hatte sie hier eigentlich erreichen wollen? Das wollte ihr im Moment einfach nicht einfallen.
«Wie lange sind Sie schon verwitwet?»
Die Frage kam so plötzlich, dass Sibylla zusammenzuckte. Aus irgendeinem Grund sah sie auf die Uhr. Die war wieder stehen geblieben.
«Sechs Monate und vier Tage», brachte sie schließlich hervor.
«Und woran ist er gestorben?»
«An Krebs. Es ist sehr schnell gegangen.»
Lena Grundberg nickte.
«Waren Sie glücklich zusammen?»
Sibylla senkte den Blick und betrachtete ihre Hände. Sie war froh, dass sie sich die Nägel nicht lackiert hatte.
«Ja, sehr», antwortete sie leise.
Es war ein Weilchen still.
«Das ist schon ziemlich komisch», sagte Frau Grundberg. «Vor gut einem Jahr erst wäre Jörgen beinahe an Nierenversagen gestorben. Er lag mehrere Monate lang im Krankenhaus. Jetzt hatten sie endlich festgestellt, dass alles in Ordnung war, er musste nur regelmäßig seine Medikamente einnehmen. Im Großen und Ganzen war er aber gesundgeschrieben.»
Sie schüttelte den Kopf.
«Und dann wird er umgebracht! Nach all den Beschwerlichkeiten. Es klingt vielleicht zynisch, aber das ist wirklich typisch für ihn.»
Sibylla konnte nur mit Mühe ihre Verwunderung verbergen.
«Wie meinen Sie denn das?»
Frau Grundberg schnaubte.
«Er konnte nie seine Finger zurückhalten. Wie dumm muss man eigentlich sein, dass man eine unbekannte Frau mit aufs Zimmer nimmt! Hässlich war sie obendrein. Wenn man sich ihr Foto anschaut, ist doch schon von weitem zu erkennen, dass die nicht bei Sinnen ist.»
Ganz ruhig jetzt.
«Sie scheinen verbittert zu sein?»
Sibylla versuchte neutral zu klingen.
«Ach was! Ich finde nur, er hätte einen etwas besseren Geschmack an den Tag legen können. Es wäre in der Tat ein besseres Gefühl gewesen, wenn er sich eine Frau ausgesucht hätte, die ...»
Plötzlich versagte ihr die Stimme. Sie schlug die Hand vors Gesicht und fing an zu schluchzen.
Sieh an! Von diesen Marmorschwestern hatte zumindest eine ein paar Gefühle. Man brauchte bloß ein bisschen am Make-up zu kratzen.
Sie sann über das nach, was Frau Grundberg gesagt hatte. Fast bereute sie es, dass sie Herrn Grundberg nicht mit aufs Zimmer hatte kommen lassen. Aus purer Menschenfreundlichkeit.
«Eine Frau, die sich mit Ihnen messen könnte?»
Sie musste sich zusammenreißen, um ihre Gereiztheit nicht zu zeigen. Lena Grundberg hatte ihren neuen Tonfall bemerkt und schien sich sammeln zu wollen. Sie hatte den Mund aufgerissen und tupfte sich unter den Augen vorsichtig die Tränen ab, sodass sie ihr Make-up nicht ruinierte.
«Ja. Das wäre in der Tat ein besseres Gefühl gewesen.»
Sibylla betrachtete die Frau. Die war von einem Schlag, der ihr bisher noch nicht begegnet war.
«Warum denn?»
Sie war jetzt wirklich neugierig.
«Sie waren es doch, die sich scheiden lassen wollte», fuhr sie fort.
Frau Grundberg hatte sich wieder gefangen und lehnte sich in dem hässlichen Sessel zurück.
«Ich verstehe, es mag selbstsüchtig wirken, aber es ist erniedrigend, von der Erstbesten ersetzt werden zu können. Sogar von einer hässlichen Hure in einem Hotel. Wie fürchterlich geschmacklos von ihm.»
Sieh dich doch hier um, Mensch! Mein Rucksack ist, weiß Gott, noch geschmackvoller eingerichtet als dieses blöde Zimmer. Sitz bloß nicht da und erzähl was von gutem Geschmack!
Sibylla schluckte zweimal.
«Woher wissen Sie, dass sie eine Hure war?»
Frau Grundberg schnaubte.
«Das sieht man ihr doch an! Schauen Sie nur!»
Sie hob eine Abendzeitung vom Fußboden auf und hielt sie Sibylla hin, die einen raschen Blick auf ihr Gesicht warf. Das Einzige, was noch genauso aussah, war die Nase.
«Woher weiß die Polizei so sicher, dass es diese Frau war, die ihn umgebracht hat?»
Lena Grundberg ließ die Zeitung wieder auf den Fußboden fallen.
«Sie waren von der Rezeption aus zusammen nach oben gegangen, und am Morgen hatte sie sich durch die Absperrungen schleichen können. Das ist doch Beweis genug, sollte man meinen. Außerdem fanden sich mal hier, mal dort ihre Fingerabdrücke. Auf Jörgens Zimmerschlüssel zum Beispiel.»
«Wenn sie es aber nicht war? Sind Sie sicher, dass er keine ...»
Sie hielt in letzter Sekunde an sich, indem sie einen Hustenanfall vorschützte.
... Feinde in Lettland oder Litauen hat?
Sie hustete noch eine geraume Weile, um ihren Fehlgriff zu vertuschen. Lena Grundberg erhob sich und holte ein Glas Wasser. Sibylla trank es dankbar.
«Danke», sagte sie schließlich. «Sie müssen schon entschuldigen, aber ich leide an Asthma.»
Frau Grundberg nickte und setzte sich wieder in ihren Sessel.
«Keine was hat?»
«Was?»
«Ob ich mir sicher bin, dass er keine was hat?»
«Feinde ... Oder so.»
Lena Grundberg betrachtete sie. Es war wohl Zeit zu gehen. Sie hatte schon einen Ansatz gemacht, sich zu erheben, als die Frau ihr gegenüber aufschnaubte.
«Sibylla!»
Sie sagte es voller Verachtung, und Sibylla zuckte zusammen, als ob sie eine Ohrfeige bekommen hätte. Ihre Blicke begegneten sich. Sibylla blieb sitzen und schluckte.
«Das hört man doch schon am Namen, dass sie es gewesen sein muss», rief Frau Grundberg aus. «Welcher normale Mensch hat schon einen solchen Namen?»
Sibylla versuchte ein Schnaufen zu verbergen. Für einen kurzen Moment hatte sie Angst gehabt.
«Ja, das kann man sich wirklich fragen», sagte sie kriecherisch lächelnd. «Der einzige Trost ist wohl, dass sie ihn hoffentlich nicht selber gewählt hat.»
Lena Grundberg schnaubte erneut.
Sibylla wollte weg von hier. Frau Grundberg war keine angenehme Gesellschaft, aber da sie sich nun schon so viel Mühe gemacht hatte, hierher zu kommen, wäre es idiotisch, wenn sie nicht versuchte, noch mehr Informationen zu bekommen.
«Wie ist er denn gestorben?»
Die andere Frau räusperte sich.
«Ihm wurde die Kehle durchgeschnitten. Dann hat sie ihm den Bauch aufgeschlitzt und die Eingeweide auf dem Boden verstreut.»
Sie hätte genauso gut ein Kuchenrezept hersagen können.
Sibylla brauchte Luft. Übelkeit durchwogte sie. Sie stand auf.
«Ich muss jetzt gehen.»
Die Witwe Grundberg blieb in ihrem Sessel sitzen.
«Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, dass ich nicht Ihren Erwartungen entsprochen habe?»
Ausnahmsweise log sie einmal nicht:
«Nein. Nicht ganz.»
Frau Grundberg nickte und senkte den Blick.
«Wir gehen alle auf unterschiedliche Weise mit den Dingen um.»
Sibylla nickte.
«Ja. Sicher ... Danke, dass ich ein Weilchen hereinkommen durfte.»
Sie ging in die Diele und zog sich ihre Schuhe an. Lena Grundberg saß nach wie vor in ihrem Sessel, und ohne dass eine von ihnen noch etwas sagte, öffnete Sibylla die Tür und verließ das Haus.
Die Spaziergänge, die retteten sie. Sie lieferten ihr einen Grund, das Haus zu verlassen, und halfen ihr, mit all den dumpfen Teenagergrübeleien aufzuräumen. Sie lief durch die Randbezirke des Ortes und mied gewissenhaft die Imbissbude im Zentrum. Hultaryds natürlichen Treffpunkt für alle, die jemanden treffen wollten. Sibylla wollte das nicht. Wenn es nicht unbedingt nötig war, wollte sie schon lange niemandem mehr aus ihrer Klasse begegnen. In der Schule ließ es sich nicht vermeiden und das war mehr als genug.
Am Ortsrand lag auch der Vereinshof des VMIJ. Des Vereins motorinteressierter Jugendlicher. Ein ziemlich heruntergekommenes zweigeschossiges Haus mit einer Autowerkstatt im Parterre. Die Lage des Vereinshauses entsprach auch der sozialen Stellung des Vereins in Hultaryd, woran die Mitglieder selbst nicht ganz unschuldig waren.
Vielleicht wäre er ihr nie aufgefallen, wenn er sich nicht genau in dem Moment, als sie vorbeiging, über den Motor eines bunt lackierten Straßenkreuzers gebeugt und daran herumgebastelt hätte. Sie war ungefähr zehn Meter von ihm entfernt stehen geblieben und bewunderte das Kunstwerk. Das Auto war erbsen-grün und auf die hinteren Kotflügel züngelten Flammen zu. Sie hatte noch nie im Leben so etwas gesehen.
Nachdem sie eine Weile unbemerkt geguckt hatte, richtete er sich auf und entdeckte sie.
«Toll, was?»
Er wischte sich mit einem Lumpen seine öligen Hände ab.
Sie nickte.
«De Soto Firedome. Neunundfünfzig. Hab ihn gerade erst aus der Autolackiererei zurückgekriegt.»
