Weihnachtszeit

25. Dezember bis 5. Januar

I

Der Anruf, auf den sie wartete, erreichte sie am Weihnachtstag, im Haus der Ellis, nach dem Essen, aber ehe der Kuchen angeschnitten wurde. Die Kinder hatten sich ins Familienzimmer verzogen und das schmutzige Geschirr und die Erwachsenen, die ihre Ellbogen auf den Tisch gestützt hatten und den Wein leerten, sich selbst überlassen.

Clares Handy klingelte, eine Nummer, die sie nicht kannte. Vielleicht hatte sich jemand verwählt. Oder ein Gemeindemitglied, das am schwierigsten Feiertag des Jahres Depressionen bekam. »Ich muss leider rangehen«, entschuldigte sie sich und stand auf. Dr. Anne winkte ab.

Im Wohnzimmer klappte sie das Handy auf. Sie lauschte eine Weile dem, was der Mann am anderen Ende der Leitung zu sagen hatte. Sie antwortete »Ja, Sir«, und »Danke, Sir« und legte auf. Lange Zeit blieb sie stehen und starrte auf den großen Baum der Ellis, der schwer war vom selbstgebastelten Schmuck der Kinder.

»Clare?« Gail Jones steckte den Kopf durch die Tür. »Falls Sie irgendwohin müssen, kann ich Sie fahren.«

Clare schüttelte den Kopf. Sie ging an Gail vorbei zurück ins Esszimmer. Das Geplauder erstarb, als man ihre Miene sah. »Alles in Ordnung?« Karen Burns stand auf. »Ist alles okay?«

»Meine Einheit wird eingezogen.« Clare wusste nicht, wo sie ihre Hände lassen sollte. Sie entschloss sich, damit ihre Arme zu umklammern. »Wir gehen in den Irak.«

II

Sie lehnte alle Angebote, sie nach Hause zu fahren, ab, gestattete aber Geoff Burns, den Gemeinderat zu informieren. Sie lief durch die halbdunklen Straßen von Millers Kill, an Fenstern vorbei, die funkelnde Bäume rahmten, vorbei an Lichterketten und beleuchteten Kunststoffweihnachtsmännern, vorbei an verschlossenen Häusern, deren Bewohner nach Florida oder Arizona geflüchtet waren.

Sie lief an ihrem eigenen Haus vorbei und um den Platz herum, unter verschwommenen Zuckerstangen und Rentieren entlang, die von den altmodisch aussehenden Straßenlaternen herabhingen. Sie lief an Geschäften vorbei, die an diesem Tag, an Galerien, die zu dieser Jahreszeit, an alten Fabriken, die für immer geschlossen hatten. Laufen ist Gebet, hatte jemand zu ihr gesagt, und sie glaubte daran.

Schließlich drehte sie erschöpft und taub vor Kälte um und lief zurück. Ehe sie das Pfarrhaus erreichte, legte sie einen Zwischenhalt bei der Kirche ein und trat in das eisige, düstere Innere. Auf das tiefe Steinsims unter dem Fenster mit der Geburt Christi hatte sie einen retablo gestellt, den sie gefunden hatte. Sie entzündete die Kerze, und Unsere Liebe Frau der Zuflucht erwachte in lebhaften Rosa- und Blautönen zum Leben, ein mütterliches Lächeln im Gesicht, das jeden in ihren schützenden Armen willkommen hieß. Clare dachte, dass es Octavio Esfuentes gefallen hätte. Sie dachte an ihn, der voller Angst in einem fremden Land gestorben war. Dachte daran, dass ihr dasselbe zustoßen konnte. »Heilige Mutter«, flüsterte sie, »sei mit uns, wenn wir voller Angst und weit weg von zu Hause sind.«

Das Pfarrhaus war kaum wärmer als die Kirche. Sie drehte den Thermostat auf und zündete das Feuer an, das sie am Morgen aufgeschichtet hatte. Russ hatte ihr versichert, dass ein offenes Feuer die Wärme aus dem Haus sog, aber das sollte er ihr erst einmal beweisen. Nachdem sie es geschürt hatte, war ihr warm genug, um den Parka auszuziehen und heißen Kakao zu kochen. Sie hatte gerade den Topf herausgenommen und die Zutaten zusammengesucht, als ein Klopfen an der Küchentür beinah dazu führte, dass sie den Milchkarton auf den Boden fallen ließ.

Die Tür öffnete sich, ehe sie sie erreichen konnte. Russ kam herein, stampfte mit den Stiefeln, in den Armen ein scheußliches Gesteck aus roten und grünen Nelken und golden lackierten Stechpalmenzweigen. »Ich dachte, du schließt jetzt immer ab.« Er schloss die Tür.

