Fastenzeit
März
I
»Father? Ich bin fertig. Die Leute vom Blumenkomitee sind noch dabei, die Palmwedel für den Gottesdienst morgen aufzuhängen, deshalb habe ich den Altarraum noch nicht abgeschlossen.« Mr. Hadley stand in der Tür zum Pfarrbüro. Außer wenn er putzte, etwas reparierte oder nachschaute, hatte Clare ihn noch nie die Büroräume betreten sehen. Verständlich. Er hatte sein eigenes Königreich, bestehend aus Kessel und Heizungsraum und der mysteriösen Küsterkammer.
Lois, die Pfarrsekretärin, warf einen Blick auf die Uhr. »Schulbuszeit?«
»Hadley ist bei einem Bewerbungsgespräch.« Mr. Hadley klang ein wenig atemlos. Er klopfte sich mit seiner fleischigen Hand auf die Brust. »Entschuldigung«, keuchte er. »Schätze, ich bin zu schnell die Treppe rauf. Wie auch immer, ich will nicht, dass meine Enkel nach Hause kommen, und niemand ist da.«
»Natürlich nicht. Als meine Kinder klein waren, bin ich immer zu Hause gewesen, wenn sie heimkamen. Man macht ihnen was Anständiges zu essen, vergewissert sich, dass sie ihre Hausaufgaben erledigen, und dann kann man in Ruhe einen trinken.«
Reverend Elizabeth de Groot wirkte schockiert. Sie war im Januar zur Diakonin von St. Alban’s bestellt worden, doch auch zwei Monate im selben Büro mit der Pfarrsekretärin hatten sie nicht an Lois’ Sinn für Humor gewöhnen können. Clare begann zu argwöhnen, dass dies auch nicht mehr geschehen würde.
»Wie geht es mit Hadleys Jobsuche voran?«, erkundigte sie sich, ehe Elizabeth eine Bemerkung machen konnte.
»Tja, leider muss ich sagen, dass es enttäuschend läuft. Früher gab’s ’ne Menge Jobs, wenn man nur hart arbeiten wollte. Heute werden alle Stellen entweder von Mexikanern besetzt oder nach Übersee verlagert.« Er machte eine Geste: Was will man machen? »Na ja, früher oder später wird sie schon was finden. Heute ist sie bei der Polizei.«
Lois und Elizabeth sahen Clare nicht an.
»Kann sie mir nur schlecht in Uniform vorstellen«, fuhr Mr. Hadley fort, ohne die angespannte Stimmung zu bemerken. »Als sie klein war, wollte sie Schauspielerin werden. Hübsch genug ist sie ja. Aber ich schätze, man kann davon nicht besonders gut leben.«
»Ich werde für sie beten«, versicherte Clare. »Sagen Sie Bescheid, wenn ich etwas Konkreteres für sie tun kann.«
»Hm.« Er zog ein nicht gerade sauberes Taschentuch heraus und wischte sich das Gesicht ab. »Falls Sie jemanden bei der Polizei kennen, könnten Sie ein gutes Wort für sie einlegen.«
Lois verschluckte sich, hustete und griff nach ihrer Wasserflasche. »Alles in Ordnung?«, fragte der nichtsahnende Küster.
Knallrot im Gesicht, winkte Lois ab. »Bestens«, keuchte sie.
»Sie sollten lieber gehen, wenn Sie den Schulbus erwischen wollen.« Clare funkelte ihre Sekretärin an, die sich auf die Brust klopfte. »Wir kümmern uns darum, dass Lois nichts mehr in die falsche Kehle bekommt.«
»Okay. Bis morgen. Tschüss, Father.« Mr. Hadley stapfte durch den Flur davon.
Lois blinzelte und fuhr sich mit den Fingern durch ihren erdbeerblonden Bob, stellte dessen rasiermesserscharfe Vollkommenheit wieder her. »Mal schauen, wo waren wir stehengeblieben?«
Clare beschloss, dass Vorsicht die Mutter der Porzellankiste war. »Karwoche. Wir brauchen noch drei Vorleser, und jemand muss den Anonymen Alkoholikern Bescheid sagen, dass ihr Treffen mit den Kreuzwegaktionen kollidiert.«
»Warum erlauben Sie dem Mann, Sie Father zu nennen?« Elizabeth strich ihre à la Chanel geschnittene Kostümjacke über ihrer Wollbluse glatt. Sie war die einzige Clare bekannte Frau, die es fertigbrachte, das kleine Schwarze wie ein geistliches Ornat wirken zu lassen. »Befürchten Sie nicht, er könnte es spöttisch meinen? Ihre Autorität untergraben?« Elizabeth legte allergrößten Wert auf geistliche Autorität.
»Die Leute können zu mir sagen, was sie wollen. Wenigstens ist es korrekt.«
»Wie wäre es mit Mutter?«, schlug Lois vor.
»Nur in Verbindung mit Oberin.« Clare schüttelte den Kopf. »Was meinen Sie, wie ich im Habit aussehen würde, Elizabeth?«
Ein Aufschrei vom anderen Ende des Flurs bewahrte die ältere Frau vor einer taktvollen Lüge.
»Clare! Reverend Clare!« Laurie Mairs erschien in der Tür. »Es ist Mr. Hadley! Kommen Sie schnell.«
Clare schoss den Flur hinunter, das Mitglied des Blumenkomitees dicht auf den Fersen. Die Tür zum Altarraum stand offen, und als sie in die Kirche stürzte, sah sie Mr. Hadley, der neben dem Mittelgang zusammengebrochen war, mit dem Gesicht in einer Lache Erbrochenem.
»Oh, mein Gott«, stöhnte Clare.
Delia Hall, die andere Freiwillige, tanzte vor und zurück, weder in der Lage, dem gestürzten Mann zu helfen, noch, Platz zu machen. »O Clare, dem Himmel sei Dank! Er hat sich auf die Bank gesetzt, als ob er müde wäre, und dann ist er einfach umgekippt! Glauben Sie, er – könnte er …« Sie hielt eine unsichtbare Flasche an den Mund. Gerüchtehalber lagerte in der Küsterkammer ein gewisser Vorrat.
»Nein.« Clare kniete sich neben den Küster. Sein Gesicht war fahl, schweißnass und mit Erbrochenem verschmiert. Sie berührte seine Wange. »Mr. Hadley?« Seine Haut fühlte sich klamm an.
