Sie seufzte tief.

«Geh nach Hause und hol dir eine Jacke.»

Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu.

«Warum denn?»

«Weil du frierst.»

Er sah sie an.

« Glaubst du denn, ich raffe nicht, dass du weg bist, wenn ich zurückkomme?»

«Und was willst du dagegen machen?»

Sie maßen sich mit Blicken. Dann zog er seine Brieftasche aus der Gesäßtasche und steckte sie ihr in die Jackentasche.

« Halt das mal, bis ich wieder da bin.»

Und schon war er fünf, sechs Meter weg und verschwand soeben um die Ecke. Dieser kleine Rotzbengel war gar nicht dumm. Er würde sein Glück machen. Sie zog seine Brieftasche heraus und wog sie in der Hand. Dann schloss sie die Augen und konnte sich das Lächeln nicht verbeißen.

Ich warte draußen. Ich setze mich in Björns Trädgärd.»

Er war noch immer nicht ganz überzeugt davon, dass sie nicht abhauen würde. Sie sah, dass er zögerte.

«Ich verspreche, dass ich warten werde.»

Diesmal meinte sie es wirklich so. Er nickte und überquerte die Götgatan. Sie sah ihm nach, bis er durch die Tür der Bibliothek am Medborgarplatsen verschwand.

Als er mit seiner Jacke zurückgekommen war, war sein Gesicht in einem Lächeln erstrahlt, das eine jede unschuldig des Mordes Bezichtigte zum Schmelzen hätte bringen können. Sibylla hatte dieses Lächeln einfach erwidern müssen, und dann hatte sie den ersten Schritt seines Planes erfahren. Er wollte der Polizei eine

E-Mail schicken und Sibylla für die Nacht ein Alibi geben. Sie hatte gezögert und ihm das Versprechen abgenommen, nicht zu verraten, wo sie sich aufgehalten hätten, und vor allem nicht, wer er sei. Daraufhin hatte er sie mit dem Nicht-ganz-bei-Sinnen- Blick angesehen und erklärt, wenn er hätte verraten wollen, wer er sei, hätte er auch von zu Hause mailen können. Er werde nun aber den Computer in der Bibliothek benutzen, um seine Identität zu verbergen.

Sie saß jetzt auf einer Bank in Björns Trädgärd und wartete auf ihn. Rings um den Medborgarplatsen tummelten sich die Samstagsflaneure, aber glücklicherweise konnte sie auf den anderen Bänken im Park keine Bekannten entdecken.

Nach zehn Minuten war er schon wieder bei ihr.

«Was hast du geschrieben?»

«Ich habe geschrieben, dass Sibylla Forsenström gerade vor der Bibliothek am Medborgarplatsen sitzt, dass sie aber unschuldig ist.»

Im ersten Moment ging sie ihm auf den Leim. Im nächsten seufzte sie.

«Das war nicht lustig, Patrik.»

«Ich habe geschrieben, dass ich anonym bleiben möchte, aber mit hundertprozentiger Sicherheit wüsste, dass du keine Mörderin bist.»

Ihr fuhr ein Gedanke durch den Kopf.

«Woher weißt du das eigentlich? Ich kann doch alle anderen umgebracht haben. Alle, außer dem heute Nacht.»

«Ja, klar doch! Du wirkst wirklich mordsgefährlich.»

Sie ließ nicht locker.

«Mal im Ernst. Wenn ich es nun doch war?»

Auf seiner Stirn erschien eine Falte. Er sah sie an.

«Ist es so?»

Sie ließ sich mit der Antwort etwas Zeit. Dann lächelte sie ein wenig.

«Nein. Aber du siehst: Nicht einmal du bist dir ganz sicher.»

« Das bin ich mir wohl, aber du musstest ja jetzt anfangen, darauf herumzureiten.»

Er war jetzt etwas gereizt und sie ebenfalls. Sie hatte nicht vorgehabt, ein interessantes Maskottchen zu werden, mit dem er eine Weile herumziehen und spielen könnte.

«Ich möchte nur, dass du nicht alles für so selbstverständlich hältst.»

Die Falte vertiefte sich. Ihm war jetzt nicht klar, was sie meinte.

Das war gut so.

Sie gedachte, auch künftig die Kontrolle zu behalten. Sie nicht an ihn abzutreten.

Er setzte sich zu ihr und sie schwiegen eine Weile. Menschen gingen an ihnen vorbei und sie folgten ihnen mit dem Blick, aber niemand schien das ungleiche Paar, das da auf der Bank saß, zu beachten.

Zwei Streifenwagen kamen mit hoher Geschwindigkeit den Buckel der Götgatan heraufgefahren und bogen auf den Medborgarplatsen ein. Sie hatten kein Martinshorn an, damit die Leute auf dem Platz aber aus dem Weg gingen, schalteten sie das Blaulicht ein. Sobald sie angehalten hatten, gingen die Autotüren auf, und aus jedem Wagen stiegen zwei Polizisten und stürmten in die Bibliothek.

