe, würde sie für eine Weile ihre Ruhe haben.
In dem Häuschen war es unbehaglich und feucht. Es hatte lediglich einen Raum von vielleicht zehn Quadratmetern, war aber trotzdem eines der größeren auf dem Areal. An der einen Wand standen ein Küchenschrank und ein kleines verzinktes Spülbecken. Sie öffnete den Unterschrank, um nachzusehen, ob der Eimer auf seinem Platz unter dem abgeschnittenen Abflussrohr stand.
Am Fenster standen ein kleiner Tisch für zwei Personen, vondem der Lack abgeblättert war, und rechts und links davon zwei ungleiche Stühle. Die geblümten Gardinen waren von Fliegenschiss gesprenkelt. Sibylla zog sie zu, nahm einen Messingleuchter aus dem Regal und zündete die Kerze an. Fröstelnd zog sie den Reißverschluss ihres Anoraks bis zum Kinn hoch und ging zu dem Petroleumofen. Der Tank war fast leer, und im Lauf des Nachmittags würde sie zur Tankstelle gehen und noch Brennstoff kaufen müssen. Nachdem sie den Ofen eingeheizt hatte, nahm sie eine Porzellanschale aus dem Schrank, legte die Äpfel und die Tomate darauf und stellte sie auf den Tisch. Das Leben hatte sie die kleinen Dinge des Daseins schätzen gelehrt, und deshalb machte sie es sich so schön wie möglich. Sie nahm ihren Schlafsack aus dem Rucksack und verteilte die dicken Polster auf dem Fußboden. Sie waren klamm, und deshalb breitete sie, bevor sie sich hinlegte, ihre Isomatte darüber.
Die Arme unter dem Kopf studierte sie die Paneele an der Decke und beschloss, das Grand Hotel zu vergessen. Niemand wusste, dass sie dort gewesen war, und es war unwahrscheinlich, dass sie herausbekommen würden, wer sie war.
In dieser Gewissheit geborgen und ohne eine einzige böse Vorahnung, sank sie langsam immer tiefer in den Schlaf.
Schon als sie dieses effiziente Klopfen an der Klassenzimmertür hörte, wusste sie, wer auf der anderen Seite stand. Sie war in der sechsten Klasse, sie hatten gerade Erdkunde und aller Augen richteten sich auf die geschlossene Tür.
« Herein!»
Die Lehrerin seufzte und ließ das Buch sinken, das sie in der Hand hielt. Beatrice Forsenström öffnete die Tür und trat ein.
Sibylla schloss die Augen.
Sie wusste, dass die Lehrerin die unangemeldeten Besuche ihrer Mutter genauso wenig mochte wie sie. Kleine Stippvisiten, die die Konzentration störten und stets in der Forderung nach einer Sonderbehandlung für Sibylla endeten.
Diesmal ging es um den Verkauf von Weihnachtsgarben. Einige Eltern hatten sich an einem Donnerstagabend getroffen, um Garben und Kränze zu binden, und die Schülerinnen und Schüler sollten nun damit von Tür zu Tür gehen, um Geld für die Klassenfahrt im Frühling zusammenzubekommen.
Beatrice Forsenström hatte nicht mitgemacht.
Kollektiver Elterneinsatz war nichts für sie, und einen ganzen Donnerstagabend herumzusitzen und sich mit bäuerlichen Albernheiten zu beschäftigen war weit unter ihrer Würde, und das galt für ihre Tochter wahrlich auch. Dass diese wie eine hergelaufene Bettlerin herumrennen und an fremde Türen klopfen sollte, das war völlig ausgeschlossen. Sie hatte den Zettel, den Sibylla aus der Schule mit nach Hause gebracht hatte, zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen.
«Wie viel wird denn jede Schülerin voraussichtlich bei diesem Verkauf an der Haustür einnehmen?»
Die Gereiztheit in Beatrice Forsenströms Stimme konnte niemand im Raum überhören.
Die Lehrerin stellte sich hinters Pult.
