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ACHLAN MORAY SAH, wie Sir Alexander Sinclair zu Boden ging, doch er konnte nicht sagen, ob sein Freund verwundet war, denn eigentlich sah er nur Sinclairs Pferd mit Pfeilen gespickt stürzen. Dann erhaschte er einen letzten Blick auf Sinclair, der hinter dem Tier auftauchte, als es sich hochzukämpfen versuchte, und zwischen den Felsen verschwand. Seine Ordensbrüder kämpften verzweifelt darum, ihre panischen Pferde im Zaum zu halten und den wendigen Feind zu greifen zu bekommen.

Moray selbst konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Von einem Wimpernschlag zum nächsten war er der einzige Überlebende einer Gruppe von sechs Rittern, die dabei gewesen waren, sich zum König durchzuschlagen. Nur für einen Moment waren sie durch ein steiniges Wegstück am Berghang vom Tross des Königs abgeschnitten worden, und bevor sie die anderen wieder einholen konnten, hatten die feindlichen Bogenschützen sie ausgemacht.

Eine solche Salve von Pfeilen hatte Moray noch nie gesehen; sie war nahezu undurchsichtig gewesen, als würde der Himmel plötzlich von einem Heuschreckenschwarm verdunkelt, und bevor er begriff, was geschehen war, hatte er sich allein wiedergefunden. All seine Begleiter waren aus dem Sattel in den Tod gestürzt. Wie durch ein Wunder waren er und sein Pferd unverletzt geblieben. Nur ein einziger Pfeil hatte ihn getroffen, war aber an seinem Schulterpanzer abgeprallt und hatte ihn im Sattel zurückgeworfen, ohne jedoch Schaden anzurichten.

Moray war allein und äußerst angreifbar, und er wusste, dass er tot sein würde, bevor es ihm gelang, sein Pferd den Rest des steinigen Hangs hinaufzutreiben. Also spähte er bergab. Sinclair blieb verschwunden. Fluchend gab der schottische Ritter seinem Pferd die Sporen und galoppierte den Hang hinunter. Dabei hielt er nach feindlichen Kriegern Ausschau, doch es war keiner mehr in Sicht. Auch die Tempelritter, von denen es hier kurz zuvor noch gewimmelt hatte, waren weitergezogen.

Neben Sinclairs totem Pferd sprang er aus dem Sattel. Ohne sein eigenes Pferd anzubinden, kroch er im Schutz des toten Tiers auf den ersten Gefallenen zu, den er sah. Doch es war nicht Alec Sinclair, genauso wenig wie der nächste Tote, dessen Gliedmaßen in seiner Rüstung verdreht waren. Etwas weiter lagen noch zwei von Pfeilen durchbohrte Männer, doch sie waren zu weit vom Pferd des gestürzten Freundes entfernt. Von Alec Sinclair war nichts zu sehen.

Inzwischen hatte der Blutgeruch sein Pferd so nervös gemacht, dass es davongaloppiert war. Im ersten Moment dachte er daran, ihm nachzujagen – vielleicht war ja auch Sinclair irgendwie entkommen –, doch er unterdrückte den Impuls, denn ein reiterloses Pferd mochte zwar kein Ziel darstellen, ein rennender Mann aber schon. Also ließ er das Pferd laufen und hoffte, dass es bald anhalten und auf ihn warten würde.

Moray erhob sich in die Hocke und sah sich um. Ihm wurde klar, dass er zumindest im Moment nicht in Gefahr zu sein schien. Ganz in der Nähe sah er eine Spalte zwischen zwei Felsen gähnen. Schnell schritt er darauf zu und sah das Bein einer Rüstung aus dem Spalt ragen, der sich als breiter erwies, als er auf den ersten Blick gewirkt hatte. Noch zwei Schritte, und er hatte die Spalte erreicht und konnte gebückt hineinblicken.

Der Mann, der darin steckte, lag mit dem Gesicht nach oben. Es war Sinclair. Zu Morays Erleichterung schien sein Freund keine Pfeilverletzungen zu haben, denn nirgendwo war Blut zu sehen. Allerdings hatte er das Bewusstsein verloren. Moray zwängte sich rasch in die Felsspalte hinein und beugte sich über ihn. Seine linke Schulter war unnatürlich verdreht, und sein Arm klemmte in einem schier unmöglichen Winkel auf seinem Rücken fest.

Moray zog ihn weiter in die Spalte hinein, die sich als kleiner, höhlenartiger Unterschlupf zwischen drei vom Wind glattgescheuerten Felsen erwies, und legte ihn auf den Rücken.

Sinclairs Helm war auf der linken Seite zerkratzt und mit grauen Staubspuren überzogen, die genau zu den Kratzern auf einem der Felsen passten. Er musste bei seinem Sturz mit dem Kopf auf den Felsen geprallt sein. Morays Gedanken rasten. Dankbar, weil er in der Nähe nichts Bedrohliches hören konnte, legte er den Freund der Länge nach auf den Boden und versuchte dann, den verdrehten Arm wieder in seine eigentliche Position zu bringen. Er bewegte sich zwar, aber nicht dorthin, wohin er gehörte, und er begriff, dass die Schulter ausgerenkt war.