Es war höchste Zeit zu gehen.

Sie sahen sich an und standen auf. Beschleunigten auf der Tjärhovsgatan ihren Schritt und bogen dann den Hügel zum Mosebacke Torg hinauf ab. Sie sagten noch immer nichts, setzten sich lediglich auf eine der Bänke. An diesem Tag war die Sonne endlich durch die kompakte Wolkenmasse gedrungen, die in den vergangenen Wochen wie ein Deckel über Stockholm gelegen hatte. Sibylla stellte den Rucksack neben sich auf die Bank, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Jetzt ins Ausland fahren! Inein Land, wo immer die Sonne schien und wo niemand nach ihr suchte. Sie war noch nie außerhalb der Grenzen Schwedens gewesen ; als sie noch klein war, waren ihre Eltern ein paar Mal nach Mallorca gereist, aber sie hatte keinen Pass.

Als sie bestimmt eine Viertelstunde lang schweigend da gesessen hatten, drehte er sich um und sah sie an.

«Ich werde zum Arbeitsplatz meiner Mutter gehen und in ihrem Computer nachgucken.»

Einfach so.

«Das darfst du nicht.»

«Das weiß ich, ich werde es aber trotzdem tun.»

«Ich lasse das nicht zu. Ich möchte nicht, dass du in diese Sache hineingezogen wirst.»

Er schnaubte leicht.

«Das bin ich doch schon.»

Ja. Das war wohl wahr. Hätte sie allerdings vorher geahnt, dass er nur halb so unternehmungslustig wäre, dann hätte sie es sein lassen. In seinem Alter hatte sie stumm wie ein Fisch da gesessen und artig den Weisheiten der Erwachsenen gelauscht.

Und man sah ja, was aus ihr geworden war.

«Könntest du das wirklich machen, ohne erwischt zu werden? »

«Ich gehe einfach hin und frage nach meiner Mutter, und dann bitte ich, in ihrem Zimmer warten zu dürfen.»

«Aber sie ist doch zu einem Kurs.»

«Das wissen die an der Pforte doch nicht.»

« Und wenn doch?»

Jetzt hatte er allmählich genug von ihrem mangelnden Enthusiasmus.

«Na, dann werde ich mir wohl was einfallen lassen müssen.»

Ganz schön großspurig. Das war gar nicht gut.

«Und wenn dich jemand erwischt?»

«Mich erwischt schon niemand.»«Ich sagte: wenn?»

Darauf wollte er offensichtlich nicht antworten. Er schlug sich auf die Schenkel und stand auf.

« Gehen wir?»

«Wohin?»

Er schien sich zu fragen, warum er alles zweimal erklären müsse.

«Zum Arbeitsplatz meiner Mutter!»

Sie sah ihn schweigend an. Entweder war er ihr rettender Engel oder der endgültige Absturz. Aber so etwas wusste man immer erst hinterher.

«Hast du etwas dagegen, wenn ich nicht mitkomme, wenn du im Polizeipräsidium einbrichst?»

Er grinste ein bisschen.

«Wo treffen wir uns?»

Sie hatte ihn nicht kommen hören. Sie saß hinterm Stadshuset unten am Kai und wartete. Als der Minutenzeiger der Riddarholmskyrkan einmal rundherum gewandert war, hatte sie zum ersten Mal ernsthaft überlegt, ob sie gehen sollte. Sie war jedoch sitzen geblieben.

Eine halbe Stunde später tauchte vor ihrer Nase ein Blatt Papier auf.

Er hatte sich hinterrücks angeschlichen, und als sie sich umdrehte und ihn sah, blitzte hinter der Stahlbrille der Stolz.

Sie nahm das Blatt und las. Jörgen Gundberg war der erste Name, danach kamen noch drei. Ein Mann und zwei Frauen. Vier unbekannte Menschen, von denen die Polizei annahm, dass sie sie ermordet habe.

«Alle Opfer. Mit Adresse und Personennummer.» Er beugte sich über ihre Schulter.

« Das Opfer von heute Nacht wohnte offenbar in Stocksund. Ist das nicht hier in Stockholm?»

Sie nickte. So viel zu seinem Alibi. Sie hätte gut und gern nach Stocksund und wieder zurück fahren können, während Patrik friedlich auf dem Dachboden der Sofienschule schlief. Sie sah ihn an. Dieser Gedanke war ihm offensichtlich nicht gekommen. Noch nicht. Im Moment war er ganz von seiner Großtat erfüllt.

Sie ließ das Blatt sinken und schaute über den Riddarfjärden. Das Wasser glitzerte von den Sonnenstrahlen. Nicht weit von ihrem Platz schaukelten ein paar Enten vorüber.

«Aha. Und was, meinst du, sollen wir jetzt machen?»

Er steckte die Hand in die Tasche und zog ein Bündel mit weiteren Papieren hervor.

