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IR HÄTTEN LA SAFOURI nie verlassen dürfen. In Christi Namen, das konnte doch sogar ein Blinder sehen.«
»Ach ja? Warum hat dieser Blinde denn nichts gesagt, bevor wir aufgebrochen sind? De Ridefort hätte gewiss gern auf jeden Rat gehört, erst recht auf den eines Blinden.«
»Euren Sarkasmus könnt Ihr Euch sparen, de Belin, ich meine es ernst. Was tun wir hier?«
»Wir warten darauf, dass uns jemand sagt, was wir tun sollen. Warten auf den Tod. So will es das Soldatenlos, oder etwa nicht?«
Alexander Sinclair, Ritter des Tempels, hörte dem leisen, aber heftigen Streit zu, achtete aber sehr darauf, nicht dabei bemerkt zu werden, denn obwohl er den Klagen Sir Antoine de Lavisses nur beipflichten konnte, konnte er es sich nicht erlauben, sich dabei erwischen zu lassen. Das wäre der Disziplin alles andere als zuträglich gewesen. Er zog sich den Schal fester um das Gesicht und stellte sich in die Steigbügel, um den Blick über das dunkle Lager schweifen zu lassen. Überall hörte er unsichtbare Bewegungen, und wieder rief eine arabische Stimme »Allahu Akbar« – Gott ist groß, Teil der Litanei, die schon die ganze Nacht zu hören war.
Hinter ihm murmelte Lavisse weiter.
»Warum sollte ein Mann, der bei Verstand ist, eine gesicherte Position aufgeben, umgeben von Steinmauern und versorgt mit mehr Trinkwasser, als diese Armee je verbrauchen kann, um mitten im Sommer in die Wüste zu marschieren? Und zwar gegen einen Feind, der in dieser Wüste lebt, einen Feind wie ein Heuschreckenschwarm, dem die Hitze nichts anhaben kann? Bitte sagt mir das, de Belin. Ich brauche dringend eine Antwort auf diese Frage.«
»Dann fragt nicht mich.«
De Belins Stimme klang angewidert und frustriert.
»Geht in Gottes Namen und fragt de Ridefort. Er ist es, der diesen Idioten von einem König zu diesem Marsch überredet hat, und er wird Euch sicherlich gern erklären, warum. Und dann fesselt er Euch wahrscheinlich an Euren Sattel, verbindet Euch die Augen und schickt Euch den Sarazenen mit nacktem Hintern zur Belustigung hinüber.«
Sinclair zuckte zusammen. Es war nicht ganz fair, Gerard de Ridefort allein für ihre derzeitige Misere verantwortlich zu machen. Natürlich bot der Großmeister des Tempels eine willkommene Zielscheibe. Doch es war nun einmal so, dass irgendjemand Guido von Lusignan, den König von Jerusalem, zum Handeln treiben musste. Eigentlich war der Mann nur dem Namen nach König, denn man hatte ihn auf Beharren seiner Frau Sybilla gekrönt, der Schwester des letzten Königs, die jetzt die rechtmäßige Königin war und ihren Gemahl abgöttisch liebte. Er selbst war völlig ungeeignet, eine Machtstellung zu bekleiden, denn er war ein schwacher, unentschlossener Mensch.
Doch es ging den Streitenden in Sinclairs Rücken ja nicht um vernünftige Argumente. Sie nörgelten nur um des Nörgeins willen.
»Psst! Achtung, da kommt Moray.«
Sinclair blickte stirnrunzelnd in die Dunkelheit, und als er den Kopf wandte, konnte er seinen Freund Sir Lachlan Moray kommen sehen. Er saß zu Pferd, gefasst auf alles, was die Dämmerung bringen mochte, obwohl bis dahin noch eine Stunde Zeit sein musste.