Sie sagte nichts. Was gab es da auch zu sagen? Am meisten wunderte sie, dass es in Hultaryd jemanden gab, der so schöne Flammen malen konnte.
«Willst mal Probe sitzen?»
Als sie nicht antwortete, schlug er die Motorhaube zu und machte ihr ein Zeichen, dass sie kommen solle.
«Guck mal. Das sind Lederbezüge.»
Sie trat näher. Er wollte ihr tatsächlich sein Auto zeigen. Er wirkte nicht besonders gefährlich, und sie hatte noch nie in einem Straßenkreuzer gesessen. Der Typ war um einiges älter als sie, bestimmt mindestens vier Jahre, und sie konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben.
Er warf den Lumpen hin, wischte sich aber sicherheitshalber die Hand noch an seiner Arbeitshose ab, bevor er auf der Beifahrerseite die Tür öffnete und Sibylla aufforderte einzusteigen. Sie zögerte nur wenige Sekunden, und dann tat sie, was er sagte. Sie sank wie in einen Sessel ein.
«Geil, was? Ein V8 mit dreihundertfünf PS.»
Sie lächelte ihn ein wenig an.
«Ui. Toll!»
Er ging um den Wagen herum und öffnete die Tür auf der Fahrerseite.
«Kommst du an die Decke auf dem Rücksitz ran?»
Sibylla drehte sich um und guckte. Sie nahm die braun ka-rierte Decke, reichte sie ihm und er breitete sie über den Fahrersitz, bevor er hineinsprang.
«Wollen wir eine Spritztour machen?»
Sie starrte ihn an. Er hatte schon den Schlüssel herumgedreht.
«Ich weiß nicht... Ich glaube, ich muss jetzt nach Hause.»
Der Motor brummte. Der Typ drückte auf einen Knopf und ihr Fenster glitt herunter.
« Elektrisch. Willst mal probieren?»
Sie drückte auf den Knopf und das Fenster ging wieder zu. Als sie ihn wieder ansah, hatte er zwei Lachgrübchen auf den Wangen. Er legte einen Gang ein und ließ seinen Arm auf ihrer Rückenlehne ruhen. Ihr klopfte das Herz. Selbst wenn dieser Arm hinter ihrem Kopf nur da lag, weil es praktisch war, empfand sie diese Geste als irgendwie intim. Den Blick zur Heckscheibe hinausgerichtet, setzte er rückwärts auf die Straße.
Wie war sie hierher gekommen? In einen Straßenkreuzer mit einem wildfremden Menschen.
Wenn nun jemand sie sah?
«Ich kann dich nach Hause fahren. Wo wohnst du?»
Sibylla schluckte.
«Nein», erwiderte sie rasch. «Wir machen eine kleine Spritztour.»
Sie fuhren in den Ort. Sibylla sah den Typen verstohlen an. Er hatte Öl im Gesicht.
«Ich heiße übrigens Micke. Wir geben uns vielleicht nicht die Hand. Wenn du dich nicht ölig machen willst.»
«Sibylla», sagte sie leise.
Er sah sie an.
«Ah ja. Forsenströms Tochter. Bist du das?»
«Ja.»
Er war in die Tullgatan eingebogen. Bald würden sie an der Imbissbude vorbeikommen.
«Hör mal? Läuft doch toll, oder?»
Sibylla nickte. Wirklich toll. Ungefähr so wie Gun-Britts Renault.
Wie immer waren an der Imbissbude eine Menge Leute. Sibylla duckte sich, als sie dort vorbeifuhren.
«Das sind doch deine Kumpel, oder?»
Sie erwiderte zuerst nichts darauf. Er warf ihr einen Blick zu und fuhr fort:
«Ich meine, weil sie immer an deiner Bude herumhängen.»
Er lachte über seinen Witz. Sibylla nicht. Als er ihre Reaktion bemerkte, versuchte er wieder ernst zu sein.
«Das war doch nur ein Scherz, verstehst du. Komm schon!»
Sie sah ihn an. Es war wirklich nur ein Scherz gewesen. Er hatte sich nicht auf ihre Kosten lustig gemacht. Der Unterschied war ganz deutlich. Sie verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln.
«Nein. Das sind nicht meine Kumpel.»
Sie hatten bei diesem ersten Mal nicht viel mehr gesagt. Er hatte sie zum VMIJ-Hof zurückgebracht und sie hatte sich für die Fahrt bedankt. Sie stieg aus und er zog an einem Hebel, um die Motorhaube wieder aufzumachen.
Als sie ein Stück weit entfernt war, drehte sie sich nach ihm um. Er hatte den Kopf schon wieder über den Motor gebeugt.
Innerlich fühlte sie sich jetzt anders. Erwartungsvoll. Sie war sich beinahe sicher, dass es etwas Wichtiges war, was sie erlebt hatte. Etwas Gutes. Etwas, was Bedeutung bekommen würde.
Und das sollte es auch.
Sie konnte allerdings nicht wissen, was geschehen wäre, wenn dieses Auto nicht an ebendiesem Tag geliefert worden wäre, wenn der Lack nur eine Stunde später getrocknet wäre, wenn Micke noch nicht draußen gewesen wäre und angefangen hätte, daran herumzubasteln, wenn sie in eine andere Richtung gegangen wäre, wenn, wenn, wenn ...
Ihr Leben wäre dann ganz anders verlaufen.
An ebendiesem Nachmittag war sie an einen dieser bedeutenden Scheidewege gelangt, aus denen das Leben bestand. Man wusste aber immer erst viel später, dass man sie passiert hatte.
Und sie musste noch ein beträchtliches Stück weitergehen, bevor ihr das aufging.
Erst als alles schon längst zu spät war, sollte sie einsehen, dass sie an ebendiesem Nachmittag die verkehrte Richtung eingeschlagen hatte.
Sie schlief in dieser Nacht vor der Dachbodentür eines Mietshauses. Zunächst einmal hatte sie sich ein gutes Stück von Lena Grundbergs entzückender Villengegend entfernt, in Richtung Zentrum. Die Eingangstür war nicht abgeschlossen gewesen. Einer der größten Vorteile, wenn man Stockholm verließ. Dort musste man sich an bekannte Adressen halten, an Eingänge, wo man den Dreh heraushatte.
Ein schreiendes Kind weiter unten im Treppenhaus weckte sie. Sie hörte eine Tür aufgehen und eine gereizte Frauenstimme klarstellen, dass sie es gern auch lassen könnten hinauszugehen, wenn er nur so plärren würde. Die Haustür schlug zu und es war wieder still. Sibylla sah auf die Uhr. Die stand immer noch. Uhren waren teuer, aber sie brauchte wirklich eine neue.
Als sie sich von ihrer Isomatte erhob, wurde ihr schwarz vor Augen und sie musste sich eine Weile an der Wand abstützen, bis der Schwindel sich legte.
Sie brauchte etwas zu essen.
Der Bahnhof war nur ein paar Häuserblocks von ihrer Nachtherberge entfernt. Sie ging auf die Damentoilette und machte sich frisch, schminkte sich Augen und Lippen und kämmte sich durchs Haar. Das grüne Kostüm war knittrig geworden im Ruck-sack, das war nicht zu ändern. Ohne das Kostüm würde es kein Frühstück geben. Als sie es anhatte, befeuchtete sie sich die Hände und strich damit über den Stoff. Auf diese Weise ließen sich normalerweise die schlimmsten Falten glätten.
Den Rucksack gab sie bei der Gepäckaufbewahrung ab. Woher sie die Mittel nehmen würde, um ihn wieder auszulösen, war eine Frage für später.
Jetzt ging es darum, etwas zu essen.
Sie trat aus der Bahnhofstür und blieb auf der Treppe stehen. Ein Stück vom Bahnhof entfernt lag das City Hotel. Sie beschleunigte ihren Schritt und schwebte ins Foyer. Sofort tauchte hinter der Theke aus einem angrenzenden Raum ein Mann auf und sie trat auf ihn zu.
«Puh, wie kalt es heute ist», sagte sie bibbernd.
Er lächelte sie an. Auf seinem vergoldeten Namensschild stand Henrik.
«Ich war nur mal eben am Bahnhof drüben, um nach den Abfahrtszeiten zu sehen, aber ich hätte mir wohl meine Jacke anziehen sollen.»
« Das nächste Mal können Sie uns auch hier in der Rezeption fragen. Wir haben die Abfahrtszeiten alle hier.»
Sie lehnte sich leicht über die Theke.
»Um die Wahrheit zu sagen, ich habe die Gelegenheit genutzt, eine zu rauchen, verraten sie aber nichts.»
Er nickte wohlwollend, um zu versichern, dass sich ihr Geheimnis in guten Händen befinde. Der Gast hat immer Recht.
Das war gut.
Der Schlüsselhaken für Zimmer 213 war leer, aber 214 hing an seinem Platz. Sie sah auf die Uhr.
«Würden Sie bitte Zimmer zweihundertvierzehn für mich anrufen?»
«Aber gewiss.»
Er reichte ihr den Hörer und tippte eine Nummer ein.
«Danke.»
Am anderen Ende läutete es. Es nahm niemand ab. Der Mann mit Namen Henrik drehte sich um und sah auf die Schlüsselhaken.
«Der Schlüssel hängt hier. Vielleicht ist der Gast schon im Frühstücksraum?»
Er nickte zu einem Flur hin.
«Ja, es ist eigentlich nicht seine Art, Erster zu sein. Aber irgendwann muss es wohl ein erstes Mal geben?... Danke. Haben Sie eine Morgenzeitung?»
Sie bekam eine Dagens Nyheter und ging den Flur entlang, der offensichtlich zum Frühstücksraum führte.
Er war nicht schwer zu finden.
Eine halbe Stunde später lehnte sie sich, satt und recht zufrieden, auf ihrem Stuhl zurück. In dem Raum saßen noch vier weitere Gäste, jeder war an seinem Tisch in eine Morgenzeitung vertieft. In Dagens Nyheter fand sich in einer linken Spalte lediglich die Notiz, dass die Polizei Informationen über die Frau suche, die die Absperrungen im Grand Hotel umgangen habe.
