7

A

H, DA SEID IHR JA, St. Clair. Wo zum Hades seid Ihr gewesen?«

Die Stimme kam von der offenen Tür, und André erhob sich und wandte sich der Erscheinung zu, die sich nun auf ihn zubewegte, ohne ihn jedoch anzusehen. Bruder Justin, der Novizenmeister, blinzelte mit zusammengekniffenen Augen auf ein Pergament in seiner Hand – er war aus der Sonne in das gedämpfte Licht der Eingangshalle getreten, in der André auf ihn wartete, und der Übergang hatte ihn geblendet. Jetzt wedelte er frustriert mit dem Pergament und sah sich um wie ein Maulwurf, bis sein Blick auf André fiel.

St. Clair war von zwei Schreibern flankiert, die sich den Anschein gaben, mit Bienenfleiß an ihren Dokumenten zu arbeiten, die jedoch beide die Ohren gespitzt hatten und mit schief gelegten Köpfen auf jede Nuance lauschten, denn sie wussten, dass irgendetwas im Gange war. St. Clair war vor einiger Zeit in die Halle gestürmt und hatte verlangt, dass zwei ihrer Kameraden den Novizenmeister suchten und ihn so schnell wie möglich herbrachten. Die beiden hatten zwar versucht, ihm zu widersprechen, doch St. Clair hatte mit einem Wutausbruch reagiert und mit dem Schwert dafür gesorgt, dass sie sich in Bewegung setzen. Bis jetzt war keiner von ihnen zurückgekehrt, doch nun war Justin hier, und er wusste offenbar, dass St. Clair auf ihn wartete.

Anscheinend gewöhnten sich seine Augen rapide an das veränderte Licht, denn nun wandte er sich mit vor Sarkasmus triefender Stimme an die Schreiber.

»Bitte arbeitet weiter, Brüder«, sagte er. »Gottes Werk ist niemals vollendet, und das Eure duldet keine Unterbrechung. St. Clair, kommt mit mir.«

André folgte dem reizbaren Mönch durch einen engen Flur in eine steinerne Kammer, die Justin sich für seine Zwecke eingerichtet hatte. Der alte Mann öffnete die Türen, trat ein und zeigte mit dem Daumen auf einen langbeinigen Hocker vor einem langen Arbeitstisch, der unter den hohen, gewölbten Fenstern stand.

»Setzt Euch.«

Justin trat an das andere Ende des Tisches und ergriff drei kleine, eng zusammengerollte Schriftstücke. Während er die Siegel aufbrach und ihren Inhalt überflog, begann er zu sprechen.

»Euer Vetter ist in Acre aufgetaucht, lebend und anscheinend bei guter Gesundheit, obwohl einige seiner Templerbrüder daran zu zweifeln scheinen. Wir haben es vor zwei Tagen erfahren, durch einen Boten auf einem Handelsschiff auf dem Weg nach Malta. Meine Leute suchen Euch seit vorgestern Abend, also weiß ich, dass Ihr Euch weder im Schloss aufgehalten habt noch an Bord eines Schiffes im Hafen oder überhaupt in Limassol. Es gibt Leute, die dies als Desertion bezeichnen würden – in jedem Fall aber war es verantwortungslos. Wo seid Ihr gewesen?«

»Ich habe meine Verantwortung erfüllt und war im Auftrag des Königs unterwegs.«

Bruder Justin legte die drei Briefe vorsichtig hin, richtete sich zu voller Größe auf und sah André St. Clair zum ersten Mal direkt an. Es lag etwas Neues in St. Clairs Stimme, das ihm sofort auffiel, und nun sprach Justin ruhig und gemessen weiter.

»Und seit wann sind die Angelegenheiten eines Königs wichtiger als die unseres Ordens?«

»Das sind sie nicht, Bruder. Deshalb bin ich hier.«

Bruder Justin zog ein Tuch aus seinem Ärmel und wischte sich damit einige Krümel von der fleckigen Robe, die sich über seinen Bauch spannte. Da er anscheinend noch einen Moment zum Überlegen brauchte, wischte er sich zusätzlich die Mundwinkel ab und zog so Andrés Blick auf seine Knollennase und seine hängende Unterlippe, bevor er das Tuch wieder zurücksteckte und schwerfällig nickte.