Sinclair war nicht überrascht, denn nach allem, was er gesehen hatte, hatte niemand in dieser furchtbaren, nervenaufreibenden Nacht schlafen können. Überall erklangen Hustengeräusche, das heftige, schmerzhafte Bellen der Männer, denen die Luft ausging, weil sie am Rauch schier erstickten. Die Sarazenen, die im Schutz der Dunkelheit auf den Hügeln über ihnen Stellung bezogen hatten, hatten mitten in der Nacht dort oben das Gestrüpp in Brand gesetzt, und der Gestank der schwelenden, harzigen Dornbüsche war seitdem ständig schlimmer geworden.
Auch Sinclair spürte ein drohendes Kratzen im Hals und zwang sich, flach zu atmen. Dabei musste er daran denken, dass er vor zehn Jahren bei seiner Ankunft im Heiligen Land noch nicht einmal gewusst hatte, dass es Sarazenen gab. Jetzt war das Wort in aller Munde, ein Wort, das die getreuen, fanatischen Krieger des Propheten Mohammed – und um genauer zu sein, des Kurdensultans Saladin – bezeichnete, ganz gleich, welchem Volk sie angehörten. Saladins Reich war gigantisch, denn er hatte die beiden islamischen Reiche Syrien und Ägypten vereint, und seine Armee setzte sich aus Ungläubigen jeder Herkunft zusammen, von den dunkelhäutigen Beduinen Kleinasiens bis hin zu den Mulatten und den ebenholzschwarzen Nubiern Ägyptens. Doch sie sprachen alle Arabisch, und sie waren jetzt alle Sarazenen.
»Wie ich sehe, bin ich nicht der Einzige, der tief und fest geschlafen hat.«
Moray war an seine Seite geritten und saß jetzt Knie an Knie mit Sinclair. Genau wie dieser hob auch er den Blick zu der Stelle, an dem der näher gelegene der beiden Gipfel, die man die Hörner von Hattin nannte, über ihnen aufragte.
»Was meinst du, wie lange haben wir noch zu leben?«
»Nicht mehr lange, fürchte ich, Lachlan. Bis zum Mittag sind wir wahrscheinlich alle tot.«
»Sogar du? Eigentlich hätte ich lieber etwas anderes von dir gehört, mein Freund.«
Moray seufzte.
»Ich hätte niemals geglaubt, dass so viele Männer durch die Dummheit eines einzigen Maulhelden sterben könnten … die Dummheit eines kleingeistigen Tyrannen und die Feigheit eines Königs.«
Die Stadt Tiberias, das Ziel, das sie gestern Abend hätten erreichen können, und der See, an dessen Ufer sie lag, befand sich keine sechs Meilen vor ihnen, doch sie wurde von Raimund von Tripoli regiert, den Gerard de Ridefort, der Meister des Tempels, für einen Verräter hielt.
Statt der Logik zu folgen und für die Sicherheit und den Schutz seiner Armee zu sorgen, hatte de Ridefort gestern Nachmittag beschlossen, dass er es nicht eilig hatte, nach Tiberias zu gelangen – obwohl sich Raimund ohnehin hier im Lager der Armee befand und seine Gattin Eschiva die Stadt verteidigte. Ganz gleich aus welchem Grund er also seine Entscheidung getroffen hatte, niemand hatte es gewagt, ihm zu widersprechen, da die Ritter in der Armee zum Großteil Tempelritter waren.
De Ridefort hatte zu den Befehlshabern gesagt, es gäbe eine Quelle in dem Dörfchen Maskana in der Nähe ihres derzeitigen Lagerplatzes; dort würden sie die Nacht verbringen und dann am Morgen gen Tiberias vorstoßen.
Natürlich hätte König Guido diesen Vorschlag ablehnen können, doch wankelmütig, wie er nun einmal war, hatte er dem Verlangen de Rideforts und dem Drängen seines Verbündeten Graf Rainald von Chatillon nachgegeben. Chatillon, seinerseits ein mächtiger Tempelritter, der sein eigenes Gesetz verkörperte und de Ridefort an Arroganz und Machtgier noch übertraf, war Kastellan der Feste Kerak, der mächtigsten Festung der Welt, und er konnte sich rühmen, der Mann zu sein, den Sultan Saladin von allen Franken am meisten hasste.