Ob der Arm zusätzlich gebrochen war, konnte er nicht sagen. Also setzte er sich mit dem Rücken an die Wand ihres Unterschlupfes, legte sein unbenutztes Schwert zur Seite, stemmte die Beine gegen Sinclairs Körper und zerrte mit Gewalt an dem verletzten Arm. Mit aller Kraft drehte er so lange daran, bis er spürte, wie er sich bewegte und wieder einrastete. Wäre Sinclair bei Bewusstsein gewesen, wären die Schmerzen unerträglich gewesen. So jedoch drang nichts durch seine Ohnmacht, und Moray ließ sich erschöpft zurücksinken.

Er begann, sich umzusehen. Sie waren hier drinnen völlig geborgen; das Einzige, was er sehen konnte, war der Himmel über der Felsspalte, durch die er geklettert war.

Dann lauschte er angestrengt. Im Freien war ein Wirrwarr aus Geräuschen zu hören, Schlachtenlärm und die Schreie sterbender Männer und Tiere, doch sie waren weit entfernt, und er vermutete, dass sie von weiter oben kamen, obwohl er wusste, dass die Felsen die Geräusche umlenken und ihn täuschen konnten.

Er warf noch einen Blick auf den bewusstlosen Sinclair, dann kroch er wieder zum Eingang und erhob sich vorsichtig. Ohne den Kopf aus dem Schatten des schützenden Felsens zu heben, sah er sich in der Nähe um.

So weit sein Blick reichte, war keine lebende Seele in Sicht. Vorsichtig, um sich nicht durch eine plötzliche Bewegung zu verraten, richtete er sich weiter auf, bis er an der Flanke des Felsens vorbei bergauf sehen konnte. Doch auch so konnte er nur wenig erkennen, weil der Boden hinter ihrem Unterschlupf mit Felsen übersät war. Doch der Lärm kam eindeutig von dort oben, und die Stille rings um ihre Zuflucht erschien ihm im Vergleich dazu gespenstisch. Etwas mutiger wagte er sich langsam aus seinem Versteck und kroch mit gesenktem Kopf zwischen den Felsenhindernissen hindurch, bis er einen Aussichtspunkt fand, der es ihm erlaubte, das Geschehen zu beobachten, ohne entdeckt zu werden.

Wohin er auch blickte, sah er jetzt Menschen, ausnahmslos Sarazenen, die auf den Bergkamm zueilten, auf den sich König Guido und seine Begleiter geflüchtet hatten. Auch ganz oben wimmelte es von berittenen Kriegern. Sein Blick fiel auf das Wahre Kreuz, das in seinem juwelenbesetzen Schrein über der wogenden Menschenmasse schwebte, und auf König Guidos Zelt, das den Mittelpunkt der christlichen Streitmacht markierte.

Doch genau in dieser Minute schwankte das Kreuz alarmierend, richtete sich wieder auf … und verschwand aus seinem Blickfeld. Moray erschauerte entsetzt, als gleich darauf das Zelt des Königs in sich zusammenfiel und verschwand – jemand musste die Zeltschnüre zerschnitten haben.

Schlagartig folgte Triumphgeheul auf den Hängen über ihm, das ihm alles sagte: Der Sieg bei Hattin gehörte den Anhängern des Propheten.

Sir Lachlan Moray war wie vom Donner gerührt. Weder konnte er glauben, in welch kurzer Zeit die Armee der Christenwelt vernichtet worden war, noch konnte er sich ausmalen, welche Folgen ein solcher Sieg haben würde. Er wandte sich ab und richtete den Blick auf den tiefer gelegenen Berghang. Überall lagen tote Männer und Pferde, und nur wenige der Toten trugen die Wüstenroben der Krieger Saladins. In der Ferne, wo die fränkischen Fußtruppen ihren fruchtlosen Vorstoß gewagt hatten, lagen die Leichen zu Bergen aufgetürmt, ein Wurm aus Toten, der sich von der Stelle ihres Aufbruchs bis zu dem Punkt wand, wo der Letzte der Zwölftausend gefallen war.

Stirnrunzelnd und mit trockenem Mund schüttelte er ungläubig den Kopf. Über zehntausend Tote an einer einzigen Stelle. Als Nächstes kam ihm der Gedanke, dass er gar nicht am Leben sein dürfte, und er fragte sich, warum er verschont geblieben war. Doch ihm war klar, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis man auch ihn und Sinclair entdeckte und umbrachte wie die anderen, denn die Getreuen des Propheten schienen keine Gefangenen zu machen.

Er schluckte krampfhaft, denn seine Kehle war wie ausgedörrt, und starrte auf den Hang hinunter.

Schon kreisten die ersten Geier über dem Feld. Immer mehr von ihnen landeten am Boden, um sich an den Toten zu weiden. Während er die Vögel beobachtete, verlor er für eine Weile jedes Zeitgefühl und jeden Ortssinn. Dann jedoch fuhr er erschrocken auf und kehrte mit einem Paukenschlag unter die Lebenden zurück, denn ein lauter, gedehnter Schmerzensschrei sagte ihm, dass sein Freund Sinclair nicht länger schlief. Sekunden später befand er sich auf dem Rückweg zu ihrem Felsenversteck. Er bewegte sich geduckt und verging fast vor Angst, der Feind könnte Sinclairs Schreie hören, bevor er ihn erreichen und sie unterdrücken konnte.

