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A

M NÄCHSTEN MORGEN fand Sir Henry seinen Sohn schlafend auf einer Bank in der großen Halle und blieb einige Minuten lang vor ihm stehen, um ihn zu betrachten. Seine Kleider waren zerschlissen, sein Haar und sein kurzer Bart ungepflegt, sein Körper roch ungewaschen und sein Gesicht war deutlich von der Einsamkeit der zwei Monate in seinem Versteck gezeichnet. Er wusste nicht, wie lange sein Sohn schon hier schlief, doch es war bereits nach zwei Uhr in der Nacht gewesen, als er seinen Stallmeister Jonquard losgeschickt hatte, um den Jungen zu holen, und jetzt war es kurz vor sieben, also konnten sie noch nicht länger als eine Stunde hier sein.

Er hörte Geräusche aus dem Vorzimmer, wo die Dienstboten die Überreste der letzten Nacht wegräumten, und er beschloss, den Jungen so lange wie möglich ungestört schlafen zu lassen, denn er glaubte nicht, dass seine Gäste vor Ablauf der nächsten Stunde aufstehen würden.

Er begab sich in die Küche, wo er dem Koch die Anweisung gab, heißes Wasser für ein Vollbad vorzubereiten und es hinauf in die Gemächer des Herrn transportieren zu lassen. Dort sollte man Feuer anzünden und ihn rufen, wenn das Bad fertig war.

Wenn der Koch daran etwas Ungewöhnliches fand, so ließ er es sich nicht anmerken. Sir Henry hatte die hölzerne Badewanne in seiner Kammer seit dem Tod seiner Gemahlin nicht mehr benutzt, sondern noch vor zwei Monaten genau wie alle anderen Haushaltsmitglieder in der Küche gebadet. Er nickte nur und sagte seinem Herrn, es werde unverzüglich geschehen.

Dann begab sich Henry zum Turm des Haupttores, wo er eine Weile die Szenerie jenseits seiner Mauern betrachtete und nach Hinweisen darauf suchte, dass er und die Seinen unter Beobachtung standen. Als ihn nach etwa einer halben Stunde ein Dienstbote aufsuchte, um ihm zu sagen, dass sein Bad fertig sei, ging er André wecken.

Bei der ersten Berührung sprang André mit weit aufgerissenen Augen auf und sah sich um, als fragte er sich, wo er war. Doch Henry beruhigte ihn.

»Ich nehme an, du hast nicht viel geschlafen.«

André kniff die Augen zu, um den Schlaf zu vertreiben.

»Lange genug, Vater. Ich hatte schon fast sieben Stunden geschlafen, als Jonquard mit deiner Nachricht gekommen ist; ich bin also gut ausgeruht. Ich habe mich nur hier hingelegt, weil das Haus bei meiner Ankunft still war, und ich muss eingedöst sein. Was ist denn? Warum hast du nach mir geschickt?«

»Herzog Richard ist hier. Er ist letzte Nacht hier eingetroffen, allein bis auf einen anderen Ritter, und ich habe ihm deine Geschichte erzählt. Er hat mir viele Fragen gestellt, doch er glaubt dir. Bevor er allerdings etwas tun kann, muss er noch mehr wissen, und ich konnte ihm nicht helfen. Also hat er mir befohlen, dich zu rufen.«

Er lächelte auf seinen Sohn hinunter.

»Aber so, wie du aussiehst … und riechst … kannst du keinem Herzog und künftigen König gegenübertreten. In meiner Kammer wartet ein frisches heißes Bad auf dich. Geh und benutze es, dann richte dich ordentlich her. Zieh dir etwas Gutes an, damit du wie ein Ritter aussiehst, nicht wie ein Bettler. Lass dir Zeit. Es gibt keinen Grund zur Hast, denn Richard ist noch nicht aufgestanden. Wenn er nach unten kommt, wird er mit mir frühstücken, und er hat letzte Nacht gesagt, dass er dich gleich danach sehen will. Schlaf also nicht im Bad ein, so groß die Versuchung auch sein mag. Ich lasse dich holen, wenn es Zeit ist.«

Andrés Erleichterung war nicht zu übersehen, und Henry empfand genauso. Im nächsten Moment war der Junge verschwunden, um den Wünschen seines Vaters nachzukommen.

Nicht lange danach erschien der Herzog in Begleitung de Sables, und beide Männer begrüßten ihren Gastgeber herzlich. Richard erkundigte sich augenblicklich, ob André schon erschienen sei. Henry bejahte die Frage und sagte, der Junge würde da sein, sobald man ihn rief. Dann führte er seine Gäste in das Vorzimmer, wo Ector, dem man bemerkenswert wenig von der halb durchwachten Nacht ansah, sie mit einem ordentlichen Frühstück erwartete, das er ihnen persönlich über einem Kohlebecken im frisch gefegten Kamin zubereitete.

Sobald sie saßen, servierte er den drei Männern frische Omeletts aus Enteneiern, die er in einer Pfanne mit Ziegenmilch gerührt hatte, bis sie fest waren, dann gesalzen und mit frischen Pilzen und Zwiebeln gefüllt hatte. Dazu gab es frische Brötchen aus dem Ofen in der Küche. Sie vertilgten alles bis auf den letzten Krümel, und nachdem Ector den Tisch hatte abräumen lassen und das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Richard an Sir Henry.

»Holt André herbei und lasst uns hören, was er zu sagen hat. Doch bevor Ihr das tut, will ich Euch warnen. Wenn sich mein Verdacht bestätigt, so ist es möglich, dass Ihr Dinge hört, auf die Ihr nicht vorbereitet seid. Sollte es dazu kommen, möchte ich, dass Ihr nichts sagt, ist das klar?«

St. Clair nickte. Es interessierte ihn nicht, worauf er der Meinung des Herzogs nach nicht vorbereitet sein könnte. Für ihn konnte nichts stärker sein als die Erleichterung, den Namen seines Sohnes reingewaschen zu sehen.

»Das ist es, Herr.«

»WILLKOMMEN, SIR ANDRÉ ST. CLAIR. Ihr seht älter … und reifer aus als bei unserer letzten Begegnung. Aber Ihr seid ja auch … mindestens zwei Jahre älter. Genau wie wir alle. Steht bequem.«

Der junge Ritter legte die militärisch steife Haltung ab, in der er verharrt war, seit er zur Tür hineinmarschiert und vor dem Tisch zum Halten gekommen war, um seinen Lehnsherrn formell mit vor der Brust geballten Fäusten zu begrüßen. Er spreizte die Beine, um bequemer zu stehen, und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, hielt den Blick aber nach wie vor respektvoll über den Kopf des Herzogs hinweg gerichtet.

»Euer Vater hat uns von Eurem Missgeschick erzählt, und ich muss zugeben, dass ich überrascht bin, wie gesund Ihr nach zwei Monaten auf der Flucht ausseht. Ihr seht bemerkenswert gut aus.«

Er sieht unglaublich gut aus, dachte Sir Henry, der die Veränderung der Erscheinung seines Sohnes tatsächlich kaum glauben konnte. Ihr hättet ihn noch vor einer Stunde sehen sollen.