Und so hatte man das Signal gegeben, und die größte Armee, die das Königreich Jerusalem in seiner achtzigjährigen Geschichte aufgestellt hatte, hatte Halt gemacht und das Lager aufgeschlagen. Woraufhin Saladins gewaltige Heerscharen – allein seine Kavallerie war den Franken um das Zehnfache überlegen – sie beinahe vollständig eingekreist hatten. Blitzschnell von allen Seiten umzingelt, hatten die zwölfhundert Frankenritter, ihre zehntausend Fußsoldaten und die etwa zweitausend Kavalleristen beklommen ihr Lager aufgeschlagen. Dann hatte sich zu ihrer Bestürzung wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass die Quelle, die ihre Anführer als Lagerpunkt ausgesucht hatten, ausgetrocknet war. Niemand war auf die Idee gekommen, dies im Voraus zu überprüfen.
Für den leichten Wind, der bei Anbruch der Dunkelheit aufkam, waren sie anfangs dankbar gewesen, weil er ihnen Kühlung brachte, doch keine Stunde später verfluchten sie ihn, weil er den Rauch auf sie zuwehte.
Jetzt begann der Morgen am Himmel zu grauen, und Sinclair wusste, dass es nicht sehr wahrscheinlich war, dass er oder seine Kameraden die kommenden Stunden überleben würden. Ihre Gegner waren geradezu lächerlich im Vorteil.
Die Tempelritter, die nach dem Motto »Die Ersten beim Angriff und die Letzten beim Rückzug« handelten, brüsteten sich gern damit, dass ein einziges Christenschwert hundert Feinde ausrotten konnte. Diese arrogante Überzeugung hatte schon vor etwa einem Monat bei Cresson zu einem unglaublichen Blutbad an einer Streitmacht von Tempel- und Hospitalrittern geführt. Bis auf de Ridefort selbst und vier namenlose Verletzte waren damals sämtliche Christenkämpfer umgekommen. Heute jedoch würde der unsinnige Spruch wahrscheinlich für immer ins Reich der Lüge verwiesen werden.
Saladins Armee bestand zu einem Großteil aus leichter Kavallerie, die mit flinken Pferden aus dem Jemen beritten war und dank ihrer leichten Rüstungen ebenso wendig wie widerstandsfähig war. Bewaffnet waren diese Krieger mit Klingen aus Damaszenerstahl und leichten, gefährlichen Lanzen, deren Schäfte aus Schilfrohr bestanden. Sie beherrschten die Taktik spontaner Vorstöße und rascher Rückzüge; sie agierten in kleinen, schnellen, beweglichen Schwadronen und sie waren bestens organisiert und diszipliniert. Es hieß, dass allein die Zahl dieser Reiterkrieger bei fünfzehntausend lag, und die Fußtruppen, die sie begleiteten, hatten gestern beim Anmarsch das Blickfeld ausgefüllt, so weit das Auge reichte. Es ging das Gerücht um, dass es achtzigtausend waren, und die Tatsache, dass Sinclair eine Zahl von fünfzigtausend für wahrscheinlicher hielt, konnte ihn auch nicht trösten.
Das Kommando der Truppen aus Kleinasien, Ägypten, Syrien und Mesopotamien lag in den Händen von Saladins grausamen Elitekriegern, von denen es zwar unzählige Tausende gab, die jedoch alle dieselbe Sprache sprachen, Arabisch – allein dadurch waren sie den Franken überlegen, denn viele der Christen konnten nicht einmal die Sprache ihres Nebenmanns verstehen.
»An dieser Katastrophe ist de Ridefort schuld, Sinclair. Das wissen wir beide. Warum willst du es nicht zugeben?«
Sinclair seufzte und rieb sich mit dem Ärmel über die Augen.