»Ihr habt mir immer noch nicht gesagt, wo Ihr gewesen seid, und als Novizenmeister muss ich darauf bestehen, es zu erfahren.«

»Ich bin etwa zehn Meilen außerhalb der Stadt in Isaac Comnenus’ Revier auf der Jagd gewesen. Gestern hat uns der Sturm überrascht, sodass wir in einer Höhle übernachten mussten. Wir sind heute kurz nach Tagesanbruch zurückgekehrt.«

Justin musterte ihn merkwürdig.

»Ihr seid im Auftrag des Königs ohne ihn auf der Jagd gewesen? Das erscheint mir seltsam. Ich habe den König gestern Abend hier in der Burg gesehen.«

»Das bezweifle ich nicht. Er hat uns nicht begleitet. Er hat mich gebeten, seine Frau und seine Schwester zu begleiten, Berengaria und Joanna, die beide ausgezeichnete Jägerinnen sind, besser als so mancher Mann.«

Bruder Justin erschauerte. Er sah sich um und rieb sich den Arm.

»Es ist kalt hier«, murmelte er. »Ich sollte Feuer machen. Ganz gleich, wie heiß es draußen ist, diese alten Steinmauern halten die Räume kühl. Ich habe deutlich gespürt, wie es gerade jetzt kälter geworden ist …«

Er richtete den Blick zum Deckengewölbe.

»Ich weiß, dass Ihr mir vieles zu sagen wünscht, Sir André, doch zunächst muss ich Euch bitten, eines klarzustellen. Soll ich glauben, dass Ihr eine Nacht mit Königin Berengaria und Königin Joanna in einer Höhle verbracht habt? Allein mit zwei Frauen, abgesehen von einigen Jägern?«

»Allein kann man das nicht nennen, Bruder Justin. Wir waren sechsundzwanzig, dazu die beiden Königinnen.«

»Sechsundzwanzig. Und wie viele davon waren Frauen?«

»Die einzigen Frauen dort waren die beiden Königinnen, und selbst sie waren als Männer verkleidet.«

»Ich verstehe. Und hat diese … Expedition etwas damit zu tun, dass Ihr mich jetzt aufsucht?«

»Alles.«

»Dann habt Ihr mir ja einiges zu erzählen. Vorher jedoch, solange ich selbst noch eine Stimme habe – gibt es etwas, was Ihr mich fragen möchtet?«

»Aye, Bruder. Wo ist mein Vetter so lange gewesen?«

»Gefangen, in den Händen der Sarazenen. Er konnte lebend aus Hattin entkommen, wurde aber kurz darauf ergriffen.«

»Warum haben wir dann nicht eher davon erfahren? Wir kannten doch die Namen der meisten Getöteten und Gefangenen, oder?«

»Aye, doch anscheinend hat Euer Cousin seinen Namen und seine Identität geändert. Er wusste, dass Saladin jeden Templer und jeden Hospitalritter hingerichtet hat, der in Hattin gefangen genommen wurde. Also hat er verheimlicht, dass er ein Tempelritter war. Bei seiner Gefangennahme war die Schlacht schon einige Zeit vorbei, und er hatte sich aller Gegenstände entledigt, die ihn als Templer entlarvt hätten. Er hat den Namen und den Rang seines engsten Freundes angenommen, seines schottischen Landsmannes Lachlan Moray, der zwar ein Ritter war, aber keinem Orden angehört hat.«

»Dann hat Alex also den Tempel verleugnet?«

»Ja, im Interesse des Ordens von Sion.«

»Wie könnt Ihr das wissen?«

»Weil die Nachricht, die wir erhalten haben, an mich gesandt worden ist, nicht an den Tempel. Sie ist auch nicht von einem Templer verfasst worden.«

»Ich verstehe. Daher ist es mir dann wohl nicht gestattet, mehr über seine Beweggründe zu erfahren.«

»Das habe ich nicht gesagt. Ihr werdet sogar alles darüber erfahren und über Sir Alexanders Rolle in der Bruderschaft. Doch zuerst möchte ich das Anliegen hören, das Euch zu mir geführt hat. Ihr seid noch nie direkt zu mir gekommen, warum also jetzt? Ich gebe zu, dass ich außerordentlich neugierig bin.«

Darauf erzählte St. Clair ihm alles. Er ließ nicht das Geringste aus, sodass Justin über eine Stunde lang gebannt dasaß und an Andrés Lippen hing, um sich kein Detail der Geschichte entgehen zu lassen. Als der jüngere Mann schließlich verstummte, sagte zunächst keiner der beiden etwas. Schließlich war es Justin, der das Schweigen brach.

»Mmpf«, grunzte er und verstummte erneut. Kurz darauf hatte er seine Sprache wiedergefunden.