«Nun, das kommt darauf an», sagte sie. «Ich weiß nicht genau, wie viel wir erwarten können.»
«Sobald Sie es wissen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich informieren könnten. Meine Tochter wird an dem Verkauf nicht teilnehmen.»
Die Lehrerin sah Sibylla an. Diese senkte den Blick und sah in ihr Erdkundebuch, das aufgeschlagen auf der Bank lag: Niskan, Atran, Nissan, Lagan.
«Ich glaube aber, dass die Kinder es spannend finden», hörte sie die Lehrerin sagen.
« Das ist schon möglich. Aber für Sibylla trifft das nicht zu. Sie bekommen das Geld von mir, sobald ich weiß, um welche Summe es sich handelt.»
«Aber wir haben diese Initiative doch gerade ergriffen, damit die Eltern für die Klassenfahrt nicht extra Geld ausgeben müssen.»
Beatrice Forsenström blickte plötzlich zufrieden drein. Sibylla begriff, dass ihre Mutter die Lehrerin dazu gebracht hatte, genau die Worte zu sagen, auf die sie gehofft hatte, denn nun hatte sie einen Anlass, das auszusprechen, was sie von alldem wirklich hielt.
Sibylla schloss die Augen.
«Ich finde es bemerkenswert, muss ich sagen, dass die Schule solche Beschlüsse fasst, ohne dass alle Eltern ihre Meinung dazu äußern konnten. Es ist schon möglich, dass bestimmte Eltern diese Aktion für eine gute Notlösung halten, doch ich ziehe es vor, für mein Kind zu bezahlen, wenn es nötig ist. In Zukunft möchten ich und mein Mann gefragt werden, bevor Sie solche kollektiven Beschlüsse fassen.»
Die Lehrerin sagte nichts mehr.
Sibylla hörte, wie sich ihre Mutter umdrehte und ging.
Dabei hätte sie mit Erika gehen sollen. Die Lehrerin hatte sie paarweise eingeteilt, damit niemand abseits stehen musste. Sie hatte sich schon eine ganze Woche darauf gefreut.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, als auch schon der erste Einwand kam.
« Fräulein, ich finde es ungerecht, wenn Sibban nicht verkaufen muss.»
«Darf ich dann mit Susanne und Eva gehen?»
Erika klang hoffnungsvoll.
Torbjörn, der in der Bank vor Sibylla saß, drehte sich zu ihr um.
«Wenn du schon so reich bist, dann könnt ihr doch die ganze Klassenfahrt bezahlen?»
Sie spürte, dass es hinter ihren Lidern brannte. Nichts hasste sie so sehr, wie plötzlich alle Blicke auf sich gerichtet zu wissen.
«Hört her. Ich finde, wir machen jetzt Pause.»
Ein Gerappel scharrender Stühle. Als Sibylla das nächste Mal aufsah, befand sie sich allein im Klassenzimmer. Nur die Lehrerin stand noch hinter ihrem Pult.
Sie lächelte Sibylla sanft an und seufzte.
Sibylla spürte, wie ihr etwas aus der Nase lief, und sie musste hochziehen, damit nichts auf die Bank tropfte.
«Es tut mir leid, Sibylla, aber da kann ich wohl nichts machen.»
Sibylla nickte und senkte wieder den Kopf. Das Bild der Festung von Varberg bekam zwei Blasen, als ihr die Augen überliefen.
Die Lehrerin kam zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter.
«Wenn du willst, kannst du in dieser Pause hier drinnen bleiben.»
Als sie aufwachte, war sie matt. Sie musste etwas Unangenehmes geträumt haben. Ihr Hals fühlte sich zugeschwollen an und das Schlucken tat weh.