Doch plötzlich brachen die Schmerzenslaute ab, und die Stille, die nun folgte und die nur vom Klappern der Steine unter seinen Stiefeln gestört wurde, war ein wahrer Segen.

Moray hockte sich breitbeinig in den Eingang des Unterschlupfes und richtete den Blick auf Sinclair. Sein Herz hämmerte vor Angst. Erleichtert stellte er fest, dass sein Freund noch lebte, denn er hatte schon daran gezweifelt – zu abrupt war er verstummt. Doch jetzt konnte er sehen, dass Sinclair röchelnd atmete und sich seine Brust unter der sperrigen Rüstung mühsam hob und senkte.

Bevor Moray ihn ganz erreicht hatte, schlug Sinclair heftig mit dem Arm und begann erneut zu schreien. Dabei warf er den Kopf hin und her. Moray war mit einem Satz bei ihm und drückte dem Bewusstlosen die Hand auf den Mund. Im selben Moment öffnete Sinclair ruckartig die Augen und verstummte, während er in das Gesicht aufblickte, das über ihn gebeugt war.

Moray sah Denkvermögen und Klarheit in diesen Augen, und er zog vorsichtig die Hand fort. Einige Momente lang lag Sinclair reglos da, ohne den Freund aus den Augen zu lassen, dann richtete er den Blick auf den Felsbrocken, der das Dach ihres Verstecks bildete.

»Wo sind wir hier, Lachie? Was ist geschehen? Wie lange sind wir schon hier?«

Moray setzte sich zurück und stieß einen Laut der Erleichterung aus.

»Drei Fragen. Das bedeutet, dein Kopf arbeitet noch. Ich nehme an, du willst nur eine Antwort?«

Sinclair schloss die Augen und lag eine Weile da, ohne zu antworten, doch dann öffnete er sie wieder und schüttelte den Kopf.

»Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich einige meiner Ritter um mich gesammelt habe und mich mit ihnen bergauf gewandt habe, um oben zu den anderen zu stoßen. Davor mussten wir zusehen, wie unsere Fußtruppen abgeschlachtet worden sind.«

Er hustete, und Moray sah, wie ihm die Farbe aus den Wangen wich. Doch dann biss Sinclair die Zähne zusammen und fuhr fort.

»Außerdem weiß ich, dass wir jetzt von Freunden umringt wären, wenn der Kampf zu unseren Gunsten ausgegangen wäre. Dem ist nicht so, also vermute ich, dass du meine Nähe gesucht hast, wie ich gesagt hatte. Wo ist Louis?«

»Ich habe keine Ahnung, Alec. Ich habe seit dem Beginn der Schlacht nichts mehr von ihm gesehen. Es ist möglich, dass er es gemeinsam mit den anderen bis zum Bergkamm geschafft hat … doch auch dort oben gab es kein Entrinnen.«

Sinclair starrte ihn an.

»Was willst du damit sagen? Sie konnten den Berg nicht halten?«

Moray spitzte die Lippen und schüttelte den Kopf.

»Nicht nur das, Alec. Sie haben alles verloren. Ich habe gesehen, wie das Wahre Kreuz den Moslems in die Hände gefallen ist. Ich habe gesehen, wie gleich darauf das Zelt des Königs zu Boden gegangen ist, und ich habe das Siegesgeheul gehört. Wir haben die Schlacht verloren, Alec, und ich fürchte, wir könnten obendrein das ganze Königreich verloren haben.«

Sprachlos vor Schreck versuchte Sinclair, sich aufzusetzen, doch dann hielt er den Atem an. Sofort verlor sein Gesicht die Farbe, er verdrehte die Augen, sein Körper verkrampfte sich, und er verlor erneut das Bewusstsein.

Da er nicht wusste, woher die Schmerzen seines Freundes kamen, konnte Moray nichts für ihn tun. Doch diesmal erholte sich Sinclair schnell, und obwohl sein Gesicht grau und eingefallen war, als er die Augen öffnete, war er bei klarem Verstand.

»Ich habe mir irgendetwas gebrochen. Den Arm, glaube ich, obwohl es sich eher nach meiner Schulter anfühlt. Kannst du irgendwo Blut sehen?«

»Nein. Ich habe sofort nachgesehen, als ich dich hier gefunden habe, weil ich dachte, du wärst vielleicht verwundet. Du hast hier gelegen wie ein Toter, als ich dich gefunden habe, und dein Arm war ausgekugelt. Also habe ich die Gelegenheit genutzt und ihn wieder eingerenkt, solange du den Schmerz nicht spürst.«

Er zögerte, dann grinste er.

»Eigentlich hatte ich zwar keine Ahnung, was ich da tue, aber ich habe das schon zweimal gesehen. Ich konnte keinen Bruch finden … aber offensichtlich hast du ja jetzt einen gefunden.«

»Aye, offensichtlich.«

Sinclair holte tief Luft.