»Nun denn, warum seid Ihr hier? Warum geht Ihr nicht einfach hin und nehmt Euch, was man Euch anbietet. Bis jetzt habt Ihr noch keinen Eid geschworen und seid noch keine Verpflichtung eingegangen, die Euch davon abhalten würde. Die meisten Männer würden alles darum geben zu bekommen, was man Euch angeboten hat. Ihr habt diese Ehre doch nicht zurückgewiesen, oder?«

André runzelte die Stirn.

»Nein, das habe ich nicht. Noch nicht, aber –«

»Warum in Gottes Namen erzählt Ihr mir dann davon? Warum zögert Ihr nur eine Sekunde lang?«

»Ihr selbst habt gerade das Wort benutzt, das mich davon abhält.«

»Ach ja?«

Nun runzelte Justin die Stirn.

»Welches Wort ist das gewesen?«

»Ehre, Bruder. Sie ist ein Ideal und ein Wert, der mir viel bedeutet, vor allem, da er heute so aus der Mode zu kommen scheint.«

»Aah … Ehre, ich verstehe. Ja, Ehre kann manchmal lästig sein.«

St. Clair schüttelte den Kopf.

»Da muss ich Euch widersprechen, Bruder Justin. Ich glaube, dass Ehre niemals eine Last ist, und ihr zunehmendes Fehlen widert mich an. Ich sehe nichts Ehrenhaftes an dem, was ich Euch gerade beschrieben habe.«

»Also wollt Ihr nichts davon wissen, ist es das, was Ihr mir sagen wollt?«

»Aye, Sir, so ist es.«

»Da setzt Ihr anderen aber einen hohen Maßstab.«

»Nein, das tue ich nicht. Meine Maßstäbe gehen nur mich etwas an. Ich erwarte nicht, dass sich andere von mir etwas vorschreiben lassen. Es sind meine Maßstäbe; es ist meine Ehre.«

Justin spitzte die Lippen und nickte.

»Guter Junge. So soll es sein. Ich habe nichts anderes erwartet, und Ihr habt meine volle Unterstützung. Doch sagt mir, warum seid Ihr damit nicht direkt zu de Sablé gegangen? Ihm liegt viel an Euch, und er bekleidet einen höheren Rang innerhalb der Bruderschaft als ich und hat in derartigen Dingen mehr Einfluss.«

St. Clair hatte begonnen, den Kopf zu schütteln, sobald Justin de Sablés Namen aussprach.

»Das habe ich nicht gewagt. Sir Robert ist ein fähiger Mann. Ich kenne ihn gut, und ich glaube, dass er mir vertraut, doch er ist seit Jahren eng mit Richard befreundet. Sie sind sogar entfernte Verwandte. Ich habe es einfach nicht gewagt, dieses Risiko einzugehen. Es ist zu gefährlich. Nicht, dass ich gedacht hätte, er würde mich bei Richard verraten. Ich weiß, dass er das nie tun würde, doch es ist möglich, dass er sich unabsichtlich selbst verraten würde und seine eigene Vernichtung heraufbeschwören würde, indem er sich seine Missbilligung anmerken lässt. Auch er schätzt seine Ehre sehr, daher würde es ihm schwerfallen zu verbergen, wie sehr ihn Richards Verhalten gegenüber der Königin anwidert. Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn er umkäme, weil ich ihm etwas erzählt habe, obwohl es nicht nötig war.«

»Hmm. Wahrscheinlich habt Ihr recht. Es ist zu gefährlich. Ich denke, Ihr habt richtig gehandelt … was ist denn?«

St. Clair hatte die Stirn gerunzelt.

»Nichts, nur dass Euch das, was ich Euch gesagt habe, nicht im Mindesten zu überraschen scheint.«