Er krallte seine Finger in seine Brust. »Eng.« Seine rauhe Stimme war so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. »Krieg keine …« Er quälte sich wie ein Baby mit Krupp, rang um jeden Atemzug.
»Clare?« Elizabeths Stimme war ruhig. Clare hatte nicht gesehen, dass sie hereingekommen war. »Was kann ich tun?«
»Rufen Sie den Notarzt, ich glaube, es ist ein Herzinfarkt.« Sie sah zu den Damen des Blumenkomitees. »Delia, Sie holen ein nasses, eingeseiftes Handtuch. Laurie, Sie holen etwas, um ihn abzutrocknen. Wir können ihn wenigstens säubern.«
Die fünfzehn Minuten bis zum Eintreffen des Krankenwagens gehörten zu den längsten in Clares Leben. Sie fürchtete, jedes Heben von Mr. Hadleys Brust könnte das letzte sein. Das Heulen und Rumpeln des Krankenwagens klang in ihren Ohren wie ein Engelschor; sie hätte die Sanitäter küssen können, als sie durch St. Albans’ große Flügeltür hereinliefen.
»Hey, Reverend Clare, was haben Sie denn da?« Duane Adams, der sich seinen Lebensunterhalt als Teilzeit-Polizist, Teilzeit-Feuerwehrmann und Teilzeit-Sanitäter zusammenstoppelte, nahm sich nicht mal Zeit, sie anzusehen. Er und sein Partner knieten sich neben Mr. Hadley.
Als Clare ihnen Platz machte, stieß sie mit Elizabeth zusammen, die zurückgekehrt war, um mit ihr gemeinsam zu wachen. »Er heißt Glenn Hadley. Er ist – äh, vierundsiebzig.«
Duanes Partner legte Hadley eine Sauerstoffmaske an und streifte die Manschette des Blutdruckmessgeräts über seinen Arm.
»Wissen Sie was über seine Vorgeschichte?«, fragte Duane.
»Er raucht. Er hat Diabetes, aber er spritzt kein Insulin.« Sie rieb sich den Arm. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte, außer es ihm ein bisschen bequemer zu machen.«
»Sie haben uns gerufen«, sagte Duane. »Das haben Sie getan.« Sein Partner griff nach dem Funkgerät und ratterte eine Reihe von Zahlen und Fachbegriffen herunter. »MI« war der einzige, den Clare erkannte.
»Wir sollen ihn nach Glens Falls bringen«, verkündete der Sanitäter.
»Okay.« Duane erhob sich. »Verfrachten wir ihn auf die Trage.«
»Ins Krankenhaus von Glens Falls? Warum nicht ins Washington County?« Es wurde ihr im Moment der Frage klar. Es stand schlecht. Zu schlecht für ihr kleines hiesiges Krankenhaus. Die schlimmen Fälle kamen immer nach Glens Falls.
»Er soll direkt zur Katheteruntersuchung in die Kardiologie. Wer sind die nächsten Angehörigen?«, fragte Duane.
»O Gott, seine Enkel.« Clare sah Elizabeth an. »Ich weiß nicht mal, wie man Hadley erreichen kann.«
»Sie holen die Kinder ab«, entschied Elizabeth. »Ich werde hinter dem Krankenwagen herfahren.«
»Gut.« Clare wollte nicht zusehen, wie die Sanitäter Hadley abtransportierten. Sie rannte in ihr Büro und schnappte sich Mantel und Schlüssel. »Lois«, rief sie, »rufen Sie im Polizeirevier an und stellen Sie fest, ob man Hadley Knox etwas ausrichten kann.« Sie blieb in der Tür zum Hauptbüro stehen und schlüpfte in ihren Mantel. »Mr. Hadley hatte einen Herzanfall. Er wird nach Glens Falls gebracht. Ich hole ihre Kinder ab und nehme sie mit hierher.«
»Bin schon dabei.« Lois griff nach dem Telefon.
Als Clare über den winzigen Parkplatz lief, der feucht vom Tauwasser der letzten hartnäckigen Schneehaufen war, hörte sie das Anschwellen der Krankenwagensirene; wie ein aufsteigender Vogel, der sang. Herr, sei mit ihnen, betete sie. Mit uns allen.
II
Hadley zupfte einen Fussel von ihrem Wollrock. Es war ein alter im A-Schnitt, den sie bei einem Weihnachtsbesuch bei ihrem Großvater im Schrank zurückgelassen hatte. Sie hatte damals einen Rock für die Mitternachtsmesse gebraucht und genug Geld gehabt, um sich einen zu kaufen, den sie nur ein Mal anzog. Nun, jetzt machte er sich bezahlt. Sie hatte ihn bei jedem Bewerbungsgespräch in den letzten zwei Monaten getragen. Schade, dass er ihr nicht mehr eingebracht hatte als ein paar lange Blicke auf ihre Beine.
Der Mann, der gerade eingehend ihre Unterlagen studierte, hatte sie mit Sicherheit gründlich gemustert, als sie durch Flur und Mannschaftsraum zu seinem Schreibtisch am anderen Ende gegangen war.
Sie hoffte, dass das keinen zukünftigen Ärger verhieß, sondern einfach daran lag, dass er Polizist war. Sie beäugte seinen Schreibtisch. Ein Becher mit Stiften. Ein Messingschild: LYLE MACAULEY, DEPUTY CHIEF. Kein Foto seiner Frau. Nicht, dass das immer etwas zu bedeuten hatte.
Eine gutaussehende Frau in einem männlich dominierten Bereich zu sein war nicht einfach. Sie war immer gut mit ihren Kollegen zurechtgekommen, aber wenn ein Vorgesetzter ein Auge auf einen warf, bedeutete das Ärger. Hier würde es allerdings keine Ungestörtheit geben; so wie es aussah, arbeitete die komplette Besatzung von diesem Raum aus. Fünf Schreibtische, ein paar Stühle und ein massiver alter Holztisch. Aktenschränke, Tafel und Karten, die eingeklemmt zwischen hohen eleganten Fenstern aus einem anderen Zeitalter hingen. Wir befinden uns nicht mehr in Kalifornien, Toto.
»Ihre Resultate sind ausgezeichnet.« Lyle MacAuley hielt die Ergebnisse ihres polizeilichen Eignungstests des Staats New York hoch.
