Allgemeines Kirchenjahr
Juni und Juli
I
Am frühen Mittwochmorgen ging Clare zur Sieben-Uhr-dreißig-Messe in die Kirche hinüber. Am Abend zuvor war sie erschöpft von der langen Fahrt von Fort Dix und angespannt wegen des Zustands ihres Hauses am Pfarrhaus eingetroffen. Zu ihrer Verlegenheit hatte sie es wesentlich ordentlicher und sauberer als vor dem Einbruch vorgefunden.
Anne Vining-Ellis und ihr jüngster Sohn Colin warteten vor den großen Flügeltüren auf sie. Ihre Bluse und ihr Rock verrieten, dass sie auf dem Weg zum Glens Falls Hospital war. Colin in seiner Röhrenhose und den spitzen Schuhen wirkte, als wollte er sich bei einer AchtzigerJahre-Revivalband bewerben. »Ich bringe dir den Messdiener des Tages«, verkündete Anne.
Der Junge wischte sich die zu langen Ponyfransen aus dem Gesicht. »Nur unter Protest. Organisierte Religion ist ein Werkzeug des Kapitalismus.«
»Er macht gerade einen Sommerkurs in Marxismus-Leninismus«, erklärte seine Mutter. »Gott steh uns bei.«
Clare reichte dem Teenager ihren dicken Schlüsselbund und die Thermoskanne mit Kaffee. »Würdest du bitte für mich aufschließen, Colin? Und das in mein Büro bringen?«
Er nahm ihr den klirrenden Ring ab. »Warum nicht? Ich bin ja nur Angehöriger des Proletariats, von den unterdrückerischen Stiefeln der Geschichte in den Staub getreten. Soll ich auch die Kerzen anzünden?«
»Danke.« Clare wandte sich an seine Mutter. »Erinner mich daran, dass ich ihm ein paar Bücher zur Befreiungstheologie leihe.«
»Mach dir keine Mühe. In der zweiten Kurshälfte kommen Adam Smith und John Maynard Keynes dran. Vermutlich wird er dann das Kirchensilber auf dem freien Markt verscherbeln.« Dr. Anne schaute Colin hinterher, der im Narthex verschwand. »Wie geht es dir? Ich wollte gestern Abend noch kommen, aber dann habe ich mir gedacht, dass du von der langen Fahrt von New Jersey sicher erschöpft bist.«
»Danke, es geht schon. Noch besser ginge es mir, wenn du sagen würdest, dass man Señor Esfuentes gesund und munter irgendwo gefunden hat.«
Dr. Anne schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«
Clare seufzte. »Das habe ich mir gedacht. Wenn etwas passiert wäre, hätte mich wohl Russ oder sonst jemand angerufen.« Ihr Blick schweifte über den steten Strom von Pendlern auf der Church Street, die nach Glens Falls oder zum Northway unterwegs waren. Im hellen Schein der Morgensonne wirkte der Park weit weniger romantisch. »Ich denke andauernd über diesen Sonntagabend nach, frage mich, was ich hätte tun können, um es zu verhindern. Hätte ich ihn zur Party schleifen sollen? Früher nach Hause gehen? Einen Aufpasser für ihn zurücklassen?« Sie hob die Hand an den Hinterkopf, um lose Strähnen festzustecken, aber so früh am Tag saß ihr Knoten noch bombenfest.
»Auf die Gefahr hin, wie eine Platte mit einem Sprung zu klingen: Es ist durchaus möglich, dass er das Haus selbst verwüstet hat und dann abgehauen ist.«
Clare schüttelte den Kopf. »Nein.«
Dr. Anne machte sich den Bürgersteig hinunter auf den Weg. »Manchmal glaube ich, du treibst es mit diesem ›Das Gute in allen Menschen sehen‹ ein bisschen zu weit«, warf sie über die Schulter zurück.
»Ich weiß«, antwortete Clare. »Berufskrankheit.«
Es war ein typischer Mittwochmorgen, zehn Abendmahlsbesucher, wenn sie sich und Colin mitzählte. Gott sei Dank wollte niemand bleiben und über die Ereignisse des vergangenen Sonntags plaudern, und so zog sie sich bereits fünf Minuten nachdem sie ihre Herde verabschiedet hatte, in der Sakristei um.
Im Büro wurde sie von Lois mit einer Hymne begrüßt. »Vorwärts, Christi Streiter, in den heilgen Krieg!«, sang ihre Sekretärin, »denn die Helikopter führen durch Kampf zum Sieg.«
Clare spähte in die winzige Nische, in der das Büro der Diakonin untergebracht war. Noch niemand da.
»Kein Wunder, dass Elizabeth uns beide für geistesgestört hält.«
Lois verdrehte die Augen. »Ich finde, die Nationalgarde sollte mich dafür bezahlen, dass ich es mit dieser Frau aushalte, wenn Sie unterwegs sind.«
»Was ist passiert?«
»Sie wollte wissen, was ich davon halte, dass Sie wieder etwas mit Chief Van Alstyne angefangen haben.«
»Was angefangen mit …«
»Ich habe ihr gesagt, ich wäre keine Klatschbase und würde auch nichts auf Leute geben, die ratschen. Danach war sie natürlich zuckersüß und meinte, sie würde sich nur Gedanken machen, ob die Leute es skandalös fänden. Ich hab ihr gesagt, skandalös wäre nur, wenn Sie sich den besten Mann von Millers Kill durch die Lappen gehen ließen.« Sie stützte das Kinn auf den Ellbogen und wies mit dem Brieföffner auf Clare. »Was nicht heißen soll, dass ich Hugh Parteger nicht auch super fände. Er hat gute Manieren und verdient mindestens fünf oder sechs Mal so viel wie der Polizeichef.«
»Vielleicht sollen Sie ihn dann mal um eine Verabredung bitten. Ich glaube nicht, dass er mich noch mal anruft. Nicht nach dem vergangenen Wochenende.«
Lois zog einen Stapel rosafarbener Notizzettel vom Nachrichtendorn. Sie suchte eine heraus und hielt sie hoch. »Da wär ich mir nicht so sicher. Er hat dreimal angerufen. Möchte so bald wie möglich mit Ihnen sprechen.«
Clare stöhnte. »Bitte sagen Sie mir, dass es jede Menge berufliche Anrufe gibt, um die ich mich zuerst kümmern muss.«
»Der Bischof möchte, dass Sie ihn zurückrufen. Ihre Heiligkeit hat sich bei ihm darüber beklagt, dass Sie einen gefährlichen Kriminellen im Pfarrhaus beherbergen, so in der Art. Und er will wissen, warum Sie in der Zeitung stehen. Schon wieder.«
»Ich stehe in der Zeitung?«
»Im Post Star gab es einen Bericht über den Einbruch und das Verschwinden des armen Señor Esfuentes. Er wurde nicht namentlich genannt – ich nehme an, erst müssen seine nächsten Verwandten benachrichtigt werden, die armen Seelen –, aber Sie sind auf dem Titelblatt und auf Seite zwei noch mal. Der Reporter hat wegen eines Kommentars angerufen.«
»Ben Beagle?«
»Hm. Ich habe ihm gesagt, dass Sie weg sind und sich darauf vorbereiten, die Pressefreiheit unter Einsatz Ihres Lebens zu verteidigen.«
»Das haben Sie nicht!«
»Tja, nein, nicht mit diesen Worten. Ich habe ihm gesagt, dass Sie bei der Nationalgarde dienen.« Sie pflückte einen rosa Notizzettel vom Dorn und zwirbelte ihn zwischen ihren langen Fingern. »Ich schwöre, diese Gazette ist fast so schlimm wie die Revolverblätter. Es klang so, als wären wir alle in unseren Betten nicht mehr sicher. Nun, zumindest keiner von uns, der aus Mexiko stammt.«
Clare griff nach den restlichen rosa Zetteln. »Ja, ich schätze, ich sollte mich an dem erfreuen, was ich habe. Wenigstens gibt Elizabeth keine Pressekonferenz anlässlich meines skandalösen Verhaltens. Noch nicht.«
»Ich hab gehört, der arme Mr. Parteger musste das Mauerblümchen spielen, während Sie und der Chief den ganzen Abend getanzt haben.«
»Ich dachte, Sie geben nichts auf Klatsch?«
»Hätte ich nur nichts gesagt. Ich kann doch nichts dafür, wenn die Leute sich mir anvertrauen. Da liegt am Beruf. Früher oder später erfährt eine Pfarrsekretärin alles.«
Clare straffte die Schultern. »Der Chief und ich haben zu zwei Liedern miteinander getanzt. Es würde mich sehr überraschen, wenn wir länger als acht Minuten zusammen auf der Tanzfläche waren.«
Lois lächelte breit. »Sie werden rot.«
»Werde ich nicht.« Clare widerstand der Versuchung, ihre Wangen zu bedecken. »Würden Sie bitte beim Supermarkt anrufen und die übliche Verpflegung für unser Gemeinderatstreffen bestellen?«
»Ja, ich will.«
Clare flüchtete aus dem Büro, in dem Lois weiter vor sich hingrinste wie die Besitzerin eines unterbelichteten Hundes, der soeben ein neues Kunststück gelernt hat.
An ihrem eigenen Schreibtisch goss Clare sich eine Tasse des mitgebrachten Kaffees ein und begann, die Anrufe zu erwidern, die in ihrer Abwesenheit eingegangen waren. Nachdem sie den größten Teil der Rückrufe erledigt hatte, wandte sie sich den Anträgen für die Herbstprojekte zu, über die der Gemeinderat heute während des Mittagtreffens diskutieren wollte. Die rosa Zettel mit den Nachrichten von Bischof, Ben Beagle und Hugh schienen zu glühen, wann immer sie den Blick von der Arbeit hob. Dieses Mal war es eine echte Erlösung, als Lois wegen des Gemeinderats klingelte.
»Es wird Zeit«, sagte die Sekretärin. »Die Diakonin ist schon drin und wedelt mit Agenda und Anträgen.«
Das Gemurmel im Konferenzraum erstarb, als Clare durch die Tür trat. Mit seiner geschnitzten Wandtäfelung, den Butzenscheiben, hochlehnigen Stühlen und dem abgewetzten Aubusson war der Raum die beste Tudor-Kopie, die es 1860 zu kaufen gab. Vielleicht hatten die Erbauer von St. Alban’s ihn als Tribut an Heinrich VIII. betrachtet, den Gründer der Kirche.
»Hallo zusammen.« Sie hatten den Platz an der Stirnseite des schwarzen Eichentischs für sie frei gelassen. Der Gemeinderat schien seine Sitzordnung stets ohne offiziellen Plan oder Diskussionen auf dieselbe Weise festzulegen. Robert Corlew, der Älteste, saß links von Clare, neben ihm Terrance McKellan, der ihn unterstützte, so wie Terrys Bank Corlews Bauvorhaben finanzierte. Rechts von ihr saß das jüngste Ratsmitglied, Geoff Burns, direkt gegenüber von Corlew; Anwalt gegen Bauunternehmer, vierzig gegen sechzig, schütter werdendes Deckhaar gegen Toupet.
Zumindest glaubte sie, dass der Balg auf Corlews Kopf ein Fiffi war.
Mrs. Henry Marshall, mit leuchtenden Augen und ebenso leuchtendem Lippenstift, saß zwischen Burns und Norm Madsen. Mrs. Marshall war Clares treueste Verbündete im Gemeinderat, scharfzüngig und entschieden, während Mr. Madsen derjenige war, der alles stets von beiden Seiten betrachtete.
Clare schnappte sich eine Cola vom Büfett und ließ sich auf ihren Stuhl sinken.
Sterling Sumner, Architekt im Ruhestand und Gelegenheitsdozent am Skidmore College, saß ihr gegenüber am langen Ende des Tisches, so weit wie möglich von Corlew entfernt. Soeben schob er Elizabeth de Groot, die rechts von ihm saß, die übliche Platte mit Sandwiches und Chips zu. Sie hatten festgestellt, dass sie in Bezug auf Bauten (historisch), Liturgie (traditionell) und Literatur (nichts nach 1890) denselben Geschmack teilten. Clare war nicht sicher, ob Elizabeth wusste, dass sie und Sumner außerdem das Interesse an Männern gemeinsam hatten.
Die Platte erreichte Terry McKellan, der einen flüchtigen Blick auf die Sitzenden warf und sich dann zwei Sandwiches und zwei Portionen Chips genehmigte. Seine Frau hatte ihn auf Diät gesetzt, was den Kreditbevollmächtigten der Bank in einen Mundräuber verwandelt hatte. Clare fand, dass er wie ein schuldbewusster Schäferhund wirkte, der Essen vom Tisch stibitzte.
Robert Corlew nahm sich ein Sandwich und schob die Platte zu Clare weiter. Sie legte etwas, von dem sie hoffte, dass es sich um Hühnchen auf Vollkornbrot handelte, auf ihre Serviette. »Da dies das letzte Treffen bis September ist, sollten wir sofort anfangen«, sagte sie. Sie breitete die Arme aus, eine Einladung zum Gebet. »Herr im Himmel«, betete sie. »Hilf uns, deinen Willen zu erkennen und in dieser Erkenntnis deinen Kindern zu dienen, zu Ruhm und Ehre deines Namens. Amen.« Kurz, aber brauchbar. »Okay, Punkt eins: Der Antrag, die ehrenamtliche Stelle von Gail Jones als Leiterin der Jugendarbeit in eine bezahlte Teilzeitstelle umzuwandeln …«
»Mich würde eher interessieren, was am Sonntagabend im Pfarrhaus passiert ist«, unterbrach Corlew.
»Hört, hört«, rief Sterling.
Clare seufzte. Legte ihren Stift auf den Papierstapel. Ermahnte sich, die Schultern zu lockern.
»Amado Esfuentes, unser vorübergehender Küster, hat Clare ausgeraubt und ist dann geflüchtet«, sagte Elizabeth.
Clare spürte, wie ihre Schultern sich umgehend wieder verspannten. »Dafür gibt es keinen Beweis, Elizabeth.«
»Das weiß ich bereits.« Corlew winkte mit gereizter Miene ab. »Ich will wissen, ob das Pfarrhaus beschädigt wurde. Greift der Versicherungsschutz in diesem Fall?« Er wandte sich an Clare. »Immerhin haben Sie das kleine Frettchen ja eingeladen, es sich bei Ihnen gemütlich zu machen.«
»Wirklich, Robert.« Mrs. Marshall lächelte Clare flüchtig zu. »Ich glaube, Clare ist bewusst, dass dies vielleicht nicht ihr allerbester Einfall war. Es gibt keinen Grund, darauf herumzureiten.«
»Doch, denn es ist für jedes Mitglied von St. Alban’s viel zu gefährlich, diese Habenichtse überall herumzufahren, zum Sozialamt oder zur katholischen Messe oder was weiß ich.« Sterling Sumner zerrte zur Unterstreichung an seinem seidenen Fliegerschal. »Wir hätten uns nie auf das Betreuungsprojekt dieser Nonne einlassen dürfen. Sollen die Papisten für sich selber sorgen, das ist meine Meinung.«
Clare war gefangen zwischen ungläubiger Wut angesichts des Ausmaßes von Sterlings Bigotterie und der Verblüffung, dass jemand in diesem Jahrhundert ein Wort wie Papist benutzte.
»Ich teile Sterlings Ansichten keineswegs«, begann Geoff Burns, »aber ich pflichte ihm bei, dass wir das Programm zur Unterstützung der Wanderarbeiter umgehend einstellen müssen.« Er wandte sich an Clare. »Ich bin der Letzte, der jemanden verurteilt, ehe dessen Schuld erwiesen ist, aber ich habe schon zwei Latinos als Mandanten, die auf ihre Verhandlung wegen Drogenhandels warten. Dort draußen gibt es einige böse Menschen, Clare.«
»Und Sie können die an der Hautfarbe erkennen?« Clare wurde laut. Sie schluckte und versuchte es noch einmal. »Die Freiwilligen von St. Alban’s erreichen jede Woche Dutzende von Männern, versorgen sie mit Handys, sorgen für ihren Transport und kostenlose medizinische Betreuung.« Sie nickte Mrs. Marshall zu, deren Mutter die Gratisklinik gegründet hatte. »Es ist eines unserer erfolgreichsten Projekte, und es kostet die Kirche keinen Cent.«
»Wir haben Benzinkosten erstattet«, wandte Terry ein. Clare warf ihm einen gereizten Blick zu. »Nur der Genauigkeit halber«, sagte er.
»Ach, sicher.« Corlew funkelte Clare an. »Alles ist eitel Sonnenschein, bis eines unserer Gemeindemitglieder überfallen wird, genau wie Sie, wenn Sie am Sonntagabend zu Hause gewesen wären, statt mit Russ Van Alstyne herumzuknutschen.«
»Ich habe nicht …«
Mrs. Marshall kicherte. Der Klang kam so unerwartet – als würde die Königin von England kichern –, dass alle sie anstarrten.
Clare erholte sich als Erste. »Señor Esfuentes kann ebenso gut einem Verbrechen zum Opfer gefallen wie selbst der Täter gewesen sein. Für beides gibt es keine Beweise.«
»In welchem Fall«, sagte Sterling, »er vielleicht das Opfer des Serienkillers wurde, der dieses Gebiet heimzusuchen scheint. Was mich ohne Umschweife zurück zum zentralen Thema führt: Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Leute sich mit Männern abgeben, die jederzeit zur Zielscheibe von Gewalt werden können.«
»Wollen Sie damit sagen, dass wir unseren Freiwilligen vorschreiben sollen, wie sie sich zu verhalten haben? Ihnen mitteilen, dass wir es als zu riskant ansehen, wenn sie weiterhin Männer durch die finsteren Gassen von Cossayuharie fahren? Sollten sie diese Entscheidung nicht selbst treffen?« Sie wandte sich an Corlew. »Robert, um Himmels willen, Sie sind doch Republikaner. Glauben Sie nicht an persönliche Verantwortung?«
»Nein«, erwiderte er. »Nicht, wenn wir deswegen verklagt werden können.«
II
Von da an verkam die Versammlung zu einer Art Ringkampf. Clare erlangte vom Rat die Zustimmung, dass alle Freiwilligen, die schriftlich bestätigten, auf eigenes Risiko zu handeln, wenn sie sich um die Wanderarbeiter kümmerten, weitermachen durften. Wie sollte der Gemeinderat sie auch daran hindern? Doch würde St. Alban’s in Zukunft weder die zentrale Kommunikation noch Koordination übernehmen. Die Frage der Stelle für die Leiterin der Jugendarbeit wurde nicht mehr angesprochen. Als die Standuhr aus der Zeit des Bürgerkriegs die volle Stunde schlug, schäumte Clare vor Wut. An der Art, wie die Gemeindeältesten sich hastig verabschiedeten und aus der Tür eilten, erkannte Clare, dass sie ihre Gefühle nur schlecht verbarg.
Elizabeth de Groot flatterte zu ihr herüber, nachdem alle anderen gegangen waren. »Clare«, sagte sie mit ihrer kultivierten Stimme, »ich weiß, dass dies eine Enttäuschung für Sie ist, aber ich bin sicher, dass Sie mit der Zeit einsehen werden …«
»Haben Sie eigentlich nichts zu tun, Elizabeth?«, erkundigte sich Clare.
Die Diakonin warf ihr einen zögerlichen Blick zu. »Äh, doch. Krankenhausbesuche.«
»Dann schlage ich vor, dass Sie aufbrechen und die frohe Kunde unseres Herrn Jesus Christus verbreiten.« Und mich, verdammt noch mal, in Frieden lassen.
Clare kauerte an dem unschätzbaren antiken Tisch und kochte vor sich hin, als Lois den Kopf durch die Tür steckte. »Soll ich abräumen?«, fragte sie mit einer Geste auf die übriggebliebenen Sandwiches und Chips.
»Danke, Lois. Gehen Sie und machen Sie Mittagspause. Ich bringe das hier gleich runter und stell es in den Kühlschrank. Die Sandwiches kann ich auch nachher zur Tafel bringen.«
In ihrem Büro fand sie eine Plastiktüte und kippte die Chips hinein. Sie hängte sie über den Arm, hob die Sandwichplatte auf und lief nach unten in die Pfarrküche. Die Lampen im Korridor brannten. Gütiger Himmel, hatte sie vergessen, sie abzuschalten, nachdem sie und Lyle MacAuley am Sonntag hier gewesen waren?