»Sollte es das denn? Meint Ihr, die Sündigkeit und Fleischeslust dieser Männer und Frauen sollte mich schockieren? Ich bin unserer Bruderschaft beigetreten, als ich achtzehn war, Bruder André, genau wie Ihr, und seitdem arbeite ich ohne Unterlass an meinem Fortkommen innerhalb des Ordens, und ich lerne und studiere, um den wahren Weg zu Gott zu finden. Als unsere althergebrachte Kultur nach dem Tode Jesu und seines Bruders Jakobus bei der Zerstörung Jerusalems vernichtet wurde, hat sich eine Kluft zwischen Gott und den Menschen aufgetan. Seitdem irrt die Menschheit in der Wildnis umher und versucht vergebens, Gott zu finden, indem sie den Spuren Sterblicher folgt. Doch wie wohlklingend auch die Titel sein mögen, mit denen sich diese schmücken, sie sind genauso schwach und töricht wie ihre Anhänger. Beraubt man den Menschen seiner Göttlichkeit, so bleibt nichts von seiner Natur als Zerbrechlichkeit und Eigennutz. Nein, ich bin nicht überrascht. Meine Aufgabe ist es nun, das, was Ihr mir erzählt habt, so zu benutzen, dass es den Zielen unserer Bruderschaft dient. Daher bin ich froh, dass Ihr zuerst zu mir gekommen seid, denn wir müssen nun bei den Templern Hilfe suchen, zu denen de Sablé nicht gehört.«

Der alte Mönch hob warnend den Zeigefinger.

»Von jetzt an müssen wir Euch hierbehalten, wo Euch Richard nicht erreichen kann, und auch dies könnte nur eine vorübergehende Zuflucht sein, da es nach wie vor möglich ist, dass er Euch als Euer Lehnsherr ruft. Wir können nur hoffen, dass dieser Unsinn um Isaac Comnenus ihn in den nächsten Tagen beschäftigt hält, doch der einzige wirklich wirksame Weg, Euch vor ihm zu schützen, ist, Euch offiziell als Ritter in den Templerorden aufzunehmen. Ich werde dazu so schnell wie möglich eine Versammlung der Brüder einberufen.«

»Ihr meint, Ihr wollt mich allein aufnehmen, ohne die anderen Novizen? Wie ist das möglich?«

»Schnell und heimlich, weil es notwendig ist. Es ist nicht nur möglich, es ist auch schnell möglich. Wir haben ja allen Grund dazu. Wir brauchen nur eine genügende Anzahl von Rittern, um die Zeremonie durchzuführen.«

St. Clair verzog das Gesicht.

»Allen Grund. Reicht es denn zu sagen, dass wir mich aus den Klauen des Königs retten müssen, aber nicht darauf eingehen können, warum? Wie wollt Ihr das rechtfertigen?«

»Ihr müsst Euch einfach sagen, dass der König gar nichts mit alldem zu tun hat. Ich habe Euch ja schon erzählt, dass es Eurem Cousin gut zu gehen scheint, dass aber einige seiner Brüder dies anzweifeln. Nicht zum ersten Mal sorgt Sir Alexander für Ärger unter den Templern, indem er ihre Moral verhöhnt. Er ist schon immer ein unbequemer, gnadenlos selbstgerechter Mensch gewesen, doch er hat sich bis jetzt nur selten geirrt – eine Tatsache, der er zwar seinen guten Namen verdankt, die ihm jedoch nicht unbedingt die Sympathien seiner weniger kompromisslosen Zeitgenossen eingebracht hat. Jetzt kehrt er aus der Gefangenschaft der Sarazenen zurück und beschuldigt die Templer der Inkompetenz und der Korruption – und als ihm diese widersprochen haben, ist er wieder in der Wüste verschwunden. Die Templer in Outremer sagen nun, er ist von Saladin zur Gottlosigkeit verführt worden, und sie fordern, dass man ihn seines Ordensranges enthebt und ihn exkommuniziert.«

»Grundgütiger! Können sie das?«

»Aye, wenn sie es für notwendig halten. Sie sind christliche Mönche – Gottesmänner, die damit das Recht haben, jeden Verstoß gegen die Pflicht gnadenlos zu verfolgen. Macht Euch nichts vor, sie können es.«

»Seit wann ist er frei? Ist Lösegeld gezahlt worden?«

»Nein. Soweit ich weiß, ist er bei einem Gefangenenaustausch freigekommen. Doch wie dem auch sei, er ist im Besitz von Informationen, die die Bruderschaft immer noch dringend braucht, auch wenn es Jahre her ist, dass man ihn dorthin entsandt hat, um dieses Wissen an sich zu bringen – und dass einer der Brüder mit ihm zu tun hatte. Alexander Sinclair traut niemandem so leicht, und wir müssen ihm nun jemanden schicken, noch dazu einen Templer, dem er sofort vertraut. Ihr seid einmal sein Freund gewesen, also wird er Euch eher vertrauen als einem Mann, dem er noch nie begegnet ist. Daher werdet Ihr es sein, den man damit beauftragt, ihn in den Orden zurückzuholen, wo ihn seine Brüder einer genauen Beurteilung unterziehen können. Zumindest wird dies der offizielle Zweck Eurer vorgezogenen Weihe und Eurer schnellstmöglichen Entsendung nach Acre sein.«

Justin kratzte sich am Ohr.