»Weil es nicht geht, Lachie. Ich kann nicht. Ich bin Tempelritter, und er ist mein Ordensherr. Ich habe ein Gehorsamsgelübde abgelegt. Mehr kann ich nicht sagen, ohne dieses Gelübde zu brechen.«
Lachlan spuckte aus, ohne zu sehen, wohin.
»Aye, nun ja, mein Herr ist er aber nicht, also kann ich sagen, was ich will, und ich glaube, er hat den Verstand verloren … er und seine Kumpane. Der König und der Großmeister sind sich sehr ähnlich, und die Bestie de Chatillon ist schlimmer als sie beide zusammen. Es ist verrückt und unwürdig, hier in einer solchen Lage zu stecken. Ich will nach Hause.«
Ein Grinsen ließ Sinclairs Mundwinkel zucken.
»Es ist ein weiter Weg bis nach Inverness, Lachlan, das schaffst du heute wahrscheinlich nicht. Bleib lieber hier und halte dich in meiner Nähe.«
»Wenn mich diese gottlosen Gestalten heute umbringen, bin ich dort, bevor die Sonne über dem Ben Wyvis untergeht.«
Moray zögerte, dann warf er seinem Freund einen Seitenblick zu.
»Mich in deiner Nähe halten, sagst du? Ich gehöre doch gar nicht zu deiner Kompanie, und ihr seid die Nachhut.«
»Da hast du recht«, sagte Sinclair, den Blick nach Osten gewandt, wo sich der Himmel jetzt rasch erhellte. »Aber ich habe das Gefühl, dass es in Kürze niemanden mehr interessieren wird, wer an wessen Seite reitet und ob er ein Tempelritter ist. Bleib bei mir, mein Freund, und wenn es uns bestimmt ist, zu sterben und nach Schottland zurückzukehren, so lass uns zusammen gehen, genau wie wir gekommen sind.«
Sein Blick richtete sich auf den gewaltigen schwarzen Umriss des königlichen Zeltes, in dem jetzt ein Licht leuchtete.
»Der König ist erwacht.«
»Zu schade«, murmelte Moray. »Ausgerechnet heute sollte er lieber liegen bleiben. Dann könnten wir vielleicht hoffen, etwas zuwege zu bringen und vielleicht sogar zu überleben.«
Sinclair warf ihm ein rasches Grinsen zu.
»Darauf solltest du lieber nicht hoffen, Lachlan. Wenn wir diesen Tag überleben, wird man uns in die Sklaverei verkaufen. Da soll mich lieber der Tod ereilen –«
Der Klang einer Trompete unterbrach ihn, und seine Hände fuhren wie von selbst an die Waffen in seinem Gürtel.
»Zeit, uns zu sammeln. Vergiss nicht, halte dich bei mir. Sobald du die Gelegenheit bekommst – und ich schwöre dir, dass es nicht lange dauern wird –, solltest du zurückfallen, bis du zu uns stößt. Wir werden nicht schwer zu finden sein.«
Moray versetzte ihm einen Hieb auf die Schulter.
»Ich werde es versuchen, wenn ich dazu nicht meine Freunde der Gefahr überlassen muss. Viel Glück.«
»Hier ist heute jeder in Gefahr, mehr als je zuvor. Wir können jetzt nur noch versuchen, unser Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, und das wird dir inmitten meiner Ordensbrüder besser gelingen als mit deinen Kameraden, so tapfer sie auch sein mögen. Auch dir viel Glück.«
Die beiden Männer wendeten ihre Pferde und ritten zu ihren Positionen – Sinclair zu den Tempelrittern an der Rückseite des Hügels hinter den Zelten des Königs, Moray zu den Rittern und Abenteurern, die nach Guidos Krönung seinem Ruf zu den Waffen gefolgt waren. Diesen Männern fiel es nun zu, die Person des Königs und die kostbare Reliquie des Wahren Kreuzes zu schützen, die über ihnen allen aufragte.