Wunderbar. Eine weitere Kollekte für die Stromrechnung.
Dann hörte sie hinter sich Schritte.
Sie wirbelte herum, sah den Schatten eines Mannes aus der Küsterkammer auftauchen und schrie. Sie riss die Platte zur Verteidigung hoch und traf sich selbst mit der Tüte an der Brust, als der Mann sagte: »Father? Ich bin’s nur.«
Sie ließ das Essen sinken. Die Sandwiches glitten ihr entgegen, stießen gegen ihren Bauch, und Thunfisch und Mayonnaise landeten auf der schwarzen Baumwolle. »Mr. Hadley«, sagte sie. Sie räusperte sich, um gelassener zu klingen. »Sie haben mich zu Tode erschreckt.«
»Grampa? Was war das?« Am anderen Ende des Korridors tauchte Hadley Knox’ kleine Tochter aus dem Spielzimmer auf. »Alles in Ordnung?«
Ihr großer Bruder folgte ihr in den Flur. »Soll ich Mom anrufen?«
»Nein! Zurück mit euch, ihr zwei. Ich hab nur den Father ein bisschen erschreckt.« Er fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Als wir gekommen sind, waren Sie schon bei dem Treffen mit dem Gemeinderat. Ich wollte nicht stören.«
»Nein, nein.« Sie betrachte die Schweinerei auf ihrer Pastorenbluse. »Ich wollte die hier in den Kühlschrank stellen.« Sie musterte den Küster. Er trug seine übliche Arbeitskleidung: ausgebeulte, fleckige Drillichhose und kariertes Hemd. In einer Hand hielt er einen Rucksack, und selbst aus ein paar Metern Entfernung konnte sie den Zigarettenrauch riechen. »Was machen Sie hier?«
»Honey hat erzählt, dass der mexikanische Junge verschwunden ist. Ich hab mir gedacht, es wär an der Zeit, wieder zur Arbeit zu gehen.«
»Mit den Kindern im Schlepptau?« Ihr kam ein weiterer Gedanke. »Hat Ihr Arzt …« Die Tüte mit den Chips begann in ihr Handgelenk zu schneiden. »Lassen Sie mich das erst mal loswerden, ja?«
Er folgte ihr den Korridor hinunter in die Souterrainküche.
Sie stellte die Platte mit Sandwiches und die Chips auf die große Kücheninsel. »Im Konferenzraum steht noch Limo. Würden die Kinder gern zu Mittag essen?«
»Wir wollen nicht stören.« Er zeigte mit der Hand in die ungefähre Richtung ihres Oberkörpers. »Sie sollten sich lieber um das Zeug auf Ihrem Hemd kümmern. Das macht Flecken.«
Sie griff nach einem Geschirrtuch und drehte den Kaltwasserhahn auf. »Hat Ihr Arzt Ihnen die Erlaubnis gegeben, wieder zu arbeiten?«
Er grunzte. »Jemand muss es ja tun. Die Räume putzen sich nicht von selber, wissen Sie.«
Sie sah auf. »Weiß Ihre Enkelin, dass Sie hier sind?«
Mr. Hadley trat von einem Fuß auf den anderen. »Solang ich auf die Kinder aufpass und sie nicht vor den Fernseher setz, weil das hat sie gestrichen, weiß ich nicht, wieso das wichtig ist, wo wir sind.«
»Mr. Hadley …«
Er hob den Rucksack hoch und stellte ihn neben die Spüle. »Den hab ich in meiner Kammer gefunden. Ich schätze, der gehört dem Mexikaner.«
Jetzt erkannte sie ihn. Amado hatte den Rucksack getragen, als sie ihn von der Farm der McGeochs abgeholt hatte. Vor dem Chorabend. Bevor die Christies in ihre Kirche eingedrungen waren. Ehe Russ …
Sie warf das Geschirrtuch in die Spüle. Die Mayo war weg, aber nun zierte ein riesiger Fettfleck ihre Brust. »Ich nehme an, dass die Polizei ihn gern sehen würde.«
»Das denk ich mir auch.« Mr. Hadley zog den Reißverschluss auf und hielt ihr den weit geöffneten Rucksack entgegen.
»Heilige …« Sie atmete tief durch. Darin lag ein monströser 357er Revolver zwischen dicken Geldbündeln.
»Ach du lieber Gott.« Sie erinnerte sich an den nervösen Blick des jungen Latino. Die Art, wie er an seinem schütteren Schnurrbart gezupft hatte, wenn sie ihn direkt ansprach. »Worauf hast du dich nur eingelassen?«
III
Er wünschte, er hätte die Waffe behalten. Ihr Gewicht im Bund seiner Jeans, wo es blaue Flecken erzeugte, während er auf dem Weg zur Farm der Christies bergauf und bergab wanderte, wäre ein gutes Gefühl gewesen. Es war eine Form der Konversation, die diese hijos de putas verstehen konnten.
Amado blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Luft war klebrig vom Geruch der Kiefern. Nur eine Stunde nach Sonnenaufgang, und unter dem Walddach herrschte drückende Hitze. Raul hielt ihn wegen seiner Geschichten über kühle Morgen in den Bergen und Abende, an denen man eine Jacke tragen musste, für einen Lügner. Aber so war es in den letzten Jahren gewesen. Dieses Jahr war anders.
Er wünschte, er wäre niemals hierher zurückgekehrt.
Er wusste nicht genau, wie er sie dazu bringen sollte, zuzugeben, was sie mit Octavio gemacht hatten. Er wusste nicht einmal, ob sie da waren. Die Polizistin, die ihnen gestern Abend Fragen gestellt hatte, während ihr Partner die Baracke, die Scheune und die Nebengebäude durchsuchte, hatte gesagt, dass andere Polizisten zur selben Zeit die Christies befragten. Sie hatte gesagt, sie sollten sich melden, falls Amado auftauchte. Alle sahen stur geradeaus und taten so, als wüssten sie nicht, dass der echte Amado Namen und Papiere mit seinem Bruder getauscht hatte. Sie hatte ihnen gesagt, sie sollten auf alles Verdächtige achten und sich stets zu zweit bewegen. Sie wusste nicht viel über ihre tägliche Arbeit.
In seiner Tasche trug er zwei Taschenmesser. Das Werkzeug des Farmers. Scharf genug, um damit verheddertes Zaumzeug zu durchtrennen, stabil genug, um Steine aus einem Huf zu kratzen. Er war Farmer, kein Kämpfer, aber er wusste, dass er den Christies so üble Schmerzen zufügen konnte, dass sie den Mund aufmachten. Wenn sie ihn nicht vorher umbrachten.
Er marschierte die letzte Anhöhe hinauf – derselbe Streifen Wald, durch den er vor einem Monat auf der Flucht getaumelt war, die Waffe in der Hand und Isobels Kuss auf den Lippen, das Geräusch der Schläge, die sie erlitt, in den Ohren. Er fragte sich zum hundertsten Mal, ob er ihren Bruder hätte aufhalten und sie mitnehmen sollen. Um sie zu retten. Um Octavio aus dem dummen Durcheinander zu retten, das er angerichtet hatte. Eine einzige Lüge, um Octavio vor der Abschiebung zu bewahren. Und jetzt mochte sie das Todesurteil für den Jungen bedeuten.
Hatten sie ihn verfolgt, weil sie glaubten, er wäre der dunkelhäutige Mann, der ihre Schwester küsste? Oder war Isobel zusammengebrochen und hatte ihnen verraten, dass ein Mann namens Amado die Waffe und das Geld hatte? Eine dumme, tödliche Verwechslung, die Octavio in Gefahr brachte. So oder so, es war seine Schuld. Weil er den Verstand verloren und geglaubt hatte, er könnte mit einer Amerikanerin zusammen sein. Weil er versprochen hatte, ihre Geheimnisse zu bewahren, obwohl er sie nicht einmal kannte. Weil er Amado einen Rucksack anvertraut hatte. Er hatte das Geld gezählt. Es war mehr als genug, um jemanden zum Mörder zu machen. Und er hatte es dem Jungen übergeben, ohne ihn zu warnen, ohne ihn zu mehr als Verschwiegenheit zu ermahnen. Was konnte sicherer sein als eine Kirche?
Was hatte er sich nur dabei gedacht?
Vor sich hörte er ein Geräusch. Er erstarrte. Ein klingeling wie Glöckchen. Das Scharren von Eichhörnchen, die einen Baum hinaufsausten. Blöken. Er entspannte sich, bis ihm wieder einfiel, dass Isobels Familie Schafe züchtete. Falls sie auf der alten Waldlichtung grasten, wäre dann einer der Brüder dort? Er griff in seine Tasche und umklammerte den Griff des Taschenmessers. Mit einem Mann konnte er es aufnehmen und hatte eine Chance, zu gewinnen. Natürlich nur, wenn kein Hund dabei war.
Wie ein Wolf schlich er zum Rand der Lichtung. Vielleicht zehn oder zwanzig Schafe weideten dort; ihre Wolle war nach der Frühjahrsschur halb nachgewachsen, und sie trugen Glocken, damit man sie leichter wiederfand. Kein Schäfer. Kein Hund, so weit er sehen konnte, obwohl das nichts hieß, der konnte auch im Schatten der Scheune ein Nickerchen halten.
Neben der Heuluke hing ein Fuchsschädel. Starrte ihn an. Er wäre fast umgedreht, aber er war ein Mann, und kein Mann floh vor einer Frau. Er löste sich aus dem Unterholz und lief zur Scheune.
Vielleicht wusste sie etwas über Octavio. Vielleicht wollte sie die Waffe und das Geld zurückhaben. Vielleicht brauchte sie erneut seine Hilfe. Vielleicht hatte sie in den stillen Momenten des Tages an ihn gedacht, war beim Anblick des Heus im Kuhstall stehen geblieben, hatte geträumt, wenn die Männer von ihren Frauen daheim sprachen …
Er riss sich zusammen. Der Messergriff in seiner Hand war glitschig. Er sollte sich selbst in den Schenkel stechen. Vielleicht würde ihm das helfen, sich zu konzentrieren. Er erreichte den Eingang. Schleppte sich über die Schwelle. Hörte ihr Flüstern. »Amado?«
Einen Sekundenbruchteil befürchtete er eine Falle, aber dann eilte sie über die Ballen auf ihn zu. Ihr Haar flog hinter ihr her wie eine Fahne. Sie warf sich ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als sie unbeholfen zu umarmen. Dann verlor er das Gleichgewicht, und sie beide fielen übereinander ins Heu.
Sie redete, ein Strom englischer Wörter ergoss sich wie kabbelige See über ihn, und er konnte Erleichterung und Furcht und die Bitte um Verzeihung in ihrer Stimme erkennen. Er rollte sich auf die Seite, ließ sie hinuntergleiten, und diese Bewegung schien ihr zu Bewusstsein zu bringen, wo sie waren, Brust an Brust, Arm an Arm, die Beine ineinandergeschlungen. Sie sagte etwas, rasch und leise, und krabbelte außer Reichweite. Als sie sich wieder umdrehte, waren ihre Wangen blassrosa.
Er setzte sich auf. Ordnete seine Gedanken. Er durfte nicht zulassen, dass Gefühle sein Urteil beeinträchtigten. »Deine Brüder«, sagte er, »Octavio holen.« Er stand auf. Er war nicht größer als sie, aber stark. Sehr stark. »Wo?«
Sie wich zurück. Er kam sich vor wie ein Mistkerl, aber er funkelt sie weiter drohend an. »Wo?«
»Octavio?« Eine weitere Flut von englischen Wörtern, Fragen diesmal.
Er hob die Hand. E wollte nicht, dass sie erfuhr, in welcher Beziehung er und Octavio zueinander standen. Alles, was sie wusste, konnten ihre Brüder aus ihr herausprügeln. »Octavio arbeitet« – er malte ein Kreuz in die Luft – »la iglesia.«
»Die Kirche?«
»Die Kirche, ja. Deine Brüder ihn holen.«
»Mi Familia«, sagte sie, »hat ihn nicht. Nein.« Sie spreizte die Hände. »Ich frage. Sie haben ihn nicht. Yo promesa.«
»Du versprechen? Du versprechen?« Er spuckte neben seine Arbeitsstiefel ins Heu. »Deine Brüder lügen.«
»Nein.« Sie hätte beleidigt oder wütend sein sollen, aber stattdessen wurde ihr Gesicht weich. Sie trat auf ihn zu, zögernd, als könnte er sie packen und schlagen wie dieser perverse Rohling von Bruder.
Heilige Mutter Gottes. Was für ein Mann war er eigentlich, dass er eine Frau einschüchterte, die gelernt hatte, sich vor einer erhobenen Hand zu fürchten? Er streckte die Arme nach ihr aus. »Isobel«, sagte er. Sie kam zu ihm, ohne Zögern jetzt, und er hielt sie wie ein Kind, und sein Ärger und Elend verebbten, während er murmelte: »Lo siento. Es tut mir leid. Lo siento.«
Nach kurzer Zeit schob sie ihn weg. Er ließ sie sofort los. Sie stand ihm gegenüber, die Lippen fest zusammengepresst, die Augenbrauen gerunzelt, der Ausdruck eines Menschen, der versucht, einen schwierigen Sachverhalt in einfachen, verständlichen Worten auszudrücken. »La policia fragt nach …« Sie runzelte die Stirn. »Octavio?«
»Octavio.«
»La policia fragt meine Brüder.« Mit in die Hüften gestemmten Armen imitierte sie einen kräftigen Mann, dann hielt sie einen Arm nach vorn, eine Aufforderung zum Stehenbleiben. »Nicht hier«, sagte sie mit schroffer Stimme. »Kein Octavio.« Dann sprach sie wieder normal »Ich frage meine Brüder. Sie …« Sie hielt sich den Bauch und tat, als würde sie lachen. »Ha-ha-ha!«
»Risa.«
»¿Risa? Lachen?« Sie nickte. »Meine Brüder …« Wieder spielte sie den großen Mann, mit tiefer Stimme. »El hombre de la iglesia? Pfft.« Sie machte eine ausladende Was juckt’s mich-Geste. Dann verwandelte sie sich zurück. »Ich frage, me promesa? Meine Brüder …« Wieder verstellte sie ihre Stimme. »Ja. Promesa.«
Sie beendete ihre Vorstellung. »Lo siento, Amado.« Er hörte, dass sie die Wahrheit sagte. Eine vorsichtige Stimme in seinem Inneren flüsterte: Sie könnte eine brillante Lügnerin sein, aber eines hatte er auf seinen Reisen durch das fremde Land gelernt: Manchmal musste man einfach vertrauen. Und glauben. Er wollte Isobel glauben. Er wollte es unbedingt.
Er griff nach ihrer Hand. Der Preis für den Glauben war der Verlust seiner Hoffnung, Octavio zu finden. Denn wenn die Christies ihn nicht hatten, wer dann? Wie sollte er ihn bloß finden?
Er ließ sich von ihr zu der Stelle ziehen, wo die alte Steppdecke ausgebreitet auf dem Heu lag. Er setzte sich und ließ sich nach hinten fallen, war die Furcht leid, das Misstrauen, die Wut, war den patron leid, der auf ihn baute, die Männer, die zu ihm aufsahen, und die Bürde, die starre, unveränderliche Bürde der Verantwortung für seinen Bruder in diesem Land, für seine Familie in der Heimat.
Isobel hockte sich neben ihn, anscheinend unsicher, wie erwünscht sie war. Er breitete seine Arme aus, und einen Moment später lag sie an ihn gekuschelt neben ihm. Ihre Hand ruhte auf seiner Brust. Er ließ seine Hand durch ihre Haare gleiten. Er sprach über seine Eltern. Über das Haus seiner Familie. Über seine Angst, dass er der Grund für Octavios Verschwinden war. Er öffnete den Mund, ließ alle traurigen, verrückten, schlimmen Dinge in seinem Kopf hinaus, benannte sie und ließ sie – wie Schwalben in die Nester über ihren Köpfen – in die Schatten fliegen. Schließlich blickte er sie an, sah in ihre ernsten, geduldigen Augen und gestand seine närrischen Gefühle.
Sie lag neben ihm und streichelte seine Brust, bis sein Wortstrom verebbte.
»Amado.« Ihre Lippen waren ein wenig spröde. Er fragte sich, wie sie sich anfühlen mochten. »Te amo.«
Er hob den Blick und sah ihr in die Augen. »Isobel?« Das hatte er sie nicht gelehrt. Weißt du, was das bedeutet?
Sie setzte sich auf. Begann, ihre Bluse aufzuknöpfen. Ihre Finger zitterten, aber sie wandte den Blick nicht von ihm ab. Er rührte sich nicht, voller Angst, eine Bewegung könnte sie erschrecken. Sie glauben machen, er wolle sie nicht.
Die Bluse glitt herunter. Sie hakte ihren BH auf. Ihre Haut schimmerte im dämmrigen Licht des Heubodens. Sie nahm seine Hand, legte sie auf ihre Brust.
Mittlerweile zitterte er. Es war verrückt. Er kannte diese Frau nicht. Wenn sie ihn zu Hause vorstellte, würden ihre Brüder ihn umbringen. Wenn er sie zu Hause vorstellte, würde seine Mutter weinen. Sie sprachen nicht einmal dieselbe Sprache. Wie konnte er eine Frau lieben, die ihn nicht verstehen würde, wenn er ihr einen Antrag machte?
»Te amo«, wiederholte sie ängstlich, aber entschlossen. »¿Tu?«
Er hätte ihrer nackten Haut widerstehen können, doch ihr nacktes Vertrauen brachte ihn zu Fall. Er gab auf, zog sie an sich, legte sie auf die Decke und strich ihr das Haar aus dem Gesicht, während er flüsterte: »Querida, mi Isobel, mi corazón. Ja. Ich liebe dich auch.«
IV
»Zehntausend Dollar«, sagte der Chief. Er stopfte das letzte Bündel in eine Beweismitteltüte und versiegelte sie. Dann setzte er Unterschrift und Datum auf die Klappe.
»Sieht aus, als bekäme er wesentlich mehr Kohle fürs Putzen als ich«, bemerkte Granddad.
Hadley warf dem alten Mann einen warnenden Blick zu. Als Clare die neueste Entwicklung im Fall Esfuentes meldete, hatte Hadley gerade beim Chief im Wagen gesessen. Sie war sehr überrascht gewesen, als sie erfuhr, dass ihr Großvater wieder zur Arbeit in St. Alban’s erschienen war. Mit den Kindern.
Sie sah flüchtig zur anderen Seite der Kücheninsel, wo Genny und Hudson auf hohen Hockern saßen und sich durch Sandwiches aßen, als hätten sie seit gestern hungern müssen. Hatte Granddad vergessen, ihnen Frühstück zu machen? Sie beobachtete ihn, als er zum Kühlschrank ging. Wenn er vergesslich wurde, wenn er nicht mehr auf die Kinder aufpassen konnte, war sie wirklich und wahrhaftig in den Arsch gekniffen.
Der Chief blickte über die Kücheninsel hinweg zu Reverend Clare, die an der Spüle lehnte. »Du weißt, was das bedeutet, oder?«
Sie senkte den Blick auf die Arbeitsfläche. Nickte. »Er wäre niemals freiwillig ohne das Geld verschwunden.«
»Ich weiß.« Sie zupfte an ihrer schwarzen Bluse herum, die aus unerfindlichen Gründen feucht und voller Fettflecken war. »Glaubst du, wer immer ihn … entführt hat … war hinter dem Geld her?« Endlich hob sie den Kopf und sah ihn direkt an.
»Falls es so war, hat er nicht verraten, wo es ist. Seit du die Alarmanlage am Sonntag eingeschaltet hast, ist nichts passiert.«
»Dann lebt er vielleicht noch.«
»Vielleicht.« Sein Versuch, hoffnungsvoll zu klingen, scheiterte. Was auch immer Esfuentes zugestoßen war, Hadley begriff einfach nicht, warum sein Kidnapper nicht nach dem Geld gesucht hatte. Falls der Täter hinter dem Geld her gewesen wäre, hätte er den Jungen von Anfang an unter Druck gesetzt. Und falls er das war, was der Chief nicht in Betracht ziehen wollte – ein Serienmörder, der es auf junge Latinos abgesehen hatte –, warum hätte Esfuentes ihm in der Hoffnung, ihn abzulenken, nicht von dem Geld erzählen sollen? »Tun Sie mir nicht weh, ich gebe Ihnen zehntausend Dollar«, wäre so ziemlich das Erste gewesen, was sie gesagt hätte.