»Ob Ihr ihn dann tatsächlich zur Rückkehr bewegen könnt, bleibt abzuwarten. Doch Eure wirkliche Aufgabe wird nichts mit dem Tempel zu tun haben. Sie wird lauten, die Verbindung zwischen ihm und dem Rat der Bruderschaft wiederherzustellen, damit wir an das Wissen gelangen können, das Alexander für uns verwahrt.«

»Und was für ein Wissen ist das?«

Justins hässliche Gesichtszüge verzerrten sich zu einem Wolfsgrinsen.

»Wenn ich das beantworten könnte, Master St. Clair, wäre es ja nicht nötig, Euch in solcher Hast nach Acre zu entsenden, oder?«

»Hmm. Was ist mit dem Gelübde – wo werde ich es ablegen?«

»Zwei der Gelübde habt Ihr ja – mit geringen Unterschieden – bereits abgelegt. Ihr werdet sie nur noch einmal wiederholen. Ich werde Euch dabei zur Seite stehen und Euch die Worte vorsprechen. Ihr werdet einfach nur antworten. Die meisten dieser Männer können weder schreiben noch lesen. Niemand, der nicht unserer Bruderschaft angehört, wird merken, dass der Wortlaut der ersten beiden Gelübde anders ist.«

»Diese beiden machen mir ja auch keine Sorgen. Es ist das dritte, um das ich mir Gedanken mache.«

Bruder Justin zog die Augenbrauen hoch.

»Das Keuschheitsgelübde? Aber Ihr habt doch Eure Entscheidung getroffen, als Ihr die beiden Königinnen verschmäht habt. In wenigen Wochen werdet Ihr in Acre sein, und Ihr könnt mir glauben, wenn ich Euch sage, dass Eure Keuschheit unter den Töchtern der Gläubigen Allahs kaum in Gefahr sein wird. Nein, Ihr werdet Eure Gelübde ablegen, und es ist gut möglich, dass Ihr danach nie wieder einen Gedanken an sie verschwendet. Als ranghöchstes Ordensmitglied hier in Zypern wird de Troyes die Zeremonie leiten.«

»De Troyes? Er gehört nicht der Bruderschaft an?«

»Nein, das tut er nicht, Gott sei Dank. Er ist genau das, was wir jetzt brauchen, die Glaubwürdigkeit in Person. Nicht einmal Richard Plantagenet wird es wagen, das Tun des hiesigen Tempelgroßmeisters in Frage zu stellen. Le Sieur de Troyes ist un sanglier du Temple, ein Tempeleber, der im Leben keinerlei Interessen außer dem Tempel und seinen Ritualen hat. Daher wird er Eure Weihe leiten, denn ich werde ihm die Lage erklären, und auch er wird begreifen, dass Ihr sofort abreisen müsst, um die Bedrohung abzuweisen, die Euer geliebter Cousin für den Tempel darzustellen scheint.«

»Wie könnt Ihr Euch sicher sein, dass er alles, was Ihr ihm erzählt, fraglos glauben wird? Wir agieren ja hier nur auf der Basis von Gerüchten.«

»Gerüchte und Fantasie, Bruder André. Ihr dürft die Macht der Fantasie niemals unterschätzen. Männer wie de Troyes haben keine Fantasie. Ihr Leben ist öde und dörr, gefesselt an einen nichtigen Alltag. Sie leben ein Dasein ohne Farben, und wenn sie jemandem wie Euch oder mir begegnen, der mit der Macht seiner Stimme und seines Verstandes eine Welt entwerfen kann, lassen sie sich leicht überreden. Wenn ich mit Etienne de Troyes gesprochen habe, wird er glauben, dass Euer Cousin eine größere Bedrohung für den Tempel darstellt als Saladin selbst, und er wird es kaum abwarten können, Euch zum Tempelritter zu weihen, so sehr wird es ihn drängen, Euch nach Acre zu entsenden. Und solange sein Enthusiasmus noch frisch ist, werde ich ihn auch zu König Richard schicken, um ihm von Eurer Ordensweihe und Eurer Abreise in Kenntnis zu setzen.«

St. Clair neigte den Kopf.