André hatte die stabile Holzwanne seines Vaters weidlich genutzt und sich offensichtlich mit Hilfe von Henrys kleiner Haarschere und seinem Metallspiegel im Morgenlicht des Fensters die Haare und den Bart gestutzt. Nun stand er als Ritter vor ihnen, bekleidet mit einem Kettenpanzer, über dem er den gleichen Umhang wie sein Vater trug, der auf der linken Brust mit dem Wappen der St. Clairs bestickt war. Doch er trug keine Waffen, und seine Kettenkapuze hing ihm über den Rücken, denn als angeklagter Verbrecher hatte er nicht das Recht, Waffen zu tragen, schon gar nicht in Gegenwart seines Herzogs.

»Bemerkenswert gut«, wiederholte Richard nachdenklich. »Und bemerkenswert unschuldig für einen angeblichen Priestermörder.«

André St. Clair zuckte nicht mit der Wimper, und Richard, der seinen Stuhl vom Tisch zurückgeschoben hatte, wies mit der Hand auf seinen Begleiter.

»Dies ist Sir Robert de Sablé, der mit mir nach Paris unterwegs ist, wo wir mit König Philip zusammentreffen werden. Obwohl er noch so jung erscheint, ist er ein Mann von großer Klugheit und Weisheit, und er ist durch die Ausführungen Eures Vaters mit Eurer Lage vertraut … wenn ich auch nicht weiß, ob er von Eurer Unschuld überzeugt ist. Ihr dürft ihn grüßen.«

Der junge Ritter wandte de Sablé den Kopf zu und neigte ihn respektvoll, und de Sablé erwiderte das Nicken mit ausdrucksloser Miene.

Richard legte die langen Beine übereinander und verschränkte die Finger über seinem Knie. Dann beugte er sich vor und wandte sich leise an André.

»Dies ist kein offizielles Gericht, Sir André. Ich möchte nur, dass Ihr mir als einer meiner Vasallen die Einzelheiten Eurer Geschichte erzählt. Und ich muss Euch gleich sagen, dass – ganz gleich, was ich persönlich glaube – die verschwundene Frau meine größte Sorge ist. Hätten wir ihre Leiche als Beweis für Eure Version, wären Eure Vorwürfe gegenüber den Priestern unwiderlegbar. Da sie jedoch nicht auffindbar ist und es weder einen Namen noch eine Beschreibung gibt, habt Ihr nicht den geringsten Beweis, dass sie je existiert hat. Nirgendwo ist eine Frau vermisst gemeldet worden, wir wissen nicht, wer sie war oder woher sie stammte, und es sieht nicht danach aus, als würde uns dieses Wissen noch durch ein Wunder zufallen. Seht mir ins Auge.«

André tat, wie ihm geheißen war, und die beiden sahen einander einige Sekunden an, bevor Richard fortfuhr.

»Es war die Tatsache, dass sie Euch der Sodomie bezichtigt haben, die mich davon überzeugt hat, dass Eure Version der Ereignisse wohl die wahre ist. Dennoch könnte sich die Tatsache, dass Ihr keine Beweise für Eure Behauptungen erbringen könnt, als unüberwindliches Hindernis erweisen. Dies allein wird Euch wahrscheinlich den Hals brechen … es sei denn, Ihr könntet wie durch ein Wunder den Namen der Frau nennen.«

»Eloise de Chamberg, Herr.«

»Eloise de Chamberg … und woher kommt sie, diese mysteriöse Eloise?«

»Aus Lusigny, Herr, etwa dreißig Meilen südlich von Poitiers.«

»Ich weiß, wo es liegt, Mann. Es gehört mir schließlich. Aber warum habt Ihr denn niemandem gesagt, dass Ihr wusstet, wer sie ist?«

St. Clair zuckte mit den Achseln.

»Das konnte ich nicht, Mylord. Ich habe seit zwei Monaten kaum ein Wort mit irgendjemandem gesprochen. Jonquard, der mir mein Versteck gezeigt hat und natürlich wusste, wo ich bin, hat sich von mir ferngehalten, weil er Angst hatte, dass man ihm folgen würde. Er ist alle paar Tage vorbeigeritten und hat mir Vorräte ins Gebüsch gelegt, die ich dann abgeholt habe, wenn er fort war. Doch ich habe erst heute Nacht auf dem Weg hierher das volle Ausmaß dessen erfahren, was hier vor sich geht. Angesichts der langen Zeit mag das für Euch seltsam klingen, doch es ist wahr.«

Richard sprang auf und begann mit jener unbändigen Energie auf und ab zu schreiten, die Sir Henry noch aus seiner Kindheit kannte. Richard Plantagenet hatte noch nie länger als einige Minuten auf einem Fleck sitzen können, und jetzt rang er im Gehen so fest die Hände, dass man hören konnte, wie die Schwielen seiner vom Waffeneinsatz gehärteten Handflächen aneinanderrieben – ein untrügliches Zeichen dafür, dass er angestrengt nachdachte.

»Es mag durchaus seltsam sein«, brummte er schließlich, »aber nicht seltsamer als dies: Wie kommt es, dass Ihr, ein Ritter aus Poitou, eine Frau namens Eloise de Chamberg aus Lusigny kennt?«

André begleitete seine Antwort mit einem leisen Achselzucken.

»Durch Zufall, Herr. Ich habe sie vor zwei Jahren kennengelernt, als ich in Poitiers an einem Turnier teilgenommen habe.«

»Und habt Euch verliebt, wie? Aber warum so geheimnisvoll?«

Zum ersten Mal stieg eine Spur von Farbe in das Gesicht des jungen Ritters.

»Weil ich keine andere Wahl hatte, Herr. Anfangs habe ich sie nur selten gesehen, weil mich meine Pflichten von Poitiers ferngehalten haben, und so habe ich nie mit jemandem über sie gesprochen.«

Der Herzog blieb abrupt stehen und sah André direkt ins Auge.

»Und später?«

Die Röte stieg André bis in die Schläfen.

»Und später wurde es unmöglich, von ihr zu sprechen.«

»Ich verstehe, und ich kann mir auch denken, warum. Sie ist aus Lusigny, und doch seid Ihr ihr in Poitiers begegnet und habt sie später auch dort besucht. Warum?«

»Sie hat damals mit ihren Eltern in Poitiers gelebt. Doch vor fünfzehn Monaten wurde sie … auf Wunsch ihres Vaters verheiratet.«

»Aha! Die meisten Männer würden an diesem Punkt das Wort finis hören.«

André nickte.

»Das ist wahr, Herr. Doch es war von Anfang an eine Ehe ohne Liebe, mit einem Mann aus Lusigny, der dreimal so alt war wie sie selbst. Es war der Wunsch ihres Vaters, nicht der ihre, und sie war eine gehorsame Tochter.«

»Offenbar aber keine gehorsame Gemahlin. Ihr habt sie weiterhin gesehen.«

»Ja, Herr, wenn auch sehr viel seltener.«

»Und wie kam es, dass sie zum Zeitpunkt des … Unglücks in Poitou war? Muss ich Euch daran erinnern, dass die Dame, verheiratet oder nicht, nun tot ist und ihr keine geschwätzige Zunge mehr etwas anhaben kann, während Ihr lebt und ihre Hilfe dringend nötig habt? Also sprecht.«

Ein rascher, beklommener Blick in Richtung seines Vaters ging der Antwort des jüngeren St. Clair voraus, doch dann hob er das Kinn und sah den Herzog geradewegs an.

