Als sie halb über dem Hof war, hörte sie jemanden rufen. Erschrocken blieb sie stehen und schaute sich nach einem Versteck um.

«Sylla! Warte!»

Da entdeckte sie ihn. Er tauchte hinter der Ecke zur Bonde- gatan auf und kam auf sie zugerannt. Sie blickte auf den Asphalt hinunter und wartete, bis er da war. Zuerst sagte er nichts. Sie ging weiter.

«Verzeih, dass ich dir nicht geglaubt habe, aber ich habe eine Mordsangst gekriegt.»

Sie drehte sich um. Ein neuer Ausdruck lag in seinen Augen. Ein Ernst, der vorher nicht da gewesen war. Patrik war außer Atem und sah zu Boden, als ob er sich für seine Angst schämte.

«Ist schon okay.»

Sie ging weiter.

«Ich weiß, dass du die Wahrheit sagst», fuhr er fort.

Sie blieb nicht stehen. Sie schaffte es einfach nicht, noch einmal anzufangen. Er holte sie ein.

«Sylla. Ich habe beim Konsum die Aushänge gesehen.»

Sie drehte sich um und sah ihn an. Er zögerte ein wenig, und jetzt war es eindeutig er, der nach den passenden Worten suchte.

« Die glauben offensichtlich, dass du heute Nacht wieder jemand umgebracht hast.»

Bist du ganz sicher, dass er schläft?» «Ja», erwiderte er ungeduldig. «Er hat doch die ganze Nacht über gearbeitet. Vor eins wacht er nie auf.»

Ihr war trotzdem nicht wohl zumute. Was würde geschehen, wenn sein Vater aufwachte und eine schwarzhaarige Frau mit Rucksack im Zimmer seines Sohnes fände? Noch obendrein eine, die alt genug war, seine Mutter zu sein.

Sie standen bei Patrik im Treppenhaus und er hatte bereits den Schlüssel ins Schloss gesteckt. Sie unterhielten sich im Flüsterton.

«Und du bist dir sicher, dass deine Mutter nicht nach Hause kommt?»

«Sie wird nicht vor morgen Abend zurück sein.»

Sibylla war trotzdem alles andere als überzeugt.

War es wirklich richtig, ihn in die Sache mit hineinzuziehen?

Nachdem er da unten auf dem Schulhof von dem neuen Aushang berichtet hatte, hatte sie sich auf die nächste Bank gesetzt. Dort saß sie dann, starrte über den verlassenen Hof und merkte, wie sie erneut den Mut verlor.

Er kam nach. Sagte zunächst nicht viel, sondern ließ sie in Ruhe. Sie sah zu der großen Uhr an der Fassade vor ihnen hinauf und wünschte, sie wäre vor ein paar Tagen ihrem Instinkt gefolgt.

Es wäre besser gewesen, wenn sie diesen Dachboden nie verlassen hätte.

«Ich kann der Polizei ja sagen, dass du heute Nacht mit mir zusammen warst.»

Er sah sie hoffnungsvoll an. Schien zu wollen, dass sie wieder frohen Mutes wurde.

Sie aber schnaubte. Es hörte sich garstiger an als beabsichtigt und sie versuchte ihn anzulächeln.

« Dann bin ich wahrscheinlich auch noch wegen Kindesraubs dran.»

«Ich bin immerhin schon fünfzehn», bemerkte er säuerlich.

Was sollte man darauf sagen?

«Ich habe keine Chance, Patrik. Ich kann also genauso gut hingehen und ein Geständnis ablegen, damit die Sache ein Ende hat.»

Er starrte sie an.

«Spinnst du?»

Er regte sich richtig auf.

«Mann, du kannst doch nicht hingehen und etwas gestehen, was du nicht getan hast!»

«Was soll ich denn machen?»

Er dachte eine Weile nach.

« Du kannst vielleicht einfach nur mit ihnen reden.»

« Das ist doch dasselbe.»

« Das ist nicht dasselbe.»

Sie sah ihn an.

«Begreifst du denn nicht? Sie haben alle schon beschlossen, dass ich die Mörderin bin. Ich habe nicht die geringste Chance.»

Sie beugte sich vor und stützte den Kopf in die Hände.

«Die Sache ist nur, dass ich nicht damit fertig werde, eingesperrt zu sein», sagte sie leise.

«Das wirst du auch nicht, wenn du sagst, wie es ist.»

Diesmal klang er schon nicht mehr so überzeugt.