Sie ging zu dem reichhaltigen Frühstücksbüfett, um sich nochmals Kaffee zu holen, und sie konnte dabei unbemerkt ein paar Brötchen und drei Bananen in ihre Handtasche gleiten lassen. Sie setzte sich wieder.
Okay. Was machte sie eigentlich in Eskilstuna? Was, hatte sie geglaubt, würde dieser Ausflug bringen? Und was hatte er ihr, abgesehen davon, dass sie von Jörgen Grundbergs Witwe beleidigt worden war, tatsächlich gebracht?
Sie trank einen Schluck Kaffee und sah aus dem Fenster. Eigentlich wusste sie sehr gut, was sie hier machte. Sie hatte geglaubt, eine Erklärung für die ganze Geschichte zu finden, in die sie da hineingezogen worden war, wenn sie ein paar Informationen aus erster Hand erhielte, wenn sie jemanden treffen könnte,der oder die Jörgen Grundberg gekannt hatte. Das Missverständnis würde aus der Welt geschafft. Und sie könnte die ganze Sache hinter sich lassen.
Stattdessen war es gerade umgekehrt. Alle hatten sich in den Kopf gesetzt, dass wirklich sie den Kerl umgebracht habe. Das war das Einzige, was ihr ihre Fahrt hierher bewiesen hatte. Was sollte sie jetzt also tun?
Es wäre nicht weiter schwierig, sich zu entziehen. Das war ihr jetzt schon fast fünfzehn Jahre lang geglückt. Niemand würde sie auf diesem Bild in der Zeitung erkennen und eine neuere Aufnahme gab es nicht. Ihr Name war natürlich ein Problem, wie üblich. Es gab Leute, die wussten, wo sie sich normalerweise aufhielt, aber diese Menschen waren selten gut Freund mit der Polizei.
Wenn sie gewisse Plätze eine Zeit lang miede, bis sie den richtigen Mörder festgenommen hätten, dann würde sich schon alles einrenken.
Und alles würde wieder werden wie vorher.
Nie im Leben hätte sie sich in ihrer wildesten Phantasie ausmalen können, dass ausgerechnet das einmal ein Ziel sein könnte.
Sie nahm einen Schluck Kaffee und begriff, was sie eigentlich so ungeheuer störte.
Die Demütigung.
Sie wollte sich nie mehr derart behandeln lassen.
Nichts mehr einstecken.
Sie konnte ihre Mutter vor sich sehen. Rasend darüber, dass sie wieder einmal den guten Familiennamen entehrt hatte. Wie konnte sie ihnen das antun?
Und zugleich dieser ererbte Ausdruck in den Augen: Habe ich es nicht gesagt?
Und das Getratsche, das ganz Hultaryd durchsickerte.
Forsenströms Tochter. Habt ihr gehört, dass sie eine Mörderin ist?
Und ihr Vater ... Nein. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, was er empfand. Das hatte sie nie gekonnt.
Und jetzt interessierte sie es nicht mehr.
Sie stand auf und ging zur Rezeption zurück. Der Mann mit Namen Henrik telefonierte gerade, und sie gab ihm zu verstehen, dass sie wieder hinausgehen und heimlich rauchen werde.
Er winkte, als sie ging.
Es war keine Schwierigkeit, den Rucksack auszulösen. Die Gepäckaufbewahrungstheke war nicht besetzt, und sie trat einfach dahinter und holte ihn heraus.
Niemand sah sie.
Sie ging noch einmal zur Damentoilette und zog sich wieder Jeans und Pullover an. Es wäre dumm, das Kostüm zu verschleißen. Es musste chemisch gereinigt werden, und das war ein nicht zu rechtfertigender Luxus.
Der Zug nach Stockholm Hauptbahnhof ging um 10.48 Uhr. Sie setzte sich auf eine Bank und wartete.
Im selben Moment, in dem sie an jenem Nachmittag über die
Schwelle trat, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Niemand erwiderte ihren Gruß.
Sie ging weiter in die Diele und sah den Rücken ihrer Mutter, die auf dem Sofa saß und las.
«Ich bin wieder da.»
Keine Antwort.
Sie bekam Herzklopfen.
Was hatte sie getan?
Sie hängte ihre Jacke auf und ging langsam ins Wohnzimmer. Obwohl sie das Gesicht ihrer Mutter nicht sehen konnte, wusste sie, wie diese in dem Moment dreinsah.
Böse.
Böse und enttäuscht.
Sibylla spürte den Kloß im Magen wachsen. Sie ging um das Sofa herum. Beatrice Forsenström hob nicht den Blick von ihrem Buch.
Sibylla nahm Anlauf.
«Was ist denn?», fragte sie leise.
Ihre Mutter antwortete nicht. Sie las weiter, so als ob Sibylla gar nicht im Zimmer wäre. Geschweige denn., sie angesprochen hätte.
«Warum bist du böse?»
Keine Antwort.
Der Kloß im Magen bereitete ihr Übelkeit. Wie hatte sie es erfahren? Wer hatte sie gesehen ? Sie war doch so vorsichtig gewesen!
Sie schluckte. °
«Was habe ich getan?»
Keine Reaktion. Beatrice Forsenström blätterte um. Sibylla sah den Teppich an. Das orientalische Muster zerfloss und sie versuchte, die Tränen auf den Boden tropfen zu lassen, damit sie auf ihren Wangen keine Spuren hinterließen. Ihr brummten die Ohren.
Scham.
Sie ging zurück in die Diele und stieg die Treppe hinauf. Sie wusste, was sie erwartete. Stunden der Unruhe in Erwartung der Explosion. Stunden der Schuld, der Scham, der Reue und des Verlangens danach, dass ihr verziehen werde. Lieber, gütiger Gott, mach, dass sie bald kommt und sagt, was los ist, damit ich um Verzeihung bitten kann. Aber lass sie nicht dahinter gekommen sein. Lieber, gütiger Gott, nimm mir das nicht weg!
Aber Gott ist nicht immer gütig. Als die Glocke unten zum Essen rief, hatte sich Beatrice Forsenström noch immer nicht in Sibyllas Zimmer sehen lassen.
Ihr war schlecht. Als sie die Bratkartoffeln roch, wollte sie sich übergeben.
Sie wusste, was sie erwartete. Sie würde bitten und betteln müssen, um zu erfahren, was sie falsch gemacht hatte.
Und wenn Beatrice Forsenström meinte, dass sie ausreichend gebettelt habe, dann würde sie es erfahren.
Auf der Uhr im Stockholmer Hauptbahnhof war es fünf vor halb eins, als sie zurückkam. Ein Schimpanse, der einige Jahre seines Lebens in Schweden verbracht hatte, war in seinem Tierpark in Thailand in einen zu kleinen Käfig gesperrt worden. Das hatte offenbar einen kleineren Proteststurm hervorgerufen, und deswegen hatte der Mord im Grand auf den Aushängen am Zeitungskiosk vorübergehend zurücktreten müssen. Sie fuhr mit der Rolltreppe nach oben, trat auf den Klarabergsviadukten hinaus und ging in Richtung Sergels Torg. Normalerweise verbrachte sie viel Zeit im Lesesaal des Kulturhauses, aber heute hatte sie keine Lust, Zeitungen zu lesen.
Affen hatten sie eigentlich noch nie interessiert, und mit dem Mord im Grand wollte sie am liebsten so wenig wie möglich zu tun haben. Trotzdem fand sie sich eine Weile später auf einer Bank an der Strömkaje wieder. Den Rücken zum Wasser und die Fassade des Grand direkt vor der Nase.
Die Absperrungen waren weg. Es sah genauso aus wie drei Tage zuvor, als sie nichts Böses ahnend durch die Türen gegangen war. Vor dem Hotel parkte eine Limousine, und der Pförtner und der Chauffeur standen da und unterhielten sich miteinander.
«Da sitzt du also und sinnst über deine Sünden nach.»
Sie fuhr zusammen, als ob jemand sie geschlagen hätte. Hinter ihr stand Heino mit seiner gesamten Habe im Schlepp. Irgendwo unter all den Plastiktüten mit leeren Dosen, wusste sie, versteckte sich ein rotbrauner Kinderwagen, sie war selbst dabeigewesen, als er ihn sich besorgt hatte, aber alles, was man im Moment davon sah, waren die Räder.
«Mensch, hast du mich erschreckt!»
Er grinste leicht und setzte sich neben sie. Der Mief nach altem Schmutz siegte sofort über alle anderen Gerüche in der Umgebung. Sie rückte ein wenig von ihm ab, doch nur so viel, dass er es nicht merkte.
Er sah zur Fassade des Grand Hotel hinauf.
«Bist du das gewesen, die das getan hat?»
Sibylla sah ihn an. Das Gerücht verbreitete sich schnell. Sie konnte sich nämlich nicht vorstellen, dass Heino selber Zeitung gelesen hatte.
«Nein.»
Heino nickte. Damit war dieses Thema offenbar erledigt.
« Hast du was?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Nichts zu trinken. Aber ein Brötchen kannst du haben.»
Er rieb sich die schwarzen Handflächen und lächelte sie erwartungsvoll an.
«Ein Brötchen. Nicht zu verachten.»
Sie öffnete ihren Rucksack, in den sie ihren Frühstücksvorrat gesteckt hatte. Er aß gierig.
«Dazu ein kleines Schlückchen und man käme sich vor wie ein Prinz.»
Sie lächelte ihn ein wenig an. Das Brötchen bot den wenigen Zähnen, die er noch im Mund hatte, heftigen Widerstand. Sie wünschte, sie hätte etwas zu trinken gehabt für ihn.