»Was machst du hier?« Sie nahm ihm das hässliche Gesteck ab, während er den Parka auszog. »Ich dachte, du müsstest den ganzen Tag arbeiten.«

»Ich habe Paul gebeten, den Rest meiner Schicht zu übernehmen. Seine Kinder waren nur bis Mittag da. Jetzt sind sie bei seiner Ex.« Er wies mit dem Kinn auf das Gesteck. »Das ist für dich. Tut mir leid. Der einzige geöffnete Laden war Stewart’s an der 117, und dort ist die Auswahl nicht so groß.« Er hatte seine Stiefel aufgeschnürt und streifte sie ab. »Ich dachte, ich sollte dir Blumen mitbringen, wenn ich dich frage, ob du mich heiraten willst.«

Clare, die geistig in ihrer Küche nach etwas kramte, das sie ihm anbieten konnte, starrte ihn an. »Was hast du gesagt?«

Er erlöste sie von dem Gesteck und legte es auf den Kieferntisch. Dann ergriff er ihre Hände. »Heirate mich. Tut mir leid, ich habe keinen Diamanten.« Er drückte ihre Hände. »Fühlt sich an, als hättest du Handschuhe nötiger als Juwelen.«

»Ich war spazieren.« Sie zog ihre Hände zurück. »Wie meinst du das, heirate mich?«

»Wir können uns morgen im Rathaus eine Lizenz besorgen. Richter Ryswick kann die Wartezeit aufheben und uns direkt in seinem Büro trauen. Wir könnten schon mittags Mann und Frau sein.« Russ fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Natürlich nur, ohne Ringe zu kaufen. Dafür müssten wir nach Glens Falls.«

»Ich will aber nicht morgen von Richter Ryswick getraut werden. Das ist …« Ihr ging ein Licht auf. »Jemand hat dir erzählt, dass ich einrücke.« Sie schüttelte den Kopf. »Lieber Gott. Ich wusste, dass sich Gerüchte in dieser Stadt schnell verbreiten, aber mit dieser Geschwindigkeit hätte ich nicht gerechnet. Ich weiß es ja selbst erst seit zwei Stunden.«

»Geoff Burns hat mich angerufen.« Russ lächelte dünn. »Ich schätze, ich sollte ihn in Zukunft nicht mehr als Schwachkopf bezeichnen.«

»Und dann was? Hast du dir gedacht, du rauschst hier rein wie ein Matrose in Heut gehen wir bummeln und heiratest mich, ehe ich eingeschifft werde? Danke, aber nein danke.«

»Clare …«

»Ich muss nach dem Feuer sehen.« Sie lief durch die Schwingtüren ins Wohnzimmer. Er folgte ihr. Blieb am Sofa stehen, während sie mit dem Schüreisen in den unschuldigen Scheiten stocherte.

»Ich will nicht, dass du gehst.« Seine Stimme war leise.

»Und ich will nicht gehen.« Sie sah ihn nicht an. »Mein ganzes Leben ist hier.« Sie holte Luft. »Aber ich wusste, worauf ich mich einließ. Was mehr ist, als ich über mein Leben als Pastorin sagen kann.« Sie kam auf die Beine und drehte sich zu ihm um, einem großen Mann in Uniform und auf Socken, die Hände in den Taschen.

Er senkte den Blick. »Wenn ich sage, ich will nicht, dass du gehst, meine ich, ich will nicht, dass du stirbst.«

Sie ging zu ihm hinüber und legte die Arme um ihn. Er schloss sie in seine Umarmung.

»Du bist kalt.«

»Es war ein langer Spaziergang. Und ich habe ein bisschen Angst.«

»Burns hat mir gesagt, es wäre der Irak. Er hat nicht gesagt, wie lange dein Einsatz dauert.«

»Ein Jahr. In vierzehn Tagen muss ich einrücken.«

Sein Griff wurde fester. Er holte tief Luft. In der Stille konnte sie spüren, wie er lautlos alles aufzählte, was im Lauf eines Jahres in einem Kriegsgebiet passieren konnte. Als er schließlich sprach, überraschte er sie. »Ich habe heute Lindas Grab besucht.«

Sie sah zu ihm auf.

»Ich hatte diese Vorstellung, mit ihr – mit ihr zu reden. Wie die Leute in den Filmen. Deshalb fuhr ich hin. Ich stand in der Kälte und kam mir vor wie ein Idiot. Dann ist mir bewusst geworden, dass ich das nicht brauche. Sie kannte die Wahrheit. Wusste, was ich für sie empfand. Sie war auf dem Rückweg. Zurück zu mir. Sie hatte mir vergeben, ehe sie starb. Ich muss nur – ich weiß auch nicht – mir selbst auch vergeben.« Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Wenn ich versuche, es laut auszusprechen, klingt es blöd.«

Clare schüttelte den Kopf. »Nein.«

Er lächelte schief. »Als ich kam, lagen auf ihrem Grab frische Blumen.«

»Ach.«

»Viel schönere als die, die ich dir mitgebracht habe.«

Sie lachte.