»Hilf mir, mich hinzusetzen und mich an den Felsen zu lehnen. Dann müsste besser festzustellen sein, woher der Schmerz kommt. Aber sei vorsichtig. Bring mich nicht um, nur weil du den Schmerz nicht fühlen kannst.«

Ohne den schwarzen Humor seines Freundes einer Antwort zu würdigen, konzentrierte sich Moray darauf, Sinclair in eine einigermaßen bequeme Position aufzuhelfen, in der er sich umsehen konnte. Doch das war leichter gesagt als getan, denn er musste dabei feststellen, dass der linke Arm seines Freundes nutzlos herabhing und Sinclair bei jeder Bewegung unerträgliche Schmerzen hatte. Der Oberarmknochen – gewiss gab es einen Namen dafür, doch er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er lautete – war knapp über dem Ellbogen gebrochen.

Er richtete den Freund auf, lehnte sich gegen ihn und hielt ihn so fest, während er dem Verletzten mit beiden Händen den Gürtel von der Taille löste und ihn dann benutzte, um den gebrochenen Arm stillzulegen, indem er ihn so fest wie möglich an Sinclairs Rippen festschnallte.

Erst als er damit fertig war und sich wieder hinsetzte, kam ihm zu Bewusstsein, dass er keine Geräusche mehr über ihnen auf dem Hügel hörte. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie oder wann der Lärm nachgelassen hatte und verstummt war. Er richtete den Blick auf Sinclair und sah, dass dieser ihn beobachtete.

»Dann sag mir, was geschehen ist.«

Während er den Schilderungen seines Freundes zuhörte, verzog sich Sinclairs Gesicht zunehmend, doch er versuchte nicht, Moray zu unterbrechen, bis dieser schließlich verstummte. Dann kaute er mit verkniffener Miene auf seiner Unterlippe.

»Verdammt sollen sie alle sein«, sagte er schließlich. »Sie haben es selbst heraufbeschworen mit ihren Eifersüchteleien und ihrem Gezänk. Ich habe gewusst, dass es so kommt, seit sie gestern beschlossen haben, den Vormarsch auf Tiberias zu unterbrechen. Es gab nicht einen vernünftigen Grund dafür. Nicht einen Grund, den ein guter Kommandeur hätte rechtfertigen können. Wir waren doch schon zwölf Meilen durch die höllische Hitze marschiert und hatten keine sechs mehr vor uns. Wir hätten vor Anbruch der Nacht in Sicherheit sein können, wenn wir zusammengeblieben und weitergezogen wären. Anzuhalten war absolute Narrheit.«

»Narrheit und Verachtung. Und Hochmut. Dein Großmeister, de Ridefort, wollte dem Grafen von Tripoli seine Verachtung zeigen. Und Rainald von Chatillon hat ihm geholfen, indem er seinen Einfluss beim König benutzt und Guido bedrängt hat.«

Sinclair stöhnte vor Schmerzen auf und fasste sich an den gebrochenen Arm.

»Zu Chatillon kann ich nichts sagen«, keuchte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe noch nie mit ihm zu tun gehabt. Der Mann ist ein Barbar und eine Schande für den Tempel und alles, wofür dieser steht. Aber de Ridefort ist ein Ehrenmann, und er glaubt wirklich, dass Raimund von Tripoli ein Verräter an unserer Sache ist. Er hatte gute Gründe, ihm zu misstrauen.«

»Das mag ja sein, aber die Stimme des Grafen von Tripoli war die einzige Stimme der Vernunft unter unseren Anführern. Er hat gesagt, es wäre Wahnsinn, unser sicheres Lager in La Safouri zu verlassen, während uns Saladins Heerscharen auf den Fersen sind, und er hatte recht.«

»Aye, das stimmt, aber er hat schon einmal mit Saladin gemeinsame Sache gemacht, auch wenn er die Verbindung dann gelöst hat – zumindest sagt er das. Und diese Verbindung hat uns letzten Monat in Cresson hundertdreißig Tempelritter und Hospitalritter gekostet. De Ridefort hat ihm zu Recht misstraut.«

»Es war de Ridefort, der diese Männer verloren hat, Alec. Er hat sie gegen vierzehntausend Berittene geführt. Es waren seine Arroganz und Hitzköpfigkeit, die daran schuld sind. Raimund von Tripoli war nicht einmal in der Nähe.«

»Nein, aber wenn Raimund von Tripoli es an diesem Tag Saladins Armee nicht gestattet hätte, sein Territorium zu überqueren, wären diese vierzehntausend Mann gar nicht da gewesen. Es mag ja sein, dass man dem Großmeister des Tempels Vorwürfe machen muss, aber schuld war der Graf von Tripoli.«

Moray zuckte mit den Achseln.

»Aye, vielleicht hast du recht, aber während wir erwogen haben, die Sicherheit La Safouris aufzugeben, wurde Raimunds Frau in Tiberias belagert, und dennoch hat er gesagt, es wäre ihm lieber, sie zu verlieren, als unsere ganze Armee in Gefahr zu bringen. Für mich riecht das nicht nach Verrat.«

Eine Weile sagte Sinclair nichts mehr, dann verzog er erneut qualvoll das Gesicht.

»So sei es. Es hat keinen Zweck mehr, darüber zu streiten, denn die Katastrophe ist nicht mehr rückgängig zu machen. Jetzt müssen wir vor allem herausfinden, was oben auf dem Bergkamm vor sich geht. Schaffst du das, ohne entdeckt zu werden?«

»Aye. Dort oben gibt es eine gute Stelle zwischen den Felsen. Ich prüfe das mal.«

Moray kroch seitwärts wie ein Krebs und hielt den Kopf gesenkt, um nicht von oben bemerkt zu werden. Nach wenigen Minuten war er wieder da.