»Ich habe vor gut drei Monaten eine Nachricht von ihr erhalten, dass Ihr Mann eine Reise nach Südwesten plante, um seinen betagten Bruder in Clermont zu besuchen, und sie hatte einen Plan, der es uns ermöglichen sollte, uns zu sehen. So habe ich für eine Eskorte gesorgt, die sie zu einem Besuch bei einer Witwe begleiten sollte, die eine entfernte Cousine von ihr ist und am Rand unserer Ländereien lebt.«

Wieder sah er seinen Vater an, dessen Gesicht nichts von seinen Gedanken verriet.

»Es war ein komplizierter Plan, der gleichzeitig aber auch ausgesprochen simpel war, denn hier kannte sie niemand, und ihre Cousine wusste nichts von mir oder von unserer Freundschaft.«

Wieder zuckte er kaum merklich mit den Achseln.

»Zunächst ging alles gut. Am Morgen des Mordes hatte sich die Witwe von Eloise verabschiedet. Sie war in dem Glauben, Eloise befände sich auf dem Heimweg nach Lusigny, eskortiert von den Wachen ihres Vaters. Doch es waren Männer, die ich angeheuert und bezahlt hatte, und sie haben sie zu der Stelle begleitet, an der wir uns zum letzten Mal treffen wollten – denn wir waren zu dem Schluss gekommen, dass es Narrheit sein würde, dieses Versteckspiel fortzusetzen, und dass es uns beide nur quälen würde. Sie haben sie zu der Stelle gebracht, wo sie auf mich warten wollte, und sich dann wie befohlen entfernt, um meine späteren Befehle abzuwarten. Ich kann nur vermuten, dass sie heimgekehrt sind, als sie nichts mehr von mir gehört haben – ich hatte sie im Voraus bezahlt.«

Er hielt inne und dachte stirnrunzelnd nach.

»Wie dem auch sei; die Priester haben sie vor mir gefunden, und den Rest wisst Ihr ja schon, Herr – bis auf dies: Als Eloise nicht nach Hause zurückgekehrt ist, kann niemand geahnt haben, wo man nach ihr suchen sollte, denn sie hatte ihren Bediensteten gesagt, sie würde nach Angers reisen, um eine ganz andere Cousine zu besuchen. Daher überrascht es kaum, dass niemand hier nach ihr gefahndet hat.«

»Hmm …«

Richard trat hinter seinen Stuhl und legte die Hände um die Knäufe der Rückenlehne.

»Erklärt mir doch bitte, warum Ihr Eurem Vater nicht gesagt habt, dass Ihr diese Frau gekannt habt. Es hätte allen Beteiligten ein großes Maß an Schmerz und Frustration erspart.«

Noch bevor Richard seinen Satz beendet hatte, lief Andrés Gesicht leuchtend rot an, und er nickte niedergeschlagen.

»Ich weiß, wie töricht und fehlgeleitet das gewesen ist, doch begriffen habe ich das heute erst. Bis dahin bin ich nicht auf die Idee gekommen. Als ich an jenem Tag zu Hause eintraf, war ich so bestürzt, dass es mir nur richtig erschien, ihren Namen und ihren Ruf zu schützen.«

»Und wo wart Ihr am folgenden Morgen, als die Männer des Barons kamen, um Euch festzunehmen?«

André St. Clair zog die Augenbrauen hoch, als könnte er nicht glauben, dass ihm jemand eine solche Frage stellte.

»Ich war in der Teufelsgrube und habe ihre Leiche gesucht. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und konnte einfach nicht glauben, dass zwei Leichen spurlos verschwinden konnten. Ich habe die Spuren gefunden, von denen der Bedienstete meines Vaters berichtet hatte, und bin ihnen bis zum Rand der Erdspalte gefolgt. Dann habe ich versucht hineinzuklettern, aber es hat sich als unmöglich erwiesen. Zwanzig Schritte von der Kante entfernt habe ich einen Punkt erreicht, von dem aus ich nicht tiefer hinabsteigen konnte, ohne selbst zu Tode zu stürzen, und auf dem Rückweg hatte ich fast selbst Angst, es nicht wieder hinauszuschaffen. Ich habe über eine Stunde gebraucht, um die Kante wieder zu erreichen, und am Ende wäre ich nicht hinausgekommen, hätte mir Jonquard nicht geholfen, den mein Vater losgeschickt hatte, um mich zu warnen. Er hat mich gefunden und mich herausgezogen.«

Herzog Richard ließ die Stuhllehne los und setzte sich. Schweigend starrte er den jungen Ritter an, dann wandte er sich an Sir Robert de Sablé.

»Robert? Was meint Ihr?«

De Sablé holte tief Luft. Angesichts seiner gerunzelten Stirn und seines unbarmherzig zusammengepressten Mundes war Henry auf ein vernichtendes Urteil gefasst. Doch stattdessen richtete de Sablé den Blick auf den Herzog, schüttelte sacht den Kopf und bat mit erhobener Hand um Geduld, damit er in Ruhe entscheiden konnte. André, der durch die folgenden Worte das meiste zu gewinnen oder zu verlieren hatte, stand reglos da und sah niemanden an.

De Sablé, der den jungen Mann genau beobachtet hatte, während er seine Geschichte erzählte, glaubte ihm jetzt ohne jeden Vorbehalt, und es kostete ihn große Mühe, seine Entrüstung im Zaum zu halten.

Naivität war das Letzte, was man Robert de Sablé vorwerfen konnte, und die ungezügelte Verderbtheit unter den Priestern auf allen Stufen der Kirchenhierarchie war für ihn nichts Neues. Doch sein Wissen und seine kritische Haltung waren durch einen radikalen Umstand ganz besonders geschärft worden: Robert de Sablé war Mitglied der geheimen Bruderschaft von Sion. Er war an seinem achtzehnten Geburtstag in den Orden aufgenommen worden und hatte sein Leben seitdem mit dem Studium der Lehren und der Archive des Ordens verbracht und viel über die Irrwege und die fehlgeleitete Politik der katholischen Kirche in den letzten tausend Jahren gelernt. Gewiss, die Korruption innerhalb der Kirche war ein weltliches Phänomen, und ihr Zynismus schrie geradezu danach, dass jemand diesem Tun ein Ende setzte. Doch Mord und Vergewaltigung, wie sie hier geschehen waren, überstiegen alles, was er bisher gehört hatte oder sich vorstellen konnte.

Er richtete sich auf.

