Alle anderen Kinder und Jugendlichen hatten einen eigenen Tisch - und bei den Weihnachtsfeiern war der Abstand zwischen ihnen und ihr größer denn je.
Das Kleid lag wie ein Hohn auf dem Bett. Ihre Großmutter hatte es in irgendeinem feinen Geschäft in Stockholm gekauft, und darum zu bitten, es zu der Weihnachtsfeier nicht anziehen zu müssen, war Sibylla gar nicht erst in den Sinn gekommen. Dass sie zwölf war und alle anderen Mädchen Jeans und Fruit-of-the- Loom-Pullis mit V-Ausschnitt tragen würden, darauf konnte man nun wirklich keine Rücksicht nehmen. Sie würde neben ihren Eltern dort auf ihrem Podest sitzen und über die Leute hinwegblicken.
Sie zog sich das Kleid über den Kopf und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Brust, die endlich zu wachsen begonnen hatte, wurde gehörig platt gedrückt.
Der Abend würde furchtbar werden.
«Und außerdem nimmst du die blauen Haarspangen», rief ihre Mutter. « Gun-Britt kann dir helfen, sie ins Haar zu stecken.»
Akkurat steckten die beiden Haarspangen in ihrem Haar, als sie eine Stunde später auf ihrem Platz zwischen dem Verkaufschef und seiner übel riechenden Frau saß. Sie schielte zum Jugendtisch hinüber, während sie artig die schmeichlerischen Fragen ihrer Tischnachbarn, wie es ihr in der Schule gehe, beantwortete. Sie merkte, dass ihre Mutter in regelmäßigen Abständen zu ihr hersah, und sie fragte sich, auf welche Weise diese ihre Missbilligung über die Aufsässigkeit zum Ausdruck bringen würde.
Sie musste bis zum Dessert warten, um es zu erfahren.
« Sibylla. Du singst uns doch etwas vor?»
Unter ihrem Stuhl tat sich ein Loch auf.
«Aber Mama, muss ich wirklich ...»
«Nun. Nimm doch eins von den vielen Weihnachtsliedern, die du kannst.»
Der Verkaufschef lächelte ermunternd.
«Ein Weihnachtslied wäre wirklich schön. Kannst du Glanz über See und Strand ?»
Sie wusste, dass sie in der Falle saß. Da war nichts zu machen. Sie sah sich am Tisch um. Aller Augen waren erwartungsvoll auf sie gerichtet. Irgendjemand klatschte in die Hände, und rasch verbreitete sich die Information im Saal, dass Sibylla Forsenström singen werde. Alle Gesichter am Jugendtisch wandten sich zu dem kleinen Podest um, und es erhob sich ein spontaner Sprechchor, der sie dazu bewegen sollte, sich zu erheben.
«Sibylla! Sibylla! Sibylla!»
«Müssen wir dich noch mehr drängen?», fragte ihre Mutter. «Du siehst doch, alle warten.»
Sie schob langsam ihren Stuhl zurück und stellte sich hin. Das Gemurmel im Saal legte sich und sie holte Luft, um es hinter sich zu bringen.
«Wir sehen nichts», rief jemand am Jugendtisch. «Stell dich auf den Stuhl!»
Flehentlich sah sie ihre Mutter an, aber die winkte nur leicht mit der Hand, zum Zeichen, dass sie damit einverstanden war.
Ihr schlotterten die Knie und sie fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren. Sie sah zum Jugendtisch hinüber und über das höhnische Grinsen dort gab es kein Vertun. Dies würde der Höhepunkt der Feier werden.
Sie holte noch einmal Luft und begann mit zitternder Stimme zu singen. Schon nach der ersten Zeile merkte sie, dass sie viel zu hoch angefangen hatte. Die hohen Töne am Ende würde sie unmöglich treffen. Und so war es auch. Ihr versagte die Stimme, und das Gekicher im Saal traf sie wie Peitschenhiebe. Mit blutrotem Kopf setzte sie sich wieder auf den Stuhl, und nach kurzem Zögern begann der Verkaufschef zu applaudieren. Schließlich gelang es ihm nach einem gewissen Schwanken, auch die anderen mitzuziehen. Sibylla fing über den Tischden Blick ihrer Mutter auf und sie sah, dass die Bestrafung zu Ende war.
Jetzt würde sie in Ruhe gelassen werden.