»Sie sind unterwegs«, zischte er und zog Sinclair vorsichtig zu Boden, sodass er wieder auf dem Rücken lag. »Sie kommen den Berg herunter. Auf dem ganzen Hang wimmelt es von ihnen, und sie scheinen auf uns zuzukommen. Sie sind gleich hier, und es wird ein Wunder sein, wenn man uns nicht entdeckt und ins Freie zerrt. Also sprich deine Gebete, Alec. Bete, wie du noch nie gebetet hast – nur tu es leise.«

Irgendwo dicht in der Nähe wieherte ein Pferd, und ein anderes antwortete. Hufe klapperten auf den Steinen, als befänden sie sich direkt über den beiden reglosen Männern, dann entfernten sie sich. Etwa eine Stunde lang lagen sie still. Sie atmeten kaum und rechneten mit jedem Herzschlag damit, entdeckt und gefangen genommen zu werden. Doch dann kam ein Zeitpunkt, an dem sie nichts mehr hörten, keine Bewegungen, keine Stimmen, so angestrengt sie auch lauschten, und schließlich kroch Moray aus dem Versteck und spähte vorsichtig um sich.

»Sie sind fort«, verkündete er vom Eingang des Unterschlupfes. »Es wirkt nicht so, als hätten sie irgendjemanden oben zurückgelassen. Sie scheinen nach Tiberias unterwegs zu sein.«

»Aye, dorthin gehen sie zuerst. Die Zitadelle wird sich ergeben, jetzt, da die Armee vernichtet ist. Was hast du noch gesehen?«

»Staubwolken, die sich vom Bergkamm auf Saladins Lager östlich von Tiberias zubewegen. Ich konnte nicht sehen, wer dort den Berg hinuntergestiegen kam, die Wolke ist größer als die Stadt. Wer auch immer es ist, es sind viele an der Zahl.«

»Wahrscheinlich Gefangene, um Lösegeld zu erpressen, und ihre Bewacher.«

Sir Lachlan Moray verstummte. Er kaute stirnrunzelnd auf der Innenseite seiner Lippe, dann sagte er: »Gefangene? Glaubst du, es sind Tempelritter darunter?«

»Wahrscheinlich. Warum wundert dich das?«

Moray schüttelte sacht den Kopf.

»Ich dachte, ein Tempelritter darf sich nicht ergeben, sondern muss bis zum Tode kämpfen. Es ist noch nie vorgekommen, weil es immer um Tod oder Ruhm ging. Es ist noch nie vorgekommen, dass die Tempelritter lebend besiegt worden sind, aber –«

»Aye, aber. Du hast recht. Trotzdem hast du gleichzeitig unrecht. Die Regel lautet, niemand ergibt sich, solange die Chancen weniger als fünf gegen einen stehen. Ist die Zahl größer, steht es im Ermessen des Einzelnen, und heute waren wir hoffnungslos unterlegen. Besser zu überleben und freigekauft zu werden, um wieder zu kämpfen, als sinnlos abgeschlachtet zu werden. Aber genug davon. Wir haben eine Aufgabe. Wir müssen zurück nach La Safouri, um von der Schlacht zu berichten, und von dort weiter nach Jerusalem, also fangen wir besser an, uns einen Weg zu überlegen. Wenn sich Saladins Heer geteilt hat und im Süden und Osten von uns liegt, müssen wir denselben Weg nehmen, den wir gekommen sind, und hoffen, dass wir ihren Patrouillen ausweichen können. Sie werden überall sein, um Überlebende wie uns abzufangen. Warte, hilf mir, mich hinzusetzen.«

Doch sobald Moray dem Freund die Arme um die Taille legte und ihn vorsichtig anzuheben begann, begannen Sinclairs Zähne laut zu klappern, und wieder verlor sein Gesicht jede Farbe. Schweißperlen standen ihm auf Oberlippe und Stirn. Erschüttert und hilflos begriff Moray zuerst gar nicht, warum sich Sinclair so angestrengt von seinem verletzten Arm abzuwenden versuchte. Erst in letzter Sekunde verstand er und wich gerade noch rechtzeitig aus, als sich Sinclair übergab.

Dann lag Sinclair zitternd da und rang nach Atem. Sein Kopf rollte schwach hin und her, und Lachlan Moray saß händeringend neben ihm und fragte sich, was er tun sollte, denn ihm fiel nichts ein, das seinem Freund hätte helfen können.

Allmählich atmete der Verletzte wieder leichter, und plötzlich hatte er die Augen offen und starrte Moray an.

»Schienen«, sagte er mit schwacher Stimme. »Wir müssen den Arm schienen, damit ich ihn nicht wieder bewegen oder dagegenstoßen kann. Gibt es hier irgendetwas, das wir dazu benutzen könnten?«

»Ich weiß es nicht. Lass mich nachsehen.«

Wieder kroch Moray aus dem Versteck und verschwand. Sinclair, der allein zurückblieb, verlor jedes Zeitgefühl, und als er die Augen wieder aufschlug, hockte Moray mit besorgter Miene über ihm.

»Hast du etwas zum Schienen gefunden?«

Moray schüttelte den Kopf.

