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A
NDRÉ ST. CLAIR sollte schnell begreifen, dass mit dem Abschluss der Weihezeremonie in Lyon nichts in seinem Leben mehr so war wie zuvor. Die strenge Tagesordnung der Templer, die auf der Ordensregel des heiligen Benedikt basierte und von Bernard von Clairvaux für den Ritterorden abgewandelt worden war, schrieb einen festen Rhythmus von Gebeten und Schriftlesungen vor, die die Mönche Tag und Nacht beschäftigt hielten – dies war natürlich die offensichtlichste Veränderung in seinem Leben und dem der anderen Novizen.
Zwischen den Gebetszeiten wurde gearbeitet, und es gab während des gesamten Tagesablaufs keine Lücke, in der sich der Novize einen Moment Zeit für sich selbst hätte nehmen können. Es war so, als sei die ganze Regel, nach der sie nun lebten, darauf ausgerichtet, den Neuankömmlingen sämtliche Erinnerungen an die Annehmlichkeiten früherer Zeiten auszutreiben.
Die eigentliche Zeremonie hatte André mit einem Gefühl beobachtet, das an ungläubige Belustigung grenzte, denn viele ihrer Elemente erinnerten – manchmal beinahe lächerlich – an Passagen des Rituals, dem man ihn vor Jahren bei seiner Aufnahme in den Orden von Sion unterzogen hatte. Doch obwohl auch jetzt großer Pomp und Ernst herrschte, vermisste St. Clair jenes Gefühl der Offenbarung, das ihn damals überwältigt hatte.
Es war, so dachte er, als sei die Zeremonie von einer Gruppe von Männern zusammengeschustert worden, die verzweifelt versucht hatten, einem eigentlich sterilen Ereignis Bedeutung einzuhauchen. Es fehlte nicht an Gebeten und Gesängen inmitten von Weihrauchwolken, und im von ein oder zwei Kerzen erhellten Halbdunkel wurden geheimnisvolle Rituale zelebriert, doch St. Clair spürte deutlich, dass dem Ganzen die Substanz fehlte.
Die Weihezeremonie war ein Spektakel, das den Teilnehmern und vor allem den Neulingen Ehrfurcht einflößen sollte. Am Ende des Rituals waren sie betäubt von Visionen der Größe ihres Opfers und fest überzeugt, dass sie den Rest ihres Lebens in meditativem Schweigen zubringen und nie wieder Zeit für ihr persönliches Vergnügen haben würden.
Wenn es den ehemaligen Postulanten doch einmal gelang, einen flüchtigen Moment für ein geflüstertes Gespräch zu stehlen, versuchten sie, sich gegenseitig vorzumachen, dass alles gar nicht so schlimm war, wie es schien, und dass jeder Mönch des Ordens die gleichen Strapazen durchmachte. Doch sie konnten sehen, dass dies nicht stimmte. Das Noviziat war eine Zeit bewusster Anstrengungen und Quälereien, die der gnadenlosen Auslese der Rekruten diente, um jene herauszusieben, die für das Mönchsleben nicht geschaffen waren.
Da man André im Voraus gewarnt hatte, war er fest entschlossen, sich nicht entmutigen zu lassen, sondern jeden Unmut herunterzuschlucken und diese Zeit des Fegefeuers zielstrebig hinter sich zu bringen. Er war auf alles gefasst, womit ihn die Schinder des Ordens konfrontieren mochten, und befolgte jede Order und jede Anweisung augenblicklich und sorgfältig, ganz gleich, wie erniedrigend ihm die Aufgaben auch vorkommen mochten.
In seiner spärlichen Freizeit las und lernte er Hunderte nummerierter und untergliederter Paragrafen der Templerregeln auswendig.
Und jedes Mal, wenn er daran dachte, dass die Regeln, die ihnen allen so zu schaffen machten, mit Rücksicht auf die Strapazen des Feldzuges sogar noch abgemildert worden waren, beschlich ihn große Ungläubigkeit.
Schließlich hatten sie fünf Tage gebraucht, um Lyon hinter sich zu lassen.
Gleich am ersten Tag war die dortige Rhonebrücke unter dem Gewicht der Männer und Wagen eingestürzt. Dabei waren über hundert Mann ums Leben gekommen. Richard war gezwungen gewesen, jedes in näherer und weiterer Umgebung verfügbare Boot zu requirieren, um sein restliches Heer ans andere Ufer verschiffen zu lassen.
Danach waren die sechzigtausend Mann seiner Armee acht Tage lang geradewegs nach Süden gezogen und hatten sich glücklich gepriesen, wenn ihre drei Meilen breite Front zwölf Meilen am Tag zurücklegte. Sie hatten Avignon erreicht und sich von dort nach Aix gewandt, das einen weiteren Tagesmarsch entfernt lag.
Und zum Erstaunen aller hatten sie während ihres Vormarsches ständig weitere Rekruten angelockt.
Am achten Abend wurde André St. Clair unter den erstaunten Blicken der anderen Novizen von einem Trupp Sergeantenbrüder verhaftet, die auf Anordnung des Novizenmeisters handelten. Ohne ein Wort der Erklärung, ohne ihm auch nur die Gelegenheit zu geben, seine spärlichen Habseligkeiten mitzunehmen, wurde er gestellt; man legte ihm die Hände auf dem Rücken in Eisen und führte ihn ab.
Die nächsten Stunden verbrachte er streng bewacht in einem der vier Gefängniswagen, die zum Tross der Templer gehörten. Es war eine fensterlose, stabil gebaute Holzzelle, die nur durch einen vergitterten Schlitz belüftet wurde. Niemand sagte ihm, warum er festgenommen worden war oder wie die Anklage lautete, und er spürte die Hoffnungslosigkeit und Bestürzung wie Bleigewichte in seinem Inneren, denn nach der kurzen Zeit als Templernovize wusste er, dass er keine Stimme und keine Identität besaß und keinerlei Autorität, um diese Ungerechtigkeit in Frage zu stellen.
Dann führte man ihn mitten in der Nacht – es herrschte absolute Dunkelheit, also war es irgendwann nach dem Mitternachtsgebet und lange vor dem Frühgebet – vor ein Tribunal ranghoher Tempelritter, die sich bei Fackelschein im Zelt des Marschalls versammelt hatten. Dort wurde er durch Bruder Justin zur Anklage vorgeführt. Der Novizenmeister las St. Clairs vollen Namen – nur seinen Namen – von einer Pergamentrolle, die mehrere reich verzierte und offiziell aussehende Wachssiegel trug. Dann hob er den Kopf und betrachtete André wortlos von Kopf bis Fuß.
André stand aufrecht vor ihm, den Kopf hoch erhoben – und beinahe krank vor Anspannung.
Vier Schritte von Justin entfernt konnte er den ungewaschenen Körper des Mannes riechen – offenbar sein Verständnis von »Unantastbarkeit« –, der mit finsterem Gesicht und hängender Unterlippe gebeugt dastand und dessen Kugelbauch sich deutlich unter dem fleckigen Überwurf abzeichnete.
»Ihr werdet einer Reihe von Verbrechen angeklagt, André St. Clair, deren Schwere jeden Anspruch auf eine Mitgliedschaft in unserem großen Orden erlöschen lässt.«
Er beugte den Kopf erneut über das Pergament, bevor er fortfuhr.
»Man wird Euch unter Bewachung in die Templerkomturei nach Aix bringen, wo Ihr Euch verteidigen könnt, in der schwachen Hoffnung, dass man Euch vielleicht fälschlicherweise anklagt und Ihr verleumdet worden seid, sodass man Euch keinen Bruch Eurer Ordensversprechen vorwerfen kann. Möge Gott Euch beistehen. Bringt ihn fort.«
Kein anderes Mitglied des Tribunals hatte ein einziges Wort gesprochen, doch als St. Clair sich abwandte, sah er an der Rückseite des Zeltes ein Gesicht, das er kannte – einer der Postulanten, die mit ihm zusammen geweiht worden waren. Da er wahrscheinlich selbst zu dieser gottlosen Stunde irgendeinen Dienst für den Marschall zu versehen hatte, huschte er nun gesenkten Kopfes davon, doch André war sich sicher, dass dem Mann kein Wort entgangen war. Er war überrascht, dass ihn der übellaunige Bruder Justin nicht bemerkt und sofort hinausgeworfen hatte.