Auf dem Heimweg war ihr Vater glücklich und zufrieden über die gelungene Veranstaltung. Seine Frau nickte ermunternd und hakte sich bei ihm ein. Sibylla ging ein paar Schritte hinter ihnen und war gerade stehen geblieben, um einen schönen Stein aufzuheben. Ihre Mutter drehte sich um.
«Es war doch wirklich gut, zum Schluss noch zu singen.» Der eigentliche Sinn dieser Worte war ihnen beiden klar. Die Mutter beendete ihre Zurechtweisung. «Schade nur, dass es am Ende nicht mehr so ganz klappte.» Sibylla ließ den schönen Stein liegen.
Verdammter Mist, das war das Erste, was ihr durchs Hirn schoss. Dabei hatte er doch so einen perfekten Eindruck gemacht. Jetzt wurde ihr klar, dass sie auf einer Zeitbombe saß. Selbstverständlich interessierte sich die Polizei ganz besonders für die Frau, mit der er gegessen und der er dann so gentlemanlike zu einem Hotelzimmer verholfen hatte. Dass diese mysteriöse Frau, hinter der die Polizei her war, eine andere als sie sein sollte, war genauso wahrscheinlich wie der Fall, dass ihr jemand auf der Straße nachgelaufen käme und sie fragte, ob sie im Schärengarten von Stockholm ein Häuschen mit weißen Ecken übernehmen wolle.
Ihre erste Empfindung war Wut. Ohne zu zögern betrat sie die Tankstelle, riss eine der Zeitungen an sich und schlug den Mittelteil auf.
Mörder schändete sein Opfer.
Vier Wörter in schwarzen Lettern. Die eine Seite wurde voneinem Bild Jörgen Grundbergs eingenommen, der breit in die Kamera lächelte.
Unbestätigten Angaben zufolge hat der Mörder den Leib des Opfers aufgeschnitten und innere Organe entnommen. Außerdem soll am Tatort ein religiöses Symbol hinterlegt worden sein. Die Polizei vermutet deshalb, dass es sich um einen Ritualmord handelt.
«Scheußlich, was?»
Sibylla sah auf. Der Mann hinter der Kasse nickte in Richtung Zeitung, um deutlich zu machen, was er meinte. Sie nickte.
«Acht Kronen ... Oder darf es sonst noch was sein?»
Sie zögerte. Acht Kronen waren viel Geld für ein wenig Papier. Sie zählte die Münzen in ihrer Tasche durch.
«Petroleum.»
Der Mann zeigte auf ein Regal, und sie folgte seinem Zeigefinger und holte eine Flasche.
Nach dem Bezahlen hatte sie noch neunzehn Kronen übrig.
Hjelm war fort, als sie zurückkam. Sie knallte die Tür hinter sich zu und schlug die Zeitung auf. Nach nur vier Zeilen wusste sie, dass sie die Gesuchte war.
Wer war die mysteriöse Frau, mit der Jörgen Grundberg am gestrigen Abend im Französischen Saal gesehen worden war und die heute Morgen die Absperrungen der Polizei durchbrechen konnte? Sachdienliche Hinweise nehme die Fahndungszentrale der Polizei entgegen. Die Nummer war gewissenhaft angegeben.
Sie bekam ein scheußliches Gefühl im Bauch und brauchte nur wenige Sekunden, um es zu identifizieren.
Sie fühlte sich bedroht.
Was sollte sie machen? Vielleicht wäre es das Einfachste, unter dieser Nummer anzurufen und zu sagen, dass sie mit der Sache nichts zu tun habe, aber dann müsste sie sich zu erkennen geben und das wäre nicht gut. Sie brauchten nur ihre Personennummerin den nächstbesten Computer einzugeben, um herauszufinden, dass sie kaum existierte. Es wäre die beste Art, deren Neugier zu wecken, und das Einzige, was sie im Leben wollte, war, ihre Ruhe zu haben. Und selbst für sich zu sorgen. Das hatte sie jetzt fast fünfzehn Jahre lang getan, und bisher hatte niemand nach ihr gefragt.
Ihre kleinen Gesetzesübertretungen wollte sie ebenfalls für sich behalten. Sie hatten selten jemand Armes getroffen, und sie war kein schlechter Mensch. Sie war lediglich eine, die noch nie in die allgemein akzeptierten Normen gepasst hatte und nun schon so lange außerhalb dieser Normen lebte, dass sich daran nichts mehr ändern ließ.
Sie hatte keinen Platz im System.