»Danke.« Sie rutschte auf ihrem stabilen Metallstuhl herum.
»Ihr Zeugnis von der kalifornischen Gefängnisbehörde ist ebenfalls gut. Sie haben zwei Jahre dort gearbeitet?«
»Drei.« Sie wusste, was als Nächstes kam. »Ich bin aufgrund der Etatkürzungen entlassen worden. Wenn Sie meinen Lebenslauf lesen, werden Sie feststellen, dass einer meiner Vorgesetzten mir Referenzen gibt.«
»Hm.« Er blickte in die Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Er hatte struppige graue Haare und buschige Augenbrauen, die aussahen, als gehörten sie zu einem Halloweenkostüm. »Zwischen dem Ende Ihrer Arbeit für die Gefängnisbehörde und heute besteht eine Lücke von zwei Jahren.«
»Ich bin eine Zeitlang als Vollzeitmutter bei den Kindern zu Hause geblieben.« Sie war eine Panisch-paddeln-um-sich-über-Wasser-zu-halten-Mutter gewesen. Die miesen Jobs, die sie anzunehmen gezwungen war – Eis verkaufen, Flugblätter verteilen, im Badeanzug auf hohen Absätzen bei einer Automesse herumstolzieren –, waren es nicht wert, schriftlich erwähnt zu werden.
»Warum bewerben Sie sich um die Stelle als Streifenpolizistin? Ich meine Polizeistreife. Ich hätte angenommen, Sie würden nach einer Stelle bei der New Yorker Gefängnisbehörde suchen. Die zahlen besser.«
Sie schüttelte den Kopf. »Die nächstgelegene Strafanstalt, die auch weibliche Wachen einstellt, ist Dannemora. Ich muss hier in der Gegend bleiben.«
»Wegen der Kinder?«
Sie zuckte die Achseln.
»Hören Sie, ich weiß, dass ich das nicht fragen sollte, und wenn Sie verärgert sind, melden Sie mich bei der Gleichstellungsbehörde, aber haben Sie darüber nachgedacht, was Sie als alleinstehende Frau mit Ihren Kindern machen sollen? Wir können Ihnen nicht garantieren, dass Sie freibekommen, falls etwas ist.«
Er hatte recht. Er sollte sie das nicht fragen, und sie war verärgert. Sie bemühte sich, nichts davon in ihrer Stimme durchklingen zu lassen. »Wir wohnen bei meinem Großvater, Glenn Hadley. Er hat eine Teilzeitstelle mit flexibler Arbeitszeit.«
Die Augen des Deputy Chiefs verengten sich zu Schlitzen. Hadley konnte beinah sehen, wie eine Reihe von Namen vor seinem inneren Auge vorbeiratterte. Er mochte aussehen wie ein abgehalfterter Dorftrottel, aber sie ging davon aus, dass es keine gute Idee war, MacAuley zu unterschätzen. Sie fragte sich, ob die unzulässige Frage nur ein weiterer Test gewesen war.
»Glenn Hadley.« Er schlug die Augen auf. »Arbeitet für St. Alban’s?«
»Ja. Er ist der Küster. So nennen sie dort den Hausmeister.«
»Erwähnen Sie das nicht, wenn Sie mit dem Chief reden.«
Die plötzliche Hoffnung – sie würde mit dem Chief reden! Sie war eine ernstzunehmende Bewerberin! – hätte beinah dazu geführt, dass sie MacAuleys seltsamen Rat überhörte. Beinah.
»Was, dass Opa Hausmeister ist?«
»Sprechen Sie einfach nicht über St. Alban’s oder irgendwas, das damit zu tun hat.«
Sie runzelte die Stirn. »Er hat doch nichts gegen Christen oder so? Ich bin zwar nicht supergläubig, aber ich gehe zur Kirche.«
»Nein, nein. Nein, nichts dergleichen.« MacAuley presste die Lippen zusammen. Dachte einen Moment nach. »Der Chief hat im vergangenen Januar seine Frau verloren.«
»Davon habe ich gehört.«
»Er war … mit der Pastorin von St. Alban’s zusammen, als es passierte. Nicht mit ihr zusammen, nichts Komisches oder so«, fügte er so hastig hinzu, dass sie sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass es doch irgendwie komisch gewesen war. »Er glaubt einfach, dass er seine Frau hätte retten können, wenn er nicht mit Clare – Reverend Fergusson – zusammen gewesen wäre. Deshalb ist es nicht gut, wenn man ihn an sie erinnert. An Clare. Reverend Fergusson. Verstehen Sie?«
»Hm«, erwiderte sie. Sie verstand gar nichts. Es war ihr egal. »Ich werde St. Alban’s nicht erwähnen.«
»Okay.« Er schob seinen Stuhl zurück. Erhob sich. »Gehen wir zum Chief.«
Hadley stand auf und arrangierte den passenden Gesichtsausdruck. Bereit, willig, eifrig. Nicht verzweifelt. Verzweifelt zu wirken konnte sie sich nicht leisten. Die Strafanstalten waren zum Pendeln zu weit entfernt. Die privaten Sicherheitsdienste hatten sie abgelehnt. Es gab nur wenige Arbeitgeber, bei denen ein Highschool-Absolvent genug zum Leben verdiente, und keiner davon stellte ein. Wenn sie diese Stelle nicht bekam, hieß es kellnern in Lake George oder Saratoga, von Trinkgeldern leben und beten, dass keiner krank wurde oder sich ein Bein brach. Die Polizei von Millers Kill bot zahnärztliche Versorgung. Zahnärztliche Versorgung! Sie und die Kinder waren seit mehr als zwei Jahren nicht mehr beim Zahnarzt gewesen.
MacAuley führte sie einen kurzen Flur entlang durch die Funkzentrale und klopfte dann an eine Tür mit Riffelglasscheibe, auf der in Goldbuchstaben CHIEF RUSSELL VAN ALSTYNE stand. »Herein«, sagte eine Stimme.
Sie folgte MacAuley in ein unordentliches Büro. Stapel von Magazinen und Akten, die sich auf einer verschrammten Kredenz häuften, die Wände bedeckt von Postern, amtlichen Bekanntmachungen und einer riesigen Karte der drei Countys. Ein ausschießender Philodendron verdurstete auf zwei alten Aktenschränken.