»Mein Herr und Herzog«, sagte er, und seine Frustration war nicht zu überhören. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer, dass ich überzeugt bin, dass wir hier gerade die Wahrheit gehört haben. Doch gleichzeitig muss ich zugeben, dass ich froh bin, dass die Last der Verantwortung nun auf Euren Schultern ruht und nicht auf meinen. Ihr seid der Herzog von Aquitanien, und diese Angelegenheit fällt voll und ganz in Eure Zuständigkeit. Ich fürchte, ich kann Euch nicht diktieren, wie Ihr weiter vorgehen sollt.«

Richard erhob sich und begann erneut, durch das Zimmer zu schreiten. Er rieb unablässig die Hände aneinander, und aus seinen Augen leuchtete eine Leidenschaft, die Henry mit Freude und zugleich mit einer dumpfen Vorahnung bemerkte.

Im Lauf der Jahre, die er mit der Erziehung und Ausbildung des Jungen zugebracht hatte, hatte er gelernt, Richard Plantagenet zu lesen wie ein offenes Buch, und jetzt musste er feststellen, dass er den Herzog leidenschaftslos beobachtete und schon erriet, was dieser sagen würde, bevor Richard den Mund aufmachte.

Wenn es darum ging, rasch und unkonventionell zu urteilen und zu entscheiden, bewies Richard immer wieder zuverlässig, dass kein anderer Mann in der Christenwelt, nicht einmal sein weithin gefürchteter Vater, ihm an Zielstrebigkeit, Präzision und Entschlossenheit gleichkam. Richard war hochintelligent, zynisch, launisch, maßlos ehrgeizig, gnadenlos intrigant und dazu ein Krieger von Kopf bis Fuß – ganz gleich, was er vorschlagen würde, Henry wusste, dass es simpel, sauber, direkt und drastisch sein würde.

Henry legte die Hände in den Schoß und verschränkte die Beine. Richard würde mit seinem Urteilsspruch nicht mehr lange auf sich warten lassen – und Henry hatte ohnehin den Verdacht, dass sein ehemaliger Zögling seinen Entschluss schon vorab gefällt und de Sablé nur aus Höflichkeit um seine Meinung gebeten hatte.

»So sei es«, sagte Richard. »Ich bin ganz Eurer Meinung. Als Herzog von Aquitanien fällt die Entscheidung, was hier zu tun ist, allein mir zu. Wenn wir heute von hier fortreiten, Robert, werden wir diesem rachsüchtigen Dummkopf von einem Baron, diesem de la Fourrière, einen Besuch abstatten, und es soll mich doch sehr wundern, wenn er mir ungeschoren entrinnt. Ich habe genug dringende Probleme, ohne mich darum kümmern zu müssen, irgendwelchen bedeutungslosen Vasallen in den arroganten Hintern zu treten. Und wo wir gerade von Arroganz sprechen, noch vor unserem Aufbruch werde ich einen Hauptmann und vier Männer losschicken, um diesen unheiligen Abt von Sainte Mère festzunehmen … wie war noch sein Name? Thomas?«

Diese Frage war an Henry gerichtet, der mit einem Nicken antwortete.

»Nun, genau wie seinem Namensvetter wird auch ihm das Zweifeln vergehen, wenn er in Ketten zu mir geführt wird.«

De Sablé breitete die Hände aus.

»Und dann, Herr?«

»Und dann werde ich ihnen in vierfacher Autorität gegenüberstehen und als Graf von Poitou, in dessen Domäne sie ihre Macht ausüben, über sie Gericht halten, als Graf von Anjou, als Herzog von Aquitanien und obendrein als zukünftiger König von England und Sohn eines Vaters, der für seine Ungeduld mit lästigen Baronen und vorwitzigen Priestern bekannt ist. Auf meine Anordnung hin werden sie sich augenblicklich einverstanden erklären, diese lächerliche Mordanklage fallen zu lassen – und die nicht minder lächerliche, vor allem aber widerliche Andeutung, Sir André könnte ein Kinderschänder sein.«

Er verschränkte die Finger.

»Man wird die rebellischen, mordenden Priester festnehmen, vor Gericht stellen und hängen, und sollte einer ihrer einstmaligen Schutzherren, sei es der Baron oder der Abt, zögern, dies umgehend in die Wege zu leiten, so werde ich mit ihm und den Mordbuben kurzen Prozess machen, wie es mein Vater, der Alte Löwe, mit Becket getan hat. So wahr mir Gott helfe.«

Der bestimmte Ton des Herzogs ließ seinen Zuhörern das Blut in den Adern gefrieren.

»Ihr könnt wegtreten, Sir André«, fuhr er fort, ohne den jungen Ritter eines Blickes zu würdigen. »Ihr seid freigesprochen, und die Angelegenheit ist abgeschlossen, bis auf die letzten Details.«

Schon bevor sich Richard nun an ihn wandte, hatte sich Henry in Gedanken auf das Quid pro quo vorbereitet, das nun folgen musste. Richard Plantagenet tat niemals etwas, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, und was er hier verlangen würde, war von Anfang an selbstverständlich gewesen.

»Mein Herr«, murmelte er, und sein ansteigender Tonfall verwandelte die Anrede in eine Frage.

»Aye, Henry, wie Ihr sagt, Euer Herr.«

Der Mund des Herzogs verzog sich zu einem sardonischen kleinen Grinsen.

»Eigentlich bin ich auf der Suche nach Euch hier, aber nun müsst Ihr Euch beide meinem Gefolge anschließen, wenn ich nach Outremer ziehe, denn nur so kann jede Bedrohung für das Leben Eures Sohnes null und nichtig werden. André kann nicht ungefährdet in Frankreich bleiben, wenn ich fort bin. Gewiss seht Ihr das doch ein, und Ihr ebenso, André?«

Beide Männer nickten, und Richard lächelte.

»Dann steht unser Entschluss also fest. Wir ziehen gemeinsam in den Krieg. So groß meine Macht sein mag; ich ziehe stets auch mächtige Feinde an, und diese Kirchenmänner würden einen Weg finden, Euch erneut anzuklagen und Euch im Stillen umzubringen, sobald sie in dem Glauben sind, dass ich nichts mehr davon mitbekomme. Nun denn! Henry, Ihr werdet mein Fechtmeister und Berater. Und Ihr, Sir André, werdet Euch dem Templerorden anschließen.«

»Den Templern, Herr?«, fragte André mit großen Augen. »Wie soll das gehen? Ich bin doch kein Mönch, und ich bin auch gar nicht darauf vorbereitet.«

Richard lachte humorlos auf.

»Im Moment vielleicht noch nicht – das habt Ihr uns ja gerade hinreichend verdeutlicht –, doch diese Dinge lassen sich arrangieren, und Ihr werdet Euch schon mit dem Gedanken anfreunden. Mönch oder nicht; Ihr seid auf jeden Fall ein Ritter, von meiner eigenen Hand in diesen Stand erhoben, und Ihr seid ein St. Clair aus einer Blutlinie, die einen der neun Ordensgründer hervorgebracht hat. Der Orden kann Euch weiß Gott brauchen und wird Euch herzlich unter seiner schwarzweißen Standarte willkommen heißen.«

Er richtete den Blick vom Sohn auf den Vater.