Zwei Damen aus Östermalm näherten sich mit einem rattenähnlichen Hund, der in einem Umhang mit Schottenkaro steckte. Die eine Dame flüsterte ihrer Freundin etwas ins Ohr, als sie Heino erblickten, und sie beschleunigten ihren Schritt. Heino sah die beiden an, und in dem Moment, als sie vorbeigingen, stand er auf.
«Mahlzeit! Darf's ein Haps sein?»
Er streckte ihnen sein nunmehr halbes Brötchen hin. Sie taten so, als ob sie ihn nicht hörten, und waren ganz außer sich vor Eifer, dort wegzukommen, ohne sich zu demütigen, indem sie rannten.
Sibylla lächelte. Heino setzte sich wieder.
«Passen Sie auf», rief er ihnen nach. «Ihnen ist eine Ratte auf den Fersen!»
Die Damen eilten weiter bis zur Treppe des Nationalmuseums, wo sie stehen blieben, um sich zu versichern, dass sie nicht verfolgt wurden. Jetzt sprachen sie aufgeregt miteinander. Uber die Brücke von Skeppsholmen kam ein Streifenwagen gefahren. Sibylla merkte der Körpersprache der Tussis an, dass sie ihn anzuhalten gedachten. Ihr schlug das Herz schneller in der Brust.
«Heino. Ich muss dich um einen Gefallen bitten», sagte sie rasch.
Das Auto hatte angehalten und die Damen zeigten nun auf ihre Bank.
«Du kennst mich nicht.»
Heino sah sie an. Der Streifenwagen fuhr wieder los.
«Aber klar doch. Und ob ich das tu. Sibylla, die Königin von Smiland.»
Sibylla blickte geradeaus, als sie fortfuhr:
«Nicht jetzt. Lieber Heino. Tu so, als würdest du mich nicht kennen.»
Der Streifenwagen hielt direkt vor ihnen und die beiden Polizisten stiegen aus. Ein Mann und eine Frau. Den Motor ließen sie laufen. Heino sah sie an und steckte sich den letzten Bissen seines Brötchens in den Mund.
«Hallo, Heino. Du bist doch nicht etwa unmanierlich zu den Damen?»
Heino wandte den Kopf ein wenig und glotzte den Tussisnach, die noch immer vor dem Nationalmuseum standen. Sibylla schaute in ihren Rucksack, in der Hoffnung, dem Blick der Polizisten nicht begegnen zu müssen.
«Nein. Ich esse ein Brötchen.»
Um das zu beweisen, riss er den Mund auf und zeigte her, was sich darin befand.
«Das ist gut, Heino. Mach nur weiter damit.»
Heino machte den Mund zu und kaute weiter. Er schnaubte.
«Das sagt ihr so leicht.»
Sibylla kramte in einem Außenfach.
«Er hat Sie doch hoffentlich nicht belästigt?»
Sibylla begriff, dass sie mit ihr sprachen. Sie sah hoch, tat aber so, als sei ihr etwas ins Auge geraten.
«Mich? Nein. Ganz und gar nicht.»
Sie öffnete ein anderes Außenfach ihres Rucksacks und suchte dort weiter.
«Ich belästige keine Königinnen», sagte Heino nachdrücklich. «Und schon gar nicht die Königin von Smäland.»
Sibylla schloss die Augen, beugte den Kopf aber nach wie vor über den Rucksack.
«So ist es gut, Heino», sagte die Polizistin. «Das hören wir gern.»
Erleichtert hörte Sibylla, dass sie sich umdrehten und zu ihrem Auto zurückgingen. Sie hob den Blick und sah, wie der Polizist die Hand auf den Türgriff legte.
«Ankommen und über ehrliche Menschen herfallen, die in aller Ruhe auf einer Bank sitzen und Brötchen essen. Kann ich was dafür, dass diese Weiber so eine blöde Ratte Gassi führen? Was? Ist das meine Schuld?»
«Halt sofort die Schnauze!», zischte Sibylla.
Aber Heino geriet jetzt in Harnisch. Die Polizisten waren stehen geblieben und hatten sich umgedreht.
«Nein, jetzt werde ich euch mal was sagen. Am dreiundzwan-zigsten September zum Beispiel, achtzehnhundertfünfundacht- zig, da hättet ihr mal herkommen und euch nützlich machen können.»
Der Polizist näherte sich wieder. Die Frau war auf der Beifahrerseite des Autos eingestiegen. Sibylla machte ihren Rucksack zu. Es war höchste Zeit, Leine zu ziehen. Heino stand auf und zeigte auf die Fassade des Grand Hotel.
«Da stand sie, da auf dem Balkon.»
Sibylla hielt inne.
«Hier unten und bis rüber zum Kungsträdgärden drängten sich die Leute, die sie singen hören wollten.»
Sibylla starrte ihn an. Der Polizist blickte neugierig drein.
«Wer hat auf dem Balkon gesungen?»
Heino seufzte und reckte seine schwarzen Handflächen vor.
«Christina Nilsson natürlich. Die smäländische Nachtigall.»
Heino legte eine Kunstpause ein. Die Frau im Auto wurde allmählich ungeduldig, lehnte sich über den Fahrersitz und kurbelte die Scheibe herunter.
«Janne!»
«Warte mal eben!»
Heino nickte. Er war jetzt in seinem Element.
«Mehr als vierzigtausend Kerle und Weiber hatten sich hier versammelt, um sie singen zu hören. Es war total schwarz vor Leuten. Sie waren auf Masten und Wagen geklettert, aber trotzdem war es absolut mucksmäuschenstill. Wisst ihr, dass man sie bis zur Skeppsbron hat singen hören? Ehrlich. Die Leute damals wussten, wie man die Klappe hält.»
«Janne! Komm jetzt.»
Heino genoss jetzt seine ganze Aufmerksamkeit. Das Beste, was Sibylla tun konnte, war, still zu sitzen und alles laufen zu lassen. Sie schielte zum Nationalmuseum hinüber und sah, dass die Tussis wieder verschwunden waren. Heino reckte einen Finger in die Luft. Durch diese Bewegung entwich seinem zerschlissenen
Überzieher eine neue Welle Mief. Sibylla versuchte den Atem anzuhalten.
«Aber sie hatte kaum fertig gesungen, da klatschten alle wie besessen in die Hände und jemand schrie, dass das Gerüst am Palmgren'schen Haus zusammenbrechen würde. Ja, das wurde damals gerade gebaut. Da kam Schwung in den Pöbel! Sechzehn Weiber und zwei Kinder sind dabei niedergetrampelt worden und gestorben. Und an die hundert haben sie ins Krankenhaus bringen müssen.»
Heino nickte.
«Da hättet ihr mal hier sein sollen. Dann wären sie jetzt vielleicht noch am Leben. Anstatt mich anzumachen, wo ich nur ein Brötchen esse.»
Der Polizist mit Namen Janne nickte und lächelte.
«Ja freilich, Heino. Da hast du Recht. Pass auf dich auf!»
Diesmal gelang es ihm, ins Auto einzusteigen und loszufahren, bevor Heino noch mehr einfiel.
Sibylla starrte ihn an und schüttelte den Kopf.
«Woher weißt du das alles?»
Heino schnaubte.
«Man ist schließlich gebildet. Ein bisschen dreckig vielleicht, aber gebildet.»
Er hatte sich erhoben und wendete sein großes Gefährt, um zum Kungsträdgärden zurückzugehen und seine Jagd nach Pfanddosen fortzusetzen.
«Danke für das Brötchen.»
Sibylla lächelte ein wenig und nickte. Heino ging. Sie sah zu dem Balkon hinauf, auf dem Christina Nilsson vor hundert- funfzehn Jahren gestanden hatte. In dem Lärm, der heutzutage den städtischen Raum beherrschte, hätte sie keine Chance gehabt.
Sibylla wandte den Kopf und sah Heino über die Kungsträd- gärdsgatan verschwinden. Einen Moment lang überkam sie die
Lust aufzustehen und ihm nachzurennen. Um für ein Weilchen nicht allein sein zu müssen. Aber das ging nicht. Sie blieb sitzen.
Bis sich die größte Aufregung gelegt hatte, war es am besten, wenn sie für sich blieb. Wie üblich.
Nach jener ersten Spritztour verbrachte sie fast jeden Nachmittag ein Weilchen bei Micke auf dem Hof des VMIJ. Diese Weilchen wurden länger und länger, und schließlich pfiff sie ganz auf den Spaziergang und ging direkt dorthin. Sie traf auch die anderen Mitglieder des Vereins, alles Jungs in Mickes Alter, und zum ersten Mal fühlte sie sich von einer Gruppe akzeptiert. Micke hatte sie mitgebracht und deshalb wurde sie ohne weitere Überprüfungen zugelassen. Sie schienen sich nicht einmal darum zu scheren, dass sie Forsenströms Tochter war.
Am allerbesten aber war es, wenn sie allein in der Werkstatt waren. Dann war Micke anders und brachte ihr alles bei, was er über Motoren und Autos wusste. Manchmal nahm er sie auf eine Spritztour mit, und wenn er richtig guter Laune war, ließ er sie ein Stück einen Waldweg entlangfahren. Das erste Mal hatte sie dabei auf seinem Schoß gesessen. Sie hatte seine Schenkel unter den ihren und seinen Bauch an ihrem Po gespürt. Ein ganz komisches Gefühl im Körper war das gewesen. Warm und kribbelig zugleich. Seine Hände am Lenkrad auf den ihren.
Danach hatte sie seinen Namen unter ihren Schreibtischstuhl in ihrem Zimmer geschrieben. Ihr Geheimnis. Ein Geheimnis, das ihr eine so wunderbare Kraft verlieh. Womöglich merkte man ihr das an, oder aber es war sie, die nichts mehr hörte, denn in der Schule wurde ihr weniger hinterhergerufen, und das Dasein wurde leichter.
Der ganze Tag war ein einziges langes Warten darauf, ihn wieder sehen zu können. Sein Duft, wenn er nahe bei ihr stand und ihr ein Detail unter der Motorhaube zeigte. Die Bewunderung über sein enormes Wissen. Zu sehen, wie sich seine Hände geschickt über die Motorteile bewegten.