Der Chief telefonierte, eine Hand über der Sprechmuschel. »Warten Sie«, bat er. MacAuley warf ihre Akte auf einen ebenso unordentlichen Tisch. Sie sah zu, wie der Chief sie mit einer Hand aufhob. Lange, eckige Finger. Braune, blond- und graugesprenkelte Haare, ebenso ungepflegt wie der Philodendron.
»Ja«, sagte er in den Hörer. »Okay. Setzen Sie uns auf die Liste, falls Sie etwas finden.« Er legte die Akte wieder hin, ohne sie aufzuschlagen. »Nein, aber schicken Sie uns die Abdrücke. Wir lassen einen Vergleich laufen, wenn wir im August die Basisrecherche durchführen.« Wenn man Russ Van Alstyne betrachtete, fiel es schwer, sich den August vorzustellen. Sein Gesicht war winterbleich, tiefe Falten zu beiden Seiten seines Mundes. Eisblaue Augen. Sie schätzte, dass er ungefähr so alt wie ihr Vater war, doch er strahlte eine gewisse Festigkeit aus, die ihr Vater, der König der Erwachsenenkopien, nie besessen hatte.
Van Alstyne legte den Hörer auf. »Chief, das ist Hadley Knox«, erklärte MacAuley. Der Chief nickte ihr zu. »Worum ging’s denn?«, wollte MacAuley wissen.
»Um den Mietlaster.« Er sah Hadley an, schloss sie in die Unterhaltung ein. »Jemand hat letzte Woche einen Laster in einem Unterstand einer hiesigen Farm abgestellt, der im Winter nicht genutzt wird.« Er sah Lyle an. »Er wurde in Kingston gestohlen, Wir kriegen Kopien aller Abdrücke, die die CADEA findet.«
»Kadea?«
Beide Männer sahen Hadley an. Auweia. Hätte sie wissen müssen, was das war?
»Capital Area Drug Enforcement Association. Eine Art regionaler Zusammenschluss von Ermittlern aller Dienststellen im gesamten Gebiet.« Der Chief reichte MacAuley einen Ordner. »Ihr Labortechniker teilt deine Ansicht, dass die Ballen eingeschweißt waren. Sie haben weder Pflanzenspuren noch THC auf den Oberflächen gefunden.«
MacAuley tippte gegen seine beachtliche Nase. »So was hat eben nicht jeder.«
»Hm. Vielleicht sollten wir dich vermieten.«
»Worum geht es denn eigentlich?«, fragte Hadley. Mitgefangen, mitgehangen, dachte sie. »Ich meine, im Laster?«
»Marihuana«, antwortete MacAuley.
»Dope?« Sie wollte nicht so ungläubig klingen, aber Dope? Wen scherte das?
»Im Wert von zehn Millionen Dollar.« Van Alstyne tippte auf die Akte auf seinem Tisch. »Falls der Laster voll beladen war.«
»Heilige Scheiße!« Im selben Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Fluchen beim Vorstellungsgespräch. Genial. »Entschuldigung«, sagte sie.
MacAuley wirkte amüsiert. »Ich lass euch beide jetzt allein, ja?«
»Danke, Lyle«, sagte Van Alstyne. MacAuley verließ das Büro und ließ die Tür offen. »Nehmen Sie Platz, Ms. Knox.«
Es gab nur einen Stuhl, auf dem sich nichts häufte. Sie nahm ihn.
Er musterte sie eine Weile. Bei einem anderen Mann wäre in ihr das unangenehme Gefühl aufgestiegen, das durch unwillkommenes sexuelles Interesse erzeugt wird. Aber Van Alstyne musterte sie nicht, wie ein Mann eine Frau ansieht. Eher so wie ein Arzt, der Röntgenbilder betrachtet. Diagnostisch.
»Sie stellen Fragen«, sagte er.
War das eine Kritik? Ein Kompliment? Sie schluckte. »Ich habe zwei Kinder, denen ich immer wieder sage, es gibt keine dummen Fragen. Ich schätze, das hat auf mich abgefärbt.«
»Warum wollen Sie Polizistin werden?« Seine Frage traf sie überraschend. Verdammt, sie hatte sich doch vorbereitet. Was hatte sie sagen wollen?
»Ich habe in Kalifornien drei Jahre als Gefängnisaufseherin gearbeitet.« Sie wies mit dem Kopf auf den Ordner, der noch immer ungeöffnet auf dem Tisch lag. »Ich habe die Arbeit als herausfordernd und befriedigend …«
»Warum wollen Sie Polizistin werden?«
Sie saß da, den Mund halb geöffnet, weil er sie in ihrer vorgefertigten Antwort unterbrochen hatte.
»Sagen Sie einfach, was Ihnen durch den Kopf geht.«
Sie schloss den Mund. »Ich muss eine Familie ernähren. Ich brauche eine gutbezahlte Stelle hier in Millers Kill. Ich habe keinen College-Abschluss, aber meine Ausbildung in Kalifornien qualifiziert mich als Ordnungshüter auf Probe, wenn ich in die Grundausbildung zur Polizistin übernommen werde.«
»Was ist damit: Für Recht und Ordnung sorgen, die bösen Kerle von den Straßen holen und hinter Gitter verfrachten?«
Sie stieß die Luft aus. »In meiner Zeit als Gefängnisaufseherin habe ich eine Menge Typen getroffen, die behauptet haben, sie wären unschuldig. Ich weiß es nicht. Ich schätze, für Recht und Ordnung sorgen sollte lieber jemand anders. Was das Fangen von …äh … bösen Kerlen …« Sie verstummte. »Ich nehme an, das will jeder.«
Er neigte den Kopf zur Seite und bedeutete ihr, fortzufahren.
»Es tut mir leid, Sir. Wenn Sie nach Robocop suchen, bin ich nicht die Richtige. Ich schätze, Polizeiarbeit ist in gewisser Weise so was wie Mutter sein. Ich will meine Kinder nicht dabei erwischen, dass sie etwas Falsches tun. Ich will das verhindern, ehe es passiert. Und sie in eine andere Richtung lenken, ehe aus einem kleinen ein großes Problem wird.« Er sah sie mit einer Miene an, die sie nicht deuten konnte. Sie klappte den Mund zu. Polizeiarbeit ist wie Mutter sein. Toll. Vielleicht sollte sie noch erwähnen, dass sie gern Schals stricken und Kakao kochen würde.