Doch in diesem Moment ergriff ihn einer seiner Bewacher am Ellbogen und schob ihn aus dem Zelt. Dort sah er den Umriss des Gefängniswagens im Fackelschein stehen, der nun hinter ein kräftiges Pferd gespannt worden war.
Seine Bewacher schoben ihn darauf zu, und dann hob man ihn hoch und warf ihn geradezu hinein. Er landete auf den Knien in einer Ecke der Holzzelle, während hinter ihm die Tür zufiel und sich der Wagen schwankend in Bewegung setzte. Zitternd und mit weichen Knien musste er plötzlich gegen das Bedürfnis ankämpfen, sich zu übergeben. Verängstigter, als er es sich noch vor einer Stunde hätte träumen lassen, spürte er sein panisches Herzklopfen, während er über die Unmöglichkeit der einzigen Erklärung nachdachte, die ihm für all dies in den Sinn kam: dass das falsche Zeugnis der drei toten Priester irgendwie aufgetaucht sein musste und man ihn erneut des Mordes anklagte.
Er versuchte, sich zu beruhigen, indem er eine Methode anwandte, die er als Novize hatte einüben müssen, und das Paternoster rezitierte. Er leerte seinen Kopf bis auf den endlosen, betäubenden Singsang der Worte und zählte anhand der Knoten seiner Gebetsschnur mit, bis er das Gebet hundertachtundvierzig Mal gesprochen hatte – die für den Tag erforderliche Zahl. Er war vor Tagesanbruch fertig, doch die Zelle war zu klein, als dass er sich hätte hinlegen können, und der Wagen schaukelte derart, dass an Schlaf nicht zu denken war. Also setzte er sich wieder aufrecht hin und begann, die Gebete des nächsten Tages abzuarbeiten.
Er hatte eintausendundsechsundzwanzig Paternoster aufgesagt – zehn weniger als das Pensum einer ganzen Woche –, als der Wagen schwankend zum Stehen kam. In der Zeit, die er dazu gebraucht hatte, hatte er zu seiner Überraschung ein Gefühl der inneren Ruhe und der Sicherheit gewonnen. Außerdem hatte er sich ausgerechnet, dass er etwa eine Stunde für hundertfünfzig Vaterunser brauchte.
Als die Tür seiner Zelle aufschwang, musste er die Augen schließen, um nicht geblendet zu werden, und er ließ sich willig von seinen Bewachern vom Wagen helfen, bis er wieder auf dem Boden stand. Er spürte die Sonnenhitze auf seinem Gesicht und seinen Armen, und dann schoben sie ihn in den kühlen Schatten, und er öffnete vorsichtig die Augen.
Er hatte schon vor einiger Zeit gemerkt, dass sie eine Stadt erreicht hatten – er vermutete, dass es Aix war –, weil die Wagenräder begonnen hatten, über Pflaster zu rattern und die Stimmen im Freien von den Mauern dicht gedrängter Häuser zurückgeworfen wurden. Jetzt konnte er sehen, dass er sich in einer Art Hof befand, der auf allen vier Seiten umbaut war. Eines der Gebäude hatte eine Tordurchfahrt, durch die der Wagen gekommen war. Die beiden Wächter, die ihn hierher eskortiert hatten, hatten sich anderen Aufgaben zugewandt und beachteten ihn nicht mehr.
Direkt vor ihm befand sich eine breite Eingangstür, die in blassgelben Sandstein gefasst war. Eine breite Treppe aus demselben Material führte darauf zu. Über dem Torbogen prangte ein Relief mit dem Wappenschild der Templer, und darunter standen rechts und links der gewaltigen Eichentür zwei weiß gekleidete Wachtposten mit dem roten Templerkreuz auf der linken Brust. Einer von ihnen hatte den Blick teilnahmslos auf St. Clair gerichtet, während der andere seine Begleiter beobachtete.
Selbst wenn er das Ziel ihrer Fahrt nicht gewusst hätte, wäre St. Clair klar gewesen, wo er war. Dies musste die neue Templerkomturei von Aix sein. Ein Bekannter, der sie im Bau gesehen hatte und die herrliche Farbe des Steins gepriesen hatte, der von seinen eigenen Ländereien stammte, hatte sie ihm einmal bewundernd beschrieben.
Eingelullt von der Mittagswärme schloss er die Augen und spürte, wie er zu wanken begann, doch bevor er sich wieder fangen konnte, spürte er erneut die Hände seiner Eskorte, und man schob ihn vorsichtig auf den Eingang zu, wo ihnen die Wachtposten die Tür öffneten.
Innen war es dunkel und kühl, und seine Begleiter führten ihn etwa zwanzig Schritte geradeaus, bis sie vor einem großen Tisch stehen blieben, der wiederum von zwei Templerwachen flankiert wurde. Dahinter führte ein breiter Gang nach rechts und nach links.
Seine Begleiter nahmen Haltung an und salutierten einem Ritter, der nun mit ausdrucksloser Miene hinter dem Tisch hervortrat. Der Ritter hörte zu, wie ihm einer der Männer erklärte, wer sie waren und warum sie hier waren, und nahm ihm dann die Anklageschrift ab. Er dankte den beiden höflich, nickte ihnen zu und ließ sie von einem seiner Männer in das Refektorium führen, damit sie eine Stärkung zu sich nehmen konnten. Als sie fort waren, wandte er sich um und richtete den Blick auf St. Clair. Als die Schritte der anderen verstummt waren, richtete er das Wort an den verbliebenen Wachtposten.
»Sucht den Bruder Präzeptor und sagt ihm, der Gefangene ist hier.«
Der Mann salutierte zackig und machte auf dem Absatz kehrt. Wieder richtete der Ritter den Blick auf St. Clair, der aufrecht vor ihm stand und ihn trotzig ansah.
»Folgt mir.«
Er schwenkte in den rechten Gang ein und legte dabei die gebieterische Haltung eines Mannes an den Tag, dessen Macht noch nie in Frage gestellt wurde. André blinzelte. Im ersten Moment war er versucht, stehen zu bleiben und sich so rebellisch zu verhalten, wie er sich fühlte. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass er keine Ahnung hatte, in welchen Schwierigkeiten er sich befand, und er sah ein, dass ihm ein solches Verhalten wahrscheinlich kaum dienlich sein würde.
Der Mann vor ihm entfernte sich rasch und blickte noch nicht einmal hinter sich, um sich zu überzeugen, ob er ihm folgte. Also setzte sich André brummend in Bewegung – und stellte überrascht fest, wie gut ihm das tat.
Nach zwanzig Schritten kreuzten sie einen anderen Gang, und gleich hinter dieser Kreuzung endete ihr eigener Gang an einer gewaltigen Flügeltür. Der Ritter öffnete einen der Flügel und trat beiseite, um St. Clair vorbeizulassen. Dieser zögerte, verwundert über die plötzliche Höflichkeit, dann durchschritt er die Tür – und blieb abrupt stehen. Drei Schritte hinter der ersten Tür versperrte ihm eine zweite, identische Tür den Weg.
»Eine Schallbarriere«, sagte der Mann und ging an André vorbei, um die zweite Tür zu öffnen. André blinzelte und schritt ein zweites Mal an ihm vorüber. Gleich hinter der Tür blieb er stehen und sah sich um.
Das Einzige, wozu man seines Wissens eine Schallbarriere brauchte, war, um die Ohren empfindlicher Seelen vor den Schreien der Gefolterten zu schützen, und dieser Gedanke brachte ihn augenblicklich um die stoische Ruhe, die er mit seinen Vaterunsern erreicht hatte.