»Hört mich an; hört, was ich sage. Vor anderthalb Jahren sind an einem einzigen Tag zweihundertdreißig Tempelritter umgekommen, an einem Ort namens Hattin. Euch habe ich gestern Nacht schon von dieser Schlacht erzählt, Henry. Doch über hundert von ihnen wurden als Gefangene exekutiert, nach dem Kampf, auf ausdrücklichen Befehl Saladins. Stellt Euch das vor, meine Freunde. Dieser Mann nennt sich Sultan, der erhabene Herrscher, doch allein diese Grausamkeit verlangt, dass er stirbt wie ein Tier. Zweihundertdreißig Tempelritter an einem einzigen Tag, und fast die Hälfte von ihnen brutal ermordet, als der Kampf längst vorüber war. Und kurz darauf hat er bei der Eroberung Jerusalems noch weitere Hunderte abgeschlachtet. Und der Grund, den er für dieses Gemetzel angibt? Dass die Tempelritter die gefährlichsten Männer der Erde sind.«

Er richtete seinen Blick wieder auf André.

»Doch ganz gleich, was der Grund dafür ist, dieses Gemetzel stellt uns vor eine harte, unabänderliche Tatsache, meine Freunde: Die Tempelritter sind mehr als dezimiert, denn sie haben nicht nur einen von zehn Männern verloren, sondern fünf. Es mag ja sein, dass sie die mächtigsten und berühmtesten Kämpfer der Erde sind, die Grundfeste der Verteidigung der Christenheit in Outremer, doch selbst sie können die Verluste der letzten zwei Jahre nicht mehr verkraften. Seit den Tagen Julius Caesars gilt, dass eine Militärmacht ihre Aufgabe nicht weiter verrichten kann, wenn sie um mehr als ein Drittel ihres Bestandes reduziert worden ist.«

Wieder hielt er inne, um seine Worte auf seine Zuhörer wirken zu lassen, bevor er fortfuhr.

»Es hat im gesamten Heiligen Land zu keinem Zeitpunkt mehr als tausend Tempelritter gegeben, auch wenn dies nicht allgemein bekannt war und die meisten Menschen die Templer für allgegenwärtig und unermüdlich halten. Doch ihre Verluste der letzten Zeit summieren sich auf über fünfhundert, und ihnen ist nur ein Bruchteil ihrer früheren Stärke geblieben. Daher ist der Orden äußerst interessiert an geeigneten Rekruten.«

Er richtete den Blick direkt auf André.

»Sie suchen junge Ritter, die keine Schulden oder andere irdische Verantwortlichkeiten haben und an Körper und Geist gesund sind. Meint Ihr, diese Beschreibung trifft auf Euch zu, mein junger Freund?«

André zuckte mit den Achseln. Seine Miene war beklommen.

»Sie könnte zutreffen, Mylord, wenn nicht dieser Schatten über mir hinge.«

»Dieser Schatten wurde soeben verbannt. Vergesst, dass es ihn je gegeben hat.«

»Ich wünschte, das könnte ich, Herr. Doch selbst wenn es mir gelänge, ihn zu vergessen, würden sich andere immer noch davon erzählen, vielleicht sogar in Outremer, und der Templerorden ist für seine Strenge bei der Auswahl seiner Rekruten bekannt. Wenn ich das so offen sagen darf, habe ich gehört, dass nicht einmal Könige oder Herzöge die Macht haben, dem Orden ihren Willen aufzuzwingen.«

Henry St. Clair erstarrte bei diesen Worten seines Sohnes, die Richard nur in Rage versetzen konnten, doch der Herzog lächelte lediglich.

»Das ist absolut wahr, und normalerweise würde Euch mein Einfluss bei der Aufnahme in den Orden kaum von Nutzen sein. Aber betrachtetet bitte noch einmal meinen Freund Robert de Sablé hier und glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass mehr in ihm steckt, als man auf den ersten Blick ahnt. Zum einen ist er einer der fähigsten Seefahrer der gesamten Christenwelt, auch wenn dies momentan in seinem Leben keine Rolle spielt.«

Er sah de Sablé mit fragend hochgezogener Augenbraue an, und der Ritter nickte ihm zu, als bejahte er eine unausgesprochene Frage. Richard grinste breit, wandte sich wieder den anderen zu und zog einen langen Dolch aus seinem Gürtel, den er in die Luft warf und ihn wieder auffing. Dies wiederholte er noch zweimal, beobachtet von den anderen, die sich fragten, was als Nächstes kommen würde.

»Ich kann Euch beiden ein Geheimnis verraten. Genau wie Ihr, André, ist auch Sir Robert kein Mitglied des Templerordens.«

Er fuhr plötzlich herum und warf den Dolch gegen eine der Holzsäulen, die die hohe Decke über ihnen trugen. Die Waffe durchquerte den Raum als verschwommener Blitz und rammte sich dann mit der Spitze in das harte Holz. In der darauffolgenden Stille schlenderte Richard zu der Säule hinüber und zog die Klinge heraus. Er warf einen kritischen Blick auf ihre Spitze, bevor er die Waffe wieder in die Scheide steckte.

»Doch der Oberenrat der Templer hat Sir Robert eingeladen, dem Orden beizutreten, und zwar nicht nur als gewöhnlicher Ritter, sondern als neuer Großmeister des Tempels an die Stelle Gerard de Rideforts zu treten, der wieder einmal vermisst wird und von dem man annimmt, dass er im Kampf gefangen genommen wurde und sehr wahrscheinlich tot ist.«

Wieder grinste er, diesmal voller Genugtuung angesichts der offenen Münder beider St. Clairs, deren Köpfe sich jetzt langsam de Sablé zuwandten. Als er der Meinung war, dass sie genug gegafft hatten und hinreichend beeindruckt waren, fuhr Richard fort.

»Lasst mich wiederholen, er ist vom Oberenrat des Templerordens eingeladen worden, dem Orden beizutreten. Eine solche Einladung hat es noch nie gegeben, denn der Tempel hat stets mit großem Eifer – und großer Eifersucht – darüber gewacht, wem er den Zutritt gewährt. Für Euch bekommt dies besondere Bedeutung, Sir André, weil dadurch die Möglichkeit wächst – und auch die Wahrscheinlichkeit, da Sir Robert ja von Eurer Unschuld überzeugt ist –, dass Ihr schon vor Eurer Abreise aus Frankreich in den Orden aufgenommen werden könntet, als Novize ohne formelles Gelübde. So könntet Ihr beide gemeinsam in meinem Gefolge reisen, bis wir das Heilige Land erreichen, und Euch unterwegs auf Eure jeweiligen Aufgaben vorbereiten, sodass Ihr, André, bei unserer Ankunft dem Orden als gewöhnlicher Ritter beitreten und Ihr, Henry, Euren Dienst bei mir antreten könnt.«

Henry St. Clair verneigte sich tief.