Sie erzählte ihm von Jörgen Grundberg. Von den Fingerabdrücken, die auf seinem Schlüssel gefunden worden waren, von der Perücke und dem Messer, die sie zurückgelassen hatte. Von all den Dingen, die sie zusammen mit ihrem Hintergrund zur perfekten Täterin machten. Eine ehemalige Geisteskranke, obdachlos und ohne soziale Einbindung. Alles passte so perfekt, dass sie vor sich sehen konnte, wie man sich bei der Polizei die Hände rieb. Ganz klar, dass sie es sein musste. Und selbst wenn sie zu guter Letzt einsähen, dass sie unschuldig war, würden sie sie bis dahin einsperren. Das würde sie in den Wahnsinn treiben. Dort war sie schon einmal gewesen, sie wusste also, wovon sie sprach.

«Und dann hat sich der Mörder ja auch noch an mich angehängt. Bei dem Mord in Västervik hat er ein Bekennerschreiben mit meinem Namen hinterlassen.»

Er nickte leicht.

«In Bollnäs auch.»

Sie sah ihn an.

«War das dort, wo er heute Nacht zugeschlagen hat?»

«Nein. Vorgestern, glaube ich. Wo das heute Nacht war, weiß ich nicht.»

Sie lehnte sich zurück und legte den Kopf auf den Rucksack.

Vorgestern. Es war also noch ein weiteres Mal passiert, während sie sich da oben auf dem Dachboden versteckt gehalten hatte. Jetzt wurde sie verdächtigt, vier Morde begangen zu haben.

Er sah sie an.

«O je. Du wusstest das gar nicht?»

Sie seufzte.

«Nein.»

Für eine Weile schwiegen sie beide. Vielleicht sah er ein, dass es gar nicht so einfach war.

«Ich weiß», sagte er schließlich. «Wir gehen zu mir nach Hause und checken alles durch, was in den Zeitungen darüber geschrieben wurde.»

«Wie, zu dir nach Hause?»

«Wir checken das Netz durch.»

Sie hatte in der Zeitung davon gelesen. Internet. Diese phantastische neue Welt, die sie noch nie besucht hatte. Sie war skeptisch, sowohl was jene Welt als auch die Einladung nach Hause zu diesem hilfsbereiten Fünfzehnjährigen betraf.

«Wozu soll das gut sein?»

«Vielleicht finden wir etwas, was beweist, dass du es nicht warst. Hast du alles gelesen, was darüber geschrieben wurde?»

«Nein.»

Er stand auf.

«Nun komm schon!»

Sie hatte noch einen Moment gezögert.

Was war denn die Alternative?

Sie traten in die Diele. Sibylla kam sich wie eine Einbrecherin vor, und ihr Herz klopfte heftig in der Brust.

«Komm», wisperte er.

Geradeaus befand sich eine geschlossene Tür mit einem Metallschild. Betreten auf eigene Gefahr.

Wie wahr!

Sie ging an einem Durchgang zu einem geräumigen Wohnzimmer und dann an einer geschlossenen Tür vorbei. Patrik legte den Zeigefinger auf die Lippen, um deutlich zu machen, dass sein Vater da drinnen schlafe.

Sie wollte umkehren. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Patrik hatte jedoch die Tür zu seinem Zimmer geöffnet und stand da und winkte sie herein.

Sie tat, was er wollte.

Das Zimmer sah aus, als ob ein heftiger Sturm darin gewütet hätte. Der Fußboden war mit Klamotten, alten Comics, Kassettenhüllen und Büchern übersät.

Sibylla stellte ihren Rucksack in diesem Chaos ab.

Sie sah Patrik an.

«Ich hatte meiner Mutter versprochen aufzuräumen, aber ich habe es vergessen.»

«Das sehe ich.»

Sie flüsterten nach wie vor.

Er ging zu seinem PC, der auf dem Schreibtisch stand, und drückte auf einen Knopf. Ein Melodieschnörkel erklang und Sibylla bat ihn, leiser zu machen. Der Computer begann zu arbeiten.

Sie sah sich um. Außer dem Schreibtisch mit dem PC und weiterem Zubehör gab es in dem Zimmer ein Bett und ein Bücherregal. Das Bett war nicht gemacht, und als sie dorthin guckte, breitete er eine Tagesdecke darüber. Gleich wirkte das Zimmer ein bisschen aufgeräumter.

Der Computer arbeitete stetig weiter. Auf dem Bildschirm tauchten immer mehr Symbole auf, und Patrik zog den Schreibtischstuhl heraus und setzte sich.

Am Fenster stand ein Aquarium ohne Wasser und Sibylla ging hin, um es sich anzusehen.

« Das ist Batman. Eine griechische Landschildkröte.»