»Ich kann sehen, dass Ihr glaubt, was Ihr sagt, daher steht es mir nicht zu, weiter an Euch zu zweifeln. Wann wird das alles geschehen?«

»Sobald ich es arrangieren kann. Heute ist der fünfzehnte Mai. Ich muss mich mit einigen Mitgliedern der Bruderschaft beraten, bevor ich einen Zeitpunkt festlegen kann, doch dann wird es schnell gehen.«

»Und wann wird das sein?«

»Morgen. Wir werden mit großer Sicherheit morgen Nacht so weit sein.«

André nickte. Die Weihezeremonien fanden stets bei Nacht statt.

»Wird es mir noch einmal möglich sein, meinen Vater zu besuchen, bevor ich aufbreche?«

»Nein, denn Ihr könnt diese Gemäuer erst wieder verlassen, wenn Ihr den Templereid abgelegt habt. Doch Sir Henry kann Euch hier besuchen, wenn er Zeit hat. Wenn wir Euch morgen Nacht weihen, werdet Ihr tags darauf fort sein, also lasst ihn am besten bitten, Euch morgen zu besuchen. Habt Ihr sonst noch etwas auf dem Herzen? Ihr seht … besorgt aus.«

St. Clair zuckte mit den Achseln.

»Die Zeremonie. Ist sie sehr kompliziert?«

Erleichtert sah er, wie sich der Novizenmeister zurücksetzte und ihn angrinste.

»Es ist eine geheime Zeremonie, Master St. Clair, das wisst Ihr ja. Aber sie hat nichts mit der Aufnahme in unsere Bruderschaft gemeinsam. Glaubt mir das bitte und seid beruhigt. Es ist nichts Kompliziertes oder Bedeutsames daran.«

Justin erhob sich von seinem Hocker und trat zu einem Schrank an der Wand. Er öffnete eine Tür und holte eine Flasche und zwei Hornbecher hervor, die er beide großzügig mit der goldenen Flüssigkeit aus der Flasche füllte. Dann verschloss er die Flasche wieder und stellte sie zurück. Er trug beide Becher zum Tisch hinüber.

»Honigmet«, sagte er und reichte André einen der beiden Becher. »Von Gott für Augenblicke wie diesen erschaffen.«

Sie nippten beide ehrfürchtig an ihrem Honigwein, und Justin setzte sich wieder.

»Zuerst einmal dürft Ihr nicht vergessen, woher diese Zeremonie stammt. Die neun Gründerbrüder waren alle Mitglieder des Ordens der Wiedergeburt zu Sion. Nachdem sie die ihnen gestellte Aufgabe, die Entdeckung des Ordensschatzes, erfüllt und damit die besagte Wiedergeburt erreicht hatten, wurde der Orden schlicht zum Orden von Sion, obwohl seine Aufgabe noch weit von ihrer Erfüllung entfernt ist.«

Wieder trank er einen Schluck.

»Als sie mit der Kunde von ihrem Fund nach Europa zurückkehrten, haben sie natürlich unter den Kirchenoberen Angst und Schrecken verbreitet, und diese haben alles getan, um die Brüder gnädig zu stimmen und zur weiteren Geheimhaltung zu bewegen. Also waren sie voll des Lobes für die Männer, die sich selbst die Armen Soldatenbrüder Jesu Christi nannten, die aber in aller Welt als die Ritter vom Tempelberg bekannt waren. Und bald scharten sich die Rekruten um ihre Standarte und verlangten, dem Orden der neuen Ritterschaft, wie ihn der heilige Bernard nannte, beitreten zu dürfen.«

Justin schien die Rolle des Geschichtenerzählers sehr zu genießen.

»Und so wurde der Orden der Templer ins Leben gerufen. Doch unter den Rekruten, die nun in Scharen den Tempelberg aufsuchten, waren keine Ordensbrüder von Sion, und die Geheimnisse der ursprünglichen neun Brüder wurden immer sagenumwobener. Also haben sich Hugh de Payens und seine acht Freunde aus reinem Selbstschutz – und zum Schutz der Bruderschaft – ein neues Ritual ausgedacht, das die Männer zufriedenstellen würde, die nach Aufnahme verlangten – und nach geheimen Symbolen und geheimnisvollen Ritualen. Sie beschlossen, dass die Ordensweihe bei Nacht abgehalten werden sollte, in der Finsternis, und sie haben aus dem Nichts neue Zeremonien geschaffen, die inzwischen zur beinahe heiligen Tradition geworden sind. Nach neunzig Jahren mögen sie bedeutsam erscheinen, doch zu Beginn waren sie Unsinn, und sie bleiben Unsinn.«

Er zögerte.