Sie versuchte lediglich zu überleben. Unter ihren eigenen Bedingungen. Das, was die Zeitungen aus ihrer Lebensgeschichte machen könnten, übertraf alles, was sie sich auszumalen vermochte. Sie war nicht gerade stolz darauf, aber der Teufel sollte denjenigen holen, der darüber irgendwie urteilen oder sich da einmischen wollte. Niemand, der nicht dabei gewesen war, würde verstehen, warum alles so gekommen war, wie es eben gekommen war. Aber es war nun einmal so, und jetzt galt es, aus der Situation das Beste zu machen. Wer könnte das schon verstehen? Schließlich war sie doch mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen!
«Aber Henry, ich kann sie nicht dorthin mitnehmen. Du weißt doch, wie es das vorige Mal war.»
Beatrice Forsenström wollte ihre Mutter und die Tanten in Stockholm besuchen. Direktor Forsenström hatte nicht viel für diese Damen übrig, und das beruhte auf Gegenseitigkeit, deshalb fuhr Sibyllas Mutter normalerweise allein. Vielleicht hatte sie ihren Vater wirklich aus Liebe geheiratet. Jedenfalls aber gegen den Willen ihrer Eltern. Forsenströms Metall & Schmiede in zwei-ter Generation war der Familie Hall, wie sie da auf Östermalm residierte, nicht fein genug. Neureicher bleibt Neureicher, und das, was zählte, waren Ahnen. Solches Blut wollte man in der Familie haben. Und was, um alles in der Welt, sollte ihre Tochter in Hul- taryd anfangen! Diesem Nest im smaländischen Hochland. Aber mach, was du willst. Komm nur nicht und beklage dich, wenn wir Recht behalten!
All das war Sibylla klar geworden, als sie bei ihrer Großmutter in Stockholm mit am Tisch gesessen und diese mit ihrer Tochter hatte sprechen hören. Sie hatte überdies begriffen, dass die Großmutter missvergnügt, wenn auch nicht besonders verwundert darüber war, dass Beatrice und ihr Mann so lange gebraucht hatten, ein Kind in die Welt zu setzen. Und überhaupt, wie sah das eigentlich aus? Beatrice war bereits sechsunddreißig, als Sibylla geboren wurde!
Ihre Großmutter hatte die unübertreffliche Fähigkeit besessen, mit Hilfe versteckter Anklagen und Unterstellungen ihren Standpunkt deutlich zu machen. Eine Gabe, die sich in direkter Linie weitervererbt hatte. Als Erwachsene hatte Sibylla sich schon manchmal gefragt, ob sie diese Fähigkeit wohl auch besitze und nur noch nie die Gelegenheit gehabt habe, sie zu nutzen.
Jetzt war sie elf Jahre alt, saß unbemerkt auf der Treppe und belauschte das Gespräch ihrer Eltern.
«Die Cousinen und Cousins verstehen kaum, was sie sagt. Sie lachen über sie. Dem kann ich sie nicht aussetzen.»
Henry Forsenström sagte nichts darauf.
Womöglich las er gerade in seinen Papieren.
«Sie spricht ja einen breiteren Dialekt als das schlimmste Arbeitergör!», fuhr ihre Mutter fort.
Sie hörte ihren Vater seufzen.
«Das ist doch nicht verwunderlich», erwiderte er in noch breiterem Smaländisch. «Sie ist schließlich hier aufgewachsen.»
Beatrice Forsenström schwieg eine Weile. Obwohl Sibylla sie nicht sehen konnte, wusste sie genau, wie ihre Mutter in diesem Moment aussah.
«Ich halte es jedenfalls für das Beste, wenn sie zu Hause bleibt... Da kann ich auch die Gelegenheit wahrnehmen und ein wenig ausgehen. Mama hat gesagt, am nächsten Freitag sei Premiere von La Traviata.»
«Natürlich. Mach nur, was du willst.»
Und das tat ihre Mutter auch.
Sibylla hatte nie wieder nach Stockholm reisen dürfen, und als sie das nächste Mal dorthin kam, geschah es unter völlig anderen Umständen.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, spürte sie im ganzen Körper, dass etwas nicht stimmte. Sie fühlte sich in dem Häuschen eingeschlossen und wollte weg. Der Ofen war ausgegangen und sie fror, aber zum Glück ging es ihrem Hals etwas besser. Am Abend zuvor hatte sie schon befürchtet, dass sie eine Mandelentzündung bekommen haben könnte, eine Mandelentzündung, die mit Penizillin behandelt werden müsste. Es war nicht leicht, ohne Patientenkärtchen zum Arzt zu gehen, und sie wäre dankbar, wenn es sich vermeiden ließe.