«Ich habe ausgedruckt, was ich gefunden habe.»

«Hat dich jemand gesehen?»

«Nein. In den PC meiner Mutter kam ich nicht rein, aber Kenta im Nebenzimmer war eingeloggt, und als er aufs Klo ging, habe ich die Gelegenheit genutzt.»

Sibylla schüttelte den Kopf.

«Du bist ja verrückt.»

«Er war ziemlich lange weg.» Er grinste. «Ich glaube, dass weder er noch meine Mutter mit diesem Fall befasst sind. Ich habe bei ihm nur ganz allgemeine Informationen gefunden.»

Er faltete die Blätter auseinander und zeigte ihr das oberste.

«Schau her. Das hier hat der Mörder am Tatort zurückgelassen.»

Das Schwarz-Weiß-Bild zeigte ein Kruzifix. Das Kreuz war aus dunklem Holz, und die Christusfigur schien aus Silber oder einem anderen hellen Metall zu sein. Daneben waren millimetergenau die Maße angegeben.

Sie streckte die Hand nach dem zweiten Blatt aus.

Noch eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Das Bild einer Wand mit geblümter Tapete. Am unteren Rand ein ungemachtes Bett mitgroßen schwarzen Flecken. Und auf der Wand darüber deutlich sichtbar der Text:

Wehe dem, der den Unschuldigen seines Rechtes beraubt. Sibylla.

Sie sah ihn an und er reichte ihr schnell das letzte Blatt. Ein Bild von einem Paar durchsichtiger Plastikhandschuhe. Nutex 8 stand in Druckschrift daneben.

«Solche benutzen sie im Krankenhaus.»

Sie nickte. Ja, dann war der Fall ja gelöst.

«Das ist alles, was ich kriegen konnte. Aber immerhin haben wir jetzt die Namen.»

«Und was sollen wir damit anfangen?»

Er drehte sich zu ihr, sodass seine Knie auf sie zeigten, und zögerte ein wenig, so als ob er nach Worten suchte.

«Weißt du, was ich finde?»

Ich habe wirklich keine Ahnung.

«Ich finde, du machst den Eindruck, als ob du aufgegeben hättest. Als ob du eigentlich gar nicht wolltest, dass dieser Fall gelöst wird. Als ob es dir scheißegal wäre, wie es läuft.»

«Und wenn schon? Wäre das denn so merkwürdig?»

«Wenn ich mich so verhalte, sagt mein Vater immer, dass ich nicht nur dasitzen und mir selber Leid tun soll. Dass ich lieber etwas gegen die Scheiße unternehmen soll.»

Ja. Dein Vater hat damit wirklich Erfolg gehabt.

« Gestern hast du noch davon geredet, wie missverstanden alle Penner und so sind, dass ihr keine Chance hättet und was sonst noch alles, aber jetzt, wo du eine Chance kriegst, nimmst du sie nicht wahr, verdammt nochmal!»

Er ereiferte sich jetzt richtig. Sie sah ihn mit neuem Interesse an. Ob er sie vor den Kopf gestoßen oder ihr heimgeleuchtet hatte, konnte sie noch nicht entscheiden, aber das, was er gesagt hatte, war völlig berechtigt.

«Okay.» Sie erhob sich. «Was soll ich jetzt tun, Chef?»

«Wir werden nach Västervik fahren.»

Sie starrte ihn an.

« Machst du Witze?»

«Nein. Ich habe das telefonisch abgecheckt. In einer halben Stunde geht ein Bus. Vierhundertsechzig Kronen hin und zurück. Du kannst sie dir von mir leihen. Wir sind um zwanzig vor fünf dort und haben dann zwei Stunden und zwanzig Minuten Zeit, bis der Bus zurückfährt.»

Sie schüttelte den Kopf.

«Du spinnst wirklich.»

«Um Viertel nach elf sind wir wieder da.»

Sie griff nach dem letzten Strohhalm.

« Du musst vor zehn zu Hause sein.»

«Nein. Ich gehe nämlich ins Kino. Ich habe schon angerufen.»

Vor dem Fenster flog die Landschaft vorüber. Södertälje, Nyköping, Norrköping, Söderköping. Patrik studierte die Ausdrucke, die er bei der Polizei gestohlen hatte, als wäre irgendein verborgener Anhaltspunkt darin zu finden. Sibylla selbst starrte meistens aus dem Fenster.

Die Fahrkarten hatte sie selbst bezahlt. War in der Wartehalle zur Toilette gegangen und hatte dem Brustbeutel verstohlen einen Tausender entnommen. Als sie zurückkam, hatte Patrik als Proviant zwei Tüten Chips und eine Zweiliterflasche Cola gekauft, und als sie die Fahrscheine löste, hatte er mit großen Augen ihren Schein betrachtet.

Aber er hatte keine Fragen gestellt. Das war gut.

«Warum machst du das eigentlich?»