Die große Kammer, die sie betreten hatten, schien fensterlos zu sein, und doch strömte von irgendwo Licht herein. Er legte den Kopf zurück und blickte auf, konnte aber keine Fenster sehen. Die hohen Wände waren mit Holz verkleidet und mit Wandteppichen geschmückt. Ihm gegenüber befand sich eine Wand mit einem gewaltigen Kamin, der rechts und links jeweils von weiteren deckenhohen Türen flankiert wurde. Das Tageslicht musste von der anderen Seite dieser Türen kommen.
Ein riesiger Eisenkorb im Kamin enthielt ein tosendes Holzfeuer, dessen Wärme St. Clair noch am anderen Ende des Zimmers erreichte. Vor dem Feuer standen drei gigantische Polstersofas in Form eines »U«, und dazwischen lag ein Tigerfell über den Boden gebreitet. Überall im Zimmer hingen Wandhalter mit kleinen Kerzen, die mit klarer Flamme brannten.
Links von ihm stand ein langer Tisch an der Wand, auf dem Becher und große Krüge standen. Daneben standen mit Tüchern verdeckte Speisen in Hülle und Fülle. Der bloße Anblick ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen, und ihm kam der bittere Gedanke, dass ihm wohl kaum etwas von diesem Überfluss zuteilwerden würde. Er war hier als Gefangener, der keine Ahnung hatte, was er verbrochen haben sollte, der sich aber keine Illusionen machte, wie streng man mit seinem Fehltritt umgehen würde.
St. Clair hörte, wie sich die Tür in seinem Rücken schloss. Als er sich umdrehte, sah er, wie der unbekannte Ritter einen Schlüsselring von seinem Gürtel löste. Ohne ein Wort kam der Mann auf ihn zu, drehte ihn um und schloss die Handschellen auf, mit denen er gefesselt war. Er zog sie ihm ab und warf sie achtlos von sich. Sie landeten scheppernd auf dem Boden. Plötzlich frei, spannte St. Clair seine Muskeln an und machte sich auf alles gefasst. Wenn er Gelegenheit bekam, sich zu verteidigen, würde er nicht zögern.
»List und Tücke, Sir André, List und Tücke. Großer Aufwand, aber es war nötig. Sobald die anderen kommen, erklären wir Euch alles. Bis dahin wette ich, dass Ihr zu einem Becher Wein nicht nein sagen würdet.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, die er anscheinend auch nicht erwartete, trat er an den Tisch und ergriff zwei schwere, langhalsige Krüge. Mit hochgezogener Augenbraue wandte er sich St. Clair zu, der gerade das heftig mitgenommene Schwert an der Seite des Templers betrachtete, und hielt einen der Krüge fragend höher.
»Dank des Bischofs von Aix können wir wählen. Einer dieser Krüge enthält den blutroten Nektar Burgunds, der andere den Bernsteinzauber vom Rhein. Welcher ist Euch lieber? Ich bin übrigens Belfleur. Einfach nur Jean Belfleur aus Carcassonne. Rot oder gold?«
»Was? Was geht hier vor? Warum bin ich hier? Was –?«
»Wie ich schon sagte, man wird Euch alles erklären. Nehmt den Roten.«
Belfleur schenkte St. Clair einen Becher voll und reichte ihn ihm.
»Wir müssen warten, bis die anderen kommen.«
»Welche anderen?«
»Geduld, mein Freund, zügelt Eure Neugier, ich bitte Euch.«
Er wies auf die Sofas vor dem Feuer.
»Kommt, setzt Euch. Ich werde Euch nicht fragen, wie Eure Reise gewesen ist, denn sie kann gar nicht angenehm gewesen sein. Ich kann Euch aber sagen, dass Euch, wenn wir hier fertig sind, ein heißes Bad zur Verfügung stehen wird, damit Ihr Euch vom Kerkergestank reinwaschen könnt – buchstäblich und symbolisch. Ihr bekommt Kleider, die Eurem Rang entsprechen, und man wird Euch Eure Waffen und Eure Rüstung zurückgeben.«
St. Clair konnte nur zögernd nicken, um zu zeigen, dass er die Freundlichkeit seines Gegenübers zu schätzen wusste. Er fühlte sich seltsam beschämt über seinen eigenen Unmut. Doch er setzte sich gehorsam auf ein Sofa und begann, sich allmählich zu entspannen, während der süffige Rotwein sein Wohlwollen wiederherstellte. Keiner der beiden Männer sagte etwas, doch ihr Schweigen war nicht angespannt. Sie waren es beide zufrieden, den Lauf der Dinge abzuwarten.
Der Wein, die Hitze des Feuers und die lange, schlaflose Nacht verfehlten ihre Wirkung nicht, und André merkte erst, dass er eingenickt war, als er die schweren Türen in seinem Rücken aufschwingen hörte. Er sprang auf, und der leere Becher fiel ihm aus der Hand, als er herumfuhr, um sich den Achtung gebietenden Männern zuzuwenden, die jetzt in die Kammer geschritten kamen und sich ihm gegenüber im Halbkreis aufstellten. Es waren neun Männer unterschiedlichen Alters, von denen einer, ein Templer, die anderen um einen halben Kopf überragte. Er hatte rote Haare und ein rötliches Gesicht mit leuchtenden, hellblauen Augen. Auch ansonsten erinnerte er St. Clair auf Anhieb an Richard Plantagenet – dieser Mann war ebenfalls von Kopf bis Fuß Soldat und Krieger, und er strahlte das gleiche achtlose Selbstbewusstsein aus.
Er war es, der als Erster das Wort ergriff. Er legte den Kopf ein wenig schief und sah André direkt in die Augen.
»Sir André St. Clair. Willkommen in unserem Haus. Ich bin Benedict de Roussillon, Graf von Grenoble und Präzeptor der Templerkomturei von Aix.«
Er streckte ihm die Hand entgegen, doch bevor sich André darüberbeugen konnte, spürte er schon, wie ihn Roussillon mit einem unmissverständlichen Händedruck hochzog, und er erwiderte den Händedruck mit großen, erstaunten Augen. Der Präzeptor des Tempels von Aix war ein Bruder des Ordens von Sion.
Doch der Graf hatte sich schon abgewandt, um ihm die anderen vorzustellen. Der Erste war ebenfalls ein Tempelritter.
»Hier habt Ihr Henri Turcot. Er ist Kastellan von Grenoble und mein getreuester Verbündeter, Gleichzeitig ist er Präzeptor der dortigen Komturei. Henri ist gerade aus Villeneuve-les-Avignon eingetroffen und die ganze Nacht durchgeritten. Mit ihm ist dieser junge Mann gekommen, Graf Henri de la Champagne, ebenfalls ein Ordensbruder, der hier allerdings weit von seiner Heimat entfernt ist.«
Der junge Graf lächelte und verneigte den Kopf vor St. Clair, der mit einer tiefen Verbeugung antwortete. Er hatte von Henri gehört, der durch Eleanor von Aquitaniens erste Ehe mit König Philips Vater sowohl der Neffe Philips von Frankreich als auch Richards von England war.
Graf Benedict fuhr mit der Vorstellung der restlichen Runde fort, und St. Clair versank mehr und mehr in Ehrfurcht, weil ihm bewusst wurde, dass die Männer, die ihm hier so beiläufig gegenüberstanden, die einflussreichsten Männer der Territorien beider Monarchen waren – und dass sie alle Ratsmitglieder des Ordens von Sion waren. Ihre Namen waren ihm vertraut, weil sie schon jetzt Legenden innerhalb des Ordens waren, die von der ganzen Bruderschaft verehrt wurden. Gleichzeitig jedoch wuchs in ihm die verstörende Klarheit, dass sie sich alle hier versammelt hatten, um ihm zu begegnen.
Einer der Würdenträger, Germain von Toulouse, der der Älteste unter ihnen zu sein schien, erkannte St. Clairs Verwirrung. Er rief die anderen zur Ordnung und erinnerte sie daran, dass man ihren Gast noch gar nicht eingeweiht hatte.