Besonders jetzt, da sie womöglich nach ihr suchten.
Außerdem war sie hungrig. Sie aß ihr letztes Brot, hatte aber nichts zu trinken. Die Cola hatte sie zum Abendessen ausgetrunken. Die Tomate und der letzte Apfel durften das Frühstück abrunden.
Sie machte sich daran, ihre Sachen zusammenzupacken. Sorgfältig räumte sie den Messingleuchter und die Schale weg, in die sie ihre Früchte gelegt hatte. Nachdem sie die Polster weggepackt hatte, sah sie sich um, ob alles seine Ordnung hatte, schwang sichden Rucksack auf die Schultern und öffnete die Tür. Die Hand noch auf der Klinke, zögerte sie.
Angst war ein Gefühl, das sie schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte.
Der Rucksack glitt ihr wieder von den Schultern und sie machte die Tür zu.
Verdammt noch mal. Reiß dich jetzt zusammen!
Sie zog einen der Sprossenstühle heran, sank darauf nieder und barg den Kopf in den Händen. Weinen, damit hatte sie aufgehört. Vor langem schon hatte sie eingesehen, dass es nichts half. Ließ man sie nur in Ruhe und ließ man sie nur für sich selbst sorgen, glaubte sie nicht einmal einen Grund dafür zu haben. Nur einen einzigen. Aber der war so tief in ihrer Seele verborgen, dass der Schmerz selten nach außen drang. Das Essen für den Tag war es, was ihre Gedanken beschäftigte. Und wo sie die nächste Nacht verbringen würde. Alles andere musste hintanstehen.
Und dann hatte sie ja das Geld.
Sie legte die Hand auf die Brust, wo, unter ihrer Kleidung verborgen, 29385 geheiligte Kronen in einem Brustbeutel steckten.
Bald hatte sie genügend beisammen. Sie würde damit einmal das Ziel erreichen, für das sie in den vergangenen fünf Jahren gekämpft hatte und das ihr die Kraft zum Weitermachen gegeben hatte. Der Entschluss, einen ernsthaften Versuch zu unternehmen, ihr Leben zu verändern. Weiterzukommen. Ein Häuschen mit weißen Ecken. Irgendwo ein eigenes Heim, wo sie ihre Ruhe hätte und so leben könnte, wie sie es wollte. Vielleicht Gemüse anbauen. Ein paar Hühner haben. Wasser könnte sie aus dem Brunnen holen. Es war kein Luxus, wovon sie träumte, bloß eigene vier Wände, zu denen außer ihr niemand Zutritt hätte.
Einfach Ruhe.
Sie hatte gesehen, dass 40 000 reichten, wenn man sich vorstellen konnte, irgendwo auf dem Lande abseits der großen Straßen und ohne Strom und fließendes Wasser zu leben.
Und von genau solch einem Ort träumte sie.
In Norrland oben wäre es sicherlich möglich, noch billiger wegzukommen, aber sie fürchtete, mit den langen Wintern nicht zurechtzukommen. Lieber kämpfte sie noch ein bisschen weiter.
In den vergangenen fünf Jahren hatte sie von dem Gnadengeschenk ihrer Mutter jeden Monat so viel wie möglich beiseite gelegt. Und war das Geld erst in dem Brustbeutel gelandet, dann existierte es nicht mehr. Mochte sie noch so hungrig sein.
Noch ein paar Jahre, dann hätte sie genügend beisammen.
Sie holte die Scheine hervor und legte sie sternförmig vor sich auf den Tisch. Sie ging immer zur Bank und tauschte die neu hinzugekommenen gegen frische und glatte ein.
Die ihre Mutter noch nicht angefasst hatte.
Nachdem sie die Scheine ein Weilchen betrachtet hatte, fühlte sie sich wieder besser. Es half wie gewöhnlich. Der nächste Schritt, ihren Kampfgeist wiederzugewinnen, war ein Besuch bei der Schwedischen Immobilienvermittlung. Man musste über die Immobilienpreise schließlich auf dem Laufenden bleiben.
Sie sammelte ihr Geld wieder ein, steckte es in den Brustbeutel zurück, schob, den Rucksack geschultert, den Stuhl unter den Tisch und trat leichteren Schrittes aus der Tür.
Sie kam bis zur Ringstraße. Als sie am Zeitungskiosk den aktuellen Aushang sah, fiel wieder alle Hoffnung von ihr ab.
Jetzt galt es nicht mehr, nur den Tag zu überleben.
Jetzt galt es zu fliehen.