Über den Lärm hinweg, den ihre Kinder beim Essen veranstalteten – sie konnte sich nicht beherrschen und griff über den Tisch, um Genny den Mund abzuwischen –, registrierte sie Van Alstynes Schweigen. Sie warf ihm einen Blick zu. Er und der Reverend starrten einander über die breite Fläche aus Granit und Edelstahl an. Sie hatte gehört, dass sie bei dem Wohltätigkeitsball aneinandergeklebt hatten. Das hätte man nicht vermutet, wenn man sie jetzt so sah, zugeknöpft bis zum Hals, in Schwarz und Braun. Hadley litt nicht unter Hemmungen – wenn man scharf aufeinander war, warum dann nicht zusammen in die Kiste springen und es hinter sich bringen? –, und in diesem Moment war sie dankbar dafür. Wenn Van Alstyne mit der Pastorin beschäftigt war, würde er sich vielleicht nicht fragen, wie gut Hadley ihre Arbeit als Polizistin erledigte, wenn sie nicht einmal wusste, wo ihre Kinder steckten.
Reverend Clare schlang die Arme um sich. Die Hände des Chiefs zuckten. Er trat von einem Fuß auf den anderen und zwinkerte, als wäre ihm gerade erst aufgefallen, dass Hadley anwesend war. »Officer Knox, haben Sie noch etwas entdeckt?«
»Granddad sagt, dass alles, was noch hier ist, ihm gehört.« Sie hob die Stimme. »Einschließlich zwei Schachteln Zigaretten.«
Granddad schlug die Kühlschranktür zu und brachte Genny und Hudson zwei Dosen Limo. »Kann ich doch nicht einfach wegschmeißen. Weißt du, was eine Schachtel heutzutage kostet?«
Der Mund des Chiefs zuckte. »War in der, äh, Küsterkammer irgendetwas nicht an Ort und Stelle, Mr. Hadley? So als hätte man es verschoben, um etwas anderes zu verbergen?«
Der Hausmeister schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Und der Rucksack war auch nicht versteckt. Hing einfach am Haken, wo meine Jacke und meine Regensachen sind.«
Der Chief musterte Reverend Clare.
Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung«, beantwortete sie die Frage, die er nicht laut gestellt hatte. »Ich habe nie erlebt, dass er etwas getan hätte oder irgendwo gewesen wäre, was diese zehntausend Dollar erklären könnte. Er hat hier gearbeitet und ein paarmal mit einem unserer Freiwilligen die spanischsprachige Messe im Sacred Heart in Lake George besucht. Das war alles. Elizabeth hat ihn gelegentlich zur Farm deiner Schwester gefahren, damit er sich mit den Männern treffen konnte, aber sie hat ihn von dort immer direkt wieder zur Kirche oder zum Pfarrhaus gebracht.«
»Du hast gesagt, er hätte den Rucksack von Janets Farm mitgebracht, und zwar am Morgen des Tages, an dem ihr überfallen wurdet.«
»Stimmt. Was drin war, weiß ich aber nicht.« Stirnrunzelnd betrachtete sie den Rucksack.
»Bei so viel Geld denke ich an Drogen.« Er lehnte sich gegen den Tresen, auf dem sich die Geldbündel stapelten wie eine Barauszahlung des Teufels. »Aber ich würde gutes Geld wetten, dass Esfuentes nichts mit dem Handel zu tun hat. Also stellt sich die Frage, wem dieses Geld gehört.«
Die Pastorin wurde blass. »O Gott, glaubst du, es gehört jemandem hier in der Kirche?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich halte zwar alles für möglich, aber angesichts der Tatsache, dass Mexikaner den Drogenhandel hier oben kontrollieren und Esfuentes erst vor drei oder vier Monaten aus Mexiko eingereist ist, konzentriere ich mich darauf.«
»Was, wenn das Geld gar nichts mit dem Verkauf von Dope zu tun hat?« Hadley stand auf, entfernte sich von ihren Kindern. »Was, wenn es aus … aus …« Die einzige andere ihr bekannte Industrie, in der solche Mengen an anonymem Geld zirkulierten, war die Pornoindustrie. Die würde sie auf keinen Fall zur Sprache bringen. »Von was anderem stammt?«
»Zum Beispiel?«
»Vielleicht gehört das Geld den Männern, die nach Norden gekommen sind, und Amado hat es für sie aufbewahrt«, schlug Reverend Clare vor. »Vielleicht haben sie es ihm gegeben, weil sie dachten, so sei es sicherer. Schwester Lucia hat mir erzählt, dass viele der Wanderarbeiter ihr Geld nicht zur Bank bringen.«
»Gute Idee, aber die Waffe erklärt das nicht.«
Enttäuschung malte sich auf ihrem Gesicht. »Oh. Stimmt.«
»Da wir gerade darüber sprechen. Wir müssen zurück zum Revier und die Labortechniker darauf ansetzen.« Er hob die Beweisbeutel hoch und schob sie in den Rucksack. Er schaute hinüber zum Ende der Kücheninsel, wo Genny und Hudson mittlerweile Geburtstagskuchen in sich hineinstopften. »Officer Knox, brauchen Sie eine Pause, um Ihre Kinder nach Hause zu fahren?«
Sie konnte spüren, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. »Nein, Sir. Mein Großvater wird sich um sie kümmern.«
Er sah Clare an. »In der Kirche?«
»Das ist kein Problem, Hadley.« Clare legte Hadley die Hand auf den Arm. »Schade nur, dass sie …« Sie warf einen Blick auf den Rucksack und biss sich auf die Lippe.
Dass sie die Waffe und das Drogengeld gesehen haben?
»Schade nur, dass sie an so einem schönen Tag drinnen sein müssen.«
Gut gerettet.
»Vermutlich wissen Sie das nicht, weil Sie neu in der Stadt sind, aber Gail Jones, unsere Leiterin der Jugendarbeit, bietet ein wunderbares Ferienlager für die Gemeinde von Millers Kill an. Sieben Wochen im Juli und August. Und sehr günstig.«
Achthundert Dollar für zwei Kinder. Der Reverend hatte eine andere Vorstellung von günstig als sie.
»Hab ich ihr schon erzählt«, warf Granddad ein. »Wollte nichts davon hören. Vielleicht hört sie ja auf Sie, Father.«
In Reverend Clares Blick dämmerte Erkenntnis. Sie trat näher zu Hadley, wobei sie dem Chief den Rücken zukehrte und so die beiden Männer ausschloss. »Hadley, haben Sie schon mal von der Priesterkasse gehört?« Sie sprach leise, aber Hadley konnte sehen, wie Van Alstyne die Ohren spitzte. »Das ist frei verfügbares Geld, das nicht zum Budget gehört. Ich kann es so einsetzen, wie ich es für notwendig halte. Fragen werden nicht gestellt. Es reicht allemal, um das Sommerferienlager für zwei Kinder zu bezahlen.«
»Danke«, antwortete Hadley verkrampft. »Aber wir kommen zurecht.« Das war’s. Sie würde sich in dieser Kirche nie wieder blicken lassen können. Sie riss sich vom mitleidigen, verständnisvollen, unerträglichen Blick der Priesterin los. »Ich bin fertig, wenn Sie es sind«, sagte sie zum Chief.
Gott sei Dank nickte Van Alstyne einfach. »Okay.« Er schulterte den Rucksack, ehe er sich noch einmal umdrehte. »Clare«, sagte er.
Die Pastorin nickte.
»Verschließ immer die Türen, und schalt die Alarmanlage ein. Hier und in deinem Haus. In den nächsten Tagen lasse ich Streifenwagen bei dir patrouillieren, also wundere dich nicht, wenn du andauernd Polizeiautos siehst.«
Sie hob das Kinn. »Kann ich auch mit dir persönlich rechnen?«
Hadley, die gerade Genny und Hudson umarmte, konnte das Gesicht des Chiefs nicht sehen, aber sein Ton brachte sie auf den Gedanken, dass es um mehr ging als Polizeiangelegenheiten.
»Aber ja«, sagte er. »Davon kannst du ausgehen.«
V
Hadley hatte noch etwas über Polizeiarbeit gelernt: Sie war nicht im Geringsten wie im Fernsehen. Zum einen sahen die Uniformen an ihr nicht halb so gut aus wie an den Schauspielerinnen. Sie hegte den Verdacht, dass sie maßgeschneidert waren und vermutlich aus höherwertigerem Material als unzerstörbarem Polyester bestanden. Zum anderen führte das Auffinden von Geld und einer Waffe keineswegs umgehend zu neuen Ermittlungsansätzen. Stattdessen warteten und warteten und warteten sie auf den Befund aus dem Ballistiklabor.
In der Zwischenzeit fuhr sie mit dem Chief oder Eric McCrea Streife, kurvte mit ihrer Schrottlaube zum Grundkurs nach Albany und arbeitete am vierten Juli den ganzen Tag. Sie ging einkaufen und schnitt Genny die Haare und behielt besorgt Grandpa im Auge, der wieder rauchte, wenn er glaubte, sie bekäme es nicht mit, und seine Medikamente nur nahm, wenn sie sie ihm direkt in die Hand drückte.
»Mir geht’s prima«, knurrte er dann, obwohl er bleich und verschwitzt aussah. Er wollte nichts davon hören, dass sie das Rasenmähen übernahm, und sie schaffte es nur, indem sie ihn und die Kinder sonntags zur Messe schickte und selbst zu Hause blieb. Und sogar dann log sie noch und behauptete, einer der Nachbarsjungen hätte die Aufgabe für ein paar Dollar übernommen. Auf gewisse Weise war das Zusammenleben mit Granddad noch anstrengender als mit ihrem Ex-Mann, aber immerhin musste sie sich bei Granddad keine Sorgen um Drogen oder Geschlechtskrankheiten machen.
Bei der Einsatzbesprechung am Montagmorgen war sie mit den Gedanken noch halb zu Hause, fragte sich, was die Kinder trieben und wie Granddad zurechtkam. Hätte Flynn sie nicht angestupst, hätte sie ihren Notizblock vergessen.
»Als Erstes die schlechten Nachrichten«, sagte der Chief, während er sich auf den Tisch stützte. »Das ist der Post Star von heute.« Er hielt das Titelblatt hoch. Die Schlagzeile lautete: ANGST WÄCHST! SERIENMORDE IMMER NOCH NICHT AUFGEKLÄRT! Blinzelnd entzifferte Hadley den Untertitel: Hiesige Geschäftsleute befürchten Tourismus-Rückgang.
Paul Urquhart schnaubte. »Meiner Ansicht nach können wir ganz gut auf ein paar dieser Billigheimer verzichten. Die besetzen doch nur sämtliche Parkplätze, und man braucht zehn Minuten, um die Main Street hochzufahren.«
»Weil sie in unseren Geschäften einkaufen und ihr Geld in unsere Wirtschaft pumpen.« Der Chief faltete die Zeitung und legte sie auf den Tisch. »Am vierten Juli waren dieses Jahr deutlich weniger Besucher hier. Die Geschäftsleute machen sich zu Recht Sorgen.«
»Heißt das, dass der Stadtrat Ihnen auf den Pelz rückt, Chief?«, fragte Noble Entwhistle.
»Das lass mal meine Sorge sein. Ihr Übrigen müsst euch darauf vorbereiten, weitere Fragen nach den Ermittlungen zu beantworten. Die offizielle Sprachregelung lautet: Wir machen Fortschritte, die Spuren sind vielversprechend, und es gibt keinen Anlass zur Furcht.«
»Das wäre überzeugender, wenn wir wüssten, ob Amado Esfuentes entführt wurde oder nicht«, warf Eric McCrea ein.
»Was uns zu den guten Nachrichten führt. Wir haben den ballistischen Befund der Waffe, die in Esfuentes’ Rucksack entdeckt wurde.«
»Du machst Witze«, frotzelte Lyle MacAuley, der an der Tafel stand. »In weniger als zwei Wochen? Mit was hast du die geschmiert?«
Der Chief grinste. »Wie Noble ganz richtig vermutet, haben Bürgermeister und Stadtrat mich zusammengeschissen. Woraufhin ich ihnen nahegelegt habe, dass es wesentlich sinnvoller wäre, unsere Abgeordneten und Repräsentanten zusammenzuscheißen. Soweit ich weiß, wurden daraufhin einige Telefonate geführt.«
»Ha! Endlich! Unsere Steuergelder bei der Arbeit.«
Der Chief zog einen Stapel Blätter aus einem Ordner und reichte ihn Flynn, der zwei für sich und Hadley nahm und ihn dann zurückgab. »Hier sind eure Kopien. Bei der Waffe handelte es sich um eine Taurus 357er Magnum, die bei keinem unserer Morde verwendet wurde. Wir können sie ausschließen, weil es keine Zweiundzwanziger ist. Allerdings sagen die Labortechniker, dass es sehr wohl eine 357er gewesen sein kann, mit der im April auf Schwester Lucias Wagen geschossen wurde.« Er nickte Hadley und Flynn zu. »Die Sondereinheit zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens hat uns mitgeteilt, dass die 357er Taurus bei verschiedenen Banden in New York äußerst begehrt ist.«
»Mexikaner?«, fragte MacAuley.
»Genau«, bestätigte der Chief. Er blätterte weiter. »Die Fingerabdrücke, die in Reverend Clares Haus gesichert wurden, gehören Amado Esfuentes. Es wurden mehrere gute Abdrücke von einer zweiten, unbekannten Person am Kolben entdeckt und von einer dritten Person auf der Munition. Diese Abdrücke finden sich sonst nirgends auf der Waffe, und die der zweiten Person nicht auf den Patronen.«
MacAuley kritzelte die Informationen auf die Tafel. »Person eins hat als Letzter geladen, reicht sie Person zwei, die sie an unseren vermissten Jungen weitergibt.«
»So denke ich mir das auch«, stimmte der Chief zu.
Hadley sah sich um. Niemand kauerte auf der Stuhlkante und wartete begierig darauf, die Frage zu stellen, die in ihrem Verstand kreiste. Sie seufzte. »Chief, warum ist die Waffe nicht abgewischt worden? Falls sie etwas mit dem Geld zu tun hat, von dem wir annehmen, dass es aus Drogengeschäften stammt, reden wir doch über Professionelle, oder? Warum haben sie nicht einmal die grundlegendste Vorsichtsmaßnahme ergriffen und die Fingerabdrücke entfernt?«
»Sie sind dumm. Oder dreist«, meinte Eric McCrea.
»Oder Amateure«, sagte MacAuley. Er ließ den Stift sinken und drehte sich zum Chief um. »Dir hat die Theorie vom Serienmörder nie gefallen.«
»Verdammt richtig.«
»Was, wenn wir es mit den Abfallprodukten eines Bandenkriegs zu tun haben? Wenn eine Gruppe von Arbeitern aus Mexiko festgestellt hat, dass der Drogenhandel wesentlich profitabler ist, als Kühe zu melken? Vielleicht haben sie in ihrer Heimat Verbindungen, Verwandte, die in Mittelamerika bereits mit dem Handel zu tun haben?«
»Oder ihn hier aufziehen wollen«, sagte Flynn. »Es gibt immer Farmer, die zwischen dem Mais andere Pflanzen anbauen, oder Typen in den Bergen mit kleinen Gewächshäusern.«
Der Chief schüttelte den Kopf. »Der private Anbau hier oben ist nur ein kleines Nebengeschäft. Für größere Anpflanzungen ist das Wetter zu rauh, es sei denn, man hat Gewächshäuser, und die sind verdammt schwer zu verbergen.« Er wandte sich direkt an seinen Deputy. »Was ist mit dem Vertrieb? Wenn jemand es mit den großen Jungs aufnehmen will, muss er hier oben Vertriebsleute haben. Die Typen verkaufen nur en gros. Die CADEA glaubt, dass die verschiedenen Gangs, die den Handel kontrollieren, ihre Netzwerke jahrelang aufgebaut haben. Die kann man nicht über Nacht ersetzen, egal, wie viele Verwandte den Stoff in Guadalajara anbauen.«
MacAuley machte eine Handbewegung, als werfe er eine neue Karte ins Spiel. »Der Mann auf der Straße kauft von dem, der das Produkt hat. Tauscht man den Grossisten aus, passt der Rest der Organisation sich an.«
»Wenn man weiß, wer die Händler sind und wo man sie findet. Wir sind nicht in Brooklyn oder Manhattan. Das hier ist das North Country.« Er zeigt auf die Wandkarte, und alle starrten auf die drei Countys und den staatlichen Wald in der Größe von Massachusetts, die in Pastellfarben die Gipswand zierten. »Wie, zum Teufel, soll man in einem Gebiet dieser Größe die Händler finden? Ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, die man als spanischsprachiger Ausländer in einem der ethnisch homogensten Teile Amerikas sowieso hat.«
Eine lange Pause entstand, in der alle die Karte anstarrten. Hadley dachte daran, wie sie als Zugezogene in einer Stadt, die sie nur von Besuchen kannte, einen Friseur, einen Secondhand-Laden und eine Bäckerei mit Sonderangeboten ausfindig gemacht hatte. Sie hatte herumgefragt. Keine besonders gute Taktik für einen Möchtegern-Drogenboss.
»Vielleicht hat jemand die Seite gewechselt?« Der Chief und MacAuley wandten ihre Aufmerksamkeit Flynn zu, der überrascht schien, laut gesprochen zu haben. »Ich meine, nehmen wir mal an, wir haben einen etablierten Vertrieb«, fuhr er fort. »Das funktioniert ganz ähnlich wie in einer Firma, oder? Die Manager an der Spitze machen viel Geld, die Abteilungsleiter verdienen nicht schlecht, und der Rest lebt von der Hand in den Mund. Dann taucht Konkurrenz auf. Vielleicht beschließt einer vom Fußvolk, dass seine Aufstiegschancen sich verbessern, wenn er sein Wissen mitnimmt und für die Rivalen seines Chefs arbeitet.«
MacAuley schüttelte den Kopf. »Einer vom Fußvolk kennt nur die Leute, die auftauchen und den Stoff abladen. Die großen Zusammenhänge durchschaut er nicht.«
»Aber Kevins Idee ist nicht schlecht.« Der Chief griff nach dem Kaffeebecher, der neben ihm auf dem Tisch stand. »Ein Verräter würde das Szenario wesentlich wahrscheinlicher machen.« Er trank einen großen Schluck, dann saß er da und drehte den Becher in den Händen. »Was nicht passt, sind die Zeitpunkte der Morde. Einer im März, einer vor einem knappen Jahr, und einer noch früher. Falls es sich um einen Bandenkrieg handelt, ist das der langsamste Konflikt der Weltgeschichte.«
MacAuley rieb sich mit zwei Fingern die Lippen und nickte.
»Okay, schick alles, was wir haben, an die Sondereinheit gegen organisiertes Verbrechen. Vielleicht klingelt es ja bei denen.«
»Wird erledigt«, sagte MacAuley.
»Eric, du machst weiter mit den Hintergrundinformationen. Stell fest, ob die CADEA irgendetwas für dich hat.«
»Jep.«
»Alle anderen fahren Streife. Ich habe Duane und Tim für die Radarkontrollen eingeteilt, und ich möchte, dass der Rest von euch äußerst auffällig in der Stadt und Cossayuharie zu sehen ist. Ich will die Gemeinde wissen lassen, dass wir im Dienst sind und über sie wachen.«
»Was ist mit den Wanderarbeitern?«, fragte Urquhart.
Der Chief sah ihn fragend an. »Was soll mit ihnen sein?«
»Tja, wenn wir annehmen, dass einige von ihnen mit Dope dealen, sollten wir dann nicht alle einsacken und ihre Fingerabdrücke nehmen? Und zur Überprüfung nach Mexiko schicken? Dort gibt es doch so eine Art mexikanisches FBI, oder?«
Hadley konnte sehen, wie der Chief sich bemühte, nicht die Augen zu verdrehen. »Ja, gibt es. Es handelt sich um die Agencia Federal de Investigación. Aber nur, weil wir im Dienstzimmer mit Ideen herumspielen, können wir nicht alle Wanderarbeiter verhaften.«
»Ich sehe verdammt nicht ein, warum nicht.« Urquhart verschränkte die Arme.