Kurz darauf hatten sie alle ihre Übergewänder abgelegt und es sich auf den vorhandenen Sitzgelegenheiten bequem gemacht. Als sie saßen, erhob sich Benedict von Roussillon und beschrieb St. Clair klar und höflich die Umstände.
Man habe St. Clair hergebracht, so sagte er, weil der Rat des Ordens ihm eine bedeutende Aufgabe zugeteilt hatte – eine Aufgabe, für die er geeignet sei wie kein anderer, und zwar aus verschiedenen Gründen, die man ihm alle zu gegebener Zeit erklären würde. Die Wichtigkeit der Aufgabe brächte jedoch auch das Bedürfnis nach unbedingter Geheimhaltung mit sich, die noch über die üblichen Vorsichtsmaßnahmen der Bruderschaft hinausging. Niemand außer den neun hier anwesenden Ratsmitgliedern und einem weiteren Mann – dem St. Clair während der Ausführung seiner Aufgabe in Outremer Bericht erstatten würde – dürfe ahnen, was St. Clair tatsächlich in Outremer tat. So heikel sei diese Aufgabe, dass man es für notwendig befunden hatte, St. Clair hierherzuholen, um ihn persönlich einzuweisen.
Nachdem er so allen den Ernst und die Bedeutung der Lage verdeutlicht hatte, fügte Sir Benedict hinzu, dass die Gemächer, in denen sie sich aufhielten, gegen Störungen und Eindringlinge aller Art gesichert waren. Alle Gespräche über die nämliche Angelegenheit würden hinter geschlossenen und streng bewachten Türen stattfinden. Als Erstes würde man St. Clair die Hintergründe seiner Mission darlegen, dann würde er eindeutige Instruktionen bekommen, wie er vorzugehen habe.
Nachdem er St. Clair gefragt hatte, ob dieser alles verstanden habe, ordnete de Roussillon eine halbstündige Pause zum Essen an, da viele der Anwesenden an diesem Tag noch nichts gegessen hatten. Alle weiteren Mahlzeiten, so kündigte er an, würden wie üblich im Refektorium des Templerhauses eingenommen werden, und zwar schweigend und begleitet von der Tageslesung aus der Heiligen Schrift. Nur bei dieser einen Gelegenheit könnten die Brüder unter sich essen und dabei Neuigkeiten aus ihren jeweiligen Herkunftsorten austauschen.
Die Runde löste sich auf, und alles begab sich zu Tisch, wo sie die Speisen von ihren Abdeckungen befreiten und feststellten, dass sie ein Festbankett vor sich hatten, wenn auch ein kaltes.
André St. Clair genoss diese halbe Stunde in vollen Zügen. Er antwortete höflich, wenn er angesprochen wurde, und war sich zu jeder Sekunde bewusst, dass es womöglich nie wieder vorkommen würde, dass er in solch erlauchter Gesellschaft speisen und einfach nur er selbst sein konnte.
Die Zeit verging schnell, und schließlich stellten sie ihre Stühle ihm gegenüber im Halbkreis auf, und André St. Clairs Unterweisung begann.
Der weißbärtige Germain von Toulouse, der in der Mitte des Halbkreises saß, war der Erste, der sprach.
»Sir André St. Clair, wir begrüßen Euch zu dieser offiziellen Lehrstunde, die mit dem Einverständnis des Ordensrates einberufen wurde. Wir sind uns der Umstände bewusst, unter denen Ihr hergebracht worden seid, und es würde uns nicht überraschen, wenn Ihr darüber wütend und frustriert wärt. Unglücklicherweise war es notwendig, Euch unter Androhung öffentlicher Ermittlungen von Eurem Posten zu entfernen, und zwar unter Zeugen. Ihr seid Mitglied des Noviziats der Templer, und wenn wir Euch anders abkommandiert hätten, hätte dies genau die Art von Aufmerksamkeit erregt, die wir zu vermeiden wünschen. Wenn wir hier fertig sind, werdet Ihr als freier Ritter zurückkehren; Eure Ehre wird unbeeinträchtigt und Euer Ruf intakt sein. Habe ich etwas Komisches gesagt?«
André hatte mit einer Geste angezeigt, dass er gern etwas sagen würde, und bei dieser Frage lächelte er nun verlegen.
»Verzeiht mir meine Unbesonnenheit, Bruder. Eigentlich wollte ich nicht lächeln, doch der Gedanke, intakten Rufes zu unserem Novizenmeister Bruder Justin zurückzukehren, hat etwas … Bemerkenswertes an sich. Das Lächeln ist einfach nur dem Unglauben entsprungen … vielleicht vermischt mit einem Hauch von Entsetzen.«
»Ah, Bruder Justin. Natürlich.« Germain von Toulouse schmunzelte. »Er ist ein respekteinflößender Mann, nicht wahr? Doch Ihr braucht den Novizenmeister nicht zu fürchten, seine Loyalität gegenüber der Bruderschaft steht außer Frage.«
»Gegenüber der … Er ist einer von uns?«
Vor lauter Erstaunen spuckte er die Wörter einzeln aus.
»Natürlich ist er einer von uns, und er ist von unschätzbarem Wert, wenn man bedenkt, was für einen Posten er bekleidet und welchen Einfluss er unter den Templern besitzt. Er wird nicht das Geringste von Eurem Vorhaben ahnen, doch er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um Euch zu helfen, und falls Ihr Euch je von der Truppe entfernen müsst, wird es Bruder Justin sein, der Euch dies ermöglicht.«
St. Clair war völlig verblüfft. Vor seinem inneren Auge stand das Bild des übellaunigen Novizenmeisters mit seinem übelriechenden Körper, seiner fleckigen, zerlumpten Kleidung und seiner hängenden Unterlippe, die beinahe genauso weit vorstand wie sein aufgedunsener Bauch … doch von Toulouse sprach weiter, und er verdrängte rasch alle anderen Gedanken, um sich auf die Worte des alten Mannes zu konzentrieren.
»Ihr habt bereits einen Vetter in Outremer, der zu den Templern zählt, nicht wahr?«
»Ja, Sir. Ein Vetter meines Vaters, aus Schottland. Sir Alexander Sinclair.«
»Und Ihr seid ihm schon begegnet?«
»Ja. Er hat eine Zeit lang bei uns gelebt, als ich noch ein Junge war.«
»Und Ihr habt Euch mit ihm angefreundet.«
Es war keine Frage, doch André überlegte kurz, bevor er antwortete.
»Nein, Sir, das stimmt nicht ganz. Wir waren uns sympathisch. Ich zumindest hatte ihn gern. Aber ich war damals noch keine zwölf Jahre alt, und er war bereits ein fertiger Ritter, der den Templereid abgelegt hatte. Er war freundlich zu mir und großzügig, denn er hat immer offen und zuvorkommend mit mir gesprochen und mich stets ernstgenommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass er je auf mich herabgeblickt hätte oder mich wegen meiner Worte verhöhnt hätte. Ich habe ihn sehr bewundert, aber ich würde mir schmeicheln, wenn ich sagen würde, dass wir Freunde waren.«
»Ich verstehe. Und glaubt Ihr, dass er sich an Euch erinnern würde, wenn Ihr ihm je wieder begegnen würdet?«
André zuckte mit den breiten Schultern.
»Ich weiß es nicht, Bruder Germain. Ich würde es zwar hoffen, aber nach so langer Zeit kann ich es nicht mit Sicherheit sagen.«
»Würdet Ihr ihn erkennen?«
»Auch das glaube ich, und ich würde es gern beschwören, aber vielleicht kann ich es nicht. Vielleicht hat er sich ja so verändert, dass er nicht mehr zu erkennen ist.«
»Aye, das ist möglich …«
Die Worte des älteren Mannes klangen fast wie ein Seufzer, und dann saß er einige Sekunden wortlos da, bevor er nickte und fortfuhr.
»Die Wahrheit ist … es ist möglich, dass er tot ist.«
Er holte tief Luft und sah St. Clair direkt an. Seine Stimme wurde jetzt lauter und klarer.