»Damit möchte ich natürlich nicht all meine Templerbrüder respektlos abtun. Sie mögen ja nicht gebildet sein, doch viele von ihnen widmen ihr Leben dem Streben nach Heiligkeit, wenn auch im kirchlichen, christlichen Sinne. Und das ist bewundernswert, selbst für uns, die wir ihren Irrtum von unserem althergebrachten, privilegierten Standpunkt aus sehen. Wir können sie als fehlgeleitet betrachten, aber wir dürfen sie nicht für töricht halten, denn ihre Aufrichtigkeit ist über jeden Zweifel erhaben, und sie teilen ihren Irrtum schließlich mit der ganzen Welt.«

Justin nippte an seinem Becher.

»Ihr, Bruder, habt das Glück gehabt, in den Orden von Sion erhoben zu werden, und ihr musstet hart arbeiten und fleißig lernen, um Euren gegenwärtigen Status zu erlangen. Im Tempel werdet Ihr nichts finden, was dieser Anstrengung gleichkäme. Die Riten, denen Ihr Euch unterziehen werdet, sind bedeutungslos, und die einzige Arbeit, die ein Mann tun muss, um weiterzukommen, ist militärischer Natur – Kampfkunst und Kampfeinsatz. Auf diesem Gebiet seid Ihr ja bereits ein Meister, daher glaubt mir, Ihr braucht den Initiationsritus nicht zu fürchten. Wenn Ihr die Kammer für die Zeremonie betretet, habt Ihr jede Aufnahmeprüfung bestanden, und Eure Weihe ist Euch garantiert. Das Ritual in der Kammer ist nur eine Bestätigung für die Gemeinschaft der Templer. Hin und wieder werdet Ihr noch anderen Riten beiwohnen, die jedoch vor den Templern geheim gehalten und nur von unseren Brüdern geteilt werden.«

Justin hob seinen Becher zum Salut, und André erwiderte die Geste. Dann tranken sie beide die feurig süße Flüssigkeit aus. Justin rülpste laut und erhob sich.

»Und nun muss ich damit beginnen, alles in die Wege zu leiten. Ich werde einen der Brüder zu Eurem Vater schicken und ihn für den morgigen Nachmittag hierherbitten. Ich werde ihn zur Geheimhaltung mahnen, selbst gegenüber dem König. Glaubt Ihr, er wird sich daran halten?«

»Das wird er, Bruder Justin, das wird er.«

DEN FOLGENDEN NACHMITTAG verbrachte André St. Clair auf dem Fechtplatz der Burg. Schon seit einer Stunde bearbeitete er einen Pfosten mit seinem Breitschwert, und er begann gerade zu glauben, dass er nie wieder imstande sein würde, die Arme zu heben, als ein Laienbruder auf ihn zutrat und ihm sagte, Bruder Justin wolle ihn unverzüglich sehen.

Er fand den Novizenmeister an derselben Stelle, wo er sich gestern von ihm getrennt hatte, über den langen Arbeitstisch in seinem privaten Zimmer gebeugt. Sobald er ihn sah, wusste er, dass etwas nicht stimmte.

»Was?«, setzte er an. »Was ist? Hat de Troyes unsere Idee abgelehnt?«

Der Blick, den Justin ihm zuwarf, drückte zum einen Teil Wut aus, zum anderen Verwunderung.

»Wovon sprecht Ihr? Nein, de Troyes hat gar nichts abgelehnt. Was das angeht, ist alles unter Kontrolle. Aber Euer Vater wird Euch nicht besuchen kommen.«

»Warum das denn nicht? Er hat doch gesagt, er kommt heute Nachmittag.«

»Aye, das hat er, doch das war, bevor in der Stadt der Wahnsinn ausgebrochen ist.«

»Welcher Wahnsinn? Was ist los?«

»Ihr wisst nichts davon? Nein, anscheinend nicht. Nun, es ist nichts Besonderes. Euer Lehnsherr hat sich nur wieder einmal daran erinnert, dass er die Juden hasst, also sind sie dabei, die ganze Stadt auf den Kopf zu stellen und sie aus sämtlichen Winkeln hervorzuholen.«