»Weil Ausländer in den Vereinigten Staaten durch dieselben verfassungsmäßigen Rechte geschützt sind wie der Rest von uns«, erklärte Hadley. »Oberlinksi gegen die Vereinigten Staaten.« Trottel.
Der Chief lächelte sie an. »Freut mich, zu hören, dass Sie an der Akademie aufpassen, Officer Knox.«
Sie spürte, wie sie errötete.
»Jetzt zu etwas Erfreulichem. Ich habe die Mittel des Polizeisportvereins geprüft, und für dieses Jahr ist noch Geld vorhanden.« Der Chief blickte mit ausdruckslosem Gesicht über Hadleys Kopf hinweg. »Da der Verein es sich zur Aufgabe gesetzt hat, Kindern konstruktive Möglichkeiten zu bieten …«
»Du meinst, sie davon abzuhalten, Schnapsläden zu überfallen«, warf MacAuley ein.
»… habe ich beschlossen, das restliche Geld zur Finanzierung der Teilnahme am diesjährigen Ferienlager zu verwenden. Ich habe der Aufnahmeleiterin bereits die Namen von zwei Kindern genannt; wenn einer von euch eine Familie kennt, die davon profitieren könnte, sagt Bescheid, dass sie Gail Jones in ihrem Büro im Rathaus anrufen sollen.« Er sammelte Unterlagen und Kaffeebecher ein und schob sich vom Tisch. »Das ist alles, Leute.«
Hadley blieb reglos sitzen, während Stühle scharrten, Absätze klackten und Gürtel klirrten. Jemand stieß sie an, und sie blickte zu Eric McCrea hoch. »Alles in Ordnung?« Er musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Du siehst ein bisschen fiebrig aus.«
Sie nickte. »Ja«, antwortete sie. »Ich meine, nein.« Sie stand auf und zwang Eric so, Platz zu machen. »Du entschuldigst mich.«
Sie holte den Chief ein, kurz bevor er sein Büro betrat. »Chief«, sagte sie. »Wegen dieser Geschichte mit dem Ferienlager …«
»O ja. Richtig.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Der Treffpunkt ist an der Mittelschule. Wenn Sie sich beeilen, können Sie Ihre Kinder dorthin bringen und in einer Dreiviertelstunde wieder hier sein. Sie können die Mittagspause durcharbeiten, um die Zeit aufzuholen.«
»Sir.« Ihre Stimme klang erstickt. »Das kann ich nicht akzeptieren …«
Er sah zu ihr hinunter. »Officer Knox, dieses Department investiert sehr viel Geld in Ihre Ausbildung. Ich betrachte ein paar hundert Dollar, um diese Investition abzusichern, als gutes Geschäft.«
»Ich komme sehr gut zurecht. Ich brauche keine Almosen.« Jetzt klang sie zickig. Es war seine Schuld. Sie hatte nicht darum gebeten, in diese Situation gebracht zu werden.
Er betrat sein Büro. Winkte sie herein. Schob die Tür halb zu. Senkte die Stimme. »Hören Sie, Knox – Hadley. Als Nobles Mutter anfing, zu seltsamen Zeiten in der Gegend herumzuwandern, hat er Alarmsysteme an ihren Türen angebracht und viermal am Tag nach ihr gesehen. Als Harlenes Ehemann Harold krank wurde und zweimal in der Woche nach Albany zur Behandlung musste, haben wir ihn gefahren. Wir sind keine Versicherung und kein Restaurant. Wir müssen einander unser Leben anvertrauen. Und das bedeutet, dass wir uns gegenseitig um uns kümmern.«
Es klopfte, und der Deputy Chief steckte den Kopf durch die Tür. »He«, sagte er. »Hast du mal einen Moment Zeit?«
Der Chief mustere MacAuley mit einem Gesichtsausdruck, den Hadley nicht deuten konnte. Dann nickte er. »Klar.« Er wandte sich wieder an Hadley. »Dann mal los. Wenn Sie zurück sind, fahren Sie mit mir Streife.«
Hölle. Sie würde wie eine unsoziale Einzelgängerin wirken, wenn sie weiter protestierte. Sie versuchte, sich zu bedanken, aber sie brachte die Worte nicht heraus. Deshalb nickte sie nur ruckartig, ehe sie aus dem Büro flüchtete. Draußen im Flur hörte sie MacAuley fragen: »Was war das denn?«
»Ach, nur ein bisschen Geplauder«, antwortete der Chief. »Was möchtest du von mir?«
Sie zog ab, ehe sie anfangen konnte, Dankbarkeit zu empfinden.
VI
Auf der Fahrt zurück zum Revier dachte Russ, dass er noch nie in seiner Laufbahn so emsig so wenig getan hatte. Er hatte so viele Geschäfte, Galerien, Straßenstände und Tante-Emma-Läden aufgesucht, dass er einen Einkaufsführer hätte schreiben können. Er hatte verängstigte Besitzer besucht, ihren Sorgen gelauscht und ihnen versichert, dass sie und ihre Kunden in Sicherheit und gut geschützt waren. Zwischendurch kümmerten er und Knox sich um wenigstens ein Dutzend Meldungen potenzieller Eindringlinge und verdächtiger Personen, und jede einzelne stellte sich entweder als inhaltslos heraus oder prangerte einen verwirrten Unschuldigen an.
Der letzte Funkspruch des Tages – was für eine Überraschung – betraf Mrs. Bain. Er stöhnte, als Harlene ihm Bericht erstattete. »Sie sagt, sie hätte ein Krachen und Scheppern hinter ihrer Scheune gehört, und sie sagt, dass eine Wagenladung absolut verdächtig wirkender Latinos langsam an ihrem Haus vorbeigefahren ist, um es auszuspionieren.«
Er schaltete auf Senden. »Latinos. Das ist neu. Was ist mit dem Landstreicher?«
»O ja, der Landstreicher ist zurück.«
»Okay, kopieren Sie die letzte Meldung, ändern Sie das Datum und setzen Sie die Latinos ein. Oh, und rufen Sie einen der Bains an und stellen Sie fest, ob jemand rüberkommen kann, ja?«
»Wird erledigt. Zentrale Ende.«
Knox sah ihn mit zweifelndem Blick an. »Shirley Bain«, erklärte er, während er den Wagen in Richtung Cossayuharie wendete. »Ihr einziger Sohn lebt in Westchester. Er vergisst gern, dass er mit Mist an den Stiefeln aufgewachsen ist. Was ich ihm verzeihen könnte, aber er vergisst außerdem noch, seine Mutter zu besuchen. Deshalb sichtet sie alle drei oder vier Monate einen Landstreicher. Wir fahren hin, suchen Haus und Hof ab und schreiben einen Bericht, den wir an den Sohn schicken. Der kommt für ein Wochenende runter, damit sie sich sicherer fühlt, und ein paar Monate später tun wir alle wieder dasselbe.«
Mrs. Bain war reizend und voller Reue und noch besorgter als üblich, während sie um die Scheune liefen, vorbei an Beeten mit Taglilien und Rhabarber, der schon lange als Blumenschmuck diente. Russ zeigte auf den in der späten Nachmittagssonne trocknenden Holzstapel, der zum Teil eingestürzt war.
»Oje«, sagte sie. »Es tut mir leid, Russell, ich schätze, ich bin einfach eine alberne alte Frau. Aber ich habe solche Angst, seit den Mexikanern diese furchtbaren Dinge zustoßen. Ich hab schon daran gedacht, mir eine Waffe zu kaufen.«
Russ nutzte den Rückweg zum Haus, um sie davon zu überzeugen, was für eine außerordentlich schlechte Idee das war. Mrs. Bain hatte wie immer gebacken, ehe sie eingetroffen waren, und nun huschte sie in der Küche herum und servierte Schokolade, Schokokekse und Eistee. Wortlos lenkte Russ Knox’ Aufmerksamkeit auf den Haufen neuerer Post Star-Ausgaben im Altpapierkorb und die Stapel von Krimis, die darauf warteten, zurück zur Bücherei gebracht zu werden.
Als die alte Frau herausfand, dass Knox Kinder hatte, geriet sie in Ekstase. Sie bestand darauf, die Eulenkeksdose zu leeren und der jungen Beamtin den gesamten, in eine Papiertüte verpackten Inhalt für zu Hause mitzugeben.
Russ machte sich allmählich Sorgen, dass es mit der Flucht vor dem Abendessen nicht mehr klappen würde, aber dann klopfte es an der Tür, und Geraldine Bain rief: »Shirley? Lass mich rein.«
Mrs. Bain schloss ihrer Schwägerin auf. Mit siebzig Jahren hatte Geraldine das Pensionsalter längst überschritten, doch sie behauptete ihre Stelle in der Post von Millers Kill durch schiere Entschlossenheit, nicht ein Wort des Tratsches zu verpassen, der in der Stadt kursierte.
»Hallo, Russell«, grüßte sie. »Und wen haben wir hier? Ist das nicht Glenn Hadleys Enkelin, von der ich schon so viel gehört habe?« Sie umarmte ihre Schwägerin, während sie Knox scharf im Auge behielt. »Mach dir keine Sorgen, Liebes«, trompetete sie. »Ich schlafe heute Nacht bei dir.« Russ entdeckte den kleinen Koffer auf der Schwelle und sprang hin, um ihn hereinzutragen. Er schleppte ihn in das Gästezimmer im Obergeschoss und überließ Knox Geraldines Verhör.
Sie waren bei wer-war-der-Vater-von-Hudson-und-Geneva-und-warum-war-er-nicht-hier-bei-ihnen angelangt, als Russ die Treppe wieder herunterkam. Er schnappte sich die Plätzchentüte vom Tisch und drückte sie der verstörten Knox in die Hand. »Wir müssen jetzt aufbrechen, meine Damen. Mrs. Bain, Sie rufen an, wenn etwas Sie nervös macht, ja?«
»Haben es eilig, nach St. Alban’s zu kommen, was?« Geraldine zwinkerte ihm schelmisch zu. »Man sagt, Sie hätten dort einen Schatz.«
»Geraldine«, tadelte Mrs. Bain.
»Was? Er kann doch nicht ewig Trauer tragen, so ein gutaussehender Mann wie er.« Geraldine musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Wenn ich nicht alt genug wäre, um Ihre Mutter zu sein, würde ich Reverend Fergusson schon die Stirn bieten.«
Neben ihm produzierte Hadley Knox ein gurgelndes Geräusch. Er beugte sich zu den Damen vor. »Ich weiß nicht, ob Sie sich davon zurückhalten lassen sollten, Geraldine. Sie wissen doch, was man über ältere Frauen sagt.« Dann zwinkerte er ihr zu. Sie brüllte vor Lachen.
Mrs. Bain bedachte ihre Schwägerin mit einem rügenden Blick. »Ach, du und deine Narreteien!« Sie wandte sich ab und sah zu ihm auf. »Russell, Sie geben Warren doch Bescheid, was passiert ist, nicht wahr? Er macht sich immer solche Sorgen um mich.«
»Selbstverständlich.« Er öffnete die Tür.
»Seien Sie artig!« Geraldines Stimme tönte hinter ihm her. »Tun Sie nichts, was ich nicht auch tun würde. Und falls doch, lassen Sie sich nicht erwischen.«
Auf der Fahrt zurück über die Route 17 sah ihn Knox mehrmals von der Seite an, als würde sie ihn gern etwas fragen, traute sich aber nicht. Er nahm an, dass es um ihn und Clare ging, deshalb war er überrascht, als sie fragte: »Finden Sie es nicht irgendwie frustrierend, den ganzen Tag Händchen zu halten und Nerven zu beruhigen?« Er warf ihr einen Blick zu. »Ich meine«, fuhr sie fort, »es ist doch eher Babysitten als Polizeiarbeit.«
»Haben nicht Sie gesagt, ein Polizist zu sein wäre wie Mutter sein?«
»Ach, Mist.« Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Das hab ich, nicht? Ich kann immer noch nicht fassen, dass ich so was bei einem Bewerbungsgespräch gesagt habe.«
»Ach was. Das ist einer der Gründe, warum ich Sie eingestellt habe.« Die Ampel an der Kreuzung vor ihnen sprang auf Rot. Er nahm den Fuß vom Gaspedal. »Manchmal ist es schon ein bisschen frustrierend, stimmt. Hauptsächlich, weil ich gern Fortschritte in diesem Fall erzielen würde und nichts passiert. Aber ich versuche, daran zu denken, dass für die meisten Leute hier Polizeiarbeit genau daraus besteht: Sich vergewissern, dass Mom nicht mit gebrochener Hüfte allein im Haus liegt; Raser in der Nähe von Schulen und Parks anhalten; den Nachbarn auffordern, die Musik leiser zu drehen, damit alle in Frieden miteinander leben können.«
»Wünschen Sie sich jemals, dass es … ich weiß auch nicht … aufregender wäre?«
»Ich war über zwanzig Jahre bei der Militärpolizei. Glauben Sie mir, ich hatte Aufregung genug. Nein, ich habe gewusst, was mich erwartet, als ich in meine Heimatstadt zurückgekehrt bin.« Die Ampel sprang auf Grün, und er rollte auf die Main Street. »Und Sie?«
Sie wirkte überrascht, dann nachdenklich. »Ich weiß nicht. Aber ich wusste auch, was ich wollte.«
Er rechnete mit frische Luft oder einen sicheren Ort, um meine Kinder aufzuziehen oder einen Neuanfang.
Sie schürzte die Lippen. »Anonymität.«
»Oh.« Er holperte mit dem Streifenwagen über die Bordsteinkante auf den Polizei-Parkplatz. »Ich nehme an, dem Rest der Welt erscheint Millers Kill ziemlich anonym.« Er drehte den Schlüssel in der Zündung, und der Motor erstarb. »Aber selbstverständlich kann man in der Stadt nicht mal jemanden zum Tanz auffordern, ohne dass sich alle das Maul zerreißen.«
Als sie ausstiegen, überrollte sie die Hitze, die in Mrs. Bains grasbewachsenem Hof so angenehm und träge gewesen war, wie eine teerverschmierte Dampfmaschine. Er wollte nur noch hinein, ausstempeln und zum Haus seiner Mutter fahren, wo er sich bis auf die Shorts ausziehen und versuchen konnte, im Garten eine Brise zu erwischen.
Clares Haus war bestimmt kühl. Sie betrachtete Klimaanlagen als ihr verfassungsmäßiges Recht. Letzten Sommer hatte er ihr geholfen, eine Fensteranlage einzubauen. Sie hatte bestimmt Eistee – süß, wie man ihn unten im Süden zubereitete – und kaltes Bier. Ein Glas für ihn und eine Flasche für sie. Er könnte es sich in einem ihrer übergroßen Sessel bequem machen, und sie würden reden.
Klar. Reden.
Er wusste schon, dass etwas passiert war, als er den Eingangsbereich betrat. Er konnte das Summen der Gespräche bis in den Flur hören. Eric tauchte grinsend aus dem Dienstraum auf. Er winkte ihnen fröhlich zu. »Ich bin weg. Mein Sohn hat ein Spiel.«
»Was ist los?«, fragte Russ.
Erics Grinsen wurde breiter. »Schauen Sie selbst.«
Russ marschierte hinein, Knox auf den Fersen. Lyle und Kevin beugten sich über den Tisch, die Köpfe dicht nebeneinander, und prüften etwas, das aussah wie ein Rundschreiben. »Was ist das?«, fragte Russ.
Lyle blickte grinsend auf. »Wir haben den ersten John Doe identifiziert. Er heißt Rosario de las Cruces, zuletzt wohnhaft in Prendiepe, Mexiko. Die Agencia Federal de Investigación hat uns einen Arsch voll Informationen über ihn geschickt.« Er winkte Kevin zurück und gab Russ die Unterlagen. »Er gehörte zu den Punta Diablos, die beiderseits der Grenze arbeiten: Dope nach Norden, Waffen nach Süden. Er hat eine Zeitlang gesessen, im Federales de irgendwas; das kannst du selber lesen« – er zeigte mit dem Finger auf die entsprechende Stelle –, »aber offiziell war er nie in den Vereinigten Staaten, was erklärt, warum seine Fingerabdrücke nicht archiviert sind.« Er zog Russ die Schreiben aus den Händen und legte eine Seite nach oben. »Das hier ist der Bericht der Verbrechensbekämpfung über die Punta Diablos; sie gehen davon aus, dass de las Cruces ziemlich weit oben im Management gearbeitet hat, aber nicht ganz an der Spitze. Er ist nicht mal in die Nähe der Ware gekommen – gesessen hat er wegen unerlaubtem Waffenbesitz, Nötigung und Verschleierung von Vermögenswerten.«
»Verschleierung von Vermögenswerten?«
»Geldwäsche.«
Russ spürte eine Welle der Erregung, als die Fakten sich zu ordnen begannen. »Unser Abteilungsleiter?«
»Könnte sein. Aber da er ja nun tot ist, kann er niemandem mehr die Namen und Adressen seiner Vertriebsleute nennen.«
»Es sei denn, er hat die Informationen irgendwo aufgezeichnet.« Er und Lyle lächelten sich voll wölfischer Befriedigung an. »CD«, schlug er vor. »Oder eines dieser kleinen Dinger, die man in den Computer steckt?«
»USB-Stick«, sagte Kevin Flynn.
»Danke, Kevin.«
Lyle schüttelte den Kopf. »Zu einfach zu kopieren. Außerdem ist es schwierig, die Daten wirklich zu löschen. Sie würden etwas nehmen, das man völlig zerstören kann, falls die Feds mal anklopfen.«
»Gutes altes Papier und Stift?«
»Ein Notizheft«, meinte Lyle. »Oder ein Tagebuch oder ein Heft.«
»Als sie Clares Haus verwüstet haben« – etwas von dem angenehmen Gefühl verabschiedete sich –, »haben sie danach gesucht. Wer immer ›sie‹ sind.«
Lyle lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rieb sich mit zwei Fingern die Lippen. »An dem Abend haben sie nichts gefunden. Und es war auch nicht in dem Rucksack mit dem Geld und der Waffe. Demnach hat Esfuentes es entweder nie gehabt, oder er hat es irgendwo anders aufbewahrt.«
»Oder es ist noch immer in der Kirche versteckt«, ergänzte Knox.
Beide drehten sich zu ihr um. Sie trat von einem Fuß auf den anderen und sah aus, als wünschte sie, nie etwas gesagt zu haben. »Dort sind überall Bücher und Notizhefte. Im Hauptbüro. In Reverend Clares Büro. Hölle, im Sonntagsschulzimmer. Amado war beim Putzen überall. Er könnte es zwischen andere Dinge geschoben haben, und niemand hätte es bemerkt.«
Lyle nickte. »Ergibt Sinn.« Er sah Russ an. »Du sagst, sein Leben sei sehr überschaubar gewesen, richtig? Die katholische Kirche in Lake George, Besuche auf der Farm deiner Schwester und St. Alban’s.«
»Richtig.«
»In der katholischen Kirche hat er bestimmt nichts versteckt. Was, wenn er nicht wieder dorthin kam? Dasselbe gilt für die Autos der Freiwilligen.«
»Es ist möglich, dass er etwas in der Arbeiterbaracke versteckt hat.« Was bedeutete, dass dieselbe Truppe, die bei Clare gewesen war, auch die Farm der McGeochs heimsuchen konnte. Er musste Janet warnen, die Mädchen nicht in die Nähe der neuen Farm zu lassen.
»Möglich«, sagte Lyle. »Aber das Geld und die Waffe hat er nicht dort zurückgelassen. Der Ort steht unter Beobachtung, seit wir die Latino-Verbindung geschnallt haben, und dort ist es ruhiger als, na ja, ruhiger als in der Kirche, das ist mal sicher.«
Russ warf Knox einen Blick zu, der Einzigen außer ihm, die Spanisch sprach. »Dann ist es nicht so dringend. Knox, Sie und Kevin können morgen mit einem Durchsuchungsbeschluss hinfahren. Ich rufe vorher an und sage meiner Schwester und ihrem Mann Bescheid.«
Sie nickte. Er erinnerte sich an ihre Kinder. Schaute betont zur Uhr an der Wand. »Okay, Ihre Schicht ist damit beendet. Hören Sie auf, Überstunden zu schieben, und gehen Sie nach Hause.«
Sie nickte, ihre Erleichterung war geradezu greifbar. Sie wandte sich ab.