»Wir wissen es schlicht und ergreifend nicht, und keiner unserer Kontaktmänner in Outremer kann es uns sagen. Sir Alexander Sinclair hat in Hattin gekämpft und ist seitdem nicht mehr gesehen worden. Niemand hat ihn fallen sehen, und niemand hat hinterher seine Leiche auf dem Feld entdeckt. Er war auch nicht unter den Rittern, die nach der Schlacht auf Saladins Befehl ermordet worden sind. Es ist gut möglich, dass er noch lebt und irgendwo von einem Araberscheich oder Emir gefangen gehalten wird, als Sklave oder um Lösegeld zu erpressen. Allerdings dauert das jetzt schon zwei Jahre, beinahe drei. Eure erste Aufgabe nach Euer Ankunft in Outremer wird es sein, ihn zu suchen. Findet Alexander Sinclair. Entweder das, oder ihr stellt über jeden Zweifel erhaben fest, dass er tot ist.«
St. Clair hatte während dieser Worte die Gesichter der anderen Brüder beobachtet, und was er dort sah, veranlasste ihn zu einer Bemerkung, die er normalerweise in solcher Gesellschaft nie gemacht hätte.
»Eure Worte klingen so, als wäre er immens wichtig, Master Germain.«
»Das ist er auch. Euer Vetter, Sir André, ist einer unserer wertvollsten Agenten in ganz Outremer. Er besitzt einen legendären Ruf unter seinen Kameraden und ist für seine Tapferkeit berühmt, doch er hat noch andere Eigenschaften, von denen die anderen Ritter nicht einmal träumen. Er hat ein gutes Ohr für Sprachen und ist von drei schiitischen Professoren aus Aleppo, Damaskus und Kairo unterrichtet worden. Diese haben ihn nicht nur gelehrt, fließend und akzentfrei Arabisch zu sprechen, sondern es auch mühelos zu schreiben. Außerdem haben sie ihn alles über den Islam und die Unterschiede zwischen den Schiiten und den Sunniten gelehrt. Dabei haben sie natürlich besondere Betonung auf die Verfolgung ihrer eigenen Sekte, der schiitischen Minderheit, durch die sunnitischen Kalifen gelegt. Wisst Ihr darüber Bescheid?«
»Eigentlich nicht«, antwortete St. Clair. »Ich weiß, dass sich die Anhänger des Islam in zwei Gruppen teilen, Sunniten und Schiiten, und dass die beiden Gruppen einander nicht gewogen sind. Ich weiß, dass die Sunniten den anderen zahlenmäßig weit überlegen sind.«
Er zögerte kurz.
»Außerdem weiß ich, dass die Differenzen zwischen den beiden Gruppen beim Tod ihres Propheten Mohammed begonnen haben, weil es Streit um seine Nachfolge gab. Die sunnitischen Kalifen haben die Führung an sich gerissen, doch die Schiiten glauben, dass der Prophet selbst seinen Schwiegersohn zu seinem Nachfolger bestimmt hat und die Kalifen seine Wünsche missachtet haben.«
Der alte Mann nickte beeindruckt.
»Damit wisst Ihr schon mehr als die meisten Eurer Mitreisenden, denn der Großteil von ihnen glaubt einfach nur, dass die Sarazenen samt und sonders die Helfershelfer des Teufels und dem Tod durch das Schwert geweiht sind. Als Christen interessieren sie sich nicht für weitere Hintergründe. Sie glauben, dass die Armeen einem eindeutigen Ziel dienen: Sie ziehen nach Outremer, um den Feind aus Gottes Heiligem Land zu jagen. Sollten sie dabei zufälligerweise Ländereien erobern, an denen sich ihre Könige und Anführer bereichern, nun, dann werden diese Anführer Gott gewiss in aller Bescheidenheit dafür danken. Für den Frankenkrieger gibt es nur einen Feind, und das ist der Moslem. Dass es unterschiedliche Moslems gibt, beachtet niemand.«
Germain ließ den Blick über die Versammelten schweifen, bevor der fortfuhr.
»Natürlich sehen die Anführer der Christen in dieser Spaltung den Beweis dafür, dass die Religion des Islam falsch ist. Dass sie in einer solch grundlegenden Frage gespalten sind, so heißt es, zeigt eindeutig, dass schon das Fundament der Religion morsch ist … Und dies wiederum beweist natürlich die Reinheit des Christentums, in dem es keine vergleichbaren Glaubensstreitigkeiten gibt.«
Der alte Mann verzog den Mund zu einem Grinsen und legte den Kopf ein wenig schief.
»Der Unterschied zwischen den orthodoxen Riten der Byzantiner und den römischen Riten unserer Heimat ist für diese Theologen eigentlich gar kein Unterschied, sondern nur eine etwas andere Auslegung. Und natürlich haben ebendiese Theologen nicht die geringste Ahnung von der Existenz unseres Ordens – wie könnten sie also argwöhnen, dass wir einer anderen Philosophie folgen? Eines Tages werden wir sie zu ihrem eigenen Wohl aufklären müssen, meine Freunde.«
Seine Zuhörer lächelten über seinen kleinen Scherz, und er wandte sich wieder an St. Clair.
»Doch ich war bei Eurem Vetter und seiner Bedeutung für unser Tun in Outremer. Am Ende seiner Unterweisung durch seine arabischen Lehrer war Euer Vetter zu einem Mann geworden, der sich mühelos als Moslem unter Moslems ausgeben konnte. Danach hat er in Kairo drei Jahre als Zivilist gelebt und für ein Handelshaus gearbeitet. Dabei ist er viel gereist und hat uns mit Neuigkeiten versorgt.«
Germains Miene war jetzt sehr ernst.
»Von dort ist er nach Jerusalem gezogen und hat sich den dortigen Templern angeschlossen. Nach außen hin hat er für sie Kurierdienste versehen, doch in Wirklichkeit fungierte er als Verbindungsmann zwischen der Bruderschaft und gewissen ähnlich geheimen Sekten innerhalb der schiitischen Minderheit – was ihn nicht zum Freund des Sultans Saladin und seiner sunnitischen Anhänger gemacht haben kann, zu denen auch seine Häscher zählen müssen.«
Der alte Mann atmete tief durch.
»Es ist eine der größten Ironien unserer Existenz, dass Jerusalem und Palästina zwar von überwältigender Bedeutung für unseren Orden sind, dass wir ausgerechnet dort jedoch nur wenige Abgesandte haben – und dies vorerst auch so bleiben muss. Würden wir entdeckt, entstünde der geringste Verdacht, dass es uns gibt, würde uns die Kirche ausrotten und uns als Häretiker vernichten. Und so macht es uns die unbedingte Geheimhaltung fast unmöglich, in Outremer zu arbeiten. Wir müssen dort jeden Vorteil nutzen, der sich uns bietet, und dazu gehörte es, Kontakte zu den Schiiten zu knüpfen, die in Jerusalem fast genauso spärlich vertreten und so gefährdet sind wie wir selbst. Saladin und seine Heerscharen sind Sunniten. Getreu dem alten Sprichwort, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist, haben wir uns Verbündete unter den Schiiten gesucht. Euer Vetter Alexander war unser wichtigster Verbindungsmann zu ihnen und vor allem zu einem Bund in ihrer Mitte, der eine ähnliche Rolle wie der unsere spielt. Sie nennen sich die Hashshashin, die Assassinen. Ich sehe, Ihr habt von ihnen gehört.«
St. Clair hatte bei diesem Wort große Augen bekommen, und er nickte stumm.