»Wen? Die Juden? Es gibt in Limassol keine Juden.«

»Es gibt überall Juden, Master St. Clair, wenn man ganz genau hinsieht, und ihre Verfolgung ist ein Verbrechen vor Gott. Irgendetwas muss diesen jüngsten Wahnsinn heute Vormittag ausgelöst haben, doch ich weiß nicht, was es war. Ich weiß nur, dass es Richard fürchterlich in Rage gebracht hat und er daraufhin die Festnahme sämtlicher Juden auf Zypern angeordnet hat. Und da er Isaac Comnenus für einen Juden hält, hat er seine gesamte Armee am Strand vor dem Stadttor aufmarschieren lassen, um ihn aufzuspüren. Es ist wirklich Wahnsinn. Als sein Kriegsberater hat Euer Vater alle Hände voll damit zu tun, doch er lässt Euch immerhin ausrichten, dass er Euch alles Gute wünscht, falls Ihr ihn vor Eurer Abreise nach Acre nicht mehr seht.«

»Woher wusste er denn, dass ich nach Acre fahre?«

»Ich habe meinem Boten aufgetragen, es ihm zu sagen, als Grund für Euren Wunsch, ihn heute zu sehen.«

»Und warum seid Ihr darüber wütend?«

»Wütend? Ich bin nicht wütend. Ich bin nur frustriert, weil ich einige der Männer, die ich gern bei der Zeremonie dabeigehabt hätte, nicht finden kann. Wir werden aber vorgehen wie geplant, also haltet Euch eine Stunde nach Anbruch der Dunkelheit bereit. Fünf oder sechs der Männer, die ich gern dabeigehabt hätte, werden fehlen. Nun ja, wir unterhalten uns hinterher. Und morgen brecht ihr mit einer schnellen Galeere nach Acre auf, einem der besten Templerschiffe. Ihr werdet einige Depeschen für den ranghöchsten Tempeloffizier dort mitnehmen. Soweit ich weiß, ist dies der Marschall selbst, ein Ritter aus dem Languedoc, der denselben Vornamen trägt wie Ihr, André. Es ist André Lallières aus Bordeaux. Ist Euch dieser Name vertraut?«

»Nein, sollte er das?«

»Vielleicht. Er ist einer von uns. Er ist am selben Tag wie ich in die Bruderschaft erhoben worden, und seine Familie ist eine der Ursprungsfamilien. Nun macht Euch bereit für heute Abend. Zwei Ritter werden Euch abholen.«

»Was muss ich tragen?«

»Das, was Ihr jetzt tragt. Euer Novizengewand. Man wird es Euch abnehmen, und nach der Weihe wird man Euch formell einkleiden. Nun geht, ich habe noch einiges zu erledigen.«

Der Rest des Tages verstrich mit schier unglaublicher Langsamkeit, doch irgendwann war er vorbei, und als sich die Dunkelheit über die Stadt legte, wartete er voller Ungeduld.

Acht Stunden später stand er bei Tagesanbruch des siebzehnten Mai auf einem der Hafendocks, flankiert von zwei Rittern, deren Gewänder um einiges weniger neu und auffallend waren als die seinen. Er trug den brandneuen, vollen weißen Überwurf eines Tempelritters mit dem roten Kreuz. Dieser bedeckte einen Kettenpanzer, der so neu war, dass er noch genauso steif war wie die ebenso neuen kniehohen Stiefel. Die gepanzerte Kapuze, die seinen Kopf umhüllte, fühlte sich seltsam und beengend an, doch der Helm, den er darüber trug, war bequem. An seiner Hüfte hing das Schwert, das ihm Richard geschenkt hatte.

Hinter ihm stand sein persönlicher Knappe, ein Laienbruder, den man ihm heute Morgen zugeteilt hatte und dessen wichtigste Aufgabe es war, dafür zu sorgen, dass Sir Andrés Ausrüstung stets gut gepflegt war und er selbst jederzeit einsatzbereit war.

Das Boot legte zu seinen Füßen an. Während sein Knappe die beiden Truhen mit ihren Habseligkeiten in das Boot hievte und dann selbst einstieg, wandte sich André seinen beiden Begleitern zu, um sich zu verabschieden. Bruder Justin, ungewöhnlich prachtvoll in einem frischen weißen Überwurf und polierter Rüstung, wünschte ihm Gottes Segen. Der andere Ritter, Etienne de Troyes persönlich, hängte ihm einen steifen Lederköcher mit den Depeschen um den Hals, richtete sich zum formellen Salut auf und wünschte dem jungen Ritter Erfolg bei seiner Mission im Heiligen Land.

Das kleine Boot legte vom Kai ab und hielt auf die Galeere zu, die André St. Clair und seine Depeschen nach Outremer tragen würde.

OUTREMER