»Wenn wir Sie einstellen, wären Sie die einzige Frau im Dienst. Genau genommen die erste Frau.« In seinem Ton schwang ein gewisses Unbehagen mit, aber sie konnte nicht sagen, ob es die Aussicht war, ein Mädchen in den Club aufzunehmen, oder Verlegenheit, weil bis jetzt in puncto Gleichstellung noch nichts passiert war. »Haben Sie darüber nachgedacht, wie Sie damit fertig werden wollen?«
Er hatte gesagt, sie solle offen antworten. »Ist es sehr wahrscheinlich, dass man mit Ihren Männern fertig werden muss?«
»Nein. Na ja« – er massierte seine Nasenwurzel unter der Stahlrandbrille –, »bei den meisten natürlich nicht. Ich dachte eher an den Job selbst. Das ist etwas anderes als Gefängnisaufseherin. Sie müssen Verkehrskontrollen durchführen, Typen voneinander trennen, die zu viel getrunken haben, in Häuser gehen, in denen Ehepaare aufeinander losgehen. Sie sind kleiner, leichter als die Männer hier. Wie gehen Sie damit um?«
Auf diese Frage hatte sie sich vorbereitet. »Genau wie in der Zeit im Gefängnis. Der Trick ist, ihnen nie, absolut nie das Gefühl zu vermitteln, man wäre verwundbar. Was bedeutet, die Situation zu kontrollieren, und das beginnt hier.« Sie tippte gegen ihre Schläfe. »Es spielt keine Rolle, wie groß man ist, wenn man keine Kontrolle projizieren kann. Und falls es doch zu Gewaltanwendung kommt, habe ich einen Vorteil gegenüber Ihren übrigen Leuten. Die Besoffenen sehen die hier« – sie schob den Unterarm unter ihre Brüste und hob sie an, und natürlich folgte ihr sein Blick – »und sehen nicht, was ich hiermit tue.« Sie berührte seinen Kopf sanft mit einem Magazin, das sie mit ihrer freien Hand ergriffen hatte.
Er lachte kurz. »Es ist nicht immer so einfach.«
»Nein. Aber Männer neigen immer noch dazu, Frauen zu unterschätzen.«
Sein Lächeln wurde irgendwie wehmütig. »Stimmt. Ich kenne – kannte – eine Frau, die diese Tatsache häufig zu ihrem Vorteil genutzt hat.«
»Hat es funktioniert?«
»Ja«, antwortete er. »Ja, das hat es …« Er riss sich zusammen. »Okay.« Sein Ton war wieder geschäftsmäßig. »Sie haben die Stelle, wenn Sie sie wollen.«
»Ehrlich? Ich meine, toll! Ja! Ich will sie.«
»Sie arbeiten auf Probe, bis Sie den Grundkurs in Polizeiarbeit abgeschlossen haben. Ich habe keine Lust, das Geld und die Zeit, die wir in Ihre Ausbildung stecken, zu verschwenden, also erwarte ich, dass Sie bestehen. Mit sehr guten Noten.«
»Das werde ich. Ich komme unter die ersten zehn Prozent. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«
»Zusätzlich werden Sie intensiv auf dem Schießstand trainieren.« Er tippte auf den Ordner, den er noch immer nicht aufgeschlagen hatte. »Die Ergebnisse Ihrer letzten Schießübungen sind viel zu schlecht.«
»Unbedingt«, sagte sie. »Kein Problem.«
Van Alstyne stand auf. Hadley stand auf. Er streckte die Hand aus, und sie ergriff sie. »Willkommen bei der Polizei von Millers Kill, Officer Knox.«
Ein Klopfen an der Tür hinderte sie an überschwenglichen Dankesbezeugungen. Die Frau aus der Funkzentrale, vierschrötig, mit stahlgrauer Dauerwelle, steckte den Kopf herein. »Wenn Sie jetzt fertig sind, ich habe einen Anruf für Ms. Knox.«
»Für mich?« Sie blickte Van Alstyne an.
Er entließ sie mit einer Handbewegung. »Gehen Sie. Harlene sagt Ihnen, was an Papierkram zu erledigen ist.«
Harlene schloss die Tür hinter ihnen und überraschte Hadley, weil sie sie statt in die Funkzentrale in den Flur zog. »Es ist eigentlich kein Anruf, sondern eine Nachricht. Von St. Alban’s.« Während sie sprach, schaute sie sich um, als wollte sie sich vergewissern, dass niemand sie belauschte. »Es geht um Ihren Großvater. Er ist mit einem Herzinfarkt ins Glens Falls Hospital eingeliefert worden. Reverend Fergusson holt Ihre Kinder ab und nimmt sie mit zur Pfarrei.«
Hadley blieb einfach stehen. »Verzeihung. Haben Sie gerade gesagt …« Dann erfasste ihr Verstand die Bedeutung der Worte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »O Scheiße«, sagte sie. »Scheiße.«
Harlene sagte irgendetwas über Glens Falls, dass das nicht notwendigerweise das Schlimmste bedeuten musste und sie sich keine Sorgen um ihre Kinder machen sollte, und alles, woran Hadley denken konnte, war, dass sie alle Brücken hinter ihnen abgebrochen hatte und dreitausend Meilen weit gereist war, und dass auf einmal ihr Großvater im Sterben lag und sie erneut allein sein würde. Ganz allein. Wieder.
III
»Lass die Jacke an. Wir fahren zum Abendessen zu deiner Schwester.«
Russ hielt vor den Kleiderhaken in der Küche seiner Mutter inne, die Jacke halb ausgezogen. »In Ordnung«, sagte er. »Aber mir ist nicht nach Gesellschaft.«
Margy Van Alstyne marschierte aus dem winzigen Esszimmer. Offensichtlich war Cousine Nane mit ihrer Heimdauerwellen-Ausrüstung hier gewesen – Margys weiße Haare waren zu so festen Löckchen gedreht, dass man vermutlich das gesamte North Country mit Strom versorgen konnte, wenn jemand herausfand, wie man die chemische Energie darin wandelte. Sie stemmte die Hände in die Hüften, was ihre Ähnlichkeit mit einem Hydranten noch verstärkte. »Familie hat nichts mit Gesellschaft zu tun.«
»Ich bin müde. Es war ein langer Tag. Grüß Janet von mir.« Er streifte die Jacke ab und hängte sie auf. Seine Mutter packte sie am Kragen und hielt sie ihm hin.