Wieder blickte Sinclair auf. Der Tagesanbruch stand kurz bevor, der Himmel im Osten hatte sich bereits rosa gefärbt. Dann erschauerte er unwillkürlich, denn sein Blick fiel auf den leuchtend hellen neuen Stern. Anders als die meisten seiner Kameraden war er nicht abergläubisch, doch ein gewisses Gefühl der Beklommenheit konnte auch er nicht unterdrücken.
Dieser Stern war vor zehn Tagen zum ersten Mal erschienen, genau drei Wochen nach dem Gemetzel von Cresson, und sein Anblick hatte die Franken mit Schrecken erfüllt, denn er setzte die lange Reihe merkwürdiger Himmelserscheinungen der letzten Zeit fort. In den vergangenen beiden Jahren hatten sie sechs Sonnenfinsternisse und zwei Mondfinsternisse erlebt – für die meisten Menschen acht deutliche Zeichen, dass Gott mit den Ereignissen in Seinem Heiligen Land unzufrieden war. Es hieß auch – und die Priester widersprachen diesem Gerücht nicht –, der Stern von Bethlehem sei erneut erschienen, um die Frankenritter an ihre Pflicht gegenüber Gott und Seinem geliebten Sohn zu erinnern.
Sinclair neigte eher dazu zu glauben, was die französischsprachigen Araber in seiner Bekanntschaft sagten. Diese gingen schlicht davon aus, dass sich die Sterne unabhängig voneinander bewegten, und dass sich einige der hellsten Sterne am Firmament in eine Reihe geschoben hätten und so dieses flammende Leuchtfeuer bildeten, so hell, dass es oft sogar mittags noch zu sehen war.
Als er seine Truppe erreichte, schob sich Sinclair den flachen Stahlhelm fester in die Stirn und ließ den Blick über seine Männer hinwegschweifen. Sie waren hellwach und todernst; heute Morgen scherzte oder lachte niemand … nicht, so dachte er, dass unter den Tempelrittern je viel gelacht wurde. Es wurde offiziell als Frivolität getadelt, die eines frommen Mannes nicht würdig war.
Sein Blick fiel auf Sergeant Louis Chisholm, der schon seit seiner Kindheit sein Leibdiener war. Statt einer Entlassung in die Freiheit hatte er sich beim Ordenseintritt seines Herrn entschlossen, in der Nähe des Mannes zu bleiben, den er kannte wie keinen anderen, und war als Laienbruder in den Orden eingetreten. Als er Sinclair jetzt auf sich zukommen sah, drehte er sich im Sattel um und spähte durch den dahintreibenden Rauch zu den Hörnern von Hattin hinauf.
»Es heißt, dort hätte Jesus die Bergpredigt gehalten«, sagte er. »Genau dort auf diesem Berghang. Ich frage mich, ob er wohl den Massen hier etwas zu sagen hätte, was den Ausgang der Ereignisse verändern könnte.«
Er wandte sich wieder zurück und sah Sinclair an, dann sprach er im Dialekt seiner schottischen Heimat weiter.
»Es war ein weiter Weg von Edinburgh bis hierher, Sir Alec, und wir haben uns beide seit dem Aufbruch sehr verändert, aber das hier ist ein trauriger Ort zum Sterben.«
»Uns bleibt nichts anderes übrig, Louis«, erwiderte Sinclair leise und sprach den Namen seines Kameraden auf Schottisch »Lewis« aus. »Es war nicht unsere Entscheidung.«
Chisholm verzog das Gesicht.
»Aye, und was ich davon halte, wisst Ihr ja.«
Er sah sich noch einmal um.
»Wir sind fast so weit. Die Hospitalritter stellen sich dort drüben schon in Formation auf. Sie werden bald losmarschieren, also sollten wir zusehen, dass wir hier bereit sind. Ihr habt doch gesehen, mit wie vielen Gegnern wir es zu tun haben?«
Er spuckte aus und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Zähne, um sie vom Sand zu befreien, bevor er noch einmal ausspuckte.