Batman knabberte in einer Ecke an einem Salatblatt und Sibylla begutachtete ihn interessiert. Er saß mit seinem kleinen Hirn in seinem kleinen Glaskasten und kannte es nicht anders. Einen Moment lang war sie fast neidisch.

Patrik tippte etwas auf der Tastatur. Sie trat einen Schritt näher, um es zu lesen.

+ritualmord+sibylla

Er zog den Pfeil auf Suchen und klickte.

Sie konnte hören, wie der Computer arbeitete, um zu tun, was Patrik wünschte. Ein paar Sekunden später hatte er die Suche abgeschlossen.

67 Treffer.

«Bingo!»

Patrik strahlte übers ganze Gesicht.

«Was heißt das?»

« Dass es siebenundsechzig Seiten gibt, auf denen man etwas über dich und die Morde lesen kann.»

Konnte das wirklich wahr sein? Sie war also ein Teil dieser Welt geworden, von der sie gar nichts wusste.

Patrik klickte auf eine der Schlagzeilen.

«Ich drucke alles aus, was ich finde, dann können wir es in aller Ruhe lesen.»

Sie verstand nicht ganz, was das bedeutete, verließ sich aber darauf, dass er wusste, was er tat. In einer zweiten Maschine, die auf dem Tisch stand, begann es zu surren und kurz darauf gab sie ein Blatt Papier von sich. Es lag mit dem Text nach unten. Sibylla konnte ihn erst lesen, als das Blatt ganz herausgekommen war.

Sie nahm es und setzte sich damit aufs Bett. Patrik klickte wieder und die zweite Maschine surrte erneut, um noch mehr Papier von sich zu geben.

Sibylla begann die Seite zu lesen, die sie in der Hand hielt. Frau aus dem Grand macht überfallartigen Besuch bei der Ehefrau des Opfers.

Lena Grundberg kauert in ihrem gemütlichen Wohnzimmer in einer Sofaecke. Bis vor einer guten Woche lebte sie hier mit ihrem geliebten Gatten Jörgen. Vorigen Donnerstag wurde er das erste Opfer, das eine 32-jährige geisteskranke Frau kaltblütig ermordete. Trotz intensiver Fahndung der Polizei fehlt von der Frau seitdem jede Spur. Nur zwei Tage nach dem bestialischen Mord stattete sie der gebrochenen Witwe einen Besuch ab.

Wenn Lena davon erzählen soll, kann sie nur mühsam die Tränen zurückhalten.

— Ich habe solch fürchterliche Angst. Die Frau klingelte einfach an der Tür und sagte dann, dass sie auch ihren Mann verloren habe. Mir war nicht klar, was sie eigentlich wollte, aber als ich das Phantombild der Polizei dann sah, erkannte ich sie ja ...

Sibylla las nicht weiter. Die gebrochene Witwe. Für'n Arsch!

Es lagen nun mehrere Blätter da, die darauf warteten, gelesen zu werden. Sie nahm den ganzen Stapel und setzte sich wieder. Anatomische Kenntnisse bei Ritualmördern üblich.

Die 32-jährige Frau, gegen die nach mehreren Ritualmorden ringsum im Land in Abwesenheit Haftbefehl erlassen wurde, verblüfft die Polizei. Eine Statistik sämtlicher ähnlicher Morde, die seit den 60er Jahren in Schweden begangen wurden, belegt, dass unter den Tätern Berufsgruppen wie Metzger, Arzte, Jäger und Veterinäre überdurchschnittlich vertreten sind. Laut Sten Bergman, Professor für Forensische Psychiatrie, beruht dies teils darauf, dass sie den Abscheu überwunden haben, den die meisten Menschen vor einer Zerstückelung empfinden, teils darauf, dass sie die notwendigen rein technischen Kenntnisse besitzen. Hierin entspricht den polizeilichen Nachforschungen zufolge die 32-jährige Frau nicht der Statistik. In den polizeilichen Ermittlungen deutet nichts darauf hin, dass sie Verbindung zu oder Erfahrung in den oben genannten Berufen gehabt hat. Aber es bedarf natürlich noch weiterer Umstände, um einen potenziellen