Die Sehnsucht danach, sich einfach im selben Raum zu befinden.
Wie er.
Nach dem Sommer kam sie in die erste Gymnasialklasse und musste nach Vetlanda zur Schule fahren. Wenn sie selbst hätte wählen dürfen, wäre sie in die fahrzeugtechnische Klasse gegangen, aber sie war klug genug gewesen, das niemandem außer Micke gegenüber zu erwähnen. Vor allem zu Beatrice Forsenström hatte sie nichts davon gesagt. Sibyllas Mutter meinte, sie solle den dreijährigen Wirtschaftszweig besuchen, damit sie später im Familienbetrieb mithelfen könne. Außerdem hatte das Status.
Selbstverständlich wurde es so gemacht, wie ihre Mutter es wollte.
Manchmal, wenn er in der Stadt etwas zu erledigen hatte, holte Micke sie nach der Schule ab. Sie blieb heimlich zurück, sodass sie den Schulbus versäumte, und ging von der Schule aus ein paar Straßen weiter, um voller Eifer und Stolz in den De Soto zu schlüpfen. Glücklich im Beifahrersitz versunken, ließ sie sich die vierzig Kilometer bis Hultaryd chauffieren, aber nie nach Hause. Nie in Sichtweite.
Einmal, auf einer dieser Fahrten, war er gleich hinter Vetlanda in einen Waldweg eingebogen. Sie sah ihn an, aber er hielt die Augen auf den Weg gerichtet. Keiner von ihnen sagte etwas.
Irgendetwas in ihr wusste, was passieren würde. Sie hatte darauf gewartet.
Er hielt an, sie stiegen aus und sahen sich an. Mit einem Ge-fühl totaler Verzückung und Zusammengehörigkeit umarmte sie ihn.
Sie war auserwählt.
Ganz behutsam war er auf der braun karierten Decke in sie eingedrungen.
Nur sein. Nur ihr.
Sie schaute verstohlen auf sein Gesicht und wunderte sich über den Genuss, den sie ihm bereiten konnte. Er war wie verschlungen von ihr. All seine Gedanken in ihr gesammelt. Sein Körper in Verzückung über den ihren. Für sie. Sie beide, zusammengekettet. Zusammen.
Was auch immer für eine Sekunde dieser Nähe. Was auch immer.
Die Bratkartoffel wuchs im Mund. Ihre Eltern aßen schweigend. Die Pein vor dem Ausbruch. Kann nicht schlucken. Zwei Gabeln in der Hand. Drei. Der Tisch wogt. Muss schlucken.
Der Schreck im Magen will nach oben. Schluck, in Gottes Namen. Schluck! Mach es nicht schlimmer, als es ist.
Verzeiht mir. Verzeiht. Sagt, was ich machen soll, damit mir verziehen wird. Lasst mich nur nicht länger warten. Ich mache alles, damit ihr mir verzeiht. Alles.
Beatrice Forsenström legte ihr Besteck hin. Sie sah Sibylla noch immer nicht an, als sie mit einer einzigen Bemerkung den Abgrund aufriss.
«Ich habe gehört, dass du mit Straßenkreuzern fährst.»
Eine Frau mit einer Bulldogge, die rettete sie. Sibylla sah sie schon von weitem allein am Ende der Gräsgatan stehen, wo der Fußweg zur Laubenkolonie von Eriksdal begann, und gestikulieren. Erst als sie näher kam, entdeckte sie in ihrem Ohr den kleinen schwarzen Kopfhörer sowie das Kabel zu einem Mobiltelefon. Nach den neuesten Erkenntnissen sollte so etwas die Benutzer solcher Geräte vor der Verstrahlung wichtiger Teile ihres Gehirns bewahren. Das hatte sie in der Zeitung gelesen.
«Ich bin stinksauer!»
Sibylla wurde langsamer und hörte neugierig zu. Die Bulldogge hatte sich hingesetzt und betrachtete mit Interesse ihr erregtes Frauchen.
«Verdammt nochmal, wir leben doch hier in keinem Polizeistaat ... Das ist mir scheißegal, nach wem ihr sucht. Wenn ich in Schweden spazieren gehe, dann setze ich voraus, dass ich nicht plötzlich eine Pistole ins Gesicht gedrückt bekomme. Mensch, das ist doch nicht normal!»
Sibylla blieb stehen.
«Nein, ich denke nicht daran, mich zu beruhigen! Ich werde Anzeige erstatten. Nicht einmal entschuldigt haben die sich. Die haben mich gezwungen mich auszuweisen, bevor ich weitergehen durfte ... Ich bin stinksauer!»
Die Frau verstummte und hörte jemandem am anderen Ende der Leitung zu. Sie warf Sibylla einen Blick zu und die sah sofort in eine andere Richtung.
«Ja ... Nein, das werde ich nicht tun. Und wenn Sie meine Anzeige nicht entgegennehmen, werde ich bei einer anderen Dienststelle anrufen.»
Die Frau beendete das Gespräch und steckte das Telefon in die Tasche. Der Hund stand auf.
«Komm, Kajsa!»
Die Frau und der Hund überquerten die Straße. Sibylla blieb auf der anderen Seite stehen.
«Gehen Sie bloß nicht da runter.»
Sibylla lächelte.
«Wie? Warum?»
« Da unten wimmelt es von Polizei. Man bemerkt sie aber erst, wenn einem schon eine Pistole ins Gesicht gehalten-wird. Keine Ahnung, was die da treiben. Ich bin stinksauer!»
Sibylla nickte.
«Danke! Dann nehme ich wohl lieber einen anderen Weg.»
Die Frau und der Hund gingen weiter. Sibylla holte tief Luft.
Uno Hjelm. Der kleine Judas des Kleingartenvereins. Der Teufel sollte ihn holen!
Sie musste jetzt weg hier. Schleunigst.
Wie lange würde sie diesen Zustand aushalten?
Überleben, das war eine Sache. Das konnte sie hinkriegen. Aber fliehen ...?
Sie beschleunigte ihren Schritt. Sie bildete sich ein, sie hätten sie bereits entdeckt und wären ihr auf den Fersen.
Woher hatte Hjelm wissen können, dass sie das war? Auf dem Bild in der Zeitung konnte er sie nicht erkannt haben. Das war doch schlicht unmöglich? Wenn er sie darauf erkannt hatte, war sie verloren. Dann konnte sie sich nirgends mehr sicher fühlen.
Sie musste sich eine neue Frisur zulegen.
Sie näherte sich der Ringstraße. Es waren viele Menschen unterwegs und sie tat ihr Bestes, um in der Menge zu verschwinden.
Sahen die Leute sie nicht komisch an? Der Kerl, der da auf dem Gehsteig ankam. Warum starrte er sie so an? Ihr Herz klopfte heftig. Den Blick auf den Boden. Der Mann ging vorbei.
Wenn sie sagte, wie es gewesen war, sie würden ihr doch bestimmt glauben? Sie würden doch bestimmt verstehen, dass sie ausnahmsweise mal in einem Bett schlafen wollte? Sie hatte es zurückzahlen wollen. Ganz bestimmt! Sie hatte bloß ihre Brieftasche verloren. Und das war in der Tat so.
Die Treppe zur U-Bahn hinunter war voller Leute.
Sie ging weiter.
Doch wohin sollte sie gehen?
Von der Renstiernas Gata aus stieg sie die Treppen zum Vitabergspark hinauf. Die Sofienkirche thronte wie eine Burg über ihr. Mächtig und sicher. Sie war müde und wollte sich ein Weilchen setzen. Sie drehte sich um. Der Fußweg zur Straße hinunter war leer. Ihr war niemand gefolgt.
Die Stille in der Kirche war kompakt. Ein älterer Mann saß rechts neben der Tür in einem Glaskasten und nickte ihr würdevoll zu, als sie eintrat. Sie nickte zurück und nahm ihren Rucksack ab.
Ein Mann mit Pferdeschwanz saß schlafend in der Bank unter der Kanzel, ansonsten war die Kirche leer. Sie kannte ihn. Sie hatte ihn ein paar Mal bei der Stadtmission gesehen. Jetzt schlief er, das Kinn auf der Brust.
Sie stellte den Rucksack an der hinteren Bank ab und setzte sich.
Schloss die Augen.
Einfach Ruhe.
Ein einziger Wunsch.
Der Mann in dem Glaskasten hustete, und das Geräusch rollte zwischen den Wänden dahin. Dann senkte sich wieder die Stille herab.
Gott hört ein Gebet.
Das hatte sie auf einem Plakat gleich neben der Tür gelesen.
Sie öffnete die Augen und betrachtete das riesige Altarbild vor sich. So viele Menschen, die seit Jahrhunderten ihr Leben in seine Hände gelegt, diese gewaltigen Gebäude errichtet und sich mit ihren Gebeten an ihn gewandt hatten. Auch sie. Als sie noch klein war. Jeden Abend das gleiche Gebet. Gott, er liebt die Kinderlein und Lieber Gott, die Eltern mein, lass sie noch nicht sterben.
Womöglich hatte er sie ja doch gehört? So viel sie wusste, lebten sie und waren bei guter Gesundheit. Aber Sieh auf mich, ich bin so klein ist unterwegs bestimmt verloren gegangen. Oder war er auch auf deren Seite?
Der anderen. Derer, die sich einfügten.
Aber Stinsen, der im vorigen Monat nach vier misslungenen Entgiftungsversuchen von der Västerbron sprang? Seine Gebete, wo waren die gelandet? Oder Lena, die mit dem Bus der Heilsarmee immer Kaffee brachte und plötzlich erfuhr, dass sie einen Gehirntumor hatte, der nicht zu operieren war, was hatte sie getan, um so was zu verdienen? Oder Tova und Jönsson und Smirre? Alle waren sie jetzt tot, nachdem sie jahrelang in einer Hölle gelebt hatten, ohne dass ihre Gebete erhört worden wären.