»Nun, lasst Euch nicht von dem, was Ihr über sie gehört habt, gegen sie einnehmen. Wie üblich in Situationen, in denen man wenig weiß und vieles fürchtet, haben die Gerüchte meist nur selten mit der Wahrheit zu tun. Die Sunniten haben ihre Vormachtstellung benutzt, um den Ruf der Assassinen zu schädigen. Doch das ist für uns unwichtig. Was für uns wichtig ist, ist, dass die Assassinen für uns keine Bedrohung darstellen. Im Gegenteil, wir sind quasi natürliche Verbündete und haben gemeinsame Interessen, darunter vor allem das geteilte Interesse an den Überlieferungen unserer Vorväter. Genau wie wir sind auch die Assassinen eine geschlossene, geheime Gemeinschaft, und sie besitzen einen Wissensschatz, an dem wir eines Tages teilhaben zu dürfen hoffen. Wir hatten dies schon lange vermutet, doch Alex Sinclair hat uns den Beweis dafür geliefert. Ihr habt eine Frage?«
»Aber …« St. Clair runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Wie kann er denn etwas bewiesen haben, ohne –«
»Ohne die Existenz unseres Ordens zu verraten? Uns war natürlich klar, dass wir das Vertrauen der Assassinen nur gewinnen konnten, indem wir ihnen unsererseits einen Vertrauensbeweis lieferten und uns ihnen preisgaben. Sir Alexander war befugt, dies zu tun, wenn er den Zeitpunkt für gekommen hielt. Er hat es getan, und sein Entschluss hat reiche Früchte getragen.«
»Und was, wenn sein Entschluss falsch gewesen wäre? Wenn er den falschen Leuten vertraut hätte, was dann?«
Germain zuckte mit den Achseln.
»Was dann? Dann hätte das Wort eines einzelnen Mannes ohne jeden Beweis im Raum gestanden. Was hätte das schaden können? Nein, es war alles unter Kontrolle, und es war kein irreparabler Schaden zu befürchten.«
»Und was jetzt, falls er tot ist? Wollt Ihr mir sagen, Ihr wisst nicht, was Ihr dann tun sollt?«
»Im Gegenteil; wir wissen, dass Euer Vetter einen vollständigen Bericht für uns hinterlegt hat, bevor er nach Hattin aufgebrochen ist, und wir wissen auch, wo. Doch die Kuriere, die uns diesen Bericht besorgen sollten, sind alle nach der Schlacht umgekommen. Wir gehen davon aus, dass der Bericht noch dort ist, wo ihn Sir Alexander hinterlegt hat. Solltet Ihr Sinclair nicht finden, so werdet Ihr zumindest diesen Ort wissen, sodass Ihr den Bericht suchen und uns zusenden könnt.«
»Und wenn ich meinen Vetter finde?«
»Dann überbringt Ihr ihm die Depeschen des Rates und arbeitet danach mit ihm zusammen.«
»Ich verstehe.« St. Clair nickte langsam, und sein Blick wanderte von einem Mann zum anderen. Doch seine nächsten Worte waren wieder an Germain von Toulouse gerichtet.
»Darf ich Euch noch eine Frage stellen, auch wenn Ihr sie möglicherweise vermessen finden werdet?«
»Natürlich. Wir bringen Euer Leben gleich zweifach in Gefahr. Fragt uns also alles, was Ihr wissen wollt.«
»Warum ist dies alles heute wichtiger als noch vor einem Monat? Man hat mich verhaftet und in aller Eile hergebracht. Man hätte sich doch schon vor Wochen und Monaten sehr viel unauffälliger und gefahrloser mit mir in Verbindung setzen können. Ich arbeite doch schon so lange in Sir Robert de Sablés Namen für den Rat.«
Germain zögerte, dann nickte er.
»Das ist korrekt. Und man hätte Euch auch schon vor einem Monat hergeholt, hätten sich zu diesem Zeitpunkt nicht einige Entwicklungen ergeben, die wir erst abwarten mussten. Es wäre sinnlos gewesen, Euch in die Sache hineinzuziehen, solange wir nicht wussten, welche Richtung wir einschlagen mussten. Nun sind unsere Entscheidungen gefallen. Doch ich bin nicht der Richtige, um Euch in diese Dinge einzuweihen. Master Bernard, fahrt Ihr fort?«
Germain von Toulouse trat beiseite und setzte sich, um einem anderen Redner Platz zu machen, der kaum jünger war als er selbst. André St. Clairs Herz begann schneller zu schlagen, als der Mann ihm zulächelte, bevor er das Wort ergriff.
Master Bernard de Montségur war einer der drei obersten Ordensmänner, die den drei Territorien den Ordens vorstanden. Die erste und älteste dieser drei Regionen war das Languedoc, das gesamte Gebiet nördlich der Pyrenäen einschließlich der Provinz Aquitanien und der Städte Montségur und Carcassonne; die beiden anderen waren die Grafschaften Poitou und die Champagne, die zusammen die restlichen Gebiete des ehemaligen römischen Galliens ausmachten.
Jeder der drei Oberen – die lebenslang gewählt wurden – war innerhalb seines Territoriums für die Angelegenheiten des Ordens zuständig, und Bernard de Montségur war der Einflussreichste der drei. Er war auch der direkte Verbindungsmann der Bruderschaft zum Templerorden und zum Netzwerk der Brüder von Sion, die innerhalb der Templergemeinschaft für ihren sehr viel älteren Bund arbeiteten.
»Wie Bruder Germain schon gesagt hat«, begann Bernard, »gab es in den letzten Monaten viele Veränderungen, und wie immer haben wir sehr spät davon erfahren. Meine Brüder hier wissen bereits, wovon ich spreche, doch wir halten es für wichtig, dass auch Ihr, Sir André, davon erfahrt. Vor einem Monat ist ein Schiff aus Sizilien in Marseille gelandet und hat Informationen mitgebracht, die im Prinzip ermutigend gewesen wären, hätten sie nicht einen besorgniserregenden Hintergrund gehabt. Sagt Euch der Name Conrad von Montferrat etwas?«
St. Clair schüttelte den Kopf.
»Nein, Sir. Nicht das Geringste.«
»Hmm. Nun denn, wisst Ihr von Barbarossas Expedition?«
»Ins Heilige Land. Ja, das weiß ich. Jeder weiß davon. Er ist an der Spitze einer Armee von zweihunderttausend Mann auf dem Landweg unterwegs. Sein Heer zählt mehr Männer als die Armeen König Richards und Philips zusammen.«
»Das stimmt. Und wisst Ihr auch, wie sich dieser Mann nennt?«
»Barbarossa?« St. Clair nickte. »Friedrich von Hohenstaufen, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, wegen seines roten Bartes Barbarossa genannt. War es das, was Ihr gemeint habt?«
»Ja. Aber sein Heiliges Römisches Reich ist weder heilig noch römisch. Es ist eine vielzüngige Masse, ein Bund barbarischer und ganz und gar unheiliger Germanenstämme. Und es ist weitaus eher griechisch als römisch.«
Bernard sah St. Clairs verwirrte Miene und fügte hinzu: »Ich meine, was die Religion betrifft, Sir André, nicht die Bevölkerung. Barbarossa ist Anhänger der orthodoxen Riten, und Jerusalem ist immer schon von einem Patriarchen der Ostkirche verwaltet worden.«
»Aye, Master Bernard, das wusste ich. Warmund von Picquigny war der erste Patriarch von Jerusalem. Er war es, der gemeinsam mit König Balduin II. Hugh de Payens die Erlaubnis erteilt hat, seinen Ritterorden zu gründen.«
»Auch das ist richtig. Die Kirche in Jerusalem war damals östlich dominiert, doch die Militärmacht war fränkisch und damit römisch. Schließlich nannte man den Krieg, der sie dorthin geführt hatte, Papst Urbans Krieg. Doch wie ich schon sagte, hat sich inzwischen einiges geändert. Nach seiner Rückeroberung Jerusalems hat Saladin den orthodoxen Christen letztes Jahr erlaubt, in die Stadt zurückzukehren. Als einzigen Ausgleich hat er ihnen eine geringe Steuer auferlegt. Er hat ihnen gestattet, die heiligen Stätten zu übernehmen, sodass sich diese nun wieder in den Händen des Patriarchen befinden. Sobald also Barbarossa dort eintrifft und Saladin vertreibt, wird die Ostkirche die Macht in Jerusalem haben, und Rom wird das Nachsehen haben.«
Er hielt inne und betrachtete St. Clairs nachdenkliche Miene, doch bevor der Ritter etwas sagen konnte, fuhr er fort.