»Hadley«, sagte Lyle. »Noch etwas wegen de las Cruces.« Sie drehte sich um, ihre Miene halb neugierig, halb besorgt. »Diese Tattoos auf seinen Fingern? Das waren Bandenabzeichen. Was bedeutet, dass der Typ aus dem Hummer …«
»Alejandro Santiago.«
»Genau der. Er und seine Gang haben sich eventuell mit den Diablos verbündet. Die AGTF wusste das nicht.« Sein Grinsen wurde breiter. »Sie haben sich tatsächlich für die Information bedankt.«
Knox starrte ihn an.
»Gute Arbeit«, ergänzte Russ erklärungshalber.
Sie nickte und verschwand durch die Tür des Mannschaftsraums. Sie hörten ihre Schritte den Flur hinunter verklingen.
»Ich werde aus dem Mädchen nicht schlau«, meinte Lyle.
»Frau.« Russ griff nach den Seiten und blätterte zur ersten zurück. »Sie macht sich. Das wird schon.«
»Ich habe zwei Kinder, die älter sind als sie. In meinen Augen macht sie das zum Mädchen.«
»Echt? Dein Jagdgewehr ist älter als Kevin. Das macht ihn noch lange nicht zu einer Remington.«
Kevin erwachte zum Leben. »Sonst noch was, Chief? Soll ich noch mal für Sie nach St. Alban’s fahren?«
»Nein danke, Kevin. Das erledige ich selbst.« Er ignorierte Lyles offensichtliche Belustigung. »Bis morgen.«
Kevin verließ sie mit deutlich größerem Widerstreben, als Hadley gezeigt hatte. Als sie beide allein waren, ließ Russ zu, dass ihn seine Füße zum großen Arbeitstisch trugen. »Schwester Lucias Lieferwagen …« Er verstummte. Schüttelte den Kopf. »Ein Lieferwagen voller mexikanischer Wanderarbeiter wurde im April beschossen.«
Lyle ging zur Tafel und schrieb es auf.
»Irgendwann im März oder April wurde außerdem Rosario de las Cruces in Cossayuharie ermordet.«
»Oder seine Leiche dort abgelegt.«
Russ nickte zustimmend. »Im Mai hatten Hadley und Kevin einen Zusammenstoß mit einem Wagen voller Punta Diablos.«
Lyle kritzelte auf die Tafel.
»Ende Juni wird Amado Esfuentes entführt und seine Wohnung durchsucht.«
»Wenn der Junge zu einer Bande gehörte, fress ich meine Shorts.«
»Darin sind wir uns einig.« Russ tippte mit den Rundschreiben und dem Polizeibericht gegen sein Kinn. »Vielleicht betrachten wir die Sache aus dem falschen Blickwinkel. Was, wenn es kein Machtkampf wäre?«
Lyle zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Mir gefällt die Vorstellung. Sie passt.«
»Sie passt zu de las Cruces. Aber nicht zu Esfuentes. Oder den Schüssen auf den Lieferwagen. Was, wenn wir es mit den Ergebnissen eines Bandenkriegs zu tun haben? Etwas ist passiert. Vielleicht haben die älteren unbekannten Leichen was damit zu tun. Und was wir jetzt erleben, ist die Jagd auf Zeugen.«
Lyle betrachtete einen Moment blinzelnd die Decke. »Möglich.« Er warf einen flüchtigen Blick auf die Tafel. »Ein Zeuge, der Beweise hat. Geld, die 357er Magnum und eventuell diese Liste der Vertriebskanäle.«
»Glaubst du, ich bin auf dem falschen Dampfer? Haben sie bei Clare einfach nur nach Geld gesucht?«
»Nein. Für dich und mich sind zehntausend ein Haufen Schotter, aber wir reden über Männer, die den Stoff en gros importieren. Für die ist das Kleingeld. Der Lohn für den Fahrer.«
»Schweigegeld?«
»Vielleicht. Wie lautet noch mal die Definition eines ehrlichen Politikers?«
Russ lächelte ein wenig. »Jemand, der sich nur von einer Seite kaufen lässt. Ich verstehe.« Er glitt vom Tisch. »Ich fahre rüber nach St. Alban’s. Vielleicht entdecke ich diese mysteriöse Liste, und wir können aufhören, uns im Kreis zu drehen.«
Russ hatte mit der üblichen trägen Zustimmung seines Deputy gerechnet und war verblüfft, als Lyle ihn am Gehen hinderte. »Wir sollten morgen Ben Beagle anrufen. Ihn auf den neuesten Stand bringen und ihm sagen, dass wir Kirche und Pfarrhaus durchsucht, aber nichts gefunden haben.«
»Was? Warum?«
»Darum.« Lyle wirkte todernst. »Wenn die Typen von den Punta Diablos auf die Idee kommen, dass Esfuentes dort etwas versteckt hat, kommen sie selbst rüber.«
VII
»Wonach suchen wir eigentlich?«, erkundigte sich Clare.
»Keine Ahnung.« Russ betrachtete stirnrunzelnd das Bücherregal, das eine Wand ihres Arbeitszimmers einnahm. »Etwas, das nicht das Geringste mit Jesus oder der Episkopalkirche zu tun hat, nehme ich an.«
Sie zog einen der Lindsay-Davis-Krimis aus dem Regal und reichte ihn herüber.
»Oder römischer Geschichte«, ergänzte er. »Klugscheißerin.« Er betrachtete sie mit einer Mischung aus Belustigung und Verzweiflung. Seit seiner Ankunft war er in dieser exzentrischen Stimmung, wie sie es nannte: ruhelos, aufgedreht, gesprächig.
»Es könnte ein Notizbuch sein oder ein Tagebuch oder Heft. Oder einfach nur ein paar zusammengeheftete Blätter.«
»Dann sollten wir im Büro anfangen. Dort steht wesentlich mehr herum als hier.« Sie führte ihn ins Pfarrbüro. Er stöhnte, als er das Wandregal erblickte. Es reichte vom Eingang bis zur Ecke, vom Boden bis zur Decke, und war gefüllt mit Journalen und Büchern, Aktenordnern und Ringheftern.
»Ihr seid eine Kirche. Was, zum Teufel, treibt ihr eigentlich, um so viel Papierkram zu produzieren?«
Sie hätte fast gelacht. »Wir teilen uns die Arbeit. Willst du hier suchen oder in meinem Büro?«
»Ich bleibe hier.«
Sie zog sich zu ihrem eigenen Bücherregal zurück, dankbar für den Abstand zwischen ihnen und gleichzeitig traurig darüber. Hin und wieder rief er eine Frage: »Was ist eine geplante kanonische Änderung? … Wusstest du, dass ihr noch Versammlungsprotokolle von 1932 habt?«, während sie sich durch ihre Regale arbeitete.
Sie hatte sämtliche Bücher herausgezogen und wieder zurückgestellt und dachte soeben darüber nach, wie sinnvoll es war, die Bilderbücher und illustrierten Bibeln im Spielzimmer zu überprüfen, als Russ den Flur entlangrannte, ein Spiralheft in der Hand. Er schlug es auf, um ihr die Einträge zu zeigen: Namen, Daten, Nummern.
»Tut mir leid«, sagte sie und nahm es ihm weg. »Das ist das Ergänzungsheft zum Taufregister.« Sie ging zurück ins Hauptbüro und zog einen ledergebundenen Folianten aus der Regalmitte. »Wir müssen wieder einen kaufen, aber sie sind aberwitzig teuer.« Sie schlug ihn auf. »Siehst du? Name des Getauften, Paten oder Sponsoren, Datum, Alter zum Zeitpunkt der Taufe. Die Initialen des Täufers.« R. H. D.TH. bei dem Eintrag, auf den sie zeigte. »Robert Hames, Doktor der Theologie«, erklärte sie.
Er betrachtete das Heft. Es war identisch eingeteilt, obwohl die Namen ohne das Beispiel des gebundenen Taufregisters wie ein Code wirkten. »C. F. M.TH.«, las sie vor. »Clare Fergusson, Magistra der Theologie.«
»Warum schreibst du nicht einfach deinen Namen? Oder Rev. C. F.?«
»Keine Ahnung. Ich führe zum ersten Mal ein Taufregister. Ich habe es einfach genauso gemacht wie mein Vorgänger.«
Er schnaubte. »Das ist vermutlich der Grund für die Hälfte der Traditionen, auf die ihr Episkopalen so abfahrt. Einfach nachmachen, was der Vorgänger getan hat.«
»Hm. Was nicht besonders beeindruckend klingt, bis man versucht, es anders anzupacken. Wie viele Episkopale braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln?«
»Keine Ahnung? Wie viele?«
»Was? Die Glühbirne wechseln?«
Er lachte, was sie erfreulich fand, denn der Witz war uralt. »Ich habe nichts gefunden«, fuhr sie fort. »Im Spielzimmer steht noch einiges herum. Soll ich dort auch noch nachsehen?«
»Ich schätze schon.« Er stellte den schweren alten Lederfolianten und dann das billige Spiralheft zurück. Er behandelte beide mit derselben Sorgfalt.
»Du schätzt?«
Er räusperte sich. »Ich will nichts übersehen. Aber seien wir mal ehrlich: Dass eine Liste mit Drogenhändlern an einer Stelle versteckt wurde, an der ein Dreijähriger sie vielleicht in ein Kunstprojekt verwandelt, ist nicht besonders wahrscheinlich.« Er trat einen Schritt zurück, um das gesamte Bücherregal noch einmal zu überfliegen, und stieß sie dabei fast um. Er drehte sich um und packte sie an den Schultern. »Das hier war unsere beste Chance. Jede Menge Unterlagen. Es wäre einfach für ihn gewesen, hier etwas dazwischenzuschieben. Hätte deine Sekretärin es zufällig gefunden, hättet ihr es einfach zurückgelegt, wenn es nicht das gewesen wäre, wonach ihr gesucht habt.«
Er hatte recht. Sie sah Amado vor sich, der staubsaugte und Regale und Holzflächen mit einem Staubtuch abwischte. In seine Tasche griff und etwas zwischen die Unterlagen schob. Vor aller Augen und gut sichtbar versteckt. Sie richtete ihren Knoten. Mühte sich, die unaussprechliche Wahrheit in Worte zu fassen. »Es sieht für Amado nicht gut aus, oder? Ich meine, wenn er etwas versteckt hat, das für seinen Entführer wichtig ist.«
Er sah sie an. »Nein, das tut es nicht.«
Sie rieb sich den Arm. Hin und wieder wünschte sie, Russ würde die Dinge für sie rosafarben malen. »Warum ist er nicht einfach zur Polizei gegangen, wenn er etwas Illegales beobachtet hat? Oder zu mir gekommen? Ich hätte ihm helfen können.« Sie betrachtete ihre Hände. Verschränkte sie fest. »Ich hätte ihm geholfen.«
Russ lächelte ein wenig. »Du hast alles getan, was du konntest, Liebling. Du hast ihm einen Job gegeben und ein Dach über dem Kopf, und du hast die Christies grün und blau geprügelt, als sie versucht haben, ihn zu überfallen.«
»Das war Notwehr«, sagte sie. Sie hob die Fäuste, Knöchel nach oben und unten, als hielte sie eine unsichtbare Eichenstange. »Ich wünschte, ich wäre hier gewesen, als wer auch immer hier eingedrungen ist.« Sie sah zu Russ auf. »Wenn ich nur eine Stunde früher nach Hause gekommen wäre. Oder auch nur eine halbe.«
Sie erschrak, als er ihre Hand nahm und mit der seinen umschloss.
»Gott sei Dank, dass du nicht hier warst. Weil ich dich kenne und weiß, dass du versucht hättest zu kämpfen. Und wer immer ihn hat, Clare, ist ein schlechter Mensch. Ich weiß nicht, ob du ihn mit einem Kreuz und einer Kerze hättest vertreiben können.« Er ließ ihre Hand sinken, ohne sie loszulassen. Zog sie näher heran. »Aber wenn es überhaupt jemand könnte …«
»Was machst du da?« Sie klang wie ein Schulmädchen unter der Tribüne, atemlos und naiv.
Er fing ihre andere Hand ein. Bog ihre Arme so mühelos hinter ihren Rücken, dass es schien, als wäre es ihr eigener Einfall, als streckte sie unsichtbare Flügel aus, machte sich bereit zu fliegen. Sie stieß gegen seine Brust.
»Wofür hältst du es denn?« Er beugte seinen Kopf zu ihr herunter.
»Wir« – sie schluckte –, »wir haben nichts entschieden. Wir haben uns auf überhaupt nichts geeinigt.«
Er lachte, ein leiser Klang, den sie erst ein oder zwei Mal gehört hatte. »Clare. Schon drei Tage nach unserer ersten Begegnung war alles entschieden.«
Sie konnte ihn riechen, Salz und Sonne und etwas, das nur ihm eigen war. Ihr war schwindlig. Wissen Sie, wann Sie gefangen sind?, fragte Hardball Wright in ihrem Verstand. Wenn Sie im Kopf die Kontrolle aufgegeben haben. »Russ«, stieß sie hervor. »Ich denke nicht …«
»Gut. Mach weiter mit Nicht-Denken.« Er küsste sie, küsste sie, küsste sie, bis sie sich in eine brennende Kathedrale verwandelte: schmelzendes Blei, zersplitternde Heilige, kein Stein mehr auf dem anderen. Er hob seine Hände, ihre, drückte sie gegen das Bücherregal, schlang seine Finger um ihre und ein Drücken der zarten Hand soll meine Hand beglücken, und die Kanten der Regalbretter bohrten sich in ihre Hände, als sie dort lehnten, seinen Körper gegen sie gepresst, ans Holz genagelt von ihrem eigenen verwegenen Verlangen.
Dann waren seine Hände an ihrem Gesicht, ihrem Kiefer, streichelten durch ihre Haare, zogen die Nadeln heraus, die den Knoten befestigten, glitten über ihren Kragen. »Wie macht man den ab?«, fragte er, seine Stimme wie Dämmerung an ihrem Ohr.
»Hm.« Denken war Schwerstarbeit. »Der wird geknöpft. Im Nacken.«
Sein Knöchel an ihrer Haut, ein Ziehen, und der Kragen löste sich.
»Fertig«, sagte er. Seine Lippen streiften ihren Nacken, und einen Moment blieb ihr buchstäblich die Luft weg, konnte sie nicht atmen, als sie seine Zähne und seine Zunge spürte. Sie bog den Kopf nach hinten, bot ihm die Kehle, während das, was ihr im Moment als Verstandesersatz diente, sich fragte, ob sie es auf dem Sofa in ihrem Arbeitszimmer tun konnten. Dem abgewetzten Sofa. In ihrem Arbeitszimmer. In ihrer Kirche.
In ihrer Kirche.
Sie schob ihn von sich. »Aufhören«, sagte sie. Sie konnte kaum sprechen. »Wir geben hier auf keinen Fall Abelard und Héloïse.«
»Was?« Er klang wie sie, benommen und erregt.
»Wir tun es nicht hier.« Sie atmete tief ein. Musterte ihn, wie er an den Tisch gelehnt dastand. Zerraufte Haare – war sie das gewesen? –, flammender Blick, seine Brust pumpend, als wäre er ein Rennen gelaufen.
»Okay«, sagte er. »Dein Haus.« Er bewegte sich wieder auf sie zu.
»Nein! Halt!«
»Was?« Frustration zeichnete sein Gesicht, aber er blieb stehen. »Nicht in der Kirche. Akzeptiert. Das wäre ein Sakrileg. Aber erzähl mir nicht, dein Haus wäre ein Problem, weil es das Pfarrhaus ist.«
»Das Problem ist nicht mein Haus.« Sie rieb sich das Gesicht. Wünschte, sie hätte kaltes Wasser, um den Kopf hineinzutauchen. »Das Problem bist du. Und ich.«
»Ach, um – nicht das schon wieder. Hör mal, lass mich etwas erklären, okay? Seit mittlerweile zweieinhalb oder drei Jahren habe ich dich nie angefasst. Ich habe dich nicht geküsst« – seine Hände zuckten, als wollte er nach ihr greifen –, »ich habe gar nichts getan. Und ich kann dir versichern, es lag nicht daran, dass ich nicht daran gedacht hätte! Jesus, es gab Wochen, da habe ich an nichts anderes gedacht, als mit dir zu schlafen, ich schwöre. Aber ich habe nichts unternommen.« Er trat näher. »Ich habe Selbstdisziplin geübt.« Er betonte jede Silbe. »Weil ich verheiratet war.«
Er raufte sich mit einer Hand die Haare, die dadurch noch wilder abstanden.
»Jetzt kann ich meine Finger nicht von dir lassen. Beweist dir das nicht, dass ich« – er suchte nach dem richtigen Wort –, »dass ich mir das nie gestattet hätte, solange Linda lebte? Niemals.«
»Das weiß ich.«
»Warum, zum Teufel, können wir uns dann nicht das nehmen, was wir wollen? Ich liebe dich. Ich will dich. Warum kannst du nicht einfach darauf vertrauen, dass das genug ist?«
»Weil es vorher nicht genug war!«
Er war wie vor den Kopf geschlagen. »Wovon redest du?«
»Ich rede über den letzten Winter. Ich habe um deiner Ehe willen mit dir gebrochen. Hast du irgendeine Vorstellung, was das für ein Gefühl ist? Alles aufzugeben und wegzugehen?«
»Selbstverständlich. Glaubst du, für mich wäre es einfacher gewesen?«
»Ja, das tue ich! Du hattest zum Trost jemanden, den du geliebt hast. Ich hatte nichts! Als du dann erfahren hast, dass Linda ermordet wurde, bist du wieder angekrochen gekommen …«
»Einen Moment mal …«
»… und hast um Hilfe gebettelt und Verständnis und Mitgefühl und was nicht alles, hast mich wie einen emotionalen Sicherheitsgurt benutzt, und dir war scheißegal, was das bei mir ausgelöst hat …«
»Dich benutzt?«
»Ich habe immer nur gegeben und gegeben und gegeben, und was habe ich dafür bekommen? Als diese Ziege von der Staatspolizei mich des Mordes beschuldigt hat, hast du ihr geglaubt!«
»Habe ich nicht!«
»Hast du doch! Ich war dort! Ich habe dich gesehen!«
»Himmel, Clare. Ich habe eine halbe Minute die Möglichkeit erwogen. Du willst mich wegen dreißig Sekunden zum Teufel schicken? Tut mir leid, dass ich nicht so perfekt und aufopferungsvoll bin wie du!«
»Siehst du? Und wieder geht es nur um dich! Wann wird es um mich gehen, Russ? Wann geht es mal um meine Bedürfnisse?« Ihre Augen standen voller Tränen, aber die Worte strömten weiter, als hätte sie einen Säurebehälter angezapft und müsste ihn nun auslaufen lassen. »Ich habe für dich getötet. Ich habe einen Menschen getötet, um dich zu retten. Und dann musste ich mich umdrehen und dich wieder gehen lassen, und weißt du was? Ich weiß, dass deine Frau gestorben ist. Ich weiß, dass es der schlimmste Moment deines Lebens war. Aber es war auch der schlimmste Moment meines Lebens, und du hast mir einfach den Rücken zugewandt. Du hast mich zurückgewiesen, alles, was ich zu geben hatte, und alles, was ich brauchte. Wir haben immer gesagt, wir halten aneinander fest, aber du hast losgelassen. Du … hast … mich … fallen … lassen.« Jetzt weinte sie unverhüllt, wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. Sie öffnete den Mund und hörte sich sagen. »Dafür hasse ich dich.«
Sie war am Ende. Ihr Kopf war leer bis auf das Echo von Diakon Aberforths Worten. Sind Sie wütend auf Ihren Polizeichef?
Und ihrer Antwort. Natürlich nicht.
Russ war unter seiner Bräune fahl geworden. Er öffnete den Mund. Schloss ihn. Rieb sich die Augen. Er wandte sich von ihr ab, drehte sich ruckartig zurück und wirbelte wieder herum, und sie wusste mit kranker Gewissheit, dass ihre Worte du hast mir den Rücken zugewandt wie ein Pfahl in sein Ohr gedrungen waren.
Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid«, sagte er. Seine Stimme war heiser.
Sein Handy klingelte. Niedergeschlagen klopfte er gegen seine Tasche. Sie winkte ab. »Geh ruhig dran«, sagte sie. Er kontrollierte die Nummer. Klappte das Handy auf.
»Van Alstyne« – er hustete –, »Van Alstyne am Apparat.« Sie musterte ihn, während er lauschte. Wer hatte gesagt, dass vollkommene Aufrichtigkeit eine gute Idee war? Sie fühlte sich weder besser noch gesünder oder aufrichtiger. Sie fühlte sich einfach schmutzig. Und leer.
»Oh, Scheiße«, fluchte er. Er schloss einen Moment die Augen. »Wo?« Er nickte. »Ich komme sofort.« Er hörte wieder zu. »Ja. Das ist gut.« Er sah sie flüchtig an. »Nein, ich sage es ihr.«
Angst stieg in ihr auf.
»Ja«, sagte Russ wieder, »bis gleich.« Er klappte das Handy zu. Sah sie an. »Das war Lyle. Ein paar Kids waren auf dem Muster Field in Cossayuharie. Sie haben Amados Leiche gefunden.«
VIII
Sie folgte ihm mit ihrem eigenen Wagen. Er konnte die Scheinwerfer hinter sich sehen, hell leuchtend in dem von Bäumen abgeschirmten Zwielicht der Bergstraße. Während ihm in St. Alban’s seine Eingeweide auf einem Tablett serviert wurden, war die Sonne untergegangen. Das schien ihm angemessen. Aus der Stereoanlage erklang Bill Deasy. Is it my curse to always make the good things worse? Er hatte sich die CD letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, weil ihn die Songs an Clare erinnerten.
Wann hatte er wieder begonnen, Musik zu hören?
Er wusste es nicht. Er schien insgesamt nicht viel zu wissen. Wie, zum Teufel, hatte er es geschafft, den beiden einzigen Frauen, die er jemals geliebt hatte, das Herz zu brechen? Er sollte nach Hause fahren und seiner Mutter versichern, dass er sie hasste. Einen perfekten Hattrick hinlegen.
Oben am Muster Field flammten Scheinwerfer, Taschenlampen, Blinklichter und Baustellenlampen vor dem violetten Himmel, so deutlich sichtbar wie die Sonnenwend- oder Signalfeuer auf den Bergkuppen des alten Schottland. Er hoffte, dass die modernen Nachfahren jener Schotten den Ruf ignorierten, da seine Leute es ansonsten mit einer Unzahl an Gaffern und Spekulationen aufnehmen mussten.
Er parkte seinen Truck am Ende einer Reihe von Fahrzeugen, die den nicht vorhandenen Seitenstreifen der Route 137 verstopften, darunter mindestens zwei Geländewagen mit Aufklebern der freiwilligen Feuerwehr. Lyle musste um Hilfe bei der Regelung des Verkehrs nachgesucht haben. Die konnten sie gebrauchen. Es standen bereits mehr Wagen herum, als durch die mit dem Fall befassten Personen gerechtfertigt war.
Er stieg aus, als Clare vor ihm einparkte. Er wartete, bis sie ihren Subaru verlassen hatte. Sie hatte ihren Kragen wieder angelegt. Sie sah ihn nicht an. »Stell fest, wer die Warnleuchten verteilt, und stell eine vor deinen Wagen«, sagte er. Sie nickte. Ging an ihm vorbei die dämmrige Straße hinauf. Er streckte die Hand aus, als sie an ihm vorbeiging, dann ließ er sie sinken. Was, zum Teufel, sollte er zu ihr sagen, hier und jetzt? Er schüttelte den Kopf.
Im dem Moment, in dem er das Feld betrat, hörte er Lyle seinen Namen rufen. Russ konnte im grellen Licht der Scheinwerfer und Blinklichter nichts erkennen, aber er ging dem Geräusch nach. Hinter den Streifen- und Rettungswagen lag das hintere Ende des Feldes im Dunklen, die schwarzen Stämme der zweihundert Jahre alten Bäume zeichneten sich gegen den schimmernden Sternenhimmel deutlich ab. Über den westlichen Bergen flammte Wetterleuchten auf. Zwei Taschenlampen gelang es kaum, die Dunkelheit zu durchdringen.
»Hier rüber!« Russ folgte Lyles Stimme und traf den Deputy Chief bei der Aufstellung eines Scheinwerfers an, während Kevin Flynn zwei Halogenleuchten an dem anderen Mast justierte.
»Kevin, was machst du denn hier? Du hast heute Abend dienstfrei.« Russ griff nach dem Mast und hielt ihn fest, damit Lyle den Ständer aufklappen konnte. »Wo ist Noble?«
»Lyle hat mich angerufen«, erklärte Kevin. Für einen Jungen, dessen normale Reaktion auf Schwerverbrechen in einem »Juhu!« bestand, klang er ziemlich gedämpft.
»Ich habe Noble zu den Kids geschickt, die Esfuentes’ Leiche gefunden haben.« Lyle grunzte, während er die Ständerbeine in die richtige Position zwang.
»Statt die Scheinwerfer aufzustellen?« Russ bückte sich und griff nach der Batterie. »Das hier ist nicht gerade deine Stärke, Lyle.«
»Ich will ihn nicht in der Nähe der Leiche haben.« Lyle drückte auf Russ’ Hand und steckte mit der anderen den Stecker in die Batterie. Weißes Licht explodierte in der Dunkelheit, und die drei Männer schirmten ihre Augen ab.
»Ist er hier?« Reflexartig sah Russ zu Boden, um festzustellen, ob er Indizien zerstörte.
Lyle zeigte mit dem Daumen. »An der Steinmauer.« Er winkte Kevin zu. »Hol den nächsten Scheinwerfer.« Der jüngere Officer nickte und trottete in Richtung Streifenwagen.
Russ blickte ihm nach. Eine Gruppe von Leuten, die wie Zivilisten wirkten, reckte nahe der Straße die Hälse. Das gefiel ihm nicht. »So. Also nicht wie die anderen beiden in den Wald verschleppt.«
»Nein. Dieser Fall ist anders.«
»Ich will mich ja nicht einmischen«, sagte Russ. »Aber ich hatte noch nie Probleme damit, dass Noble einen Tatort verunreinigt hätte.« Er senkte die Stimme. »Kevin schiebt gerade Überstunden.«
Lyle sah ihm direkt in die Augen. »Es sieht übel aus. Kevin wird damit fertig. Noble nicht.«
Russ’ Mund wurde trocken. »Übel?«
Lyle nickte.
»Scheiße.« Er ging einen Schritt in die Richtung, die Lyle angezeigt hatte, dann blieb er stehen. »Lass uns erst die restlichen Scheinwerfer aufstellen. Ich will nichts kaputt machen, weil ich im Dunklen herumstapfe.«
Eine kühle Brise raschelte in den Baumkronen. »Ich hoffe, verdammt noch mal, dass es nicht ausgerechnet heute Abend anfängt zu regnen«, meinte Lyle. »Wir könnten noch einen Beamten brauchen. Tim und Duane sind nach dem Feiertag noch nicht wieder dienstbereit.«
»Ruf Hadley Knox. Sie braucht die Überstunden.«
»Okay.«
»Kannst du den nächsten Scheinwerfer mit Kevin zusammen aufstellen? Ich möchte mit den Leuten reden, die ihn gefunden haben.«
Lyle neigte den Kopf zur Seite. Neben dem Rettungswagen hatten sich fünf oder sechs Personen um Nobles breitschultrige Gestalt versammelt. »Es waren Jugendliche. Zwei Pärchen. Sie hatten was getrunken, und einer von ihnen kam auf die blendende Idee, zum Muster Field zu fahren und nach einer weiteren Leiche zu suchen. Hat wohl zu viele verdammte Horrorfilme gesehen, wenn du mich fragst.« Er blickte über seine Schulter in die Finsternis. »Sie haben gefunden, worauf sie scharf waren.«
»Nur, wenn sie vorher gebumst haben.« Russ marschierte mit langen Schritten zu der Gruppe. Er sah ein schwarzweißes Aufblitzen. Clare, die mit einem der jungen Männer redete. Eine Brise wirbelte ihr Haar hoch, und er dachte: Trägt sie es offen?, und dann erinnerte er sich, wie er die Nadeln aus ihrem Knoten gezogen hatte. An das Gefühl, wie ihre Haare durch seine Finger glitten. Verlangen überfiel ihn, schwer und heftig, unter diesen Umständen so willkommen wie ein Tritt gegen den Kopf. Er unterdrückte es. Lief weiter.
Clare hob den Kopf, als würde sie ihn spüren, und sagte etwas zu dem Jungen, der neben ihr stand. Jeder, der sie nicht kannte, würde eine ruhige, fürsorgliche, gefasste Pastorin sehen. Er erkannte die Anspannung in ihrem Kiefer und den gehetzten Ausdruck in ihren Augen. Es war noch ein weiterer Erwachsener anwesend, ein fleischiger Fußballvater-Typ, der seinen Arm um ein Mädchen gelegt hatte. Wenigstens eines dieser Kinder war vernünftig genug gewesen, seine Eltern anzurufen.
»Officer Entwhistle«, sagte er.
Noble drehte sich zu ihm um. »Chief.« Seine Erleichterung war geradezu greifbar. Die Gesichter der beiden Mädchen waren tränennass, und einer der Jungen wirkte, als würde er sich jeden Moment übergeben. Der Vater tröstete abwechselnd seine Tochter und funkelte den anderen jungen Mann an, der neben Clare stand. Russ nahm an, dass es sich um den Freund des Mädchens handelte. Seine fuchsartigen Gesichtszüge deuteten darauf hin, dass er normalerweise gern Unfug trieb, aber klug genug war, nicht zu weit zu gehen. Im Augenblick hielt er sich mit Mühe aufrecht. Wollte in Gegenwart des Mädchens nicht die Fassung verlieren. Tja, damit konnte Russ sich identifizieren.
»Hi. Ich bin Russ Van Alstyne.« Russ schob sich an dem Vater vorbei und gab Clares Jungen die Hand. »Ich bin der Polizeichef.«
Der Junge drückte sie. »Hi. Ich bin – äh, Colin Ellis.«
Russ warf Clare einen kurzen Blick zu. »Irgendwie verwandt mit Anne Vining-Ellis?«
Der Junge nickte. »Das ist meine Mutter.«
»Sie und Chris sind unterwegs«, sagte Clare.
Russ wandte sich an Noble. »Officer Entwhistle, würden Sie die Gaffer vom Gelände entfernen? Und sagen Sie den Leuten, die sich um den Verkehr kümmern, dass noch Eltern kommen werden.«
»Wird erledigt, Chief.«
Der Vater trat einen Schritt vor. »Könnten Sie die Aussagen der Kinder aufnehmen und sie dann gehen lassen? Ich möchte meine Tochter gern nach Hause bringen. Sie hat einen furchtbaren Schock erlitten.«
»Und Sie sind …?«
»Clifford Sturdevant. Das ist meine Tochter Lauren.«
Lauren schniefte etwas, das eine Begrüßung sein mochte.
»Das sind Kearney« – Clare zeigte auf den krank aussehenden Jungen – »und Meghan.« Meghan wischte sich die Augen und verschmierte dabei blaue Wimperntusche auf ihren Wangen.
»Warum erzählt ihr mir nicht einfach, was passiert ist«, schlug Russ vor.
»Eigentlich sollten sie …«
Russ hob die Hand. »Ich würde es gern von ihnen selbst hören, Mr. Sturdevant.«
Die Geschichte war genauso, wie er aufgrund von Lyles kurzer Zusammenfassung erwartet hatte. Die beiden Pärchen waren im Glen Drive-In gewesen, wo das Gespräch auf den »Cossayuharie-Killer« kam, und sie hatten sich gegenseitig hochgeputscht, bis ihnen keine Wahl mehr blieb, als Muster Field in der Dämmerung zu besuchen. Sie waren herumgestolpert – Russ gewann an dieser Stelle den Eindruck, dass sie nach einer weichen Stelle gesucht hatten – und hatten durch reinen, blöden Zufall die Leiche entdeckt. Daraufhin flüchteten sie in Laurens Auto, von wo sie nach kurzer Diskussion, ob sie einfach wegfahren sollten, Polizei, Sturdevant und die Ellis verständigt hatten. Sie hatten niemand anderen beim Betreten oder Verlassen des Feldes beobachtet.
Es war der Junge der Ellis, der den Mut aufbrachte, die Frage zu stellen, die sie sich bestimmt alle stellten: »Bekommen wir deswegen Ärger?«
Russ musterte ihn. »Habt ihr getrunken?«
Der Junge schluckte. »Ja. Ja, Sir. Aber nicht viel, nur einen Sechserpack.«
»Wenn ich euch noch mal beim Trinken erwische, gibt’s Ärger. Aber ich denke, dieses Mal überlasse ich die Sache euren Eltern.« Kearney wirkte erleichtert, Colin entsetzt.
Das Blitzen sich nähernder Scheinwerfer und eine weitere Brise erregten Russ’ Aufmerksamkeit. Er blinzelte im grellen Licht. Clare sah flüchtig hinüber und dann ihn an. Stellte ihm eine lautlose Frage. »Der Rechtsmediziner«, antwortete er.
IX
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Lauren und Meghan jetzt nach Hause fahre?« Sturdevants Ton verriet, dass jeglicher Einwand zwecklos war. Die Jungen wechselten einen Blick. Russ nahm an, dass sie eher ihre Zungen verschluckt hätten, als zuzugeben, dass sie einen Erwachsenen bei sich haben wollten.
»Ich leiste den Jungs Gesellschaft, bis die Ellis hier sind«, bot Clare an.
Er warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Ihr könnt gehen«, teilte er den Mädchen mit. »Danke für eure Mitarbeit. Und danke, dass ihr kühlen Kopf bewahrt und uns sofort gerufen habt.«
Sturdevant zerrte sie bereits davon. Russ entschuldigte sich und eilte auf die neuen Scheinwerfer zu. Es war tatsächlich Dr. Scheeler, der seinem Geländewagen in einem Anzug entstieg, der ungefähr ein monatliches Durchschnittseinkommen in Cossayuharie gekostet haben musste.
»Ich war im Sagamore bei einem romantischen Abendessen mit einer Frau, die ich um diese Verabredung förmlich anflehen musste«, murmelte Scheeler. »Ich hoffe, verdammt noch mal, dass es das wert ist.«
Eine schlanke, gebräunte Brünette im rosa Kostüm stieg auf der Beifahrerseite aus. Unter der Jacke trug sie nichts. Kein Wunder, dass Scheeler so wütend war. Sie ging hinüber zur Fahrerseite. Der Pathologe reichte ihr die Schlüssel. »Es tut mir so leid, Barb.« Er funkelte Russ wütend an.
Die Frau lächelte. Nicht besonders glücklich, aber freundlich. »Ach, Chief Van Alstyne und ich sind alte Bekannte. Ich sehe ihm das nach.« Sie war die Managerin des Algonquin Water Resort. Eine der letzten Personen, die Linda lebend gesehen hatten. »Wie geht es Ihnen?«, erkundigte sie sich in einem anderen Ton. »Ich war so traurig, als ich von Ihrer Frau hörte. Es muss schrecklich für Sie gewesen sein.«
»Danke. Ja. Das war es«, sagte er zum siebenhundertsten Mal.
Scheeler holte seine Tasche aus dem Wagen. Heiße Verabredung oder nicht, er war gerüstet. Er half der Frau auf den Fahrersitz und ließ sich Zeit dabei, seine Hand zurückzuziehen. »So. Sehe ich dich nachher noch, Barb?«
Sie lächelte ihn betörend an. »Wenn du deinen Geländewagen zurückhaben möchtest.« Dann ließ sie den Motor an und war fort.
»Tja, dann«, sagte Scheeler. Er rieb sich den Nacken, dann funkelte er wieder Russ an. »Sie sollten mindestens Amelia Earhart entdeckt haben.«
Russ brach wieder zum Ende des Felds auf. »Seit wann haben Ärzte Probleme, Frauen aufzureißen?«
»Pathologie ist für Frauen nicht so faszinierend, wie die Leute glauben«, erwiderte Scheeler. »Außerdem ist die Bezahlung mies. Dermatologie, da steckt das große Geld. Eine Zulassung als Schönheitschirurg ist wie eine Lizenz zum Gelddrucken. Warten Sie.«
Er kletterte in das Heck des Rettungswagens und tauchte eine Minute später in einem hellblauen Overall wieder auf. Er warf einen Blick um den Rettungswagen, als sie daran vorbeigingen, dann zuckte er plötzlich zusammen. Er wandte sich an Russ. »Da ist wieder diese Geistliche!« Er sah noch einmal zu Clare hinüber, die mit den Jungen redete. »Haben Sie sie überprüft? Man hört doch immer, dass Täter an den Ort ihres Verbrechens zurückkehren.«
Russ rieb sich unter der Brille den Nasenrücken. »Sie ist hier, weil das Opfer für ihre Kirche gearbeitet hat.«
»Haben Sie sie gründlich überprüft?«, bohrte Scheeler.
»Äh …« Nicht so gründlich, wie ich gern gewollt hätte.
»Ein Priesterkragen kann eine Menge überdecken.«
Clares nackter Hals, ihre Augen geschlossen, der schnelle Puls an ihrer Kehle – Himmel. Unter dem Vorwand, seinen Gürtel zu richten, zog er seine Hose zurecht. Er war genauso schlimm wie diese siebzehnjährigen Bengel, die in der Hoffnung, zum Schuss zu kommen, zwischen alten Steinen herumkrochen. Schlimmer. Er wusste es schließlich besser.
Das Gelände war durch die zusätzlichen Scheinwerfer, die Kevin und Lyle aufgebaut hatten, so hell erleuchtet wie ein Gebrauchtwagenmarkt. »Dr. Scheeler«, grüßte Lyle. Kevin spannte ein Absperrband an Steinen und Bäumen entlang. Lyle trat hinüber und drückte es für den Rechtsmediziner nach unten. »Hadley ist unterwegs. Die Spusi der Staatspolizei ebenfalls, aber sie meinten, es könnte eine Stunde dauern.«
»Dann wollen wir mal sehen, was wir bis zu ihrem Eintreffen rausfinden können.« Scheeler streifte seine Handschuhe über. Sie liefen in Lyles Spuren im Gänsemarsch hintereinanderher. Während er in seine lila Handschuhe schlüpfte, blieb Russ’ Blick ständig in Bewegung, in der vergeblichen Hoffnung, ein Haar zu erspähen, eine Faser, eine Spur, irgendetwas, das …
Sie blieben stehen. Russ überholte den Pathologen, um besser sehen zu können. Scheeler sog die Luft ein. »Heilige Mutter Gottes«, sagte er. Russ sah auf und begegnete Lyles Blick – der ältere Mann wirkte grimmiger, als Russ ihn jemals gesehen hatte.
»Also gut«, sagte Scheeler. »Nun denn. Schauen wir mal, was er uns verraten kann.« Er öffnete seinen Koffer, kniete sich hin und stellte ihn neben die Leiche. Dann begann er, Instrumente und Indizienbeutel herauszunehmen.
»Am dritten war hier das Kriegsveteranentreffen«, sagte Lyle. »Sie haben Fahnen aufgestellt. Vielleicht war später noch jemand hier, aber Ersteres ist bestätigt.«
»Entsorgt«, konstatierte Russ. »War bereits tot.«
»Vermutlich«, sagte Scheeler von unten. »Der Boden ist so trocken, dass er sich vollgesaugt hätte, aber eine akute Blutung hätte die Kiefernnadeln verfärbt.« Er zog eine der langen, rostfarbenen Nadeln unter der Leiche hervor und hielt sie hoch. »Trocken«, sagte er. »Und fleckenlos. Seit wann wurde er vermisst?«
»Seit dem dreiundzwanzigsten Juni«, antwortete Lyle.
»Aha. Zwei Wochen.«
»Wie lange ist er schon tot?«, fragte Russ.