»Nein, nichts Geeignetes. Ein paar Pfeilschäfte, aber sie sind zu leicht und biegsam.«

»Speere. Wir brauchen einen Speerschaft.«

»Ich weiß, aber die Sarazenen schienen auf dem Marsch alle Waffen mitgenommen zu haben, die sie finden konnten. Die Pferde haben sie auch mitgenommen, aber das ist ja keine Überraschung. Ich muss mich etwas weiter bergauf nach einem Speerschaft umsehen.«

»Dann komme ich mit, aber erst, wenn es dunkel ist. Wir können nicht hierbleiben, und es ist zu gefährlich, wenn wir uns trennen. Wir schneiden meinen Umhang in Streifen und binden den Arm an meine Brust. Dann stütze ich mich auf dich und benutze dich als Krücke. Zum Glück ist mein Schwertarm unversehrt, falls wir ihn brauchen.«

Bis es ihnen gelang, den Arm so zu befestigen, dass er weitgehend schmerzfrei war, musste Moray noch mehrfach ins Freie gehen, um Pfeile einzusammeln, mit denen sie den Arm weiter stützen konnten. Inzwischen wurde es dunkel. Sobald sie es für dunkel genug hielten, um sich ins Freie zu wagen, aber gerade noch hell genug, um etwas zu sehen, ohne gesehen zu werden, begannen sie zum Kamm des Berges hinaufzusteigen. Sie kamen nur langsam und mühsam voran, und es dauerte nicht lange, bis die ständigen Stöße des unebenen Weges ihren Tribut von Sinclairs Arm forderten. Schon in den ersten Stunden ihrer Odyssee verging ihm jeder Wunsch zu reden, und er marschierte grimmig weiter. Sein Blick wurde glasig, sein Mund verzog sich zu einer ständigen Grimasse des Schmerzes, und seine gesunde Hand klammerte sich fest an Lachlan Morays Ellbogen.

Schnell musste Lachlan dazu feststellen, dass seine Annahme, alle Sarazenen seien bergab weitergezogen, nicht stimmte. Plötzlich mahnte ihn unbändiges Gelächter, dass er und Sinclair nicht allein waren. Er ließ Sinclair an einen Felsen gelehnt zurück und bahnte sich allein den Weg zu einer Stelle, an der er sehen konnte, was auf dem Gipfel des Berges Hattin vor sich ging. Was er dort entdeckte – eine Ansammlung großer Zelte, die von jubelnden Sarazenen bewacht wurden –, ließ ihn und seinen Freund unverzüglich eine völlig andere Richtung einschlagen, nach Nordwesten, fort von den Sarazenen und auf direktem Wege zur Oase von La Safouri.

SIE WANDERTEN IN DIESER ERSTEN NACHT von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen durch, kamen allerdings nicht annähernd so gut voran, wie sie es gewohnt waren. Ohne Pferde waren sie auf die Geschwindigkeit beschränkt, die ihre Beine hergaben. Obwohl der Boden besser wurde, als sie den Hügelkamm hinter sich ließen und sich bergab nach La Safouri wandten, schätzte Moray nach siebenstündigem Marsch, dass sie höchstens die Hälfte der zwölf Meilen zurückgelegt hatten.

Mit dem Schlachtfeld hatten sie auch den Gestank der verkohlten Gebüsche hinter sich gelassen, und das Feld selbst war zum Glück von der Dunkelheit verhüllt. Nur zweimal waren sie über Opfer gestolpert – eines war ein Pferd gewesen, zwischen dessen erstarrten Beinen ein voller Wasserschlauch lag. Damit hatten sie ihren Durst gelöscht und sich die Kraft zum Weitergehen geholt.

Die Morgendämmerung kam viel zu schnell, und es war an Moray zu entscheiden, wie es weitergehen sollte, denn sein glasig blickender Begleiter war dazu eindeutig nicht im Stande. Sie befanden sich in einer gigantischen Dünenlandschaft, und die Sonne würde sie kochen, ganz gleich, was sie taten. War es besser, weiterzugehen und nach einem Unterschlupf zu suchen, solange sie den Wasserschlauch noch hatten? Oder war es sicherer, sich eine Grube in die Flanke einer Düne zu graben und dort zu warten, bis es wieder dunkel wurde? Moray entschied sich für Ersteres, schon, weil sie kein Werkzeug zum Graben hatten. Und so ging er weiter und zog Sinclair mit sich, der jetzt bei jedem Schritt schwankte, während sein glasiger Blick auf einen Ort in weiter Ferne gerichtet war, den nur er allein sehen konnte.

Eine Stunde später ließen sie die Dünen hinter sich und betraten eine völlig andere Landschaft, die mit vereinzelten Büschen und scharfkantigen Felsen übersät war. Bald fanden sie ein ausgetrocknetes Flussbett von der Art, die die Einheimischen Wadi nannten. Moray ließ seinen kranken Begleiter im Schatten eines Überhangs an der Uferböschung niedersitzen. Er gab Sinclair zu trinken und ließ ihn dann schlafend in der dürftigen Zuflucht zurück, um sich selbst mit der Armbrust, die er auf dem Schlachtfeld von Hattin gefunden hatte, auf die Jagd nach etwas Essbarem zu begeben. Die Wüste war ein todbringender Ort, aber er wusste, dass sie gleichzeitig eine erstaunliche Zahl an Tieren beherbergte.