»Ich glaube, das wird ein kurzer Kampf, aber wir werden unser Bestes geben. Viel Glück, Sir Alec. Ich bin direkt hinter Euch und pass auf Euren Arsch auf.«
Sinclair lächelte und streckte dem anderen Mann die Hand entgegen.
»Gott segne dich, Louis. Ich werde auch auf dich aufpassen. Also, warum geht es denn hier nicht weiter?«
Noch während er das sagte, erscholl der erste Trompetenruf, der umgehend von anderen beantwortet wurde, und die Armee begann, ihre Schlachtformation einzunehmen. Den Anfang machten die Hospitalritter, die die Vorhut bildeten. Die Division des Königs, über der die königliche Standarte im Wind wehte, folgte den kampferprobten Hospitalrittern – die sich allerdings keiner klar definierten Front gegenübersahen, da das Heer ja von allen Seiten eingekreist war. Dennoch formierten sich die Ritter der Königlichen Leibwache im Rücken des Königs, dazu die christlichen Prälaten und Priester, die das gewaltige, kostbar verzierte Reliquienbehältnis trugen. Das mit Juwelen besetzte Perlmuttkreuz stellte einen weithin sichtbaren Sammelpunkt dar, nicht nur für seine Beschützer, sondern auch für die Angreifer.
Rings um die Blöcke der Christenarmee war Saladins Streitmacht in ständiger Bewegung. Gerade war sie gut zu sehen, auch wenn sie immer wieder in den Rauchschwaden und im Staub verschwand, den sie selbst aufwirbelte. Geduldig und fast vollkommen still warteten sie ab, was die Christenarmee wohl versuchen würde.
Die Männer, die Sinclair umringten, waren ungewöhnlich still. Sie erhoben sich in den Steigbügeln und reckten die Hälse, um im Licht der Dämmerung über die Köpfe ihrer Vordermänner hinwegsehen zu können. Die Geräusche der Pferde waren das einzig Vertraute – stampfende Hufe, schnaubender Atem und das Knarzen und Klirren der Sättel und Zäume. Schon stoben selbst bei ihren kleinsten Bewegungen erstickende Staubwolken auf, die sich mit dem wirbelnden Rauch mischten.
Sinclair lockerte das Schwert in seiner Scheide und beugte sich etwas im Sattel vor, um Louis Chisholm noch einmal anzusehen.
»Nun halte dich dicht in meiner Nähe, Louis. Das wird ein zäher, schmutziger Kampf.«
Kaum hatte er das gesagt, als plötzlich ein Gewirr von Trompetenklängen erscholl, und während sich die Armee ringsum für einen Vorstoß bereithielt, fragte sich Sinclair, wer wohl für diese Idiotie verantwortlich war. Schließlich führte der einzige Weg nach vorn mitten in die feindliche Kavallerie hinein.
Dieser Gedanke war die einzige klare Erinnerung, die er an das folgende Chaos haben sollte.
Hinter ihm kam Bewegung in die Reihen der Tempelritter, denn sie wurden durch eine Übermacht von Sarazenenreitern attackiert, die sich im Schutz des dahintreibenden Rauchs unbemerkt aus dem noch dunklen Westen angeschlichen hatten.
Überrumpelt und hoffnungslos in der Unterzahl, kämpften Sinclair und seine Kameraden dennoch grimmig, um Saladins Elitereiter abzuwehren, die ihnen in den Rücken gefallen waren. Sie versuchten einen Vorstoß nach dem anderen gegen einen Feind, der jedes Mal vor ihnen zurückwich, um sich dann neu zu formieren und die frustrierten Ritter in ihren bleischweren Rüstungen einzukreisen. Voller Wut über die perfide Taktik der moslemischen Bogenschützen, die zuerst ihre Pferde töteten und dann auf die Reiter am Boden zielten, wurden die Tempelritter unausweichlich rückwärts auf ihre eigene Streitmacht zugedrängt. Dann mussten sie feststellen, dass der König angeordnet hatte, eine Barriere aus Zelten zwischen ihm und dem von hinten herannahenden Feind zu errichten. Diese Barriere war zwar völlig sinnlos, doch sie stiftete weitere Verwirrung unter den überlebenden Tempelrittern, die gezwungen waren, ihre ohnehin gelichtete Formation ganz aufzugeben und den Zelten auszuweichen, während ihnen die feindliche Kavallerie dicht auf den Fersen war. Doch auch jenseits der Wand aus Zeltleinen fanden sie weder Erleichterung noch Unterstützung, denn die Ritter im Zentrum der Armee, die sich hilflos um den König und das Wahre Kreuz drängten, waren sich nur gegenseitig im Weg.