»Hervorragend«, sagte der Herzog. »Nun wollen wir uns unseren Aufgaben widmen. Zunächst dieser scheinheilige Abt Thomas. Er mag ja nicht viel Gottesfurcht in sich tragen, doch ich schwöre bei Gott, dass er heute noch solche Furcht vor mir bekommen soll, dass er um Gnade winseln wird. André, geht und holt Godwin, den Hauptmann meiner Wache. Er ist ein englischer Hüne, aber er spricht unsere Sprache. Ihr könnt ihn nicht verwechseln. Bittet ihn, mit vier Männern zur Abtei Sainte Mère zu reiten, um Abt Thomas festzunehmen und ihn mir in Ketten zum Schloss la Fourrière zu bringen. In Ketten, bitte sehr, und zu Fuß. Er soll den Abt zu Fuß gehen lassen! Ich will, dass dieser heilige Gauner Schmerzen und Ängste erleidet, wie er sie bis heute noch nicht erlebt hat. Und schickt einen Eurer Männer mit, um ihnen den Weg zu zeigen. Geht. Nein, wartet.«

Er schnippte mit den Fingern.

»Sagt Pierre, Godwins Korporal, er soll unsere Pferde bereit machen und sie in einer halben Stunde zum Eingang bringen. Könnt Ihr das behalten?«

André nickte, murmelte »mein Herr« und verließ das Zimmer.

Sir Henry sah ihm nach und bewunderte die aufrechte Haltung seines Sohnes. Er war immer noch überrascht darüber, wie widerstandslos er dem zugestimmt hatte, was hier in die Wege geleitet worden war. Er hatte schon zu Beginn von Richards Besuch gewusst, worauf die Wünsche Plantagenets hinauslaufen würden, und Widerwille und Frustration brodelten in ihm, seit er gehört hatte, was Richard von ihm verlangte. Doch nun war jeder Widerwille wie von Zauberhand verschwunden und einer Art widerstrebender Bewunderung für diesen Mann gewichen, der über ihrer aller Leben bestimmte.

Zwar war Henry bewusst, dass Richard Plantagenet sie beide manipulierte, doch er hatte seine eigenen Gründe, sich jetzt dem Willen des Herzogs zu beugen – es stand außer Frage, dass es für seinen Sohn ohne das Eingreifen und die Unterstützung des Herzogs und Königs hier in Frankreich kein lebenswertes Leben mehr gegeben hätte. Um nach Richards – und damit Henrys – Abreise nicht doch irgendwann festgenommen und hingerichtet – oder womöglich sogar ermordet – zu werden, hätte seinem Sohn nur noch die Möglichkeit offen gestanden, sich der Armee anonym und ohne Wappen anzuschließen, als herrenloser Soldat.

Dank des herzoglichen Eigennutzes – denn natürlich glaubte Henry keine Sekunde lang, dass der Herzog aus Liebe zur Gerechtigkeit handelte – bot sich nun sowohl ihm als auch seinem Sohn eine annehmbare Alternative. Natürlich war es Richard nur darum gegangen, sich seiner Mitwirkung an seinem Kriegszug ins Heilige Land zu versichern, doch darüber dachte er nicht weiter nach, denn nun bekamen beide, Herr und Vasall, was sie wollten. Indem er auf Richards Vorschlag einging, machte Henry aus der Not eine Tugend – er nutzte die Gelegenheit, das Überleben seines Sohnes zu sichern und weiter an seiner Zukunft Anteil zu haben.

Damit, dass ihm dennoch der Hauch eines unguten Gefühls blieb, das er nicht abschütteln konnte, würde Henry leben müssen, denn der Grund dafür war der komplizierte, sprunghafte Charakter des Herzogs.

Ihm wurde bewusst, dass Richard ihn beobachtete, und er richtete sich zu voller Größe auf, wobei er etwas verlegen den Bauch einzog.

»Wir werden Euch wieder abhärten müssen, Henry. Ihr seht verweichlicht aus.«

»Ich sagte Euch doch, Herr, dass ich seit dem Tod –«

»Es wird nicht lange dauern. Innerhalb eines Monats haben wir Euch wieder bei Kräften.« Richard grinste. »Möglich, dass es Euer Tod wird, aber dann sterbt Ihr wenigstens gesünder, als Ihr es jetzt seid.«

Sir Henry lächelte.

»Es wird mich nicht umbringen, Herr. Wahrscheinlich werde ich es sogar genießen.«

»Nun, der gute André wird solche Probleme nicht haben. Ich werde Robert sofort damit beginnen lassen, ihn in den Anforderungen des Ordens zu unterweisen, soweit sie allgemein bekannt sind.«

Er sah de Sablé mit hochgezogener Augenbraue an.

»Was meint Ihr, Robert? Wird er das Zeug zum Templer haben?«

»Er hat es schon, Herr. Nach allem, was ich sehen kann, muss er sich nur an einige Dinge … gewöhnen.«

»Aye, daran, morgens, mittags, nachmittags und abends zu beten und dann noch drei- oder viermal in der Nacht. Ein verdammt merkwürdiges Leben für einen Ritter und Krieger.«

De Sablé lächelte milde und tat Richards Kommentar mit einer Handbewegung ab.

»So will es die Ordensregel, Herr. Alle Mitglieder, ganz gleich welchen Ranges, müssen ihr gehorchen.«

»Aye, und das ist auch der Grund, warum ich dem Orden niemals beitreten würde. Es ist ein Wunder, dass Gottes Heilige Krieger noch Knie haben, um sich aufrecht zu halten und zu kämpfen.«

De Sablés Lächeln wurde breiter.

»Sie scheinen wunderbar zurechtzukommen, Herr, wie Ihr sogar selbst noch vor wenigen Augenblicken gesagt habt. Außerdem hat man mir mitgeteilt, dass die strengsten Regeln in Kriegszeiten außer Kraft gesetzt werden und man dann mehr Wert auf Kampfbereitschaft als auf die Gebete legt.«

Er wandte sich an St. Clair.

»Was meint Ihr, Sir Henry? Wird sich Euer Sohn in das Ordensleben fügen?«

»Mehr als gern, Sir Robert, denn einer seiner persönlichen Helden dient bereits bei den Tempelrittern in Outremer, und ich bin sicher, dass er alles darum geben wird, ihn dort kennenzulernen, falls der Mann noch am Leben ist.«

De Sablé zog die Augenbraue hoch.

»Ein Held? Wer könnte das sein?«

»Ein Vetter aus dem englischen Zweig unserer Familie, auch wenn die Familie seit dreißig Jahren Ländereien in Schottland besitzt. Sein Name ist Sir Alexander St. Clair; allerdings hat er ihn im Einklang mit der rauen Zunge des Nordens zu Sinclair abgeändert.«

»Und warum betrachtet Euer Sohn ihn als Helden?«

Der ältere Mann zuckte mit den Achseln und lächelte.

»Weil er nun einmal ein Held ist. Warum sonst? Alec – so nennt er sich – ist ein legendärer Kämpfer und ein Veteran des Tempels. Er hat kurz nach seiner Aufnahme in den Orden zwei Jahre bei uns gelebt, als André noch ein Junge war.«

Henry zögerte, als er de Sablés Miene sah.

»Was ist denn, Sir Robert? Habt Ihr etwa von Alec St. Clair gehört?«

De Sablés Stirnrunzeln verschwand sofort.

»Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube, mich an … irgendetwas erinnern zu können. Doch warum hat er denn diese zwei Jahre hier verbracht?«

»Das müsst Ihr ihn selbst fragen, Sir Robert, wenn Ihr ihm je begegnet, denn mir war nur bekannt, dass es um Ordensangelegenheiten ging, die für Nichtmitglieder geheim waren.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Sir André trat ein, um zu verkünden, dass er die Anweisungen des Herzogs überbracht hatte und sie nun ausgeführt wurden. Richard marschierte sogleich ungeduldig zur Tür und wies Sir Henry an, ihn zu begleiten. Im Gehen rief er de Sablé zu, dass er ihn in einer Viertelstunde am Haupteingang erwarten würde.

Als die beiden älteren Männer gegangen waren, standen de Sablé und der jüngere St. Clair da und musterten einander. Sir André war anzusehen, wie beklommen er sich allein mit seinem neuen Vorgesetzten fühlte. De Sablé betrachtete ihn kurz, dann nickte er ihm freundlich zu.

»Euer Vater hat mir von Eurer Freundschaft mit Euren Vetter Sir Alexander Sinclair erzählt.«

André St. Clair neigte lächelnd den Kopf.

»Ich würde es nicht als Freundschaft bezeichnen, Mylord. Wir hatten uns gegenseitig gern, doch ich war damals noch ein schlaksiger Junge, und Alec war volle zehn Jahre älter und schon ein Tempelritter. Wir haben einander seit acht Jahren nicht mehr gesehen, vielleicht sogar länger. Doch wenn Sir Alec noch lebt und sich immer noch in Outremer aufhält, wird es mir eine Ehre sein, ihn wiederzusehen und vielleicht sogar an seiner Seite zu kämpfen.«

»Dann geht Ihr also davon aus, dass Euch die Reise gen Osten Erfüllung bringen wird?«

So unschuldig diese Frage klingen mochte, St. Clair wusste, dass sie voller Mehrdeutigkeiten steckte, und er zögerte.

»Kommt her.«

André näherte sich beinahe zögernd, während er sich noch über die Aufforderung wunderte, die der unbeantworteten Frage auf dem Fuße folgte. Als ihm der andere Ritter die Hand entgegenstreckte, wäre er niedergekniet, hätte de Sablé nicht gesagt: »Nein, nehmt meine Hand.«

Das setzte dem Zögern ein Ende. André St. Clair ergriff die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde, und als er den unverwechselbaren Händedruck spürte, reagierte er genauso und bestätigte damit wortlos seine Mitgliedschaft in der Bruderschaft.

De Sablé ließ ihn los.

»Ich hatte so ein Gefühl, aber ich hätte es eher spüren sollen«, sagte er nachdenklich. »Ich hatte vermutet, Euer Vater wäre vielleicht einer der Brüder, doch er hat nicht auf den Händedruck reagiert.«

»Nein, Sir Robert, mein Vater nicht. Aber Sir Alec

»Wie habt Ihr das erfahren?«

»Bei meiner eigenen Weihe natürlich. Es gab immer schon Dinge an seinem Verhalten, die mich verwundert haben, schon als Junge, und dann haben sich meine Vermutungen bestätigt.«

»Und selbst als Mitglied der Bruderschaft ist es Euch nie in den Sinn gekommen, den Tempelrittern beizutreten?«

Jetzt grinste St. Clair ganz offen.

»Nein, Sir, genau wie ich vermute, dass es Euch nie in den Sinn gekommen wäre. Meine Loyalität galt – und gilt – der Bruderschaft, und wie ich schon sagte, bin – oder war – ich kein Mönch.«

»Nun, jetzt werdet Ihr bald einer sein, wenn auch unter dem Gelübde der Bruderschaft, nicht dem der Kirche. Ihr wisst natürlich, was ich damit meine?«

André bejahte murmelnd.

»Ich gehe davon aus, dass Euch die Bruderschaft mit einigen Aufgaben betrauen wird, wenn Ihr im Heiligen Land seid. Wir müssen uns bald mit dem Rat in Verbindung setzen und ihn wissen lassen, dass, wie und warum wir uns begegnet sind.«

André nickte. In Gedanken war er noch bei dem, was Sir Robert über das Gelübde gesagt hatte. Bei der Weihe zum Mitglied der Bruderschaft von Sion musste jeder Novize zwei Gelübde ablegen, die dem kirchlichen Armuts- und Gehorsamsgelübde nah verwandt waren, sich aber in einem wesentlichen Punkt davon unterschieden. Im Brevier des Ordens gelobten die Brüder, keinen persönlichen Besitz zu haben, sondern alles mit ihren Brüdern zu teilen, doch ihren Treueeid schworen sie dem Großmeister ihres Ordens, nicht dem Papst und gewiss nicht dem Meister des Tempels.

Der dritte Mönchseid, das Keuschheitsgelübde, blieb bei der Bruderschaft von Sion unausgesprochen. Bei den Tempelrittern dagegen beharrte man auf diesem Eid.

André schüttelte den Kopf bei dem Gedanken, wie wenig die Außenstehenden von diesen Dingen wussten – und das brachte ihn wieder auf Richard Plantagenet. Er sah de Sablé an und beschloss, ganz unverblümt zu sprechen.

»Darf ich Euch eine Frage im Geiste unserer Bruderschaft stellen, Sir Robert?«

»Gewiss doch. Nur zu.«

»Der Herzog scheint über Eure Berufung zum Großmeister des Tempels außerordentlich glücklich zu sein, doch ich verstehe beim besten Willen nicht, warum. In dem Moment, in dem Ihr den Templern beitretet, verliert er doch seinen Einfluss auf Euch, denn niemand kann zwei Herren dienen, und der Orden untersteht keiner weltlichen Autorität. Es sieht Herzog Richard nicht sehr ähnlich, sich über den Verlust eines mächtigen Vasallen zu freuen. Könnt Ihr mir das erklären?«

De Sablé lachte laut auf.

»Das kann ich; es ist ganz einfach. Seine Freude beruht auf der Tatsache, dass meine Berufung, so sie denn kommt, in der Zukunft liegt.«

»Verzeiht mir, aber Ihr sagt ›so sie denn kommt‹. Warum sollte sie denn nicht kommen?«

»Oh, sie wird kommen, doch das Wann hängt davon ab, ob der derzeitige Meister, Gerard de Ridefort, noch lebt oder tot ist. Wir vermuten, dass er tot ist, doch wir wissen es nicht genau, denn die Bedingungen in Outremer sind das reinste Chaos. Die spärlichen Kleinigkeiten, die wir hier erfahren, sind nicht akkurat, und manchmal sind sie nicht einmal wahr. Wenn de Ridefort also noch lebt, werde ich warten, bis man meiner Dienste bedarf. Bis dahin freut sich Herzog Richard, weil er mich brauchen kann. Ich soll auf der Reise ins Heilige Land sein Flottenkommandeur werden. Er ist dabei, zumindest in diesem Punkt anscheinend mit dem Segen seines Vaters, eine gewaltige Flotte zu sammeln, vielleicht die größte, die die Welt je gesehen hat, um seine Armee, sein Vieh, seine Ausrüstung und seine Belagerungsmaschinerie auf dem Wasser statt über Land zu transportieren.«

De Sablé sah André an.