Der Ofen war ausgegangen und sie beschloss, Petroleum kaufen zu gehen. Ihre Jacke hatte sie bereits an und sie griff nach ihren Stiefeln. Die waren eisig und ihr kroch die feuchte Kälte an den Beinen hinauf. Sie hob den Rand der Gardine ein wenig und schaute hinaus. Die Häuschen ringsum schienen noch immer leer zu stehen. Auf dem Weg nach draußen schnappte sie sich einen Apfel und öffnete die Tür. Es regnete nicht mehr, aber der Himmel war so grau, dass man sich fragte, wie da überhauptLicht durchzudringen vermochte. Sie trat auf die Treppe hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
Der kleine Garten war gut auf den Winter vorbereitet worden. Man hatte keine Mühe gescheut, die Empfehlungen der Gartenbücher zu befolgen. Die welken Blumen waren alle zurückgeschnitten und auf dem Komposthaufen neben dem Zaun gelandet, und das Beet war teilweise mit Tannenreisern abgedeckt. Dort hatten wohl die empfindlichsten Schösslinge des Paares Johansson überwintert.
«Suchen Sie jemanden?»
Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Er stand in der Richtung, in die man vom Fenster ihres Häuschens aus nicht sehen konnte, auf der anderen Seite des Zauns und hielt ein paar Zweige in der Hand.
«Hallo. Oje, Sie haben mich vielleicht erschreckt!»
Er sah sie misstrauisch an. Sie wusste aus Erfahrung, dass sich im Eriksdalspark regelmäßig Süchtige aufhielten, und deshalb machte sie ihm keinen Vorwurf.
« Kurt und Birgit haben mich nur gebeten, für ein paar Wochen nach ihrem Häuschen zu sehen. Sie sind auf die Kanarischen Inseln gefahren.»
Sie trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand über den Zaun. Die Kanarischen Inseln waren vielleicht etwas hoch gegriffen? Aber jetzt war es zu spät, um es sich noch anders zu überlegen.
«Ich heiße Monika. Ich bin Birgits Nichte.»
Er ergriff ihre Hand und grüßte.
«Uno Hjelm. Entschuldigung, aber wir halten hier die Augen füreinander offen. Es treiben sich so viele merkwürdige Gestalten herum.»
«Ja, ich weiß. Darum haben sie mich auch gebeten, ein bisschen nach dem Rechten zu sehen.»
Er nickte. Sie sah, dass ihre Lüge auf fruchtbarem Boden gelandet war.
«Auf die Kanarischen Inseln sind sie also? Donnerwetter! Davon haben sie vorige Woche gar nichts gesagt.»
Nein, das glaube ich.
«Das kam ganz plötzlich. Sie haben eine billige Last-Minute- Reise erwischt.»
Er sah zum Himmel.
«Na, man kann nur hoffen, dass sie da unten besseres Wetter haben als hier. Nicht dumm, sich für ein Weilchen aus dem Staub zu machen.»
«Nein. Wahrlich nicht.»
Er versank in Reiseträume und sie nahm die Gelegenheit wahr, das Plauderstündchen zu beenden.
«Ich mache einen kleinen Spaziergang, komme aber bald wieder.»
«Ja, gut. Mal sehen, ob ich dann noch da bin. Ich denke, dass ich bald aufhören werde. Ich wollte nur herkommen und ein bisschen nach dem Rechten sehen.»
Sie nickte und ging auf die kleine Gartenpforte zu. Hoffentlich tauchten Kurt und Birgit während ihres Spaziergangs zu Statoil nicht auf.
Es könnte Herrn Hjelm verwirren.
Sie ging so schnell wie möglich. Auf dem Etikett des Schlafsacks stand, dass er bis zu fünfzehn Grad minus tauge, seit dem Nickerchen fröstelte sie aber trotzdem. Sie wünschte, sie hätte ein paar Paracetamol für ihren Hals. Vielleicht sollte sie zur Stadtmission gehen und um Tabletten bitten?
Sie war schon fast bei der Tankstelle, als es wieder zu regnen anfing. Es war mühsam, nasse Klamotten trocken zu kriegen, und das letzte Stück bis unters Dach legte sie im Laufschritt zurück. Sie wünschte, sie hätte für den Rückweg einen Regenschirm gehabt. Die Stadtmission musste bei diesem Wetter eben warten.