»Mom!«
»Du musst mich fahren. Es wird schon dunkel sein, wenn wir nach Hause kommen, und ich fahre nicht gern im Dunklen.«
»Seit wann?«
»Eine Frau von fünfundsiebzig Jahren hat das Recht, kleine Macken zu entwickeln. Also was jetzt, wirst du mich hinfahren, oder willst du in meinem Haus sitzen bleiben, essen, was ich gekocht habe, deine riesigen Füße auf meinem Sessel, während du in meinen Fernseher starrst?«
Er schaute wütend auf sie herab. »Du willst mir Schuldgefühle einflößen, damit ich dich fahre.«
»Da hast du verdammt recht. Funktioniert es?«
Er ergriff die Jacke. Er wohnte bei ihr, seit seine Frau gestorben war. Nein, schon länger. Er war bei seiner Mutter eingezogen, als Linda ihn aus dem Haus geworfen hatte. Damals hatte er geglaubt, ihre Trennung wäre nur vorübergehend. Zwei Wochen später war sie permanent und unwiderruflich geworden. Mit ihrem Tod. Ihrem dummen, sinnlosen, vermeidbaren Tod.
Er brachte es nicht fertig, wieder in ihr Haus zu ziehen, aber auch nicht, es zu verkaufen, und so lebte er in einem Schwebezustand, kaufte Lebensmittel, reparierte dies und das, bezahlte die Rechnungen seiner Mutter, wenn er sie vor ihr in die Finger bekam. Sie hatte ihn nicht gefragt, wie lange er bleiben wollte oder was er für die Zukunft plante. Sie ließ ihn vollkommen in Ruhe.
»Also gut.« Er rammte seinen Arm in den Jackenärmel. »Ich fahre dich hin. Und ich hole dich ab. Aber ich bleibe nicht zum Abendessen.«
»Das sehen wir dann.«
In seinem Pick-up plauderte sie über die Mädchen von Janet und Mike und über Cousine Nane und das letzte Treffen ihrer Kriegsgegnergruppe, die Women in Black. Er ließ ihr Geplauder an sich vorüberziehen, ebenso unbeachtet wie die abendliche Sonne, deren Strahlen durch Risse in den Wolken auf die schwachen grünen Spuren des Frühlings fielen, die zwischen dem graubraunen Filz des Winters auftauchten. Sämtlich Teile einer Welt, die sich weiterhin drehte und veränderte, und er wollte nichts damit zu tun haben.
Sie überholten einen riesigen Hummer, aufgemotzt bis zum Geht-nicht-mehr, aus dem ein Basslauf drang, der ihre Scheiben erzittern ließ. »Solche Autos gehören verboten«, nörgelte seine Mutter, und dann machte sie weiter mit Treibhausgasen und Blut für Öl und amerikanischem Anspruchsdenken. Immer dasselbe. In den Senken, in denen der Boden noch von Schnee bedeckt war, waberte kniehoch dichter weißer Nebel wie eine Horde Geister, die unfähig waren, die irdischen Fesseln zu sprengen.
Erst Gitarrenakkorde, die sich den Weg aus den Autolautsprechern bahnten, weckten seine Aufmerksamkeit. »Was machst du da?«, fragte er.
»Nun, da du mir offensichtlich nicht zuhörst, dachte ich, du hättest vielleicht gern Musik.«
Er streckte den Arm aus und schaltete den CD-Player ab. »Nein«, knurrte er. »Keine Musik.«
Seine Mutter sah ihn an. »Keine Musik?«
»Ich höre nicht gern Musik.«
»Seit wann?«
Seit mein Leben in die Binsen gegangen ist. Seit mich jeder verdammte Song an Clare erinnert. Er sagte ihr nicht, was ihm durch den Kopf ging. Er hatte große Übung darin, tagein, tagaus nicht zu sagen, was ihm durch den Kopf ging. Stattdessen antwortete er: »Ein Mann von fünfzig hat das Recht, kleine Macken zu entwickeln.«
»Huch«, sagte seine Mutter, aber sie ließ ihn in Ruhe, während der Highway sich zwischen dichtstehenden Bäumen hindurchwand und -schlängelte, die die Berge westlich von Millers Kill säumten. Schließlich machte der Wald einem weiten Tal Platz, in das sich die Straße wie ein rascher Strom erstreckte, die sanften Hügel hinauf und hinunter, von einer Milchfarm zur nächsten.
Sie näherten sich gerade Janets und Mikes langer Zufahrt, als seine Mutter sagte: »Fahr weiter. Wir treffen sie bei den Nachbarn.«
Russ nahm den Fuß vom Gas. »Mom. Das ist doch keine Falle, oder?«
Sie wirkte – nein, nicht schuldbewusst, sie wirkte seines Wissens nie schuldbewusst – wie ein Kind, das man mit der Hand in der Keksdose erwischt. »Ich sage gar nichts. Es soll eine Überraschung sein.«
»Hör mal, Mom, falls sie da drin versuchen, mich mit einer süßen kleinen Witwe oder einer Geschiedenen zu verkuppeln, drehe ich sofort um und fahre nach Hause.«
Seine Mutter seufzte gereizt. »So eine Überraschung ist das nicht. Ehrlich, Russell, es geht nicht ständig nur um dich.«
Darauf gab es keine gute Antwort. Er murmelte irgendetwas, das sowohl eine Entschuldigung als auch Widerspruch sein konnte, und gab wieder Gas.
Das Haus der Nachbarn war ein hübscher Bungalow, vermutlich in den Zwanzigern als Fertighaus bei Sears Roebuck bestellt. Er schlug das Lenkrad ein, um auf die kurze Zufahrt abzubiegen. »Nein, nicht hier.« Seine Mutter zeigte zur Seite. »Auf der anderen Straßenseite.«
»Die Stallungen?« Wie bei vielen der neueren Farmen in diesem Teil der Welt – neu bedeutete nur ein Jahrhundert alt statt zwei Jahrhunderte – standen Scheune und Stallungen jenseits des zweispurigen Highways und nicht direkt am Wohnhaus, was den Einwohnern buchstäblich mehr Luft zum Atmen verschaffte. Zwischen Hauptgebäude, Doppelsilos und Kuhställen, die sich bis zu den Weiden erstreckten, nahm die Scheune vier oder fünf Mal so viel Raum ein wie das Wohnhaus.