»Denkt doch, Junge. Ich gehöre der Bruderschaft an, und bis vor Kurzem war es meine mir vom Rat zugeteilte Aufgabe, mich um die Handelsverbindungen eines Hauses zu kümmern, das von gewissen miteinander befreundeten Familien gegründet worden ist.«

Seine Formulierung war unverfänglich, doch André St. Clair wusste exakt, wovon de Sablé sprach.

»Um meine Bruderpflichten zu erfüllen, habe ich also Jahrzehnte damit zugebracht, alles über die Schifferei und über den Transport verschiedener Frachten zu lernen, einschließlich der mathematischen Fähigkeiten und der Navigationskunst, die nötig ist, um ein Schiff auf See zu steuern. Richard bedarf meiner Dienste, und im Namen der Bruderschaft bedarf ich der seinen, um sicherzugehen, dass ich Outremer schnell und lebend erreiche. Inmitten einer enormen Flotte steigen meine Chancen dramatisch, und das Risiko der Templer, weiterhin ohne Großmeister zu bleiben, verringert sich deutlich.«

St. Clair nickte.

»Ich danke Euch. Jetzt ist mir alles klarer. Nun, was kann ich ab jetzt für Euch tun, Sir Robert? Was auch immer Ihr vorhabt, ich kann sofort damit beginnen. Mein Vater wird sich darum kümmern, Männer zu finden, die unser Anwesen verwalten, solange wir fort sind. Was glaubt Ihr, wie lange wir noch haben?«

»Etwa einen Monat, denke ich, aber es könnte auch weniger oder sehr viel mehr sein. Richard drängt darauf, nach England überzusetzen, um seine Armee und seine Flotte in Einsatzbereitschaft zu versetzen, doch dazu bedarf er wie immer des Wohlwollens und der Mitarbeit seines Vaters, des Königs. Diese Aussicht erfüllt unseren Lehnsherrn nicht mit Jubel, obwohl ich glaube, dass sich Heinrich große Mühe geben wird, sich gutwillig zu geben, weil er es nicht abwarten kann, dass Richard England verlässt und nach Outremer aufbricht. Doch zusätzlich gären noch der ungeklärte Streit mit Philip um das Herzogtum Vexin und der Skandal um Alaïs. Auch dies muss zur Zufriedenheit aller Beteiligten geklärt werden, bevor dieser Kriegszug weiter vorangetrieben werden kann.«

Alaïs Capet, die Schwester des Königs Philip Augustus, war seit ihrer Kindheit mit Richard Plantagenet verlobt. Mit acht Jahren hatte man sie nach England in die Obhut Heinrichs und Eleanors verschifft. Doch mit fünfzehn war sie vom Vater ihres Verlobten verführt worden, der ihr Großvater hätte sein können, und sie war seine Mätresse geblieben. Der Skandal hatte nicht viel Wirbel gemacht, denn Königin Eleanor hatte zu diesem Zeitpunkt bereits im Gefängnis gesessen, wo sie über anderthalb Jahrzehnte bleiben sollte, und niemand, am wenigsten ihr gehörnter zukünftiger Ehemann, interessierte sich groß dafür, was aus der französischen Prinzessin wurde.

Alaïs’ Mitgift, der Grund für die seit über zehn Jahren andauernden Reibungen zwischen den beiden Königshäusern, war die reiche französische Provinz, die sich Vexin nannte und die die englische Krone als Zeichen des guten Willens vom Hause Capet erhalten hatte, als die kleine Alaïs dorthin übergesetzt war. Eigentlich hatte sie Richards älteren Bruder Heinrich heiraten sollen, doch nach dessen frühem Tod hatte man sie Richard versprochen. Ungeachtet der Tatsache, dass es sogar nach fast zwanzig Jahren noch keine Hochzeit gab, lagen die Grenzen der Provinz Vexin weniger als einen Tagesmarsch von der französischen Hauptstadt Paris entfernt. Aufgrund dieser strategischen Bedeutung wurde sie sowohl von Heinrich als auch später von Richard eifersüchtig gehütet.

Philip hatte ihre Rückgabe an Frankreich gefordert. Als Begründung hatte er nicht ganz ungerechtfertigt angegeben, es habe keine Hochzeit gegeben, daher sei die Mitgift verfallen und sei nun das rechtmäßige Eigentum Frankreichs. Heinrich und Richard, die sich unterdessen direkt an der französischen Grenze in der Provinz Vexin eine solide Operationsbasis geschaffen hatten, hatten natürlich vehement widersprochen, hatten aber im Januar 1188 bei der Konferenz von Gisors klein beigeben müssen. Dort war es Philip mit Hilfe des Papstes gelungen, die Treuhand über die Provinz zu erlangen, bis Richard seine Abmachung erfüllte und Prinzessin Alaïs heiratete.

De Sablé fuhr mit seinen Ausführungen fort.

»Das könnte Tage oder auch Wochen dauern, je nachdem, wie weitgehend es den beiden gelingt, ihre Differenzen beizulegen und sich freundschaftlich darauf zu einigen, sich die Befehlsgewalt über die Armee zu teilen.«

»Als gleichgestellte Heerführer?«

»Wahrscheinlich, auf die eine oder andere Weise. Doch Richard ist der Soldat, Philip der Diplomat, der lieber lenkt als kämpft. Theoretisch sollte dies das Überleben der Allianz sichern, doch unter uns Brüdern möchte ich es gesagt sein lassen, dass keiner der beiden sich mit weniger als dem Oberkommando zufriedengeben wird. Momentan trägt nur Philip eine Königskrone, und die allgemeine Anerkennung dieser Tatsache dürfte ihn in seinem Stolz beschwichtigen. Doch sobald Richard König von England wird, wird sich das ändern, und Richard wird lieber sterben, bevor er auf den militärischen Ruhm des Oberkommandos verzichtet. Früher oder später werden die Funken fliegen und wahrscheinlich Brände entfachen, mit denen kein Mensch gerechnet hat. Doch das wird keinen von uns beiden betreffen.«

De Sablé holte tief Luft.

»Haltet Euch also in einem Monat bereit, nach England aufzubrechen, doch zuvor müsst Ihr Euch im Lauf der kommenden Woche nach Tours oder Poitiers begeben, die Bruderschaft aufsuchen und berichten, was sich hier zugetragen hat. Dann wird man Euch weitere Anweisungen erteilen. Je nach Richards Bedürfnissen kann es sein, dass ich auf dem Rückweg von Paris erneut hier Halt mache. Doch ganz gleich, auf welchem Weg wir nach England zurückkehren, man wird Euch holen lassen. Und jetzt muss ich gehen, denn er wartet auf mich, und Ihr wisst ja, wie er es hasst, wenn man ihn warten lässt. Also verabschiede ich mich von Euch. Wir sehen uns bald wieder.«

Die beiden Männer umarmten sich kurz, Brüder jetzt, und de Sablé begab sich zu seinem Herzog. Sir André St. Clair, den er zurückließ, hatte nun über vieles nachzudenken.