Instinktiv schwenkte Sinclair nach rechts aus und führte seine eigenen Männer um das Durcheinander der auf der Stelle tretenden Männer und Pferde herum, um dann im engen Bogen wieder nach links abzubiegen, Allerdings war ihre ungeschützte rechte Flanke dabei den Pfeilen der feindlichen Bogenschützen ausgesetzt. Er sah Louis Chisholm von mindestens zwei Pfeilen getroffen zu Boden gehen, doch da wurde er schon selbst von einem Krieger attackiert, der auf seinem kleinen, beweglichen Pferd aus dem Nichts aufgetaucht war. Bis er dessen Säbelhiebe abgewehrt und so dicht an ihn herangeritten war, dass er ihn mit einem kurzen, brutalen Hieb vor die Kehle aus dem Sattel stürzen konnte, hatte er Louis weit hinter sich gelassen, und er musste sich zu sehr auf den Kampf konzentrieren, um sich nach ihm umzusehen.
Was war aus ihren zwölftausend Fußsoldaten geworden? Sinclair konnte keine Spur von ihnen sehen, doch seine Welt bestand sowieso nur noch aus einer engen, zertrampelten Arena voller Rauch, Staub, Chaos und höllischem Geschrei, denn überall wurden Männer und Tiere verstümmelt und abgeschlachtet. Er nahm Dinge und Bewegungen in einzelnen Bildern und unvollständigen Gedanken wahr, die er sofort wieder vergaß, weil der nächste Augenblick schon die nächste Begegnung mit einem wilden, zähnefletschenden Gesicht brachte, den nächsten Schwung mit dem Schild oder Hieb mit dem Schwert. Er spürte einen kräftigen Schlag in den Rücken und konnte sich nur im Sattel halten, indem er sich mit dem Ellbogen am Sattelknauf festklemmte. Das kostete ihn seinen Schild, doch ihm war klar, dass er ohnehin ein toter Mann war, wenn er noch einmal getroffen wurde oder stürzte. Es gelang ihm, sich aufzurichten, und er riss an den Zügeln, um sein Pferd von der Bedrohung fortzulenken. Dann fand er sich einige Herzschläge lang am Rand des Gefechtes wieder und blickte von einer höher gelegenen Stelle auf die Hospitalritter der Vorhut hinunter, die durch einen Keil feindlicher Reiter sauber vom Hauptteil der Armee abgeschnitten worden waren.
Mehr Zeit blieb ihm nicht, denn der Feind hatte den einsamen Ritter bemerkt, der jetzt von zwei Männern gleichzeitig angegriffen wurde. Er wählte den Mann, der von rechts kam, den kleineren der beiden, und trieb sein ermüdendes Pferd geradewegs auf ihn zu, das lange Schwert bis zum letzten Moment hoch erhoben. Dann ließ er es in die Waagerechte sinken, sodass der Mann darauf aufgespießt wurde. Fast wäre es Sinclair durch die Geschwindigkeit des Zusammenstoßes aus der Hand gerissen worden. Keuchend wendete er mit der linken Hand das Pferd und suchte nach dem zweiten Mann, der sich jetzt dicht hinter ihm befand. Weil es vor dem heranrasenden Schatten erschrak, scheute sein Pferd und stieg. Sinclair, der diese Bewegung tausendmal geübt hatte, beugte sich im Sattel vor, dann erhob er sich in den Steigbügeln, ließ die Zügel auf den Hals des steigenden Pferdes fallen und zog seinen Dolch. Ein Stoß seines Schwertes wehrte die Klinge des Gegners ab, und als ihre Körper dann zusammenprallten, stieß er verzweifelt mit dem Dolch in seiner Linken zu. Die Spitze der einseitig geschliffenen Klinge prallte an einer Metallverzierung des wattierten Brustpanzers ab und rutschte in die ungeschützte Haut unter dem Kinn seines Gegners. Der Zusammenprall ließ ihn kopfunter nach hinten aus dem Sattel fliegen. Sinclair hielt sich instinktiv fest, um nicht vom Gewicht des Gefallenen mitgerissen zu werden, doch der Dolch kam frei, und er konnte sich wieder aufrichten. Hilflos schwankend sah er sich um und begriff, dass er wieder allein war, umgeben von relativer Stille.