»Warum sollte uns das interessieren, fragt Ihr Euch? Östlicher oder römischer Ritus, sie sind alle Christen und daher in unseren Augen fehlgeleitet, nicht wahr?«
St. Clair nickte, und Bernard klatschte laut in die Hände.
»Nein, Sir André. Das ist nicht wahr. Im selben Moment, in dem Barbarossa in Jerusalem die Macht ergreift – und glaubt ja nicht, dass ihm das nicht gelingen wird – wird seine erste Sorge sein, seinen Teutonenrittern die Vormachtstellung einzuräumen. Sie werden sämtliche Pflichten und Aufgaben der dortigen Orden übernehmen – der Templer und der Hospitalritter. Einige der Hospitaliers dulden sie vielleicht weiter an Ort und Stelle – die Benediktinermönche, die sich um die Kranken und Verwundeten kümmern. Doch die Soldatenbrüder werden sie nicht dulden, und die Templer werden sie mit Sicherheit fortschicken. Wenn sie selbst die Macht wollen, bleibt ihnen nichts anderes übrig – die Templer müssen fort. Und da der Tempel die Maske ist, die unsere Anwesenheit im Heiligen Land verschleiert, bedeutet dies, dass auch wir, die Brüder von Sion, vertrieben werden und unsere gesamte Mission unvollendet abbrechen müssen. Begreift Ihr allmählich, warum Euer Vetter so wichtig für uns ist?«
St. Clair gab sich keine Mühe, sein Stirnrunzeln zu verbergen.
»Nein, Herr.«
Master Bernard nickte.
»Nun, wenn es Alexander Sinclair gelungen ist, eine Verbindung zu den Schiiten zu knüpfen, hat er damit vielleicht einen Weg geebnet, den Verbleib unseres Ordens auch nach der möglichen Entmachtung der Templer zu sichern.«
St. Clair hob die Hand.
»Verzeiht mir, ich begreife immer noch nicht ganz, was Ihr über die Vertreibung der Templer aus Outremer gesagt habt. Es fällt mir schwer – mehr als das, es ist mir unmöglich –, mir etwas Derartiges vorzustellen. Dazu bedürfte es doch einer offenen Kriegserklärung Barbarossas.«
St. Clair sah sich hilfesuchend in den Gesichtern der Männer um.
»Der Tempel wird doch in Outremer nicht einfach die Waffen strecken und davonsegeln … oder?«
»Das hätten wir bis vor wenigen Wochen ebenso geglaubt. Doch dann ist das Schiff, das ich bereits erwähnt habe, in Marseille eingetroffen. Der Kurier ist absolut vertrauenswürdig, und seine Botschaften haben unseren gesamten Wissensstand verändert.«
Bernard bohrte die Zähne in seine glattrasierte Oberlippe und legte sich seine nächsten Worte sorgfältig zurecht.
»Wir sind überzeugt, dass Guido de Lusignan, der König von Jerusalem, ein Narr und ein Schwächling ist. Guido hat sich durch widersprüchliche, jedoch allesamt schlechte Ratschläge des Tempelmeisters Gerard de Ridefort und seines widerwärtigen Kumpanen Rainald von Chatillon zu der törichten Schlacht bei Hattin verleiten lassen. Wäre Guido nicht eine solche Memme, hätte er sie vielleicht beide ignoriert und seine eigene Entscheidung getroffen, doch das hat er nicht. Und seine Dummheit war mit Hattin nicht vorbei. Er wurde dort von Saladin gefangen genommen. Dieser hat ihn gut behandelt und ihn freigelassen, nachdem ihm Guido versprochen hatte, nicht weiterzukämpfen, sondern nach Frankreich heimzukehren. Doch kaum war er wieder frei, als er sein Versprechen auch schon gebrochen hat, mit der wenig überraschenden Begründung, ein Eid, den man unter Zwang gegenüber einem Ungläubigen geleistet habe, könne nicht bindend sein. Dann hat er sich selbst zum König erklärt. Doch er war schon wieder zu spät und außerdem zu schwach, denn inzwischen war ein neuer Akteur in Outremer aufgetaucht. Wisst Ihr über Tyrus Bescheid?«
St. Clair zuckte mit den Achseln.
»Es ist eine Stadt. Mehr weiß ich nicht darüber.«
»Eine Küstenstadt mit einem bedeutenden Hafen. Es war einmal eine Insel, bis Alexander der Große sie durch einen Damm mit dem Festland verbunden hat. Diesen Damm gibt es noch. Er bildet eine Landenge, auf der eine große Mauer steht, die die Stadt von der Landseite her so gut wie uneinnehmbar macht. Saladin hat Tyrus sogleich nach dem Sieg von Hattin belagert, und die Verteidiger hatten die Hoffnung schon so weit aufgegeben, dass sie bereits Verhandlungen aufgenommen hatten, als plötzlich ein Schiff in den Hafen gesegelt kam. An Bord dieses Schiffes befand sich ein Abenteurer namens Conrad von Montferrat. Er und seine Begleiter waren nach Jerusalem unterwegs und wussten nichts vom Stand des Krieges, von Saladin oder von Hattin. Sie hatten tags zuvor in Acre landen wollen, hatten aber erfahren, dass die Stadt in Sarazenenhand geraten war, und so hatten sie Tyrus angesteuert.«
Bernard räusperte sich, bevor er weitersprach.
»Sobald Conrad erfuhr, was dort im Gange war, übernahm er das Kommando. Er hat die Verhandlungen sofort abgebrochen und die Stadt auf eine lange Belagerung vorbereitet. Saladin, der begriff, dass aus der schnellen Kapitulation nichts werden würde, hat seine Armee prompt abgezogen und ist nach Süden gezogen, um Jerusalem und Ascalon einzunehmen. Tyrus stellte schließlich aufgrund seiner isolierten Lage keine unmittelbare Bedrohung für ihn dar, während Jerusalem reiche Beute versprach. Als Befehlshaber von Tyrus wurde Conrad de facto auch zum Anführer der Franken, doch dann traf Guido in Tyrus ein und verlangte, als König anerkannt zu werden. Conrad versperrte ihm die Stadttore. Er sagte, die Frage seiner Königswürde sei ungeklärt und müsse bis zur Ankunft der Frankenkönige und ihrer Armeen warten.«
Der alte Ordensobere hielt inne und schüttelte den Kopf.
»Im folgenden Frühjahr führte Guido ein kleines Heer und einige wenige Schiffe gegen Acre, etwas weiter südlich an der Küste gelegen. Das war die pure Dummheit, typisch für Guido von Lusignan, den man selbst in seinen lichtesten Momenten nicht der Klugheit bezichtigen kann. Die Garnison von Acre allein war doppelt so stark wie Guidos gesamte Truppe, und Saladin, der sein Lager nur eine kleine Strecke entfernt aufgeschlagen hatte, hätte sich jederzeit regen und den dreisten König und seine Anhänger auslöschen können. Doch Guido sah keinen anderen Ausweg. Wenn Acre nicht angriff und auf diesen letzten trotzigen – und wahnsinnigen – Versuch, den Feind zu besiegen, verzichtete, konnte dies sein Ende sein. Vielleicht hat er ja auf ein Wunder gehofft – denn beim lebendigen Gott des Moses, es ist ein Wunder geschehen.«
Wieder schüttelte er sacht den Kopf.