»Fahr einfach in die Zufahrt.«
Russ gehorchte und parkte den Pick-up auf dem am wenigsten schlammigen Abschnitt des kurzen, breiten Weges, der zu einem treckerhohen Doppeltor führte. »Was soll das alles, Mom?«, fragte er.
Seine Mutter ignorierte ihn, rutschte aus dem Pick-up und stapfte zum Tor. Er sprang heraus und lief hinter ihr her. »Machst du das bitte mal auf?«, sagte sie.
Die Vision eines im Innern wartenden Rudels Gratulanten und an Balken gebundener Ballons blitzte in seinem Kopf auf. Doch es gab keinen Anlass für eine Überraschungsparty, oder? Sein Geburtstag war vor fünf Monaten gewesen. Und der Jahrestag seines Eintritts in den Polizeidienst von Millers Kill stand auch nicht an.
»Verdammt noch eins, Russell. Willst du wirklich, dass eine arme alte Dame das selbst aufzieht?«
Er schnaubte. Margy Van Alstyne war in etwa so schwach und kraftlos wie eine Dampfwalze. Doch in der einbrechenden Dunkelheit und Kälte draußen stehen zu bleiben war auch keine Lösung. Er packte einen der gebogenen Griffe und rollte das Tor auf.
Der vertraute Farmgeruch nach Maschinenöl, Heu und Mist begrüßte sie, sonst nichts. Seine Mutter marschierte hinein, wobei das kalte Licht der an der drei Stockwerke hohen Decke hängenden Neonlampen sie bleich wirken ließ. »Puh.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Sie müssen drin bei den Kühen sein.« Sie schlängelte sich zwischen einem Traktor und einem Mähdrescher hindurch und verschwand durch eine kleine Tür unter dem Heuboden.
»Wer? Mom, was ist hier eigentlich los?« Er schloss das Tor und folgte ihr, wobei er einem Förderband auswich, das von einem Heuwagen zum darüberliegenden Boden führte. In den Schatten über seinem Kopf konnte Russ ein paar verstreute Heuballen erkennen, gerade genug, um die fünf oder sechs Wochen zu überbrücken, bis das junge Gras im Frühling wuchs. Er zog den Kopf ein und betrat den Kuhstall.
Er war lang und niedrig und hell und modern und verursachte ihm Herzrasen. Er ertappte sich dabei, nach links und rechts zu spähen, an den Reihen der sauberen Boxen entlang, die sich endlos erstreckten, ein seidiger schwarz-weißer Rücken neben dem anderen, auf der Suche nach einem Ausgang.
Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen, aber der Geruch von warmen Kühen und feuchtem Stroh kratzte in seiner Kehle, als wollte er ihn ersticken.
»Da seid ihr ja!« Die fröhliche Stimme seiner Schwester brachte ihn zu sich. Janet und Mike standen winkend auf halbem Weg im Mittelgang. Sie wirkten unwahrscheinlich weit weg. Links von ihm klirrte es, und als er den Kopf herumriss, fand er sich Auge in Auge mit einer Färse mit Kulleraugen und feuchter Schnauze, die ihn gleichmütig anstarrte, während sie ihr Futter wiederkäute.
Sein Schwager lachte. »Sieh ihn dir an. Starr vor Staunen.« Er breitete die Arme aus. »Ganz schön beeindruckend, oder?«
Nein, es erinnert mich ziemlich an den Kuhstall, in dem ich vor zwei Monaten beinahe erschossen worden wäre. Wo der beste Mensch, den ich kenne, ein soziopathisches Ungeheuer töten musste, um mein Leben zu retten.
Es erinnert mich daran, wo ich war, als meine Frau starb.
Er hätte das am liebsten ausgesprochen, damit sie eine Vorstellung davon bekamen, wer er war und was in seinem Kopf vor sich ging. Aber er konnte es nicht. Seine Mutter würde sich ängstigen, und seine Schwester würde den Rest des Abends eine gezwungene Fröhlichkeit zur Schau tragen. Damit »er sich besser fühlte«. Sie wollten diesen Mist nicht wissen.
Clare würde ihn verstehen.
Wie immer in diesen Tagen wurde der Gedanke an sie von einer Woge des Verlangens begleitet, gepaart mit einem Gefühl von Verlust und Schuld und Selbstverachtung. Dieses eine Mal begrüßte er die ätzende Mischung. Sie vertrieb den Nebel der Angst und verwandelte diese Scheune in eine ganz normale Scheune, nur ein weiterer Ort, an dem er sich aufhalten musste, ehe er ins Bett klettern und sein tiefstes Bedürfnis stillen konnte: totale Bewusstlosigkeit.
Seine Verwandten blickten ihn erwartungsvoll an. »Ja«, sagte er. »Beeindruckend.«
Janet und Mike strahlten sich an. »Ich wusste, dass du das sagen würdest«, meinte Janet. »Es gehört uns.«
»Na ja, uns und Mom.« Mike legte den Arm um seine Schwiegermutter.
Margy grinste. »Überraschung!«
»Was?« Russ starrte sie an. »Euch?«
»Die Petersons wollten verkaufen und sich zur Ruhe setzen«, erklärte Mike. »Es war die perfekte Gelegenheit, unsere Farm zu erweitern.«
»Wir haben unsere Herde um zweihundertvierzig Tiere vergrößert«, sagte Janet. »Plus die zusätzlichen fünfzig Hektar mit Heuwiesen …«
»Wir können den größten Teil von unserem Futtermais selbst anbauen«, unterbrach Mike sie.
»Und pro Jahr anderthalb Millionen Liter mehr produzieren.«
Russ hob die Hände. »Wartet einen Moment, wartet mal. Ich bin kein Farmer, aber sogar ich weiß, dass eine Verdopplung eurer Herde wesentlich größere Ausgaben bedeutet. Ich will nicht neugierig sein, aber wie wollt ihr das schaffen?«
Sein Schwager grinste. »Tja, erst wollten wir in den Drogenhandel einsteigen und Gras anbauen, aber dann dachten wir, mit dir als Polizeichef und so wäre das vielleicht keine so gute Idee. Deshalb haben wir bei Mom einen Kredit aufgenommen.« Er legte den Arm um Margys Schultern und drückte sie.