Nein, Du, Gott.
Und Jörgen Grundberg? Was immer er getan haben mag, mich brauchtest Du doch nicht mit da reinziehen.
Oder willst Du auch mich strafen? Und wenn das so ist, WANN bin ich genug gestraft?
Sie erhob sich und schnallte sich den Rucksack auf den Rücken. Hier gab es keinen Frieden.
Ohne den Mann im Glaskasten anzusehen, verließ sie die Kirche.
Als sie hinauskam, ging bereits die Sonne unter. Sibylla trat ein Stück von der Tür zurück, um die Kirchturmuhr sehen zu können. Viertel nach ftinf.
In dieser Nacht würde sie wirklich gern in einem Bett schlafen. Aber ein Hotel war zu riskant, und zum Asyl im Klaragärden traute sie sich nicht zu gehen. Die Schlafplätze waren knapp, und jemand, der keinen abbekam, hatte bei den Bullen, die eine Gegenleistung verlangten, womöglich noch eine Rechnung zu begleichen.
Sie legte die Hand auf ihren Brustbeutel. Zum ersten Mal, seitsie sich entschlossen hatte zu kämpfen, überkam sie die Lust, etwas von ihrem Schatz abzuzwacken. Ein ordentliches Besäufnis, um für ein Weilchen zu entkommen.
Verfluchte Scheiße!
Sie schlug den Fußweg zur Skänegatan ein. Nach nur etwa zehn Metern kam sie an einer grünen Tür in einem falunroten Bretterzaun vorbei. Ein Stück Kulturgeschichte. Rechts von der Tür war ein brauner Giebel, der zu einem kleinen, verwohnten Holzhaus gehörte. Sie blieb stehen. In dem braunen Giebel befand sich in Bodenhöhe eine vernagelte Klappe, aber einen Meter darüber war noch eine, die lediglich mit einem Holzpflock verriegelt war.
Sie sah sich um.
Der Park war leer.
Sie nahm geschwind ihren Rucksack ab, öffnete die Klappe und kletterte hinein.
Die Donnerstage gehörten uns. Da kam er zu mir. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn vor mir, wie er unten an der Straße die Gartenpforte öjfnet und den Kiesweg heraufkommt. Die Wärme in der Brust. Er trat sich sorgfaltig die Schuhe am Türvorleger ab. Dann war er da. Seine starken Arme. Das war keine Sünde, Herr, das war Liebe, eine solche Liebe, wie Du sie uns empfinden gelehrt hast. Ich danke Dir, dass ich das erleben durfte.
Ich habe es uns hier zu Hause immer so schön gemacht. Ich wollte, dass er spürte, wie sehr ich mich nach ihm gesehnt hatte. Jedes Mal hoffte ich, er würde für immer bleiben, aber spätestens um vier Uhr musste er gehen. Dann wusste ich, es dauerte sieben lange Tage und sieben lange Nächte voller Sehnsucht, bis ich ihn wiedersähe. Und jetzt ein ganzes Leben lang.
Dennoch danke ich Dir, Herr, danke, dass Du mich leitest. Dass Du mir gezeigt hast, wie ich ihm helfen kann, in Dein Reich zu kommen. Sodass ich weiß, er wartet auf mich, wenn ich komme. Danke, Herr, dass Du mich Deinen Bundesgenossen sein lässt, dass Du mich Dir helfen lässt, die frevelhaften Fehler der Menschen zu korrigieren.
Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Denn dies Verwesliche muss anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muss anziehen die Unsterblichkeit.
Wenn aber dies Verwesliche wird anziehen die Unverweslichkeit
und dies Sterbliche wird anziehen die Unsterblichkeit, dann wird er- füllt werden das Wort, das geschrieben steht: «Der Tod ist verschlungen in den Sieg.» Tod, wo ist dein Stachel?
Aber der Stachel des Todes ist die Sünde; die Kraft aber der Sünde ist das Gesetz. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus!
Ich will Dir auch danken, Herr, dass Du mich beschützt. Dass Du mich nicht allein lässt mit meinem Werk, sondern mir eine Frau als Beistand gesandt hast. Dass Du sie, zu heiligen Zwecken, ihre Sünden sühnen lässt.
Dafür danke ich Dir, Herr. Amen.
Als sie aufwachte, hatte sie keine Ahnung, wo sie sich befand. Das war an sich nicht ungewöhnlich, aber an diesem Morgen brauchte sie besonders lange sich zu orientieren. Das Licht sickerte durch die Ritzen in der Wand und fiel auf das Gerümpel rings um sie, aber wo sie war, daran erinnerte sie sich erst, als es von der Sofienkirche her siebenmal schlug.
Sie setzte sich auf und holte die letzte Banane aus dem Rucksack hervor.
Der Fußboden ringsum bestand aus Sägespänen, und sie hatte am Abend vorher ein paar Bretter quer über die Bodenbalken gelegt, um ihre Isomatte ausrollen zu können. Die Halsschmerzen waren jetzt völlig verschwunden. Während sie aß, beobachtete sie den Staub, der im Licht, das durch die Ritzen fiel, umherwirbelte. Nach dieser Nacht müsste sie eigentlich unbedingt duschen. Sie wagte es aber nicht, zum Hauptbahnhof zu gehen. Und auch nicht zum Klaragärden.
Seit sie ihren Kalender im Grand Hotel vergessen hatte, fehlte ihr die rechte Kontrolle über die Tage, aber wenn sie sich nicht verzählt hatte, war heute das Gnadengeschenk eingetroffen. Als Allererstes jedoch musste sie etwas mit ihrem Haar unternehmen. Wenn sie sich aus ihrem Brustbeutel ein wenig für ein Haarfärbemittel borgte, könnte sie hinterher zur Drottninggatan gehen und das Geld abholen.
Der 76er würde sie nach Ropsten bringen. Sie vermied es normalerweise Bus zu fahren. Die U-Bahnsperren waren leichter zu passieren. Sie zog einen Zwanziger aus dem Brustbeutel, ging zur Renstiernas Gata hinunter und stellte sich an die Haltestelle.
Zum ersten Mal seit sechs Jahren hatte sie aus dem Brustbeutel Geld genommen.
Der Teufel soll sie holen!
Anfangs war sie allein an der Haltestelle, aber nach ein paar Minuten bekam sie Gesellschaft. Niemand beachtete sie, trotzdem versuchte sie, den Blicken der Leute auszuweichen.
Als der Bus kam, gab es genügend Plätze, obwohl es mitten in der Hauptverkehrszeit war. Vierzehn Kronen für eine Fahrt. Ein ganzes Vermögen.
Sie setzte sich ganz nach hinten und stellte den Rucksack auf den Sitz neben sich. Erst bei Slussen waren alle Plätze besetzt, und eine Frau sah gereizt auf ihren Rucksack. Normalerweise hätte das keine Rolle gespielt, aber jetzt wollte sie auf keinen Fall, dass irgendjemand sie ansah.
Sie nahm ihr Gepäck auf den Schoß; die Frau setzte sich neben sie und holte eine Zeitung aus ihrer Aktentasche.
Sibylla schaute aus dem Fenster. Sie waren jetzt an der Skepps- bron. Sie kamen an einem Tabakladen vorbei und der Bus blieb direkt davor an einer roten Ampel stehen. Der Tabakwarenhändler brachte gerade die Aushänge des Tages an, und in dem Moment, in dem sie anfuhren, trat er zur Seite, sodass der Text zu sehen war.
Ihre Augen lasen ganz von allein und gaben die Information unaufgefordert ans Gehirn weiter.
Das konnte nicht wahr sein!
Lange Zeit saß sie einfach nur da und starrte vor sich hin. Angst und Verwirrung pulsierten durch ihren Körper. So als ob langsam eine Schlinge um ihren Hals zugezogen würde.
Ein Gesicht im Bus war ihr zugewandt und löste ihre Erstarrung. Instinktiv schob sie den Rucksack hoch und benutzte ihn als Barriere. Nun konnte sie auch die aufgeschlagene Zeitung auf dem Schoß der Frau neben sich sehen.
Sie wollte sie gar nicht sehen, aber ihre Augen führten schon wieder ein Eigenleben.
Allein schon von der Schlagzeile wurde ihr schlecht.
Mehr vermochte sie nicht zu lesen. Den Rest der Fahrt starrte sie unverwandt auf ihren Rucksack, und erst als die Frau ihre Zeitung zuschlug und ausstieg, wagte sie sich wieder zu rühren.
An der Endstation war sie die Einzige im Bus. Als sie sich erhob, um auszusteigen, sah sie, dass die Frau die Zeitung auf dem Sitz hatte liegen lassen.
Sie wollte es nicht.
Aber sie wusste, dass sie es tun musste.
Der Teufel soll sie holen!
Sie stieg aus und steckte die Zeitung in den Rucksack.
Auf dem Weg zur Nimrodsgatan ging sie zum Konsum und kaufte sich eine Packung Casting Schwarz. Sie öffnete den Brustbeutel zum zweiten Mal und zwackte etwas von ihrem Schatz ab. Sobald sie bei der Post ihr Almosen abgeholt hätte, würde sie alles zurückzahlen.
Das Mietshaus in der Nimrodsgatan war ein Ort von unschätzbarem Wert für sie und etliche andere in ihrer Situation. Über ein solches Kleinod schwieg man in ihren Kreisen, und sie hatte für die Auskunft einst teuer bezahlen müssen.
Aber nicht mit Geld.
Die Eingangstür war Tag und Nacht offen. Die Wohnungen in dem Haus hatten keine Dusche, und deshalb gab es im Keller mehrere gut ausgestattete Duschräume. Schön gekachelt, unbegrenzte Mengen warmen Wassers, Toiletten mit Toilettenpapier.
Und Schlösser.
Sie war eine der Eingeweihten, die wussten, wo der Reserveschlüssel lag. Vom Erdgeschoss aus ging man eine halbe Treppe tiefer, und gleich vor der Kellertür, der Pforte zu all der Herrlichkeit, war eine alte Eisenklappe. Dahinter verwahrten die Mieter einen Extraschlüssel, der an einem halbmeterlangen Holzstück
befestigt war, damit es niemandem einfiele, ihn in die Tasche zu stecken.