Mörder und Leichenschänder hervorzubringen: ein psychischer Defekt, der mangelndes Einfühlungsvermögen und starke Verachtung anderen Menschen gegenüber zur Folge hat. Schwere psychische Krankheiten können so ein Verhalten ebenfalls auslösen. In einigen Fällen können die Täter sich z. B. nicht von ihren Opfern trennen, was auf die 32-jähr ige Frau zuzutreffen scheint. Sie wollen eine Trophäe behalten, die an den Toten und in manchen Fällen an die Tat selbst erinnert. Das vermittelt ihnen das Gefühl, Macht zu haben über Leben und Tod. Die Opfer der Frau sind alle einer sog. aggressiven Zerstückelung ausgesetzt gewesen, die sich von der passiven Zerstückelung dadurch unterscheidet, dass diese später ausgeführt wird, um das eigentliche Verbrechen zu kaschieren und die Ermittlungen zu erschweren. Bei den aktuellen Fällen wurden solche Anstrengungen nicht unternommen, die Absicht der Frau scheint vielmehr allein die Schändung ihrer Opfer gewesen zu sein. Die Polizei hält nach wie vor Angaben darüber zurück, welche Körperteile die Frau ...

Sie stand auf und warf die Blätter auf den Boden.

«Ich kriege das nicht auf die Reihe. Mehr kann ich davon nicht lesen.»

Sie hatte die Stimme erhoben, und Patrik drehte sich um und sah sie an. «Ruhe!»

Sie setzte sich wieder. Die Maschine gab immer noch Papier von sich, aber Sibylla wollte nichts mehr lesen. All das hatten irgendwelche Leute über sie geschrieben. Niemand hatte sich je zuvor für sie interessiert, und jetzt war sie mit einem Mal die meisterörterte Person Schwedens.

Es war zum Kotzen.

«Ich hau jetzt ab. Ich kann nicht hier bleiben.»

Er drehte sich um und sah sie an.

«Wo willst du denn hin?»

Sie seufzte und gab keine Antwort.

In der Wohnung wurde eine Tür geöffnet und sie sahen sich erschrocken an. Sie saßen mucksmäuschenstill und horchten. Gleich darauf hörten sie Wasser rauschen. Sibylla sah sich nach einem Versteck um.

«Er muss wohl nur aufs Klo», flüsterte Patrik beruhigend.

Sie war jedoch alles andere als ruhig. Als das Wasser zu rauschen aufhörte, warf sie sich auf den Boden und robbte unters Bett. Im nächsten Moment klopfte es an der Tür.

« Patrik?»

Er antwortete nicht. Sibylla sah seine Füße auf dem Bett verschwinden, und im nächsten Augenblick ging die Tür auf. Ein Paar nackter, behaarter Beine trat ein.

«Schläfst du?»

«Mmmm.»

«Es ist nach elf Uhr.»

Plötzlich hörte sie ein Surren und das Rascheln von einem nachzüglerischen Blatt Papier, das die Maschine auf dem Schreibtisch von sich gab.

«Was ist das?»

Die dunkel behaarten Beine kamen ein paar Schritte näher. Im nächsten Moment landeten Patriks jeansbekleidete vor ihrer Nase. Sie hörte das Papier knistern.

«Nichts Besonderes.»

«Ach, tatsächlich? Warum schläfst du denn in deinen Sachen?»

«Ich habe mich nur mal ein bisschen hingelegt.»

«Aha. Was druckst du da aus?»

«Ich surfe ein bisschen im Internet.»

Einige unerträgliche Sekunden lang war es still.

«Ich lege mich nochmal hin. Bleibst du denn heute zu Hause?»

«Ich weiß noch nicht. Mal sehen.»

«Sei spätestens um zehn Uhr wieder da. Und ruf an und sag, wo du bist.»

Sie hörte, wie Patrik seufzte. Die Beine machten sich zum Gehen bereit, blieben aber noch einmal stehen.

«Was ist das für ein Rucksack?»

Sibylla schloss die Augen. Patrik ließ sich mit seiner Antwort viel zu viel Zeit. Du hast ihn gefunden. Geklaut. Was, zum Geier, auch immer!

«Der gehört Viktor.»

Noch besser.

«Warum hast du den hier?»

«Er hat ihn in der Schule vergessen und ich habe versprochen, ihn mit nach Hause zu nehmen.»

Die Beine gingen weiter.

« Dann bis später. Und vergiss nicht, hier aufzuräumen, bevor Mama nach Hause kommt.»

«Mmm.»

Endlich wurde die Tür wieder zugemacht. Patriks strahlendes Gesicht tauchte unter der Bettkante auf.

«Jetzt hast du ganz schön Angst gekriegt, was?», flüsterte er.

Sie robbte unterm Bett hervor.

«Hat die Tür kein Schloss?», flüsterte sie zurück, während sie sich den Staub vom Bauch abklopfte.