»Als einziger direkter Angriff gegen die Moslems in Outremer hat Guidos alberne kleine Belagerung einiges an Aufmerksamkeit erregt. Einige Zeit später traf eine Flotte dänischer und friesischer Schiffe ein, der bald ein weiterer Verband aus Flandern und Nordfrankreich folgte, und schließlich traf Markgraf Louis von Thüringen mit einem weiteren Kontingent ein. Sie sind zwar alle nach Tyrus zu Conrad gefahren, doch irgendwie muss Conrad sie alle gegen sich aufgebracht haben, sodass sie nach Acre gefahren sind, um Guido zu helfen, just als sich dieser schließlich doch Saladins Truppen gegenübersah. Zu diesem Zeitpunkt ist unser Informant aufgebrochen, um uns von den Ereignissen zu berichten. Das Letzte, was er vor seiner Abreise gehört hat, war, dass sich Conrad doch noch herabgelassen hatte, sich den anderen Franken anzuschließen und Guido gegen Saladin zu unterstützen.«
Master Bernard verstummte, und vor Andrés innerem Auge erschien die Szene vor den hohen Steinmauern von Acre, die Zelte und Banner der fränkischen Belagerer. Doch schon verlangte eine andere Stimme seine Aufmerksamkeit.
»Dies ist also die derzeitige Lage – zumindest, soweit sie uns bekannt ist.«
Der junge Graf aus der Champagne hatte sich erhoben.
»Alles schien erträglich, solange die herannahende Bedrohung durch den immer noch Hunderte von Meilen entfernten Barbarossa unsere einzige Sorge war. Doch diese neue Entwicklung hat alles verändert.«
St. Clair hatte das Gefühl, etwas Selbstverständliches nicht mitbekommen zu haben, und er beschloss, sein Unwissen zu gestehen.
»Verzeiht mir, Mylord –«
»Nicht Mylord; sprecht mich als Euren Bruder an. Wir alle hier sind Brüder.«
»Aye, verzeiht mir. Aber ich verstehe da etwas nicht. Welcher Zusammenhang besteht denn zwischen Guidos Belagerung von Acre und der Bedrohung durch Barbarossa?«
Henri grinste breit.
»Es freut mich, dass Ihr das fragt. Es ist nur logisch, dass Ihr diese Frage stellt, und ich hatte mich allmählich schon gefragt, ob sie wohl noch kommt. Gut gemacht. Oberflächlich betrachtet gibt es keine Verbindung, bis man genauer darüber nachdenkt, Bruder. Wir haben Zeit dazu gehabt. Ihr nicht.«
Henri sah St. Clair direkt in die Augen.
»Die eigentliche Belagerung von Acre interessiert uns nicht, aber die, die dabei die Hand im Spiel haben, schon – vor allem die Neuankömmlinge, Markgraf Louis von Thüringen und Conrad von Montferrat. Beide sind von noblem Geblüt, stammen aus Deutschland und besitzen den für diese Sorte typischen arroganten Stolz. Beide sind eingeschworene Vasallen Barbarossas. Conrad ist sogar mit ihm verwandt. Ihre bloße Anwesenheit in Outremer ebnet ihm den Weg und könnte unsere Entmachtung bedeuten.«
Er hob die Hand, um St. Clair das Wort abzuschneiden.
»Ihr dürft nicht vergessen, dass die Templer in Outremer für uns die Stellung halten, doch nach acht Jahrzehnten sind sie nicht mehr die Armee Jerusalems. Jetzt sind sie nur noch Krieger, die um den Sieg und für ihre Heimat kämpfen, wie alle anderen Soldaten dort auch. Und ganz gleich, was man hier über die Templer und ihre angebliche Unbesiegbarkeit denken mag, sie haben Konkurrenz bekommen, die es früher nicht gab: Barbarossas Teutonen. Hier im Westen wissen wir nur wenig über sie, aber das, was wir wissen, ist besorgniserregend. Wir können sie noch nicht richtig einschätzen, aber wir wissen, dass die Templer und die Hospitalritter Barbarossas Vorbilder für seine Teutonen gewesen sind und dass sie unter ihresgleichen einen makellosen Ruf genießen. Doch die Loyalität der Templer und der Hospitalritter gilt dem Papst und der römischen Kirche, die der Teutonen Barbarossa und der orthodoxen Kirche. Und nichts, Bruder, nichts auf Gottes Erde ist so gefährlich wie ein Kriegszug aus religiösen Motiven.«
Graf Henri verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Augenbraue hoch. Seine Miene kam einem Lächeln sehr nahe.
»Ihr habt gesagt, Barbarossa müsste einen offenen kriegerischen Akt begehen, um die Templer zu enteignen, doch aus Eurem Tonfall konnte man schließen, dass Ihr dies für unmöglich haltet. Ich schlage vor, dass Ihr Eure Meinung noch einmal überdenkt und dabei nicht vergesst, was hier auf dem Spiel steht. Wenn Ihr den Konflikt zwischen den Christen und dem Islam und die mörderischen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten betrachtet, haltet Ihr einen solchen Krieg dann wirklich für unmöglich? Glaubt Ihr wirklich nicht, dass römische und orthodoxe Christen auf die gleiche Weise aufeinanderprallen könnten wie die Sunniten und die Schiiten? Denkt Ihr wirklich so unlogisch? Vergesst nicht, dass wir hier von einer möglichen Auseinandersetzung um die endgültige Vorherrschaft sprechen und die Beute aus den Seelen aller Christen der Welt – und natürlich ihren weltlichen Besitztümern – besteht … und dass die Oberherrschaft über Jerusalem und über das Heilige Land eine der Säulen ist, auf denen die Macht des Siegers ruht.«
Wieder betrachtete der Graf St. Clair mit dieser belustigten Miene.
»Seid Ihr jetzt überzeugt? Oder muss ich es noch einmal mit anderen Worten erklären?«
»Nein, Bruder, ich verstehe. Wie könnte ich es nicht verstehen? Dennoch ist es eine niederschmetternde Kunde.«
»Aye, das ist es, doch dass Ihr genau das sagt, macht die Tatsache, dass Ihr einer von uns seid, so ermutigend. Nun, da Ihr also in den Grundzügen wisst, worum es geht, werden wir Euch jetzt erläutern, was weiter geschieht. Im Lauf der nächsten drei Tage werdet Ihr all dies erneut aus anderen Perspektiven hören, sodass Ihr, wenn Ihr wieder aufbrecht, genauestens im Bilde darüber seid, auf was Ihr Euch einlasst und was Ihr nach Eurer Ankunft in Outremer zu tun habt. Von diesem Moment an werdet Ihr nur noch mit einem Mann zu tun haben, den Ihr bereits kennt. Es ist Robert de Sablé; er wird Euer Verbindungsmann zu unserem Rat sein. Ihm werden zwei Delegierte zur Seite stehen, von denen allerdings keiner Euren Namen erfahren wird, es sei denn, de Sablé stieße etwas zu. In diesem Fall wird einer von ihnen eine schriftliche Anweisung öffnen und erfahren, wer Ihr seid.«
Henris Miene war nun völlig ernst.
»Zunächst jedoch werdet Ihr zu Eurer Kompanie zurückkehren. Ihr werdet Dokumente mitnehmen, die Euch von allen Anklagen freisprechen. Darin wird stehen, dass es sich bei Eurer Festnahme um eine Verwechslung gehandelt hat. Dann brecht Ihr wie geplant nach Outremer auf, und sobald Ihr dort eintrefft, beginnt Eure Aufgabe. Bis dahin werdet Ihr ein vollendeter Tempelritter sein – wahrscheinlich wird die endgültige Weihe in Sizilien stattfinden, wo Richard neue Vorräte an Bord nehmen muss. Doch Ihr werdet eine weitere Aufgabe von großer Wichtigkeit haben. Noch bevor Ihr Marseille verlasst, werdet Ihr lernen, Arabisch zu sprechen und zu lesen. Wir wissen, dass Ihr eine große Sprachbegabung besitzt, und haben alles Nötige in die Wege geleitet.«
Er hielt inne und sah seine Begleiter an.
»Möchte noch jemand etwas hinzufügen, oder können wir den Plan für die nächsten Tage aufstellen, bevor wir erneut eine Pause einlegen?«
Niemand hatte etwas hinzuzufügen, und so begann André St. Clairs Unterweisung. Es wurde eine Erfahrung, die er sich nie hätte träumen lassen.
SIZILIEN UND ZYPERN
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