Dieser Schlüssel war sein Gewicht in Gold wert. Wenn nicht mehr.
Und war man erst einmal drinnen, dann konnte man hinter sich abschließen.
Von innen.
Zuerst füllte sie das Waschbecken auf der Toilette mit Wasser und weichte ihre Unterhosen ein. Ein paar Tropfen Shampoo mussten als Waschmittel herhalten. Dann zog sie sich ganz aus und drehte das warme Wasser in der Dusche auf. Sie hatte Glück. Irgendjemand hatte eine Flasche Duschgel vergessen.
Sie schloss die Augen, aber das Einzige, was sie vor sich sah, war das Bild in der Zeitung, das sie im Bus gesehen hatte.
Wann würde es ein Ende haben?
Wann würden die Albträume vorüber sein?
Frau aus dem Grand mordet wieder. Weiterer Ritualmord in Västervik.
Wie lange geht das schon so?»
Es war ausnahmsweise ihr Vater, der mit ihr sprach. Sibylla schluckte. Der Tisch vor ihr wogte noch immer.
«Was denn?»
Beatrice Forsenström schnaubte.
«Stell dich nicht dumm, Sibylla. Du weißt genau, was wir meinen.»
Sibylla wusste es. Irgendjemand hatte sie in Mickes Auto gesehen.
«Wir haben uns im Frühjahr kennen gelernt.»
Ihre Eltern blickten sich über den Tisch hinweg an. Es sah aus, als ob zwischen ihnen elastische Drähte gespannt wären.
«Wie heißt er.» Wieder war es ihr Vater, der fragte.
«Mikael. Mikael Perrson.»
«Kennen wir seine Eltern?»
«Ich glaube nicht. Sie wohnen in Värnamo.»
Es war ein Weilchen still. Sibylla versuchte in diesem Augenblick Ruhe zu finden.
«Wovon lebt er hier in Hultaryd? Ich nehme doch an, dass er eine Arbeit hat.»
Sibylla nickte. «Er ist Automechaniker. Er weiß alles über Autos.»
«Aha, sag an.»
Ihre Eltern sahen sich wieder an. Immer mehr Drähte spannten sich zwischen ihnen. Schwingende grüne und rote Drähte. Die Eltern hatten jetzt keine Gesichter mehr. Sibylla senkte den Blick und sah auf den Tisch.
«Wir möchten nicht, dass unsere Tochter mit Straßenkreuzern fährt.»
Es ist ein De Soto Firedome neunundfünfzig.
«Und überhaupt möchten wir nicht, dass du in diesen Kreisen verkehrst.»
Ihr Kopf fühlte sich wie ein Bleiklumpen an. Er kippte zur Seite und sie konnte ihn nicht mehr aufrichten.
«Das sind meine Freunde.»
«Sitz ordentlich, wenn wir mit dir sprechen!»
Ihr Kopf schnellte automatisch in die Höhe, aber ihr Hals vermochte ihn nicht aufrecht zu halten. Er fiel nach hinten und schlug gegen die hohe Rückenlehne des Stuhls.
«Was ist mit dir? Sibylla! Was machst du denn?»
Ihre Mutter hatte sich vom Stuhl erhoben, und Sibylla sah aus den Augenwinkeln, dass sie sich näherte. Ihr Kopf saß an der Rückenlehne fest. Dann, in dem Augenblick, als ihre Mutter bei ihr war, merkte sie, wie er auf die Seite glitt und ihr Körper ihm auf den Boden folgte.
«Sibylla. Wie geht es dir, Sibylla?»
Es war weich, wo sie lag, und es war die Stimme ihrer Mutter, die im Zimmer zu hören war. Etwas Kaltes und Nasses lag auf ihrer Stirn und Sibylla öffnete die Augen. Sie lag auf ihrem Bett und ihre Mutter saß auf der Bettkante. Ihr Vater stand mitten im Zimmer.
«Herzchen, wie hast du uns erschreckt!»
Sibylla sah ihre Mutter an.
«Verzeiht.»
«Wir sprechen später darüber.»
Henry Forsenström trat ans Bett.
«Wie fiihlst du dich? Soll ich Doktor Wallgren rufen?»
Sibylla schüttelte den Kopf. Ihr Vater bestätigte ihre Antwort mit einem Nicken und verließ das Zimmer. Sibylla sah ihre Mutter an.
«Ich meine, verzeiht, dass ich ohnmächtig geworden bin.»
Beatrice nahm ihr das nasse Taschentuch von der Stirn.
«Dagegen kann man nichts machen, Sibylla. Dafür braucht man sich nicht zu entschuldigen. Was jedoch die andere Sache betrifft, über die wir gesprochen haben, da wird getan, was Vater und ich beschlossen haben. Du gehst nicht mehr dorthin.»
Sibylla merkte, dass sie den Tränen nahe war.
«Bitte, Mutter.»
«Es hat keinen Zweck, eine Szene zu machen. Es ist zu deinem Besten, das weißt du.»
«Aber das sind meine einzigen Freunde.»
Die Mutter straffte den Rücken. Sibylla merkte, dass sie sich der Geduldsgrenze ihrer Mutter näherte. Die Diskussion war nun beendet.
Genau wie alles andere.
Eine lange, ungestörte Dusche war normalerweise eine Trumpfkarte, wenn es die Lebenslust wiederzugewinnen galt.
Diesmal half es nicht die Bohne.
Als Sibylla aus der Dusche stieg und sich abtrocknete, fühlte sie sich noch verzagter als zuvor. Als ob die Hoffnung mit dem Abwasser weggeschwemmt worden wäre.
Sie wand die gewaschenen Unterhosen aus und ging in die Waschküche auf der anderen Seite des Kellerflurs. Der Schlüssel passte auch dort. Während Unterhosen und Handtuch im Trockner waren, schloss sie sich wieder im Duschraum ein, um sich an ihre neue Frisur zu machen.
Das schulterlange Haar fiel zu Boden. Hinten im Nacken war es mühsam zu schneiden, und je mehr sie abschnitt, umso bewusster wurde ihr, dass es schwierig würde, sich künftig kostenlose Hotelnächte zu erflirten.
Aber diese Möglichkeit war ihr ja ohnehin genommen.
Sie befolgte gewissenhaft die beigefügte Gebrauchsanweisung und färbte ihre übrig gebliebenen Strähnen schwarz. Als sie fertig war, sah sie wie eine überalterte Punkerin aus.
Jetzt würde nicht einmal Uno Hjelm sie erkennen.
Sie machte gründlich sauber hinter sich. Das war Ehrensache unter den Erwählten, die diese geheime Luxuseinrichtung kannten, weil auch nur das geringste Zeichen ihrer Anwesenheit die Mieter dazu veranlassen könnte, den Schlüssel woanders zu verstecken.
Als sie fertig und wieder angezogen war, setzte sie sich auf die Toilette, um darauf zu warten, dass die Wäsche trocken würde. Die Zeitung lag mit der Rückseite nach oben auf dem Boden vor der Toilettentür. Sie hatte es noch nicht fertig gebracht, sie zu leisen, und alles getan, um die Lektüre aufzuschieben, aber jetzt war die Zeit reif. Sie holte tief Atem, beugte sich vor und schnappte sich das Blatt.
Seite 6, 7, 8 und in der Mitte.
Die 32-jährige Sibylla Forsenström, gegen die vorgestern wegen Mordes an dem 51-jährigen Jörgen Grundberg im Grand Hotel in Abwesenheit Haftbefehl erlassen wurde, beging gestern Nachmittag erneut einen brutalen Mord. Am Sonntagnachmittag gegen fünfzehn Uhr wurde in seinem Sommersitz unmittelbar nördlich von Västervik ein 63-jähriger Mann umgebracht. Der Mann, der sich zufällig allein in dem Haus befand, schlief vermutlich, als die Frau zuschlug. Die Vorgehensweise ist identisch mit der bei dem Mord im Grand Hotel, aus ermittlungstechnischen Gründen will die Polizei jedoch nicht bekannt geben, wie das Opfer umgebracht wurde. Die Morde werden als reine Hinrichtungen bezeichnet. Beide Opfer wurden grob geschändet, wobei den Leichen Körperteile abgetrennt wurden. Die Polizei will allerdings keine Angaben dazu machen, welcher oder welche Körperteile fehlen. Die Frau wird aufgrund der Umstände des Mordes und der Störung des Totenfriedens verdächtigt. Die Polizei hat bisher kein Motiv für die Morde gefunden und befürchtet, dass die Opfer willkürlich gewählt wurden.
Mehr konnte sie einfach nicht lesen, sie blätterte weiter. Das Erste, worauf ihr Blick fiel, war ein gezeichnetes Phantombild, das ihr beunruhigend ähnlich war. Der Kellner musste ein gutes Gedächtnis haben, und Hjelm hatte wohl etwas zum Thema Haar beitragen können.
Davon hatte er nun nicht mehr viel.
Verfluchte Scheiße.
Wie konnte das passieren?
Die Polizei hat noch immer keine heiße Spur der 32-jährigen Sibylla Forsenström, und man versucht nun, Hilfe aus der so genannten Stockholmer Unterwelt zu bekommen. Es sind mehrfach Hinweise eingegangen und Zeugen gaben an, die Frau u. a. auf dem Stockholmer Hauptbahnhof sowie in einer Kleingartenkolonie auf
Södermalm gesehen zu haben. Nach dem Mord in Västervik wurde landesweit Alarmbereitschaft angeordnet. Unbestätigten Quellen zufolge hinterließ die Frau am Tatort ein Schreiben religiösen Inhalts, in dem sie sich auch an diesem Mord schuldig bekennt. Ein Motiv konnte nicht ermittelt werden.
Sie stand auf und übergab sich ins Waschbecken.