»Ganz grob geschätzt zwischen vierundzwanzig und sechsunddreißig Stunden.« Die Stimme des Rechtsmediziners wurde schärfer. »Wer immer es war, hat ihn lange Zeit am Leben gehalten.«
Schweigen folgte dieser Beobachtung. Nach einer Weile sagte Lyle: »Andere Waffe als bei den anderen drei.«
»Kann ich bestätigen«, sagte Russ. Was immer Esfuentes am Ende von seinem Elend erlöst hatte, war wesentlich größer als eine Zweiundzwanziger gewesen.
»Die wollten nicht bloß einen Zeugen ausschalten. Die waren hinter Informationen her«, meinte Lyle.
»Jesus. Glaubst du?«
Lyle drehte sich mit angespannter Miene um.
Russ hob entschuldigend die Hand. »Tut mir leid. Ich bin einfach … ja. Informationen. Falls er als Warnung hätte dienen sollen, hätten wir ihn an einem öffentlichen Ort gefunden.«
»Was immer sie wissen wollten, der arme Bastard konnte es ihnen nicht sagen«, meinte Scheeler. Sanft hob er mit einem schlanken Stahlröhrchen eine Hand an. »Als ihm das angetan wurde, lebte er noch. Nach dem dritten Finger hätte er alles verraten.« Der Rechtsmediziner streifte eine Tüte über die Hand und verbarg sie so vor den Blicken. »Wer, in Gottes Namen, war dieser Junge?«
Russ schnürte es die Kehle zusammen. »Niemand. Nur ein schwer arbeitender Bauernjunge, der wegen eines anständigen Jobs nach Norden gekommen ist. Er hat geglaubt, wir würden ihn beschützen.«
»Wir haben damals alles getan, was möglich war.« MacAuley klang grob. »Fang jetzt nicht an, dir Vorwürfe zu machen.«
Ein guter Rat. Russ hatte ihn zu seiner Zeit mehr als einem jungen Beamten gegeben. Besser fühlte er sich trotzdem nicht.
»Russ?«
Beim Klang von Clares Stimme fuhr er herum. Im dunklen Zwielicht hinter dem Absperrband konnte er ihre Silhouette erkennen, die sich gegen den Wirbel weißer, roter und blauer Lichter in der Ferne abzeichnete. Er lief mit großen Schritten auf sie zu.
»Entschuldige bitte«, sagte sie. »Ich will nicht stören. Aber die Jungs sind jetzt weg, und ich wusste nicht …« Er war jetzt so nah, dass er ihr Gesicht erkennen konnte. »Niemand hat mir etwas gesagt. Ich muss es wissen.« Er blieb vor ihr stehen. Das flatternde Absperrband trennte sie voneinander. »Ist es wirklich Amado?«
Er ballte die Fäuste, um sich daran zu hindern, sie in die Arme zu schließen. »Ja. Er ist es.«
»O Gott.« Sie sah zu ihm auf. »Bist du ganz sicher?« Ehe er etwas sagen konnte, gab sie sich selbst die Antwort. »Selbstverständlich bist du sicher.« Sie wandte den Blick ab. Wischte sich mit beiden Händen die Augen ab. »Darf ich ihn sehen? Ich fasse auch nichts an und bin auch nicht im Weg. Ich will nur …«
»Nein«, sagte er.
»Ich habe früher schon Leichen gesehen, Russ.« Sie richtete sich auf. »Ich breche nicht zusammen.«
»Nein. Hör zu.« Dieses Mal bremste er sich nicht. Er zog sie an sich, hielt sie fest, verabscheute es, derjenige zu sein, der es ihr sagen musste. »Clare, er ist gefoltert worden, ehe man ihn umbrachte. Es war nicht …« Er schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, dass du siehst … Himmel, niemand sollte so etwas sehen müssen.«
Er spürte, wie sie atmete. Dann nichts.
Endlich sagte sie. »Wie geht es dir?« Ihre Stimme war brüchig.
»Gut. Zumindest einigermaßen.« Er fasste sie an den Schultern und schob sie auf Armeslänge von sich. »Es tut mir leid.«
»Was?«
»Der letzte Winter. Dass ich dich habe fallenlassen. Dass ich dich so behandelt habe, wie ich es tat. Clare, ich liebe dich doch, und ich schwöre bei Gott, ich würde lieber sterben, als zuzulassen, dass du verletzt wirst.« Lyles Vorschlag, die Presse darüber zu informieren, dass sie in St. Alban’s nichts gefunden hatten, gewann eine neue und furchtbare Dringlichkeit. »Welche verdammte Information auch immer uns entgeht, diese Typen sind scharf darauf, sie in die Finger zu bekommen. Und sie sind so brutal wie tollwütige Hunde. Bis wir sie gefunden haben, darfst du nicht mehr allein bleiben. Geh zu den Ellis, lass deine Diakonin bei dir einziehen, was immer du willst, aber bleib auf keinen Fall allein.«
»Das kann ich nicht versprechen.« Er konnte nicht erkennen, ob Zorn oder Angst aus ihrer Stimme sprachen.
»Russ«, rief Lyle.
»Bitte, Clare. Ich erwarte nicht, dass du etwas tust, weil ich dich darum bitte.« Sie zuckte zurück. »Aber tu es für Amado. Sein Tod ist uns eine Warnung. Ignorier sie nicht.«
»Russ!« Lyle wurde ungeduldig.
Mit einem letzten Blick über die Schulter ließ er sie stehen, kehrte zurück in den Ring aus kaltem Licht, zwängte seine Finger einmal mehr in die Handschuhe. Ringsumher wisperte und säuselte das Laub der Eichen und Ahornbäume im Wind.
»Sieh dir das mal an«, sagte Lyle. Er und Kevin – blass, mit angespannter Miene, aber funktionsfähig – hatten die Leiche auf die Seite gerollt. Doc Scheeler kniete daneben und zog mit einer Pinzette eine Art kurze Haare oder Fasern von dem blutverkrusteten Hemd. Dort klebten jede Menge, schwarz und blass golden und braun.
»Was ist das?«, fragte Russ.
Scheeler hielt ein kleines Büschel hoch, ehe er es in einen Beutel steckte. »Mit Sicherheit kann ich das erst beantworten, wenn ich sie mikroskopisch untersucht habe, aber ich bin ziemlich sicher, dass es sich um Haare handelt. Er hat sie mitgebracht; auf den Kiefernnadeln unter der Leiche finden sich keine. Ich finde sie nur in einem bestimmten Bereich, hier, wo die Leiche auf dem Boden lag, aber das heißt nicht viel. Sie können von einer anderen Stelle stammen und weggeweht worden sein, während er hier lag.«
»Vielleicht hat er anfangs irgendwo gelegen, wo es viele Haare gab«, meinte Lyle.
»Oder man hatte ihn in einen Teppich oder eine Decke gewickelt«, sagte Russ. »Das würde zu dem Transport hierher passen. Falls jemand verhindern wollte, dass das Blut den Kofferraum verschmiert.«
»Eine Hundedecke«, warf Kevin ein. Er sah Russ an. »Sie wissen schon. Man legt eine alte Decke auf das Sofa oder den Rücksitz im Auto. Damit der Hund nicht den guten Stoff darunter vollhaart.«
Russ untersuchte die Haare noch einmal. Spitz zulaufend, fünf oder sechs Zentimeter lang. Schwarz und braun. Er dachte an ihren letzten Besuch bei den Christies: Kevin, der sich in den Wagen warf, nur einen Moment, bevor er zerfleischt wurde. Er sah den jungen Officer an. Sah ihn nicken.
»Deutsche Schäferhunde«, sagte Russ.
X
Diesmal kamen sie in der Morgendämmerung, den Durchsuchungsbeschluss in der Hand. Sie wurden von einer Beamtin der Hundestaffel begleitet, einer ledrigen Frau, deren schläfrige Miene über ihre Fähigkeit zum raschen Denken und noch rascheren Handeln hinwegtäuschte. P. J. liebte Tiere, doch Russ hegte keine Zweifel, dass sie die Schäferhunde erledigen würde, falls das notwendig werden sollte. In der Highschool war er mit einer ihrer älteren Schwestern ausgegangen. Alle Adams-Mädchen hatten eine erbarmungslose Ader.
P. J. hatte gesagt, dass die Hunde am Morgen vermutlich schliefen, und sie behielt recht. Kevin öffnete das Tor, diesmal langsam und leise, ohne die Zufahrt aus den Augen zu lassen, aber es ließen sich keine beutegierigen Hunde blicken, die ihn in Stücke reißen wollten. Der Himmel über ihnen verfärbte sich rosa und perlweiß, und Grashüpfer schwirrten durch das Grün, als sie den Feldweg entlangholperten.
Russ parkte an derselben Stelle wie zwei Wochen zuvor. Diesmal konnte er erkennen, wie dringend Haus und Stallungen einen Anstrich benötigten. Die Christies hatten ein großes Erbe angetreten – sein Blick streifte flüchtig die jahrhundertealten Ahornbäume, die dem Haus Schatten schenkten, und die Felder und Wälder, die sich in alle Richtungen erstreckten –, aber sie waren lausige Verwalter.
Beim Aussteigen hörte er die Schafe blöken. Eine andere Autotür klappte, und Lyle kam zu ihm herüber. »Diesmal bist du an der Reihe, falls sich jemand im Schafstall versteckt«, sagte er.
»Machst du Witze? Dafür haben wir doch Kevin mitgenommen.« Russ wandte sich vom Haus ab. Kevin und Eric gaben ihnen Deckung, und P. J. lud ein Betäubungsgewehr. Von ihrem Gürtel baumelten Maulkörbe und Ledergeschirre. »Fertig?«
»Ja.«
Sie erklommen die Verandastufen. Russ klingelte an der Tür. Nichts geschah. Er klingelte erneut. Die Tür wurde aufgerissen und gab den Blick auf eine Blondine um die zwanzig in ausgebeultem T-Shirt und Pyjamahose frei. Ihr Gesicht war vom Schlaf zerknittert. »Was ist denn?«, fragte sie.
Russ kramte den Namen der Schwester aus seinem Gedächtnis. »Isabel?«, fragte er »Wir würden gern mit Ihren Brüdern reden.«
Sie blinzelte und rieb sich das Gesicht. »Warum?«
MacAuley drückte gegen die Tür, schob sie weiter auf. Sie trat zurück. »Wir wollen sie nach Amado Esfuentes fragen.«
Sie wurde wach. »Amado? Warum?«
»Er ist ermordet worden«, antwortete Russ. »Wir glauben, dass Ihre Brüder etwas über den Mord wissen.«
Sie schlug die Hand vor den Mund. Ihre Augen wurden groß, man sah die weißen Ränder. Oh, zum Teufel. Sah aus, als hätte Kevin sich in Bezug auf ihre Beziehung geirrt.
»Sind Sie sicher?«, flüsterte sie. »Sind Sie sicher, dass es Amado Esfuentes ist? Keiner von den anderen?«
»Wir haben ihn eindeutig identifiziert«, erwiderte Russ. »Es tut mir leid.«
»Man hat ihn gefoltert.« MacAuley hatte seine übliche, entspannte Maske fallenlassen. »Um an Informationen zu gelangen, die er vielleicht besessen hat. Über viele Tage. Er muss demjenigen, der ihm eine Kugel in Kopf gejagt hat, geradezu dankbar gewesen sein.«
Isabel Christie gab einen Laut von sich wie ein Tier in der Falle. Sie wich noch weiter zurück. Russ trat ins Haus.
»Sie kannten ihn, nicht wahr?« Er ließ seine Stimme mitleidig klingen.
Sie nickte.
»Ich habe ihn auch ein paarmal getroffen. Er war ein gutherziger, schwer arbeitender, junger Mann, dessen ganzes Leben noch vor ihm lag. Er hat es nicht verdient, so zu sterben.« Er bückte sich, so dass ihre Gesichter auf einer Höhe waren. »Werden Sie uns helfen?«
Sie nickte.
»Wo sind Ihre Brüder?«
Sie holte tief Luft. »Bruce …« Ihre Stimme schwankte. Sie verstummte. Als sie fortfuhr, war sie ruhig. »Bruce ist in dem Wohnwagen auf dem Hof.« Aus dem Augenwinkel sah Russ, wie Lyle sich umdrehte und Kevin und Eric bedeutete, sich darum zu kümmern. »Neil ist oben. Donald und Kathy haben gestern Abend gestritten, und er ist abgehauen, nachdem sie ihn aus dem Schlafzimmer ausgesperrt hat. Vermutlich ist er bei seiner Ex. Desiree Dwyer.«
»Ich dachte, die wäre gar nicht in der Stadt.«
Sie zeigte in Richtung Esszimmer. »Das war eine andere Ex.« Russ und Lyle umrundeten den langen Tisch und die viktorianischen Stühle und folgten ihr in den winzigen Flur. Eine steile Treppe führte zu einer Fensternische.
»Isabel«, bat Russ, »könnten Sie Ihren Bruder herunterrufen?«
Sie sah ihn an. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten, die bei ihrem Eintreten noch nicht da gewesen waren. »Glauben Sie, sie haben es getan?«, flüsterte sie.
»Indizien an der Leiche weisen auf Ihre Brüder hin, ja.«
Sie holte erneut tief Luft. Ihre Miene glättete sich, wurde zu einer Maske der Normalität. Sie sah zum Obergeschoss hoch. »Neil!«, brüllte sie.
»Was’n?« Eine knurrige männliche Stimme, von einer Tür gedämpft.
»Komma runter.«
»Was, zum Teufel? Jesus Christus, weißt du, wie spät es ist?«
Sie ging ein paar Stufen hoch, bis ihr Gesicht auf einer Höhe mit dem Treppenabsatz war. »Der Bock hat schon wieder das Tor aufgekriegt. Er ist bei den Mutterschafen.«
Sie hörte stampfende Schritte, begleitet von ununterbrochenen Flüchen. »Donald!« Die unsichtbare Stimme – Neil – brüllte: »Schaff deinen faulen Arsch aus dem Bett. Der Bock ist draußen!«
Eine Tür knallte gegen die Wand. »Schnauze!«, kreischte eine Frau.
Russ zuckte zusammen. »Die Verlobte«, teilte er Lyle mit.
»Er is nich hier«, fuhr sie fort. »Der kühlt sich irgendwo unten ab.«
»Nein, tut er nicht«, sagte Isabel laut. »Er ist zu Desiree gefahren.«
»Oh-oh«, sagte Russ.
»Was?« Das Kreischen schrillte wie eine Sirene. »Dieser nichtsnutzige, kriecherische Hurensohn …«
Isabel zog sich aus dem Treppenhaus zurück. Russ und Lyle traten den Rückzug an, als etwas Großes und Schweres die Treppen herunterpolterte. Neil Christie, der sich ein T-Shirt über den Kopf zog. Bei ihrem Anblick blieb er stehen. »Was, zur Hölle?«
»Neil, wir möchten, dass Sie uns begleiten«, sagte Russ. »Wir wollen Ihnen einige Fragen über Amado Esfuentes stellen.«
Der Mund des großen Mannes klappte auf, dann klappte er ihn wieder zu. Seine Augen wurden zu Schlitzen. »Bin ich verhaftet?«
»Noch nicht«, antwortete Lyle.
Neil drehte den Kopf von links nach rechts wie ein Stier, der sich zum Angriff bereitmacht. Russ hoffte, dass er es nicht mit ihnen aufnehmen wollte. Dann fiel sein Blick auf Isabel, die sich an die Esszimmerwand drückte. »Du«, herrschte ihr Bruder sie an. »Du hast sie reingelassen. Du – der Bock ist gar nicht draußen, oder? Du verlogene Nutte!« Er riss eine fleischige Faust hoch. Isabel krümmte sich.
»Fass sie an, und wir kriegen dich wegen Körperverletzung dran«, sagte Lyle.
»Kommen Sie schon, Neil.« Russ senkte die Stimme. Vertrauenerweckend. Überredend. »Sie wollen doch keinen Ärger, und wir auch nicht. Sie begleiten uns und beantworten einige Fragen. Bis zum Mittagessen sind Sie wieder hier.«
Er konnte sehen, wie die Rädchen in Christies Verstand langsam zu surren begannen. Aber er war überrascht, als Neil sich wieder zu Isabel umdrehte. »Ist Don wirklich bei Desiree? Oder war das auch eine Lüge? Haben sie ihn schon?«
»Nein! Das war die Wahrheit!«
»Wir holen Ihren Bruder bei seiner Freundin ab«, sagte Russ.
Im selben Moment fragte Neil: »Dann bin ich allein? Gottverdammt!«, und holte aus.
Lyle, der näher stand, stürzte vor, schlang seine Arme um Christies Mitte und zerrte ihn zurück. Isabel duckte sich. Russ löste die Handschellen vom Gürtel, brüllte »Sein Arm!«, als eine kreischende Harpie von der Treppe herabsprang, auf Lyle landete und brüllte: »Lass ihn los, du verdammter Mistkerl!« Lyle taumelte und ließ Neil los, während er sich abmühte, die kratzende und auf ihn einschlagende Frau abzuschütteln.
Isabel rannte. Neil hinter ihr her. Russ warf sich gegen seine Schulter, aber sein Winkel war falsch, und Christie ging nicht zu Boden. Stattdessen knallte er seitlich gegen den Tisch, der über den Holzboden schrammte.
Die Verlobte kreischte ununterbrochen, und über den Lärm konnte Russ das Geräusch vieler Schritte über ihren Köpfen ausmachen. O nein, nicht auch noch die Kinder. In diesem Haus konnten sie genauso gut ebenfalls kämpfen wie ein Trauma erleiden.
»Lyle, kannst du …«, begann Russ. Neil wirbelte herum und schleuderte ihn mit einem Schlag seiner schinkengroßen Faust gegen das Büfett. Jedes einzelne Luftmolekül entwich seinem Körper, während das Scheppern von Tellern zum allgemeinen Lärm beitrug. Russ schaffte es, sich zur Seite zu rollen, als Christie sich wie ein Wrestler im Fernsehen auf ihn stürzte. Der große Mann landete mit einem markerschütternden Krachen auf dem Boden. Russ rappelte sich auf die Knie und warf sich auf Christies Rücken. Um Atem ringend, verlagerte er sein gesamtes Gewicht auf den Arm des Mannes.
Lyle heulte. »Hölle, Jesus. Sie hat mich gebissen!« Russ hörte Knochen krachen, und das schrille Kreischen brach ab. Die Verlobte prallte neben Neil auf den Boden.
Russ legte Neil eine Handschelle an und riss den Arm des Mannes nach hinten, ohne sich um eventuelle Schäden zu kümmern. Als Neil wimmerte und um sich schlug, ließ Russ die zweite Handschelle zuschnappen. Er setzte sich auf, noch immer auf Christies Rücken, und versuchte, zu Atem zu kommen.
Lyle legte der bewusstlosen Kathy Handschellen an. »Verdammt«, fluchte er. »Ich hasse es, Frauen zu schlagen.«
»Warum, zur Hölle, ist sie über dich hergefallen?«
Isabel spähte um den Türrahmen, bereit, sofort wieder wegzurennen, sollte es Neil gelingen, Russ’ einhundert Kilo abzuschütteln und die Handschellen abzustreifen. »Sie schläft auch mit Neil. Donald weiß nichts davon.«
Neil versuchte, Russ abzuwerfen. »Du gottverdammte Schlampe, du machst nichts als Ärger!« Sein Gebrüll wurde vom Teppich gedämpft. »Ich sollte dich dem Mexikaner überlassen! Du bist es nicht wert, was wir für dich getan haben. Du bist es nicht wert!«
XI
»Wie fühlt es sich an?« Lyle wies mit dem Kaffeebecher auf Russ’ Brust. Hinter ihnen in der Zentrale erzählte Kevin Harlene gerade alles über die aufregende Festnahme. Da Bruce Christie nur genickt und seinen Anwalt angerufen hatte, ehe er, ohne Kevin und Eric den geringsten Widerstand entgegenzusetzen, in den Streifenwagen gestiegen war, würde die Geschichte ziemlich kurz ausfallen.
Russ fasste an sein Brustbein. Es war empfindlich, der Schmerz ging ihm durch und durch. Wie fühlte es sich an? Wie loslassen. »Wund«, sagte er.