Über und unter ihm glitzerte Sonnenlicht auf Metall, und als er den Blick hob, sah er, dass hoch auf den Hängen des Berges Hattin eine weitere Schlacht im Gange war. Anscheinend versuchten dort Fußtruppen, die offensichtlich zu den Christen gehörten, über den Bergkamm nach Osten zu fliehen, nach Tiberias. Doch dann hörte er, wie jemand seinen Namen rief, und als er herumfuhr, sah er eine Gruppe seiner Waffenbrüder dicht gedrängt auf sich zurasen. Er trieb sein Pferd auf sie zu und war sich vage bewusst, dass die Luft ringsum von Pfeilen erfüllt war wie von aufgebrachten Wespen. Gemeinsam stürmten sie den Hügel hinauf zum Zelt des Königs, um König Guido und das Wahre Kreuz zu verteidigen. Dort angelangt war ihnen eine kurze Atempause vergönnt, während sich der Feind neu formierte – und als sie den Blick auf die entfernt gelegenen Berge richteten, wurden sie Zeugen einer Tragödie.
Die Infanterie versuchte – niemand erfuhr je, auf wessen Befehl –, den Berg Hattin zu erklimmen. Sie hatten den Gipfel fast erreicht, als sich ihnen die Reiter Saladins entgegenstellten. Dort oben schien der ganze Hang in Flammen zu stehen, und die gesamte Brigade – zehntausend Fußsoldaten und zweitausend Kavalleristen – schwenkte ab, um einen Vorstoß in Richtung der Zuflucht zu versuchen, die ihnen der Anblick des unter ihnen aufglitzernden Sees Genezareth versprach. Anscheinend hatten sie vor, die Reihen der Feinde im Sturm zu durchbrechen und zum See durchzustoßen, doch Sinclair wusste mit schmerzhafter Klarheit, was geschehen würde.
Es gab nichts, was er hätte tun können. Er und seine Kameraden waren selbst in Gefahr, daher blieb ihm kaum Zeit, das Gemetzel auf dem Hang zu beobachten, wo sich die Kavallerie der Sarazenen einfach zurückzog und es den berittenen Bogenschützen überließ, die Herannahenden auszulöschen.
Es gab keine Überlebenden.
Die Sarazenen sahen es ebenso und reagierten mit einer heftigen Attacke auf Sinclairs Männer. Sie kamen von allen Seiten, näherten sich in Wellen und zogen sich wieder zurück und legten alles daran, die Ritter durch ihre schiere Überzahl auszulöschen.
Später erfuhr Sinclair, dass sich Saladin seine Taktiken gründlich zurechtgelegt und begriffen hatte, dass seine berittenen Bogenschützen seine stärkste Kraft im Kampf gegen die Christenritter in ihren schweren Rüstungen waren. Jeder Bogenschütze war mit einem vollen Köcher in die Schlacht gezogen, und ihr Tross führte siebzig mit Pfeilen beladene Kamele mit.
Die Frankenritter fielen rasch, hoffnungslos geschlagen im Hagel der Pfeile, die aus allen Richtungen auf sie niederfielen.