Neben den Türen der Tankstelle hingen die Nachmittagszeitungen aus, und sie warf im Vorbeigehen einen Blick darauf. Einer der Schlagzeilenaushänge war gelb und bestand aus neun Wörtern, die auf zwei Zeilen verteilt waren. Sie blieb stehen.
Das Opfer des bestialischen Mordes. Polizei sucht mysteriöse Frau.
Unter der Schlagzeile war ein Bild, und es bestand kein Zweifel, wen es darstellte.
Es war Jörgen Grundberg.
Musst du gerade jetzt damit anfangen?», fragte Beatrice Forsenström. «Zieh lieber dein Kleid an.» Sibylla saß in Unterwäsche auf dem Bett. Sie hatte sich ein Herz gefasst und die Gelegenheit mit Sorgfalt gewählt. Sollte es je einen Moment geben, in dem ihre Mutter möglicherweise nachgeben würde, dann unmittelbar bevor sie sich zur alljährlichen Weihnachtsfeier aufmachten. Da war sie immer guter Laune. Erwartungsvoll und aufgedreht rauschte sie durchs Haus, damit alle perfekt würden. Es war eine der Gelegenheiten im Jahr, da sie ihren Status wirklich herzeigen und genießen konnte, und das war in dem kleinen Hultaryd nicht immer so leicht.
« Bitte, Mama, darf ich nicht doch bei dem Verkauf mitmachen? Wenigstens an einem Tag.» Sie legte den Kopf schräg, um besonders flehentlich auszusehen. Vielleicht würde es ihre Mutter dazu bewegen, in diesem erwartungsfrohen Moment Gnade vor Recht ergehen zu lassen und ihren Wunsch zu erhören.
«Zieh die schwarzen Schuhe an», erwiderte sie und ging zur Tür.
Sibylla schluckte. Sie musste es noch einmal versuchen.
«Liebe ...?»
Beatrice Forsenström blieb auf dem Weg zur Tür stehen und drehte sich um. Sie hatte die Stirn gerunzelt und sah ihre Tochter an.
«Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Meine Tochter hat es nicht nötig, herumzurennen und zu betteln, um an einer Klassenfahrt teilnehmen zu können. Falls du an dieser Klassenfahrt überhaupt teilnehmen möchtest, dann bezahlen ich und Vater für dich. Und da finde ich wahrlich, dass du lieber ein wenig Dankbarkeit zeigen solltest, statt ausgerechnet dann einen Auftritt zu inszenieren, wenn wir uns auf den Weg zu Vaters Weihnachtsfeier machen wollen.»
Sibylla blickte zu Boden und ihre Mutter verließ das Zimmer.
Das bedeutete, dass die Diskussion beendet war. Ein für alle Mal. Als ob es je eine gegeben hätte. Dass sie die Entscheidung ihrer Mutter überhaupt in Frage gestellt hatte, war schon reichlich aufmüpfig gewesen und sie wusste, dass sie dafür im Laufe des Abends noch würde büßen müssen. Jetzt hatte sie es geschafft, ihrer Mutter die gute Laune zu verderben, und das tat man nicht ungestraft.
Das verhieß nichts Gutes. Es war schon schlimm genug, so wie es war.
Die alljährliche Weihnachtsfeier bei Forsenströms Metall & Schmiede war ein Ereignis, das von Sibylla ebenso heiß ersehnt wurde wie eine bevorstehende Wurzelbehandlung. Es war die Gelegenheit für Direktor Forsenström und seine Frau, ihre Güte zu zeigen, indem sie für das Personal und dessen Familien eine Feier ausrichteten. Dass Sibylla dabei sein würde, war selbstverständlich, und ebenso selbstverständlich hatte sie einen Platz an der Ehrentafel auf dem kleinen Podest im Versammlungssaal der Gemeinde. Dort durften keine Kinder sitzen, außer ihr natürlich.