»Du solltest zum Arzt. Nachsehen lassen, ob etwas gebrochen ist.«
Russ zeigte auf den Verband an Lyles Hand. »Langohr, gestatten: Esel.«
»Hölle, ich hol mir eine Tetanusspritze, sobald wir hier fertig sind. Ich will, dass P. J. die Frau zehn Tage unter Quarantäne stellt, damit wir sicher sein können, dass sie keine Tollwut hat.«
»Und wir haben uns Gedanken wegen der Hunde gemacht.«
Hadley Knox kam aus dem Mannschaftsraum. Sie sah sie an wie eine Mutter, deren Kinder Misstrauen erweckend leise sind. »Das Jugendamt schickt eine Sozialarbeiterin zu den Christies.«
»Gut«, sagte Russ.
»Ms. Adams hat angerufen. Die Schäferhunde sind erst einmal im Tierheim untergebracht.« Um Kevins willen, der näher getreten war, sprach sie etwas lauter. »Sie sagt, es seien wirklich süße Hunde.«
Lyle kicherte. »Vielleicht liegt es an dir, Kevin.«
Russ trank seinen Kaffee und wünschte, er könnte ein paar Espressos hineinkippen, um den Koffeingehalt zu verdoppeln. Er hatte vier Stunden auf einer der alten Zellenpritschen im Keller geschlafen, während er auf den Durchsuchungsbeschluss wartete. Lyle hatte er von Muster Field nach Hause geschickt, aber auch der konnte höchstens fünf Stunden geschlafen haben. Im Vergleich zu ihnen glühten Kevin und Knox vor Eifer und Vitalität. In dem Alter war er auch mal gewesen. Vor sehr langer Zeit.
»Noble soll die Waffen zur Ballistik bringen.« Sie hatten vier Waffen gefunden, die mit dem Kaliber übereinstimmten, mit dem Amado ermordet worden war.
Lyle nickte. »Hast du die Zweiundzwanziger gesehen?« Die Christies horteten ein wahres Arsenal. »Ich wünschte, wir könnten die in die Ballistik schaffen.«
»Sprich mit Richter Rhyswick.« Dem Richter graute es vor Generalvollmachten. Als er großes Kaliber schrieb, hatte er genau das gemeint, und die Tatsache, dass sie drei mit einer Zweiundzwanziger begangene Morde aufklären mussten, beeindruckte ihn nicht.
Eric kam herein und musterte die Versammlung. »Was? Gibt es endlich guten Kaffee?«
»Keine Chance«, meinte Lyle.
»Eric«, sagte Russ. »Du hast dich die ganze Zeit mit den Christies beschäftigt. Ich will, dass du Bruce und Donald vernimmst.«
Eric nickte. »Was ist mit Neil und seiner Freundin?«
»Die lassen wir auf Sparflamme, während ihre Personalien aufgenommen werden und sie auf die Haftanhörung warten. Ich fahre zum Duschen und Umziehen zu meiner Mutter.« Er packte Eric am Ärmel, ehe der verschwand. »Such einen Ansatz. Vielleicht die untreue Verlobte, oder tu so, als würde einer von ihnen sich auf einen Deal einlassen und die anderen hinhängen. Die Christies halten zusammen; wenn du Unfrieden zwischen ihnen stiften kannst, hast du sie.«
Eric nickte und machte sich auf den Weg zum Verhörraum. Russ trank noch einen Schluck Kaffee. »Lyle, du fährst zum Krankenhaus und lässt diese Bisswunde untersuchen. Dann ab nach Hause, schlafen.« Lyle öffnete den Mund, um zu protestieren. »Geh schon«, sagte Russ. »Ich leg mich auch hin.«
Lyle zuckte die Achseln. Schlurfte zur Tür. »Da hab ich was anderes gehört.«
Russ ignorierte die Bemerkung. »Knox, Sie fahren rüber zu den Christies. Sprechen Sie mit der Sozialarbeiterin und stellen Sie fest, ob Sie von der Schwester oder den Kindern etwas Nützliches erfahren können. Kevin …« Sein jüngster Officer richtete sich mit strahlender, eifriger Miene auf. Gütiger Himmel, kein Wunder, dass die Hunde der Christies sich auf ihn gestürzt hatten. Der Junge war ein menschlicher Irish Setter. »Du fährst Streife.«
Kevins Miene verdüsterte sich. Knox runzelte die Stirn.
Russ seufzte. »Was?«
»Seien Sie nicht beleidigt, Chief, aber schicken Sie mich zu den Kindern, weil ich eine Frau bin?«
»Ich schicke Sie hin, weil ich glaube, dass Sie der beste Officer für den Job sind. Genau wie ich Kevin auf Streife schicke, weil Lyle und ich erschöpft sind und zu wenig Schlaf hatten und im Moment nichts auf die Reihe kriegen. Hört mal.« Er sprach beide an, zwang sie zum Zuhören. »Dieser Fall war ein endloses Grauen. Wir haben lange frustrierende Stunden hinter uns, und Spuren, die ins Nichts führten. Und ihr beide habt euch bewundernswert gehalten. Ich bin stolz auf euch. Ich bin stolz, mit euch zu dienen. Und ich weiß, was immer ich von euch verlange, ihr werdet es erledigen. Kompetent und professionell.« Er leerte seinen Becher und stellte ihn ab. »Und jetzt lasst uns tun, was zu tun ist.«
XII
Das Tor zur Farm der Christies stand offen. Hadley holperte mit ihrem Streifenwagen über den Feldweg. Auf der einen Seite zogen sich goldene Heuwiesen bis zum Rand des weit entfernten Waldes. Auf der anderen, hinter einer alten Steinmauer, trieben Schafe über das Gras wie staubige Wolken. Es sah aus wie eine der Illustrationen aus Gennys Kinderbibel. Nur der gute Hirte fehlte.
Sie parkte auf dem Rasen auf der anderen Seite des Hauses unter einem ausladenden Ahorn, in dessen Schatten ein baufälliger Wohnwagen stand. Sie wusste, dass sie auf der Zufahrt bleiben sollte, aber wenn sie den Wagen in der Sonne stehen ließ, würde bei ihrer Rückkehr im Inneren eine Gluthitze herrschen, und die Klimaanlage funktionierte nicht besonders gut.
Sie stieg aus. Die Hitze war drückend, trocken und windstill. Sie zupfte die Bluse vom Körper. Wenn es vormittags schon so war, würde es unglaublich heiß werden.
Sie überquerte die Zufahrt und erklomm die Verandastufen. Die Fenster waren wegen der Hitze geschlossen. Sie klingelte. Sie hörte Stimmengemurmel. Sie blinzelte, versuchte durch die gekräuselten Vorhänge an der Tür etwas zu erkennen. Sie klopfte. »Hallo!«, sagte sie so laut, dass man sie im Inneren hören konnte. »Polizei Millers Kill.«
Die Tür öffnete sich einen Spalt. Eine junge Frau spähte heraus. Sie hatte erdbeerblonde Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, und tiefe Schatten unter den Augen.
»Hi«, sagte Hadley, »ich bin Officer Knox von der Polizei Millers Kill. Kann ich …«
»Das ist gerade ungünstig«, sagte die Frau. »Ich habe Besuch.«
»Ich weiß, dass die Mitarbeiterin vom Jugendamt bei Ihnen ist. Ich bin die, äh, Verbindungsbeamtin im Revier.« Hadley lächelte beruhigend. »Sind Sie …«
Die Tür schlug ihr ins Gesicht. Sie dachte an Hudsons Lieblingsspruch aus dem Fernsehen. Wie unhöflich. Sie klopfte erneut, diesmal sehr bestimmt. »Ma’am«, sagte sie.
Die Tür flog auf. Ein kleiner, untersetzter Mann mit Frettchengesicht stand ihr gegenüber. Mit seinen Froschaugen ähnelte er Peter Lorre, aufgemotzt im Gefängnisschick mit Tätowierungen auf den Fingern, die den Knauf umklammerten, um ihr den Weg zu versperren. »Hören Sie«, sagte er mit fast akzentfreier Stimme. »Sie will jetzt nicht mit Ihnen sprechen …«
Sie bemerkte den Moment, in dem er sie erkannte und ihm klarwurde, dass auch sie ihn wiedererkannte. Sie rannte die Verandastufen hinab, während er etwas auf Spanisch brüllte. Sie landete halb in dem schütteren Busch, kämpfte sich heraus und sprintete zu ihrem Fahrzeug. Sie hörte das Splittern von Glas, warf einen Blick über die Schulter und sah den Lauf eines riesigen Revolvers, der durch die obere Hälfte eines der Fenster auf sie zielte. Sie tauchte hinter ihrem Streifenwagen ab, als das Ding losging. Eine Kugel schlug in den Ahorn, und Späne regneten herab. Sie riss die Tür auf und schnappte nach dem Mikro. »Zentrale«, brüllte sie. »Harlene? Der Scheißkerl schießt auf mich!«
XIII
Russ war gerade in die Einfahrt seiner Mutter abgebogen, als sein Handy klingelte. Scheiße. Er kontrollierte die Nummer. Die ameisengroße Hoffnung, dass es Clare sein könnte, wurde zerquetscht, als er die Kennung des Reviers erkannte. Er klappte das Handy auf. »Van Alstyne hier.«
»Chief.« Die normalerweise unerschütterliche Harlene klang angespannt. »Wir haben einen Officer unter Beschuss.«
Ihm blieb das Herz stehen. »Wer?« Bilder von Kevin, ein Raubüberfall, Paul, eine Radarkontrolle, die schieflief.
»Hadley Knox.«
O Gott, nein. Die unerfahrenste Person der Mannschaft. Er legte den Rückwärtsgang ein und kurbelte das Fenster herunter. »Wo?«
»Bei den Christies.«
Was? Er stellte sämtliche Fragen zurück, griff nach oben und knallte das Blaulicht auf das Dach des Trucks. »Zusammenfassung.«
»Schüsse aus einer 357er Magnum. Andere Waffen sind nicht bekannt. Im Haus könnte ein weiterer Mann sein; sie war nicht sicher.«
Er kurbelte das Fenster wieder hoch. Schaltete Blaulicht und Sirene ein. Trat aufs Gaspedal. »Im Haus wird eine unbekannte Anzahl von Frauen und Kindern als Geiseln gehalten.« Harlene hob die Stimme, damit er sie über das Heulen der Sirene verstehen konnte. »Kevin und Lyle sind unterwegs. Eric fährt vom Gefängnis rüber, das Sondereinsatzkommando macht sich bereit.«
»Ich bin so schnell wie möglich da.«
Er dachte an Hadley Knox mit ihrer abgewetzten Stofftasche voller kriminalistischer Lehrbücher. Ihre erschrockene Stimme: Ich hab keine Erfahrung mit Schulterholstern! »Harlene«, sagte er, »schicken Sie einen Rettungswagen.«
XIV
Er hatte nicht gewusst, dass der Ford 250 solche Geschwindigkeiten entwickeln konnte. Er flog die Auffahrt der Christies hoch, setzte auf, schleifte über Kies und Sand und erreichte das Haus, und dort stand Knox’ Dienstwagen und dort war Knox selbst, die über die Grünfläche sprintete – ohne Schutzweste, verdammt noch mal! –, und dort, hinter den zerborstenen Scheiben, ein Umriss und eine Hand und eine Waffe.
Er bremste und ließ sich aus der Tür fallen, die Waffe in der Hand, feuerte auf das Verandadach. Es war ein ungezielter Schuss, aber der Mann im Inneren duckte sich weg, und Knox schaffte es bis in die Sicherheit des Hausfundaments. Er baute sich in Schussposition hinter der Motorhaube auf. Der Motorblock würde vermutlich sogar eine 357er Magnum aufhalten.
»Polizei«, rief er. »Werfen Sie die Waffe weg, und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus.« Diesem Vorschlag folgte ein Strom von Obszönitäten. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Knox sich herumwälzte. »Alles in Ordnung, Knox?«
»Ja. Ich meine, ja, Sir.«
»Bleiben Sie dort. Nicht bewegen.« Er konnte eine Bewegung hinter dem Fenster ausmachen. Im Schatten der Veranda war es schwierig zu erkennen. Dann sah er ein Auge, ein Profil, der Bewaffnete, der herausspähte. Russ zielte ein wenig tiefer.
»Wenn du noch mal schießt, knall ich eine von denen hier ab, ich schwör’s«, brüllte der Mann. »Ich baller einer von den Nutten den Kopf weg!«
Okay. Reden konnte er sowieso am besten. Er hob die leere Hand in die Höhe und legte seine Waffe gut sichtbar auf die Haube. Er hörte das Dröhnen und Heulen eines Motors, dann tauchte Kevins Fahrzeug am Horizont auf, das viel zu schnell fuhr und schließlich mit quietschenden Reifen in einer Staubwolke neben dem Truck zum Stehen kam. Lyle drängte Kevin vom Fahrersitz und kletterte über ihn hinweg. Beide trugen Gott sei Dank kugelsichere Westen.
Lyle musterte Scheune, Haus, die Grünflächen, den Wohnwagen. »Nur im Haus?«
»Sieht so aus«, sagte Russ.
Lyles Blick streifte seine leeren Hände. »Hast du deine Waffe vergessen?«
»Er droht, die Geiseln zu erschießen, wenn wir feuern.«
»Was ist los?«, gellte der Mann.
»Klingt wie ein Latino«, meinte Lyle.
Er brummte zustimmend. Dann wurde er wieder laut. »Mein Deputy sagt, dass das Sondereinsatzkommando unterwegs ist. Sie haben nicht das geringste Interesse, mit Ihnen zu reden. Ich schon.«
»Fick dich!«
»Komm Sie, Mann, reden Sie mit mir.« Er spulte sein Programm ab. Als Erstes musste er ihn zum Reden bringen. Ein Mann, der redet, schießt nicht. Dann musste er sein Freund werden. Ich bin auf deiner Seite. Wir stehen das zusammen durch. »Kommen Sie«, sagte er. »Sie legen Ihre Waffe hin, ich lege meine weg, und wir behandeln das hier als öffentliche Ruhestörung im betrunkenen Zustand.« Er versuchte, sich zu erinnern, wie viele Kinder im Haus waren. Donald hatte fünf oder sechs von verschiedenen Frauen, zwischen deren Wohnungen er hin und her pendelte. Seine Älteste hatte ein eigenes Kind und lebte bei ihm. Plus die Brut der keifenden Verlobten.
Der Schütze hatte sich vom Fenster zurückgezogen. Er – oder war es eine andere Stimme? – brüllte jemanden im Haus an. Er brauchte mehr Informationen. Er lenkte Knox’ Aufmerksamkeit auf sich und bedeutete ihr, die Rückseite zu kontrollieren. Sie nickte und rollte sich herum, robbte auf dem Bauch davon wie ein Marine im Hindernisparcours.
»Warum läuft sie nicht einfach geduckt?«, fragte Lyle. »Sie können sie nicht sehen, wenn sie dicht am Haus bleibt.«
»Vermutlich haben sie ihr das im Grundkurs beigebracht.«
Lyle schnaubte. »Nach ihrem Abschluss brauchen wir mindestens ein Jahr, um ihr das wieder abzugewöhnen.«
Falls sie den Nachmittag überlebte. »Gibt’s die Möglichkeit, sie mit einer Schutzweste zu versorgen?«
»In ihrem Kofferraum liegen zwei Stück.«
Sie blickten zu dem Streifenwagen hinüber, der vielleicht zehn Meter von ihnen und fünfzehn vom Haus entfernt parkte. Offenes Gelände. Keine Deckung.
»Kevin soll zum Heck von eurem Wagen. Wenn ich den Typ ablenken kann, schnapp dir die Weste und bring sie ihr.«
»Und was ist mit dir?«
Er winkte ab. Der Schütze war zurück am Fenster. »He!«, rief Russ. Er musste ihn dazu bringen, ja zu sagen. Ein ja führt zum Nächsten. »Verdammt heiß heute, was?« Die Gestalt starrte ihn an. »Schwer, cool zu bleiben, wenn die Temperatur über dreißig Grad geht.«
»Du findest das heiß? Das ist gar nichts.«
»Für Sie vielleicht. Ich geh hier draußen ein.« Aus dem Augenwinkel sah er, wie Kevin sich am Heck des Wagens positionierte. »Ich könnte ein kühles Bier vertragen. Was ist mit Ihnen? Hätten Sie gern ein Bier? Ich könnte mit einem Sechserpack auf die Veranda kommen, und wir unterhalten uns.«
Der Mann lachte. »Hältst du mich für blöd?«
Russ spreizte die Hände. »Okay. Sie wissen, was wir wollen. Wir wollen, dass alle unverletzt hier rauskommen. Wir wollen eine Win-win-Lösung. Sagen Sie mir, was Sie wollen.«
Der Schütze zog sich einen Moment vom Fenster zurück. Russ sah zu Lyle hinüber. Lyle hielt zwei Finger hoch. Zwei Männer. Mindestens.
»Wissen Sie, was ich will? Ich will unser Eigentum zurück. Diese Hinterwäldler haben uns was gestohlen, und ich will es zurück.«
Russ hatte das Gefühl, als würde in seinem Kopf eine Silvesterrakete nach der anderen hochgehen. »Das Register mit den Händlernamen«, sagte er ins Blaue hinein.
Der Mann – Fußsoldat der Punta Diablos – zischte überrascht. Ein Treffer, ein echter Treffer. »Was sagst du da?«, fragte der Schütze nach einem Moment. Er musste ein lausiger Pokerspieler sein.
»Wir haben die Christies heute früh verhaftet. Sie wissen ja, wie das so geht. Jede wertvolle Information landet auf dem Verhandlungstisch.«
»Gottverdammter Hurensohn einer affenärschigen Nutte …« Russ ließ den Mann fluchen. Er würde gut zu Donalds momentaner Verlobter passen. Er hätte beinah gelächelt, bis die letzte Rakete hochging und ihm klarwurde, dass es die Punta Diablos und nicht die Christie-Brutalos gewesen waren, die Amado Esfuentes diese Dinge angetan hatten. Diese Männer sind wie tollwütige Hunde, hatte er zu Clare gesagt. Und nun hatten sie eine unbekannte Anzahl von Frauen und Kindern in ihrer Gewalt.
Der Schütze schimpfte weiter darüber, dass man niemandem vertrauen konnte. Russ war nicht sicher, ob die Tirade ihm oder dem unbekannten Komplizen im Haus galt, aber allmählich wurde er unruhig. Die Männer saßen in der Falle. Das war der Moment, in dem gefährliche Tiere angriffen. Wo, zum Teufel, steckte Knox? War ihr etwas zugestoßen?
Dann kehrte sie von der Rückseite des Hauses zurück. Er sah weiter geradeaus, fixierte seinen Blick auf den Schützen der Punta Diablos, der allmählich ausflippte. Er zog langsam die Hand von der Motorhaube und gab Kevin ein Zeichen. Nichts. Er wiederholte es.
Dann hörte er Kevins Stimme hinter sich, direkt an seinem Ohr. »Hinten liegt eine Tote«, sagte er leise. »In die Brust geschossen.«
Russ dachte an die glücklose, herumgestoßene Isabel Christie mit dem erdbeerblonden Haar und den traurigen Augen. Was für eine gottverdammte Verschwendung. Plötzlich fühlte er sich zwanzig Jahre älter.
»Chief?« Kevin sprach weiterhin mit gesenkter Stimme.
»Harlene soll dich mit dem SEK verbinden. Schildere ihnen die Situation. Dann mach dich bereit, diese Weste zu holen.«
»Verstanden.« Kevin sprintete in gebückter Haltung zum Wagen, riss die Tür auf, warf sich auf den Sitz und griff nach dem Mikro.
»Was ist da los?«, fragte der Punta Diablo. »Was will er mit dem Funkgerät?«
»Ich habe ihn gerade angewiesen, die Staatspolizei aufzuhalten«, erwiderte Russ. »Ich will, dass wir beide genug Zeit haben, uns eine Lösung auszudenken.« Er sah starr geradeaus und redete weiter, Vertrauen, bla, bla, bla, während er zuhörte, wie Kevin dem Sergeant des Sondereinsatzkommandos, mit dem er verbunden war, die Situation schilderte. Seine Beschreibung war informativ, detailliert und kurz. Der Junge hatte endlich gelernt, zur Sache zu kommen.
»Sag den Mistkerlen, sie sollen wegbleiben«, rief der Schütze. »Wenn sich einer mit uns anlegen will, muss er erst an den Kindern vorbei.«
Kevin hakte das Mikro ein. »Fünfzehn bis zwanzig Minuten.«