Alex Sinclairs Leben hing von ihm und seiner Jagdkunst ab, und so verschwendete er keinen Gedanken an seine eigene Müdigkeit, die sich rasch der Erschöpfung näherte. Langsam und vorsichtig, um die scheuen Wüstentiere nicht aufzuschrecken, spannte Moray seine Armbrust, während seine Augen und Ohren gebannt auf ein Geräusch oder eine Bewegung harrten.

Dann folgten mehr Geräusche und Bewegungen, als ihm lieb waren.

Zunächst war es eine Staubwolke, die seine Aufmerksamkeit erregte und ihn innerlich jubeln ließ, denn sie zeugte von berittenen Männern und sie näherte sich aus der Richtung, in der die Oase La Safouri lag. Eine Weile blieb er weithin sichtbar stehen und sah zu, wie die Staubwolke größer wurde, während sich die Reiter näherten. Kurz bevor sie nah genug waren, um ihn zu sehen, spiegelte sich das Gleißen der Sonne in einem Schild, dessen runde Form unverwechselbar war. Der Anblick ließ Moray in die Knie gehen, dann setzte er sich mit dem Rücken an den nächsten Felsen gepresst auf den Boden.

Bei den Franken gab es keine runden Schilde; nur die Moslems benutzten diese leichten, zerbrechlich aussehenden Bleche, die ihre Aufgabe dennoch wunderbar erfüllten.

Während er dasaß und diese Entwicklung verdaute, bemerkte er eine zweite Staubwolke, die sich von Süden her auf die Reiter aus La Safouri zubewegte, und er fluchte, denn seiner Schätzung nach würden sich die Wege der beiden Gruppen genau an der Stelle kreuzen, wo er saß. Die Reiter näherten sich schnell, und wenn er sich verstecken wollte, blieben ihm dazu nur noch wenige Minuten.

Moray sah sich um und suchte ein Versteck, doch da war nur eine Gruppe größerer Felsen, und auch diese schien ihm kaum als Zuflucht geeignet. Doch ihm blieb nichts anderes übrig. Seine Armbrust würde ihm allerdings hinderlich sein, weil sie zu groß war, um sie zu verstecken. Schnell wühlte er neben sich eine flache Grube in den Sand und vergrub die Waffe gerade so, dass er hoffte, sie hinreichend verborgen zu haben, aber nicht so gründlich, dass er sie selbst später nicht mehr wiederfinden würde. In letzter Sekunde warf er sich dann flach auf den Boden und robbte auf die Felsen zu, während er ein Stoßgebet zum Himmel sandte, seinen Freund Sinclair nicht im falschen Moment erwachen zu lassen.

Es war eine Gruppe von fünf großen Felsen, die keinerlei Dach hatten, doch er wand sich so weit wie möglich zwischen sie hinein. Es war alles andere als perfekt, doch er sagte sich, dass man ihn nur entdecken würde, wenn man die Felsen gezielt absuchte. Außerdem konnte er jetzt wirklich nichts anderes mehr tun, denn schon ging alles um ihn herum im Donnern der Hufe unter. Er hatte auf den ersten Blick geschätzt, dass jede der beiden Gruppen zwischen vierzig und sechzig Reiter umfasste, und das Stimmengewirr, das jetzt an die Stelle der trommelnden Hufe trat, schien seine Schätzung zu bestätigen. Was er hörte, waren die Stimmen hundert freudig gestimmter Männer, die gute Neuigkeiten austauschten.

Moray sprach zwar kein Arabisch, doch er war lange genug in Outremer, um mit dem Klang der Sprache vertraut zu sein, und sie wirkte nicht mehr so einschüchternd auf ihn wie zu Anfang. Auch konnte er einzelne Phrasen ausmachen, zum Beispiel Allahu Akbar, Gott ist groß, was der Ausdruck zu sein schien, den die Moslems am häufigsten benutzen.

Jetzt hörte er, wie das Wort Suffiriyya auf beiden Seiten ständig wiederholt wurde. Suffiriyya, das wusste er, war der arabische Name für La Safouri, und aus dem Überschwang des Stimmengewirrs schloss er, dass Saladins Armee die Oase eingenommen hatte, nachdem das Christenheer nach Tiberias aufgebrochen war.

Er wünschte, Sinclair wäre bei ihm, denn sein Freund beherrschte das Arabische perfekt, und er hätte jedes Wort des Durcheinanders verstanden, das über Morays Kopf hinwegwehte.

Frustriert, weil er nichts sehen konnte, konnte er nur stillliegen und hoffen, dass man ihn nicht erspähen würde. Dann kam eine Gruppe lärmender Männer auf sein Versteck zu, und er wurde nervös, weil er jeden Moment damit rechnete, einen Aufschrei zu hören, der seine Entdeckung verkündete. Er hörte sie dicht neben sich halten und wusste, dass sie direkt über ihm stehen mussten, kaum eine Armeslänge von ihm entfernt. Dann folgte eine Reihe von Grunzlauten, Männer bewegten sich hin und her, dann ein kurzer, unverständlicher Wortwechsel zwischen drei oder vier Stimmen.

Moray lauschte ihnen mit angehaltenem Atem und wünschte sich, er könnte so weit schrumpfen, dass er unsichtbar wurde. Stattdessen spürte er ein Ziehen in seinen Oberschenkeln, und er begriff, dass er in Kürze fürchterliche Krämpfe bekommen würde.