Er setzte sich aufs Bett und studierte das Blatt Papier, das er vor seinem Vater versteckt hatte. Sie verfolgte seinen Blick.

Die Jagd nach einem Mörder.

Er schien ein Weilchen nachzudenken, dann sah er zu ihr hoch.

«Jetzt weiß ich, was wir machen.»

Sie sagte nichts darauf.

«Überleg doch mal. Die Polizei sucht nur nach dir. Wer soll denn da den richtigen Mörder finden?»

Keine Ahnung.

«Kapierst du denn nicht? Das müssen wir machen. Wir müssen den richtigen Mörder selbst finden.»

Zuerst wurde sie nur böse. Ging zur Tür und griff unterwegs nach ihrem Rucksack. Die Hand schon auf der Türklinke, zögerte sie jedoch.

Sie traute sich noch nicht hinauszugehen.

Sie stellte den Rucksack wieder ab und seufzte tief.

«Das ist kein spannendes Spielchen, Patrik», sagte sie leise.

«Das weiß ich auch, aber hast du einen besseren Vorschlag?»

Sie ließ die Klinke los und drehte sich um. Er bückte sich und sammelte die Blätter ein, die sie auf den Fußboden geworfen hatte. Schließlich half sie ihm. Als die Blätter einigermaßen ordentlich gestapelt auf dem Schreibtisch lagen, setzte sie sich wieder aufs Bett.

«Und wie, meinst du, sollen wir das anstellen?»

Er beugte sich eifrig zu ihr vor.

«Hör her. Die Polizei sucht nur nach dir. Wie wär's, wenn wir uns stattdessen darauf konzentrieren, den richtigen Mörder zu erwischen?»

«Wie denn? Wir haben doch keine Ahnung.»

Er lehnte sich zurück und sah sie an.

«Werd jetzt nicht böse, versprich mir das.»

«Wie soll ich das versprechen können?»

Er zögerte und sie wurde immer neugieriger. Was glaubte er wohl sagen zu können, um sie böse zu machen.

«Meine Mutter ist bei der Polizei.»

Sie starrte ihn an und er rührte sich nicht von der Stelle. Sie spürte, wie ihr Blut in dem Moment, in dem ihr die Bedeutung der Worte Idar wurde, in Wallung geriet.

Sie stand auf.

«Ich muss weg. Schau nach, ob jemand in der Diele ist.»

«Warte doch.»

«JETZT, Patrik.»

Sie hatte die Stimme erhoben und seufzend tat er, was sie sagte. Er öffnete die Tür zuerst einen Spalt breit und dann ganz.

Sie nahm ihren Rucksack und ging an ihm vorbei.

«Kannst du mir nicht einfach mal zuhören?»

Sie ging zügig den Gehsteig entlang, er lediglich einen Schritt hinter ihr. Nun bog sie um die Ecke in die Folkungagatan. Sie hatte wirklich nicht die Absicht, ihm zuzuhören. Meine Mutter ist bei der Polizei! Er hatte sie in ein Wespennest eingeladen. Sie blieb unvermittelt stehen und drehte sich um. Damit hatte er nicht gerechnet und er prallte mit ihr zusammen.

«Verdammt nochmal, was glaubst du denn, wäre passiert, wenn deine Mutter nach Hause gekommen wäre?»

Sie spürte noch immer, wie ihr das Adrenalin durch den Körper strömte.

« Die ist doch zu einem Kurs!»

Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf. Er war zu jung, um das zu verstehen. Was konnte sie denn schon verlangen?

«Kapierst du denn nicht, dass es hier um mein Leben geht? Sie hätte krank werden und früher nach Hause kommen können. Was, zum Geier, auch immer. Und dann hätte ich ganz schön blöd da gesessen. Aber vielleicht wolltest du das ja sogar?»

Er wich ein paar Schritte zurück, blieb stehen und sah sie an.

«Na gut, dann sauf dich doch tot!»

Ihre Wut verrauchte. Sie hatte einen einzigen Freund und war jetzt drauf und dran, auch ihn zu verprellen. Er war nicht dazu gekommen, eine Jacke anzuziehen, und versuchte sich zu wärmen, indem er die Arme um sich schlug.

Sie war nicht imstande, klar zu denken. Vorher war es schon anstrengend genug gewesen, aber jetzt hatte sie auch noch eine Art Verantwortung für das Wohl und Wehe dieses Grünschnabels. Wer konnte schon wissen, was ihm alles einfallen würde, sobald sie außer Sichtweite wäre? Das hatte sie sich jedoch selbst zuzuschreiben. Schließlich war sie es gewesen, die ihn in die Sache hineingezogen hatte.