Er drückte sie fester. »Ich will nicht noch ein Jahr damit vergeuden, mich für etwas zu strafen, das ich hätte tun sollen oder nicht. Deshalb sag mir jetzt, was ich für dich tun kann, Liebes. Soll ich wieder gehen? Dir packen helfen? Nach deinem Haus sehen, während du fort bist? Was brauchst du von mir?«

Nicht länger warten, dachte sie. Nicht noch mehr Zeit. Sie lächelte langsam. »Schlaf mit mir.«

Einen Herzschlag lang starrte er in ihr Gesicht, dann gab er sie frei, um sein Hemd herunterzureißen. »Ma’am, ja, Ma’am.«

Sie lachte immer noch, als er sie an seine nackte Brust zog. Er küsste ihre Mundwinkel, ihren Kiefer, ihren Hals, zerrte ihr den Pullover über den Kopf und warf ihren BH quer durchs Zimmer; küsste ihre Schultern und Brüste und Brustwarzen, bis sie keuchte und nicht mehr klar denken konnte. Sie barg sein Gesicht zwischen ihren Händen und zog ihn zu ihrem Mund hoch, tauschte tiefe, betäubende Küsse mit ihm, bei denen ihr schwindlig wurde.

Sie versuchte, ihm zu sagen, Das Schlafzimmer ist oben, aber er zerrte an ihrem Rock, stöhnte, »Ich will dich nackt«, und das Feuer in ihrem Rücken war warm, und seine Hände glitten zwischen ihre Beine, und sie hatte das Gefühl, sie müsste sterben, wenn sie ihn nicht sofort haben konnte.

Er trat seine Hose und seine Shorts herunter, und dann war es so weit; Angesicht zu Angesicht, Haut an Haut. Die Zeit blieb stehen. Seine Hände zitterten. Ihre auch. Sie strich über die verblassenden rosa Linien und unregelmäßigen Kreise, Zeichen der Gewalt, die ihn fast umgebracht hätte.

»Nicht besonders schön«, sagte er.

»Nein.« Sie sah ihm in die Augen. »Aber sie gehören zu dir.«

»Ja.«

Sie lächelte nicht. »Ja.« Sie schmiegte sich in seine Arme, lauschte dem Keuchen seines Atems, während sie sich aneinanderpressten, seine Haut heiß an ihrer.

»O Gott, du fühlst dich so gut an.« Er barg sein Gesicht an ihrem Hals.

»Hm.« Seine Hände strichen wieder über ihren Körper, machten Denken fast unmöglich. »Ich sollte dir sagen, dass ich – oh, Gott – die Pille nehme. Um meinen Zyklus zu regulieren.« Er glitt an ihrem Körper herunter, benutzte jetzt Zunge und Zähne, zusätzlich zu seinen Händen. »Aber ich habe keine – o ja, mach das noch mal – Kondome oder so was hier.«

Er sah zu ihr auf. »Clare, ich war das letzte Mal mit dreiundzwanzig mit einer Fremden zusammen. Ich habe keine Angst vor Geschlechtskrankheiten, ich habe Angst, dass ich nicht mehr weiß, wie es geht.«

Sie lachte, dann stöhnte sie. »Das macht nichts. Ich habe auch vergessen, was du tun musst.«

Er lachte an ihrem Bauch, ein leises Brummen, das in ihre Knochen drang. Er stand auf und warf sich aufs Sofa. Sie kletterte auf seinen Schoß. Beugte sich vor. Küsste ihn. Lockte ihn mit Mund und Brust und Händen, bis er bebte. »Bitte, jetzt.« Seine Stimme war schwer. »Bitte.«

Er sah ihr in die Augen, als sie ihn in sich aufnahm. »O Gott«, stöhnte er. »Clare …«

»Mit meinem Körper will ich dich ehren.« Sie wusste nicht, ob er die Worte erkannte.

»Ja«, sagte er. »Ich will.« Dann bewegte sie sich, er bewegte sich, und alles Denken flog wie Funken den Kamin hinauf, als er sie küsste und leckte und mit seinen langen kräftigen Fingern rieb, wieder und wieder und wieder. Ihre feuchte, schlüpfrige Haut spannte, fieberheiß. Sie klammerte sich an ihn, schloss die Augen, schlug sie wieder auf, betrachtete sein vor Lust glänzendes Gesicht, ein Gesicht, das ihr vertraut war wie ihr eigenes und das sie doch nie zuvor gesehen hatte.

Er glitt nach unten, presste die Beine zusammen, stieß hart in sie. Sie schrie auf.

»Sag es.« Grob und hart.

»Ich liebe dich.« Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht mehr.

»Nein. Sag, dass du wiederkommst.«

»Russ …«

»Versprich es mir. Versprich, dass du zurückkommst.«

Er fiel über sie her. Seine Hände waren überall. So gut. »Ich kann nicht …«

»Versprich es mir.«

»O Gott!« Sie wand sich, bäumte sich auf, spreizte sich für ihn. »Ich verspreche es, ich schwöre, ich komme zu dir zurück. Ich komme zurück …«