Wie, zum Teufel, konnte ihr denn eine Flasche Haarfärbemittel helfen, wenn das gesamte Polizeikorps Schwedens auf den Beinen war und nach ihr suchte und sie im Verdacht hatte, eine verrückte Ritualmörderin zu sein?
Ihr Körper wollte sich noch mehr übergeben und wurde von Konvulsionen geschüttelt, aber im Moment hatte ihr Magen nicht mehr zu bieten.
Sie wollte etwas Wasser trinken. In dem Moment klopfte es an der Tür.
«Hallo. Bist du bald fertig da drinnen?»
Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gesicht war aschgrau und die schwarzen Haarsträhnen standen ab. Sie hatte noch nie derart einem Junkie geglichen.
«Ich stehe unter der Dusche.»
Sie schloss die Augen und betete still zu Gott, dass die Person da draußen zu einem anderen Duschraum gehen möge. Aber warum sollte Er gerade jetzt auf sie hören?
«Beeil dich bitte ein bisschen. Die andere Dusche ist auch besetzt.»
«Ja, sicher.»
Draußen wurde es still. Sie nahm ihr Schminktäschchen aus dem Rucksack, legte etwas Rouge auf die Wangen und schminkte sich die Lippen. Das machte es nicht unbedingt besser, aber zumindest merkte man, dass sie sich Mühe gegeben hatte.
Sie riss ein Stück Toilettenpapier ab und wischte die Bananenreste aus dem Waschbecken. Dann legte sie das Ohr an die Tür und horchte. Das Einzige, was sie hören konnte, war das Geräusch des Trockners in der Waschküche gegenüber.
Was hatte sie für eine Wahl ? Je beschämter sie dreinsah, desto verdächtiger wirkte sie. Mit einer energischen Bewegung ließ sie das Schloss aufspringen und öffnete die Tür.
«Ui. Das ging aber schnell. So eilig war es auch wieder nicht.»
/Er saß draußen auf dem Fußboden und las in einem Buch. Als sie die Tür öffnete, stand er auf. Sibylla versuchte zu lächeln. Er sah verwundert ihren Rucksack an und sie folgte seinem Blick.
«Die Wäsche», erklärte sie.
Er nickte. Sie hielt den halbmeterlangen Schlüsselanhänger in der Hand und ging zur Waschküchentür. Ihre Hand zitterte und sie hatte Mühe, den Schlüssel ins Schloss zu stecken.
«Bist du gerade eingezogen?»
Endlich ging die Tür auf. Sie trat an den Trockner, um den Blick des Typen nicht erwidern zu müssen.
«Ja.»
«Toll. Willkommen!»
Geh jetzt rein und dusch dich, verdammt nochmal, bevor ich dir eins reinhaue.
Sie öffnete den Trockner und nahm ihre Unterhosen und das Handtuch heraus. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Typ kehrtmachte und einen Schritt in den Duschraum tat. So schnell sie konnte, schmiss sie die halb trockene Wäsche in den Rucksack und schnallte ihn sich auf den Rücken. Als sie sich umdrehte und gehen wollte, hatte auch er sich wieder umgedreht und sah sie an. In der linken Hand hielt er die Zeitung. Sie erstarrte so plötzlich, als ob sie mitten im Schritt im Betonfußboden stecken geblieben wäre.
Einen Moment lang sah er verwirrt aus. Er streckte ihr die Zeitung hin.
«Bleib locker! Du hast nur das hier vergessen.»
Die alljährliche Weihnachtsfeier.
Siebzehn Jahre. Die Ehrentafel.
Sie hatte darum gebeten, zu Hause bleiben zu dürfen. Ihre Mutter hatte vor Verwunderung gestutzt.
«Es ist doch toll für dich, ein bisschen rauszukommen. Du sitzt doch nun schon monatelang zu Hause herum.»
Ja. Natürlich tat sie das. Dreiundsechzig Tage und neun Stunden waren vergangen, seit sie Micke zuletzt gesehen hatte. Gun- Britt holte sie mit dem Renault jeden Tag in Vetlanda von der Schule ab, und die Spaziergänge waren auf Grund verspielten Vertrauens gestrichen worden.
«Ich will nicht.»
Ihre Mutter ging schweigend zum Ankleideraum und öffnete die Tür, um für ihre Tochter eine passende Kreation herauszusuchen.
«Was sind das für Dummheiten ? Es ist ganz klar, dass du mitkommst.»
Sibylla setzte sich aufs Bett und schaute ihrer Mutter dabei zu, wie sie die Kleider durchging.
«Ich komme nur mit, wenn ich am Jugendtisch sitzen darf.»
Beatrice Forsenström verschlug es angesichts dieses unerhörten Ultimatums zunächst die Sprache.
«Und aus welchem Grund solltest du denn dort sitzen, wenn ich fragen darf?»
«Weil sie dort zufällig in meinem Alter sind.»
Ihre Mutter hatte einen ungewöhnlichen Gesichtsausdruck, als sie sich umdrehte und sie betrachtete. Sibylla spürte ihr Herz heftig klopfen. Sie hatte sich entschlossen. Sie hatte jetzt Micke, zu dem sie flüchten konnte. Sie war nicht mehr allein. In sieben Monaten würde sie achtzehn werden, und dann konnte sie machen, was sie wollte. Bis dahin, hatte sie beschlossen, würde sie Krieg führen.
«Wenn ich nicht dort sitzen darf, bleibe ich zu Hause.»
Ihre Stimme hatte nicht einmal gezittert. Die Mutter traute ihren Ohren nicht. Sie selbst auch kaum. Beunruhigend war freilich, dass sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter nicht deuten konnte. Ihr kroch ein Anflug von Unsicherheit unter die Haut. Eine leise Ahnung von Furcht.
«Du weißt, dass dieses für mich und Vater der wichtigste Abend im Jahr ist, und dann machst du so etwas. Warum kannst du immer nur an dich und nie an andere denken?»
Das Pendel schlug voll aus.
Sie war drauf und dran, ein Erdbeben auszulösen, und es bestand nicht der geringste Zweifel daran, wer davon getroffen würde. Sibylla war plötzlich vor Schreck gelähmt. Wahrscheinlich war ihr ihre Angst anzusehen, denn Beatrice Forsenström ergriff die Gelegenheit, das Gespräch zu beenden.
«Wir werden uns darüber unterhalten, wenn wir nach Hause kommen.»
Mit diesen Worten verließ ihre Mutter das Zimmer.
Wieder hatte sie ihren Willen gebrochen.
Der Verkaufschef zur Linken.
Direktor Forsenström auf dem Ehrenplatz.
Sibylla war komisch zumute, wie sie da in ihrem Kleid an der Ehrentafel saß. Der Raum drehte sich gleichsam. Die Geräusche kamen schubweise, und sie konnte nur die Worte derer verstehen, die ihr am nächsten saßen. Die Zorneswogen ihrer Mutter schräg gegenüber trafen sie wie Stromstöße, und sie wunderte sich, dass diese Kraft die Gläser zwischen ihnen nicht zum Umkippen brachte. Das Essen hatte Sibylla nicht angerührt. Die anderen waren fast fertig. Ihre Mutter lächelte und prostete allen rund um den Tisch zu, aber jedes Mal, wenn sich ihre Blicke begegneten, sanken ihr die Mundwinkel herab, als ob sie der Schwerkraft nicht widerstehen könnten.
Da, in eben diesem Moment, in dem sie dasaß und darauf wartete, dass eine ausgeklügelte Bestrafung erfolgte, spürte Sibylla, dass es genug war. Ein ersehnter Zorn erfüllte sie mit unglaublicher Kraft. Diese Frau, die ihr schräg gegenübersaß und sie wie eine Gefangene in ihrem eigenen Dasein hielt, verwandelte sich plötzlich in ein absurdes Monster. Sie war aus ihrem
Leib geboren worden. Na und? Sie hatte sich das nicht ausgesucht. Warum Gott diese Frau ein Kind hatte zur Welt bringen lassen, war ein Mysterium. Alles, was ihre Mutter eigentlich hatte haben wollen, war ein Symbol für die Vortrefflichkeit der Forsenström'schen Familie. Dafür, dass alles so war, wie es sein sollte. Aber es war nichts so, wie es sein sollte. Sibylla wurde plötzlich klar, dass ihre Mutter das ausgefuchste Spiel aus Gehorsam-Züchtigung-Strafe genoss, das sie in ihrem Hause zum Leitstern erkoren hatte. Dass sie es genoss, sie zu besitzen. Ihren Gemütszustand beeinflussen zu können. Über ihre Angst zu herrschen.
«Wie geht es denn jetzt so in der Schule?»
Der Verkaufschef stellte seine alljährliche Frage, an deren Beantwortung er eigentlich genauso interessiert war wie an dem Dreck unter seinen Schuhen.
«Danke», antwortete sie laut und deutlich. «Wir saufen und vögeln meistens.»
Zuerst nickte er wohlwollend, im nächsten Moment aber rutschte die Antwort in seinem kleinen Kopf an die richtige Stelle. Er sah sich verwirrt um. Um die erhöhte Ehrentafel herum wurde es totenstill. Ihr Vater sah sie an, als ob er nicht wüsste, was Vögeln bedeutete, und die Gesichtsfarbe ihrer Mutter wechselte ins Lila. Sibylla war völlig ruhig. Lediglich die Umgebung drehte sich. Vor ihr stand das eben nachgefüllte Schnapsglas des Verkaufschefs, das nahm sie und erhob es, um ihrer Mutter zuzutrinken.
«Zum Wohl, Mama! Du möchtest dich vielleicht gern auf einen Stuhl stellen und für uns ein Weihnachtsliedchen singen. Das wäre doch reizend, finden Sie nicht auch?»
Sie stürzte den Schnaps hinunter. Im Saal war es jetzt absolut still. Sie stellte sich hin.
«Was meinen Sie? Wäre es nicht reizend, wenn die kleine Beatrice für uns ein Liedchen singen würde?»