»Nicht nur bei Mom«, ergänzte Janet. »Wir haben auch eine Hypothek auf unser Haus aufgenommen.«
»Ich bin Partner.« Seine Mutter strahlte. »Es ist eine Geldanlage.«
»Eine Geldanlage?« Russ starrte das Trio mit offenem Mund an. »In eine Milchfarm? In den letzten zwanzig Jahren musste in dieser Gegend mindestens eine pro Jahr dichtmachen!« Er drehte sich zu Janet um. »Hältst du das für eine sichere Geldanlage für eine Frau von fünfundsiebzig Jahren, die von ihren Zinseinkünften lebt?«
»Russell!« Seine Mutter klang erschrocken.
»Mom, ich kann einfach nicht glauben, dass du so was Unverantwortliches tust.«
»Es ist mein Geld«, sagte sie, während Janet im selben Moment schimpfte: »Für was hältst du dich, Mom zu sagen, was sie tun oder lassen soll?«
»Ich mache mir Sorgen um ihre Zukunft. Und wenn du ein bisschen mehr an sie und weniger an dich denken würdest …«
»Oho!« Janet trat auf ihn zu, ihre Augen – die gleichen Augen, die er von seinem Vater geerbt hatte – sprühten blaues Feuer. »Die ganzen Jahre, in denen du mit der Armee in der Weltgeschichte herumgezogen bist, wer hat sich da um sie gekümmert? Ich! Ich war diejenige, die in Millers Kill geblieben ist und jahrein, jahraus jeden Sonntag mit ihr verbracht hat, während sie von dir nichts anderes bekommen hat als Postkarten.«
»Und das gibt dir das Recht, sie in diese idiotische – autsch!«
Janet gab einen ähnlichen Schmerzenslaut von sich. Margy hatte hochgelangt – hoch, weil sie beide außerdem die Größe ihres Vaters geerbt hatten – und hielt sie mit festem Griff an den Ohrläppchen.
»Au! Au, Mom, lass das!«
»Nicht, ehe ihr beide aufhört, euch zu zanken wie zwei Rangen um einen Lutscher.«
Russ hatte diesen Ton seit Jahren nicht mehr von ihr gehört. Er hegte nicht den geringsten Zweifel, dass sie ihm das halbe Ohr abreißen würde, wenn er nicht nachgab. Er hob die Hände und ergab sich. Janet tat dasselbe. Ihre Mutter ließ los. Sie stolperten ein paar Schritte rückwärts und rieben ihre Ohren.
»Russell, es tut mir leid, dass du mit meiner Investition in Janets und Mikes Farm nicht einverstanden bist, aber ich kümmere mich seit nahezu fünfunddreißig Jahren allein um mein Geld, und ich werde jetzt nicht damit anfangen, andere Leute Entscheidungen für mich treffen zu lassen.« Janets verkrampfte Schultern entspannten sich ein bisschen, bis Margy sich zu ihr umdrehte. »Janet, wenn du mir sagen willst, dass du nach deinem Abschluss nur in Millers Kill geblieben bist, um mir Gesellschaft …«
»Nein! Ich meine … nein.«
»Gut. Das hatte ich auch nicht angenommen. Einer von euch blieb und der andere ging, und das hat nie einen Einfluss darauf gehabt, wie ich für euch empfinde. Also fangt jetzt nicht damit an.«
Janet schüttelte den Kopf.
»Russell?«
»Ja, Ma’am?«
Sie seufzte. »Ich glaube, du solltest lieber nach Hause fahren. Uns allen die Chance geben, uns zu beruhigen. Mike kann mich nach dem Abendessen heimbringen.«
»Ja, Ma’am.« Jesus. Fünfzig Jahre, und sie konnte ihn immer noch einschüchtern, als wäre er ein Kind. Er warf Mike, der sich während des Streits sehr für eine der Färsen interessiert hatte, einen Blick zu, dann Janet. Sie erwiderte ihn misstrauisch. Er wusste, dass er sich entschuldigen sollte, aber er konnte nicht. Es war selbstsüchtig und dumm, Mom in so ein riskantes Unternehmen zu verwickeln. »Bis später dann, nehme ich an«, verabschiedete er sich.
Janet nickte. Er trat den Rückzug an, aus dem Stall, durch die Scheune in den frostigen Abend. Öffnete die Fahrertür und blieb einen Moment stehen, um sich zu beruhigen.
Auf der anderen Straßenseite war ein Auto in die Zufahrt zum Bungalow abgebogen. Eine Frau stieg aus.
Eine Frau in schwarzer Priesterkleidung.
O nein. Nicht auch das noch.
Aber eine Sekunde später wurde ihm bewusst, dass die Frau zu klein und zierlich für Clare war. Sie drehte sich um, vielleicht wegen des Lichts, das aus dem Pick-up drang, und er erkannte die neue Diakonin von St. Alban’s. Wie hieß sie noch gleich, Groosvort?
»Chief Van Alstyne? Sind Sie das? Ist etwas passiert?«
»Äh, hi« – der Name fiel ihm ein – »Diakonin de Groot. Was? Sie meinen, weil ich hier bin? Nein. Alles in Ordnung.« Sein Ton war bewusst neutral. »Meine Schwester und ihr Mann haben eine Farm hier in der Gegend.«
»Ach so. Schön, Sie mal wiederzusehen.« Sie strich über ihr dichtes, makelloses aschblondes Haar. »Entschuldigen Sie meinen Aufzug. Ich bin den ganzen Nachmittag in Glens Falls im Krankenhaus gewesen.«
Sie machte doch gar keine Krankenbesuche, oder doch? War das nicht Clares Aufgabe? War ihr etwas zugestoßen? »Ich hoffe, alle sind wohlauf«, quetschte er heraus.
»Unser Küster, Mr. Hadley, hatte einen akuten Myokardinfarkt.« Sie redete mit der exakten Aussprache eines Menschen, der wiederholt, was ihm gesagt worden ist. »Der arme Mann hat einen vierfachen Bypass bekommen. Ich bin dort geblieben, bis man ihn auf die Intensivstation verlegt hat. Besucher sind dort nicht gestattet, deshalb dachte ich mir, es sei Zeit, nach Hause zu fahren.«
»Nach Hause?«
Sogar in der Dämmerung konnte er ihr Lächeln erkennen. Sie wies voller Stolz auf den Bungalow. »Für mich ist die Zeit des Pendelns nach Johnstown vorüber. Ich habe soeben das Haus der Petersons gekauft.«