Die folgenden Minuten wurden die längsten seines Lebens, denn er litt Höllenqualen, ohne sich bewegen oder einen Laut von sich geben zu können, während seine schmerzenden Gliedmaßen gegen ihre widernatürliche Lage protestierten. Lautlos versuchte er, seine Beinmuskeln zu entspannen, und allmählich begann der entsetzliche Schmerz nachzulassen. Kaum fasste er die Hoffnung, dass die Krämpfe vorüber waren, als auch die Sarazenen aufbrachen, aufgerufen durch die Befehle einer lauten, etwas entfernten Stimme, die einen autoritären Klang hatte. Gerade hatten sie noch über ihm gestanden und laut diskutiert, da waren sie abrupt verstummt, und er hatte nur noch den Klang ihrer schwindenden Schritte gehört.

Es schien ihm, als ob sich die beiden Gruppen wieder trennten und ihren jeweiligen Weg fortsetzten. An ihren leiser werdenden Abschiedsrufen erkannte er, dass die erste Gruppe erneut südöstlich auf Tiberias zuhielt, während die andere nach Norden in die Wüste ritt.

Moray ließ ihnen reichlich Zeit zu verschwinden; dann erst kroch er aus seinem Versteck – und sein Herz hüpfte ihm in die Kehle, als er sah, dass er nicht allein war.

Ein einzelner Sarazene lag dem Anschein nach schlafend neben den Felsen im Sand. Moray blieb wie erstarrt stehen, eine Hand auf dem Felsen, der zwischen ihnen stand. Dann sah er das Blut, das den Sand unter dem Körper des Mannes tränkte.

Vorsichtig und geräuschlos schob er sich vorwärts, bis erst seine Ohren, dann seine Augen den Fliegenschwarm wahrnahmen, der über der Gestalt hing. Der Mann war tot. Der Schuss einer Armbrust hatte seinen Oberkörper durchbohrt, sein Kettenhemd war mit Blut verklebt, und unter der sonnengebräunten Haut war sein Gesicht bleich. Er lag zwischen zwei langen Speeren, und man hatte ihn offenbar sorgsam zurechtgelegt. Er hatte die Arme auf der Brust verschränkt; Köcher und Bogen lagen neben ihm, und Moray begriff, dass er ein einflussreicher Mann gewesen sein musste. Sowohl seine Kleidung als auch die verzierten Waffen an seiner Seite zeugten von Reichtum und Ranghöhe, doch sein leuchtend grüner Mantel war vom Blut geschwärzt, und sein schimmerndes Kettenhemd hatte ihn nicht vor der tödlichen Wucht des Stahlbolzens schützen können, der ihm das Metallgeflecht in die Wunde getrieben hatte.

Über die Speere hatte sich Moray zunächst gewundert, doch dann hatte er das abgebrochene Speerstück gesehen, das als Querbalken dazwischen gebunden war und an dem mehrere geflochtene Lederseile hingen, und begriffen, dass sie eine Bahre bildeten. Eine deutliche Spur führte im Sand auf die Stelle zu, wo man ihn abgelegt hatte. Wer auch immer der Mann war, man hatte ihn auf der Bahre festgebunden und mit einem Pferd hierhergezogen. Er konnte erst vor Kurzem gestorben sein, und Moray vermutete, dass seine Kameraden, die ihn hier so liebevoll abgelegt hatten, zurückkehren würden, um ihn zu holen.

Moray trat aus dem Schutz der Felsen und sah sich um. Nirgendwo bewegte sich etwas. Die Sonne hatte ihren Niedergang gen Westen begonnen, doch sie hatte noch einen langen Weg vor sich, und ihre Kraft war unvermindert. Sie buk die Landschaft, sodass die Felsen und der Sand schimmerten und waberten und Hitzewellen alle Konturen verzerrten.

Rasch durchsuchte er den Toten in der unwahrscheinlichen Hoffnung, vielleicht eine Wasserflasche zu finden, doch außer dem Bogen und den Pfeilen fand er nichts von Wert. Schwert und Dolch des Toten fehlten – wahrscheinlich wurden sie von seinen Kameraden verwahrt.

Er ergriff den reich verzierten Bogen, schlang sich den Köcher über die Schulter und machte sich auf den Rückweg zu seinem Freund.

Sinclair war immer noch bewusstlos, als Moray zurückkehrte. Tiefe Falten hatten sich in sein schlafendes Gesicht gegraben, und seine Stirn war glühend heiß. Moray wurde zunehmend nervöser, denn um seinem Freund die nötige Hilfe angedeihen zu lassen, musste er Sinclair entweder schnell zu anderen Christen führen, oder sie mussten sich den Sarazenen ausliefern.

Letzteres war undenkbar, und er beschloss, den Rest des Tages zu ruhen und während der Nacht weiterzuwandern. Doch wohin konnten sie gehen, jetzt, da ihnen La Safouri nicht länger offen stand?

Zurück nach Nazareth, lautete der einzige Ausweg, der ihm einfiel, und das war das letzte Bild, das er vor seinem inneren Auge sah, bevor er an diesem Nachmittag an Alexander Sinclairs Seite einschlief.